ZWÖLFTES KAPITEL, in welchem unser Held erfährt, daß er einen Glorienschein um den Kopf hat

Doch das Bewußtsein verließ den Erschossenen nicht, und merkwürdigerweise spürte er keinen Schmerz. Erast Fando- rin, mit den Fäusten auf das Wasser trommelnd, verstand die Welt nicht mehr. Was war das? Lebte er noch, oder war er tot? Und wenn tot - warum diese Nässe?

Jetzt tauchte Surows Kopf oberhalb der Uferbegrenzung auf, was Fandorin nicht wunderte: Erstens hätte ihn im Moment überhaupt schwerlich etwas verwundern können, und zweitens sollten im Jenseits (falls es das war) noch ganz andere Dinge möglich sein.

»Erasmus! Lebst du noch? Hab ich dich blessiert?« brüllte Surows Kopf hysterisch. »Gib mir deine Hand.«

Fandorin streckte die Rechte aus dem Wasser und wurde mit einem einzigen, kräftigen Ruck aufs Trockene gezerrt. Das erste, was er sah, als er wieder auf den Füßen stand, war Pyshows kleine Gestalt, mit dem Gesicht nach unten liegend, die Hand mit der schweren Waffe von sich gestreckt. Zwischen den fettigen, falben Haaren im Nacken schimmerte ein schwarzglänzendes Loch, aus dem es dunkel hervorrann.

»Bist du verletzt?« fragte Surow besorgt, während er den nassen Fandorin drehte und betastete. »Ich verstehe nicht, wie das geschehen kann. Une revolution dans la balistique. Eigentlich ganz unmöglich.«

»Surow, sind Sie das?« röchelte Fandorin, dem allmählich schwante, daß er sich noch im Diesseits befand.

»Was heißt hier >Sie< - ich dachte, wir hätten Brüderschaft getrunken?«

»Aber wie . wieso denn?« Fandorin begann schon wieder zu schlottern. »Wieso wollen ausgerechnet Sie mich umlegen? Hat Ihnen Ihr Asasel eine Prämie dafür versprochen? Dann tun Sie es, schießen Sie endlich, verdammt noch mal! Ich hab Sie satt wie dicken Grützbrei!«

Letzteres war ihm unversehens herausgerutscht, kam wohl aus den Tiefen seiner Kinderstube. Und Fandorin wollte noch eins draufgeben, sich das Hemd auf der Brust aufreißen - hier bitteschön, schieß doch! -, aber Surow packte ihn bei den Schultern und rüttelte ihn grob.

»Hör auf zu spinnen, Fandorin! Grützbrei? Was für ein Asasel? Dich muß ich wohl erst mal zu Verstand bringen.« Und er verabreichte dem geplagten Fandorin zwei schallende Ohrfeigen. »Ich bin es, Mann, Ippolit Surow. Kein Wunder, wenn dir nach so vielen Mißgeschicken das Hirn ein bißchen weich geworden ist. Komm her, stütz dich auf mich.« Er legte dem jungen Mann den Arm um die Schultern. »Ich bring dich jetzt erst mal ins Hotel. Dort vorn ist mein Pferd angebunden, und der da« - er stieß mit dem Fuß gegen Pyshows leblosen Körper - »hat noch eine Droschke stehen. Damit sind wir schnell wie der Blitz. Wenn du dich ein bißchen aufgewärmt hast und einen Grog intus, kannst du mir erklären, was ihr hier für einen Zirkus veranstaltet.«

Rabiat stieß Fandorin den Grafen von sich.

»Nein, mein Freund, ich denke, du hast mir was zu erklären! Wo kommst du überhaupt, hick, her? Wieso verfolgst du mich? Steckst du mit denen unter einer Decke?«

Surow zwirbelte verlegen seinen schwarzen Schnurrbart.

»Das läßt sich nicht in zwei Worten sagen.«

»Na und? Ich habe, hick, Zeit! Und vorher rühre ich mich nicht vom Fleck!«

»Also gut. Hör zu.«

Das Folgende hatte Ippolit Surow zu berichten.

»Meinst du, ich habe dir Amalias Adresse nur so aus Spaß gegeben? O nein, Brüderchen, da steckte Psychologie dahinter. Du hast mir gefallen, mußt du wissen - und wie! Du hast so etwas . Ein höheres Zeichen vielleicht, oder was weiß ich. Für solche wie dich hab ich ein Gespür. Es ist, als sähe ich um eure Köpfe einen Glorienschein, so ein zartes Leuchten. Ihr seid ein ganz besonderer Menschenschlag - wer den Nimbus hat, ist vom Schicksal ausersehen, ist gefeit vor aller Gefahr. Wozu ausersehen, weiß derjenige oft selber nicht. Jedenfalls, mit so einem duelliert man sich nicht, da zieht man den kürzeren. Mit so einem spielt man auch nicht Karten - man spielt sich um Kopf und Kragen, und wenn man noch so viele Kunststücke aus dem Ärmel zaubert. Als du mich beim Spiel abserviert hast und dann auch noch die Karten entscheiden lassen wolltest, wer von uns beiden sich die Kugel gibt, da hab ich den Glorienschein an dir entdeckt. Deinesgleichen trifft man nicht alle Tage. Bei uns im Bataillon, wie wir durch die Wüste Turkistans marschiert sind, gab es so einen Oberleutnant, der hieß Ulitsch. Der ist in jeden Hexenkessel marschiert und kam ungeschoren wieder raus, mit einem Lachen. Ob du’s glaubst oder nicht, einmal, vor Chiwa, hab ich mit eigenen Augen gesehen, wie die Garde des Khans eine volle Salve auf ihn abgefeuert hat. Kein Kratzer! Bis er eines Tages übergorenen Kumys getrunken hat - das war’s dann, da mußten wir den guten Ulitsch im Wüstensand verscharren. Aber wieso der liebe Gott in all den Schlachten so sorgsam die Hand über ihn gehalten hat, ist mir ein Rätsel. Und so einer bist du, Fandorin, das kannst du mir glauben. Ich hab dich liebgewonnen, und zwar in dem Augenblick, da du ohne langes Federlesen die Pistole angesetzt und abgedrückt hast. Nur weißt du, Bruder Fandorin, mit der Liebe ist das so eine Sache. Wer mir unterlegen ist, den kann ich nicht lieben, und ist mir einer über, dann beneide ich ihn wahnsinnig. Und dich habe ich beneidet. Beneidet um deinen Glorienschein, dein überirdisches Glück. Sieh dich doch an: Schon wieder bist du im Wasser gewesen, ohne dich naß zu machen. Na, sagen wir, fast, haha ... mit heiler Haut davongekommen. Und dabei siehst du ganz unscheinbar aus, das reinste Kälbchen!«

Bis hierhin hatte Fandorin interessiert zugehört und vor Behagen sogar ein wenig Farbe ins Gesicht bekommen, auch das Zittern schien fürs erste vergangen; bei dem Wort Kälbchen jedoch verfinsterte sich seine Miene, und er hickste zweimal erbost.

»Sei doch nicht beleidigt, ich meine es nicht böse«, sagte Surow und klopfte ihm auf die Schulter. »Jedenfalls hab ich damals gedacht: Den schickt mir der Himmel. Bei so einem beißt Amalia unter Garantie an. Die schaut nur einmal hin und beißt an. Womit ich der teuflischen Verlockung ein für allemal entronnen wäre. Sie hätte mich in Ruhe gelassen, nicht länger gequält, an der Kette gehalten wie einen Tanzbären auf dem Basar. Soll sie doch den Frischling in ihr Fegefeuer ziehen, hab ich gedacht und dir gleich einen Faden in die Hand gegeben, wohl wissend, daß auch du nicht locker lassen würdest . Zieh den Mantel über und nimm einen Schluck. Dich zerreißt es ja fast von dem Schluckauf.«

Während Fandorin zähneklappernd den großen Flachmann ansetzte, auf dessen Grund der Jamaika-Rum schwappte, warf Surow ihm seinen schicken schwarzen Mantel mit dem purpurnen Atlasfutter über die Schultern. Dann ging er geschäftig daran, Pyshows Leichnam zur Brüstung zu wälzen, darüber hinwegzuhieven und ins Wasser zu stoßen. Ein dumpfes Klatschen - und von dem unheiligen Gouvernementssekretär blieb nur die dunkle Pfütze auf dem Stein.

»Herr, schenke deinem Knecht . Soundso die ewige Ruhe«, frömmelte Surow.

»Py-hi-Pyshow!« Erast Fandorin hickste wieder; das Zähneklappern hatte der Rum ausgetrieben. »Porfirius Marty- nowitsch Pyshow.«

»Merk ich mir sowieso nicht.« Surow zuckte unbekümmert die Schultern. »Zum Teufel mit ihm. Kleiner Dreckskerl, allem Anschein nach. Einem wehrlosen Menschen mit der Pistole zu kommen - igitt. Er wollte dich umbringen, Erasmus, ist dir das überhaupt klar? Und daß ich dir das Leben gerettet habe?«

»Ja doch. Erzähl schon weiter.«

»Weiter ging es bergab. Ich hab dir Amalias Adresse gegeben, und schon am nächsten Tag hat mich die Schwermut gepackt - aber was für eine, Gott bewahre. Ich hab gesoffen, bin zu den Huren gefahren, hab an die fünfzig Tausender auf dem Spieltisch gelassen. Half alles nichts. Weder schlafen noch essen konnte ich. Trinken ging noch. Und immerzu hab ich euch beide vor mir gesehen, wie ihr euch herzt und kost und Witze über mich reißt. Oder gar nicht mehr an mich denkt, was noch schlimmer war. Zehn Tage hab ich so herumgehangen und gemerkt: Gleich schnappe ich über. Kannst du dich an Jean erinnern, meinen Lakaien? Der liegt im Krankenhaus. Er hat nur einmal den Kopf bei mir hereingesteckt, sein Mißfallen zu äußern, da hab ich ihm das Nasenbein gebrochen und zwei Rippen dazu. Eine Schande, Bruder! Ich war wie im Fieber. Am elften Tag raffte ich mich auf. Schluß jetzt, hab ich mir gesagt, ich fahre hin und bringe sie um, alle beide, anschließend steche ich mich selber ab. Schlimmer als jetzt kann es nicht mehr werden. Frag mich nicht, wie ich quer durch Europa gekommen bin, ich weiß es nicht. Ich hab gesoffen wie ein Wüstenkamel. Auf der Fahrt durch Deutschland muß ich irgendwie zwei Preußen aus dem Zug geschmissen haben, falls nicht, hab ich es nur geträumt. Erst in London bin ich wieder zur Besinnung gekommen. Und gleich zu dem Hotel. Keiner da - du nicht und sie nicht. Das Hotel war ein rechtes Loch, keines, wo Amalia zu logieren pflegt. Der Portier ein Ganove, spricht kein Wort Französisch, und alles, was ich auf englisch sagen kann, ist >a bottle of whisky< und >move your ass<, das hat mir mal ein Unterleutnant zur See beigebracht: Her mit dem Whisky, aber schnell. Ich hab den Portier, diese englische Morchel, nach Miss Olsen gefragt, und er murmelt nur was in seinen Bart, schüttelt die Rübe und zeigt mit dem Daumen über die Schulter, als wie: Die ist abgereist, wer weiß wohin. Daraufhin hab ich meine Pferde erst mal in deine Richtung laufen lassen. >Fandorin!<, sag ich, >Fandorin, move your ass!< Er guckt mich an mit runden Augen - nimm’s mir nicht übel: Dein Name muß im Englischen irgendwie unanständig klingen. Jedenfalls war die Verständigung mit dem Heini zum Scheitern verurteilt. Was sollte ich anderes machen, als mich in dem Wanzenloch einzuquartieren. Jeden Tag das gleiche Spiel. Morgens zum Portier mit der Frage: Fandorin? Er verbeugt sich und antwortet: >Morning, Sir<. Ist noch nicht eingetroffen, hieß das wohl. Und ich bin in die Kneipe gegenüber gegangen, wo mein Beobachtungsposten war. Trauriges Lokal, nichts als trübselige Visagen um einen herum, aber mit >a bottle of whisky< und >move your ass< ging es einigermaßen. Der Kneipier hat mich erst nicht aus dem Auge gelassen, aber dann hat er sich an mich gewöhnt, begrüßt mich jetzt wie einen Verwandten. Ich bin eine Belebung seines Geschäfts: Ständig kommen sie und wollen sehen, wie ich mir einen Harten nach dem anderen hinter die Binde gieße. Näher zu treten haben sie Angst, glotzen immer bloß von weitem. Ich hab ein paar Wörter dazugelernt: Dshinn - das ist Wacholder, Ramm - Rum! - und Brenn-die, was ein mieser Kognak ist. Ich hätte wohl noch bis zum Delirium dre- mens auf meinem Beobachtungsposten gesessen, aber am vierten Tag, Allah sei Dank, bist du aufgetaucht. Wie der letzte Stutzer kamst du vorgefahren, in lackierter Kutsche, mit Schnauzer. Schade übrigens, daß du den abrasiert hast, damit sahst du properer aus. Hoi! war mein erster Gedanke, da spreizt das Hähnchen seine Federn! Und: Nun paß mal auf, deine Miss Olsen kannst du in den Wind schreiben. Aber du hast den Typen am Tresen ganz anders zum Singen gebracht, so daß ich mir dachte, ich bleibe besser noch in meinem Versteck hocken und warte, ob du mich auf ihre Fährte führst, dann sehen wir, welche Karte sticht. Ich bin dir auf der Straße nachgeschlichen wie ein Schnüffler von der Kriminalpolizei. Puh! Mein Verstand hatte sich völlig abgemeldet. Dann sah ich dich mit dem Kutscher verhandeln und traf Vorkehrungen - holte das Pferd aus dem Stall, umwickelte die Hufe, damit sie nicht so knallten, mit Handtüchern aus dem Hotel. Das tun die Tschetschenen, wenn sie zur Attacke rüsten. Nicht gerade mit Hotelhandtüchern, aber mit irgendwelchen Lappen, du weißt schon.«

Erast Fandorin erinnerte sich an die vorgestrige Nacht. Vor lauter Angst, daß Morbid ihm entwischen könnte, hatte er sich kein einziges Mal umgedreht, dabei waren ihm, wie sich nun zeigte, gleich zwei auf den Fersen gewesen.

»Als du bei ihr durchs Fenster geklettert bist, hab ich mich gefühlt wie ein Vulkan kurz vorm Ausbruch. Ich hab mir die Hand blutig gebissen, da, schau her!«

Er hielt Fandorin seinen kräftigen, wohlgeformten Handteller unter die Nase, und tatsächlich sah man zwischen Daumen und Zeigefinger die Bißspur, einen idealen Halbmond.

»So, hab ich mir gesagt, das ist also jetzt der Ort, wo drei Seelen auf einmal abtreten: eine in den Himmel (da dachte ich an dich) und zwei auf geradem Weg in die Hölle. Ein Weilchen hast du dich vor dem Fenster rumgedrückt und deinen Mut zusammengenommen, bevor du eingestiegen bist. Eine Hoffnung hatte ich noch: daß sie dich vielleicht rausschmeißt. Sie läßt sich nämlich ungern überfallen, gibt lieber selbst die Kommandos. Ich stehe also da unten mit weichen Knien und warte. Plötzlich geht das Licht aus, ein Schuß - und sie schreit! Ach, denke ich, jetzt hat er sie erschossen, der Hitzkopf. Ausgetanzt und ausgetollt! Und plötzlich ist mir so weh ums Herz geworden, Bruder, so als wäre ich mutterseelenallein auf der Welt und wüßte nicht mehr, wozu . Daß es eines Tages böse für sie enden würde, war mir klar, ich hatte ja selber vorgehabt, sie umzubringen, und trotzdem . Du hast mich im Vorbeirennen gesehen, nicht wahr? Ich stand wie gelähmt, wie im Nebel, kam nicht auf die Idee, dich aufzuhalten. Was dann losging, spottet jeder Beschreibung, und es wurde immer verrückter. Zuerst einmal stellte sich raus, daß Amalia gar nicht tot war. Du mußt im Dunkeln danebengeschossen haben. Sie hat gekreischt und ihre Diener runtergeputzt, daß die Wände wackelten. Dann erteilte sie irgendwelche Befehle auf englisch, und ihre gehorsamen Diener sind gerannt, kreuz und quer durch den Garten geflitzt. Ich hab mich im Gebüsch verkrochen. Mit nichts als Chanvari im Kopf. Hab mich gefühlt wie der letzte Tölpel beim Preference-Spielen: Die anderen machen ihre Stiche, und ich bleib auf dem Abgeworfenen sitzen. So nicht, dachte ich, nicht mit mir! Zum Deppen hat sich Surow noch nie machen lassen. Im Garten dort steht so ein zugenageltes Portierhäuschen, wie zwei Hundehütten übereinander. Ich hab ein Brett abgerissen und mich heimlich dort reingesetzt. Stielaugen machen, Ohren spitzen, das kannte ich ja schon. Satyr, der Psyche nachstellend. Und was haben die für ein Tamtam veranstaltet! Wie ein Korpsstab vor der Generalinspektion. Die Diener sind in einem fort raus und rein gerannt, Amalia hörte nicht auf herumzuschreien, Postboten brachten Telegramme. Ich hab mich gefragt, was mein lieber Erasmus bloß angestellt hat. Dieser brave Junge! Was hast du ihr getan, he? Hast du die Lilie der Keuschheit auf ihrer Schulter erblickt? Nein, sie hat keine Lilie, weder auf der Schulter, noch anderswo. Was also? Komm schon, mir kannst du es sagen!«

Fandorin winkte ungeduldig ab - erzähl endlich weiter, mir steht nicht der Sinn nach derlei Unfug, sollte das heißen.

»Jedenfalls hast du in einen Ameisenhaufen gestochen. Dein Bekannter, Gott hab ihn selig« - Surow wies in Richtung des Flusses, wo Porfirius Pyshow seine letzte Ruhestätte gefunden hatte -, »kam im Laufe des Tages gleich zweimal angefahren. Das zweite Mal gegen Abend ...«

»Was denn, hast du etwa die ganze Nacht und den ganzen Tag in der Bude gehockt?« staunte Fandorin. »Ohne Essen und Trinken?«

»Ach, ohne Essen halte ich es aus, solange genug zu trinken da ist. Und dafür war gesorgt.« Er klopfte auf den Flachmann in seiner Tasche. »Natürlich mußte ich eine Rationierung einführen. Pro Stunde zwei Schluck. War nicht einfach. Aber gegen das, was ich im Kokandkrieg, bei der Belagerung von Machram aushalten mußte, ist das gar nichts, davon erzähl ich dir später. Ein paarmal hab ich mich davongeschlichen, um mir die Füße zu vertreten und mein Pferd zu besuchen. Es war am Zaun vom Nachbarn angebunden. Gras hab ich ihm gerupft, ein bißchen mit ihm geredet, daß es sich nicht so langweilt, und dann ging’s zurück, auf Posten. Bei uns daheim hätten sie so ein herrenloses Pferd im Handumdrehen zur Seite geschafft, aber hier sind die Leute zu langsam im Kopf, die kommen nicht auf den Gedanken. An dem Abend hab ich meinen Falben ja dann noch gut gebrauchen können. Als Gott-hab-ihn-selig (Surow nickte wieder zur Flußseite hin) zum zweiten Mal vorgefahren kam, da sammelten sich deine Häscher zum Feldzug. Ein Bild für die Götter: Vornweg wie weiland Bonaparte Amalia in ihrer Kutsche, zwei kräftige Burschen auf dem Bock. Ihr nach in der Droschke Gott-hab-ihn-selig. Dann die offene Kalesche mit den beiden Lakaien. Und auf Abstand, im Schutz der dunklen Nacht, ich auf meinem Falben - gerade wie Denis Dawydow, der dichtende Husar. Vier durch das Dunkel geisternde Handtücher!«

Surow kicherte, während er einen kurzen Blick auf den roten Streifen längs des Flusses warf, der die aufgehende Sonne ankündigte.

»Sie fuhren in ein Hinterfinsterhausen, schlimmer als die Ligowka in Petersburg: heruntergekommene Häuser, Lagerschuppen, Dreck. Hier wechselte Gott-hab-ihn-selig in Amalias Kutsche - wohl um Kriegsrat zu halten. Ich band mein Pferd in irgendeinem Torweg an und harrte der Dinge. Gott-hab-ihn-selig betrat ein Haus mit Aushängeschild, blieb dort eine halbe Stunde. Währenddessen wurde das Klima ungemütlich. Ein Donnerwetter brach vom Himmel, es schüttete wie aus Kannen. Ich wurde pitschnaß, harrte aber aus - die Neugier! Gott-hab-ihn-selig erschien wieder, kroch zu Amalia in die Kutsche. Anscheinend ein weiteres Konzilium. Derweil regnete es mir in den Kragen, und der Flachmann war fast leer. Ich überlegte schon, ob ich ihnen einen Auftritt inszenieren sollte, eine Christuserscheinung, um die ganze Bande in die Flucht zu schlagen und Amalia zur Rechenschaft zu ziehen - da ging plötzlich der Kutschenschlag auf, und ich sah etwas, das nie wieder sehen zu müssen ich den lieben Gott von Herzen bitte.«

»Ein Gespenst«, vermutete Fandorin. »Ein leuchtendes?«

»Genau. Brrrr! Ich kriegte eine Gänsehaut. Daß es Ama- lia war, konnte ich nicht gleich glauben. Es wurde also wieder interessant. Erst ging sie in dasselbe Haus, kam zurück, lief auf den benachbarten Hof, dann verschwand sie noch mal hinter besagter Tür. Gefolgt von den Dienern. Kurze Zeit später geleiteten sie eine Art Sack auf Füßen aus dem Haus. Daß du es warst, den sie da geschnappt hatten, wurde mir erst später klar, vorläufig wäre mir das nicht im Traum eingefallen. Jetzt teilten sich die Truppen: Amalia und Gott- hab-ihn-selig nahmen die Kutsche, die Droschke fuhr leer hinterher, und die Kalesche mit den Dienern und dem Sack, also mit dir, rollte in die Gegenrichtung davon. Von mir aus, dachte ich, was geht mich der Sack an. Ich mußte Amalia retten, aus der schmutzigen Geschichte herausholen, in die sie sich eingelassen hatte. Ich also der Kutsche und der Droschke hinterher, auf leisen Hufen, tapp-tapp, tapp-tapp. Weit waren sie nicht gekommen, da hielten sie schon wieder. Ich saß ab, nahm die Stute bei der Kandare, damit sie bloß nicht wieherte. Gott-hab-ihn-selig kam aus der Kutsche gekrochen und sagte (die Nacht war so still, daß man es gut hören konnte): >Nein, Herzchen, da schau ich lieber noch mal nach. Ich hab so ein dummes Gefühl. Dieser Knabe ist doch gar zu helle. Sollten Sie mich brauchen, wissen Sie ja, wo ich zu finden bin.< Ich war natürlich erst mal in Rage, von wegen Herzchen - diese vertrocknete Pfefferschote! Und dann ging mir ein Licht auf. War da etwa von dem lieben Erasmus die Rede?«

Surow wiegte stolz den Kopf, sichtlich zufrieden mit seiner Findigkeit.

»Der Rest ist schnell erzählt. Der Droschkenkutscher ist auf den Bock von Amalias Kutsche gewechselt. Ich bin hinter Gott-hab-ihn-selig her. Da, hinter der Ecke stand ich und wollte unbedingt rauskriegen, welche Suppe du ihm versalzen hast. Aber ihr habt zu leise gesprochen, es war rein gar nichts zu verstehen. Ich hatte nicht vorgehabt zu schießen, für einen guten Schuß war es sowieso viel zu dunkel, aber dann sah ich, daß er dich umlegen wollte - das sah ich ihm von hinten an. Dafür hab ich ein Auge, Bruder. Und was sagst du zu dem Schuß? Hat es sich nicht gelohnt, daß Surow mit Fünfkopekenstücken trainiert? Aus vierzig Schritt exakt auf den Scheitel, und das bei dem Licht!«

»Vierzig, na ja, wer weiß«, sagte Erast zerstreut, er war mit den Gedanken ganz woanders.

»Glaubst du mir nicht?« ereiferte sich Surow. »Dann zähl nach!« Er war schon dabei, die Strecke abzuschreiten (die Schritte vielleicht etwas knapp bemessend), Fandorin hielt ihn zurück.

»Und was hast du nun vor?«

»Was schon! Erst machen wir wieder einen ordentlichen Menschen aus dir, du klärst mich auf, was ihr hier eigentlich treibt, und nach dem Frühstück fahre ich zu Amalia. Ich schieße sie über den Haufen, die falsche Schlange, oder ich entführe sie. Du sag mir nur, ob ich dich als Verbündeten oder als Nebenbuhler anzusehen habe?«

»Tja, also, die Sache steht so«, begann Fandorin, die Stirn in Falten gelegt, und rieb sich müde die Augen. »Beistand benötige ich weiter keinen - Punkt eins. Erklären werde ich dir gar nichts - Punkt zwei. Amalia über den Haufen zu schießen wäre löblich, aber es könnte genausogut passieren, daß es dich erwischt - Punkt drei. Und den Nebenbuhler kannst du getrost vergessen - Punkt vier. Die Frau widert mich an.«

»Erschießen wäre wohl wirklich das Beste«, entgegnete Surow gedankenversunken. »Adieu, Erasmus. So Gott will, sehen wir uns wieder.«

Der auf die Erschütterungen der Nacht folgende Tag, so ereignisreich er war, kam Fandorin seltsam zerrissen vor - wie aus einzelnen, recht und schlecht miteinander verklebten Bruchstücken bestehend. Zwar schien es ihm so, als stellte er vernünftige Überlegungen an, faßte vernünftige Entschlüsse, handelte sogar - doch geschah all dies wie losgelöst von ihm und gleichsam außerhalb des Protokolls. Dieser letzte Tag im Juni prägte sich unserem Helden als ein Reigen greller Bilder ein, zwischen denen nichts als gähnende Leere war.

Zum Beispiel dieser Morgen am Themse-Ufer, bei den Docks. Freundliches, sonniges Wetter, die Luft nach dem Gewitter noch frisch. Fandorin sitzt auf dem Blechdach eines flachen Lagerhauses, in Unterwäsche, die nassen Kleider und die Stiefel neben sich ausgebreitet. Der eine Stiefelschaft hat einen langen Riß. Auch Geldscheine und der aufgeschlagene Paß trocknen an der Sonne. Fandorin, dem Wasser glücklich entronnen, hängt seinen Gedanken nach. Verworrenen, abschweifenden Gedanken, die doch immer wieder zum selben hinführen.

Sie nehmen an, daß ich tot bin, aber ich lebe - Punkt eins. Sie nehmen an, daß nun keiner mehr Bescheid weiß, aber ich weiß Bescheid - Punkt zwei. Das Portefeuille bin ich los - Punkt drei. Glauben wird mir kein Mensch - Punkt vier. Am ehesten werde ich ins Irrenhaus eingeliefert - Punkt fünf.

Nein, so nicht. Noch mal von vorn. Sie wissen nicht, daß ich am Leben bin - Punkt eins. Sie werden nicht nach mir suchen - Punkt zwei. Bis Pyshow aus dem Wasser gefischt ist, wird einige Zeit vergehen - Punkt drei. Man könnte die Botschaft aufsuchen und eine chiffrierte Depesche an den Chef .

Nein. Nie und nimmer in die Botschaft. Gut möglich, daß dort mehr als nur ein Judas sitzt. Dann bekäme Amalia Wind davon, und alles begänne von neuem. Diese ganze Geschichte darf überhaupt niemand erfahren. Außer dem Chef. Ein Telegramm ist hierfür ungeeignet. Der Empfänger müßte annehmen, daß Fandorin von so viel europäischen Eindrücken den Verstand verloren hat. Und ein Brief? Könnte gehen - nur braucht der bis Moskau viel zu lange.

Was tun? Was tun? Was tun?

Heute ist, nach europäischem Kalender, der letzte Junitag. Heute wird Amalia einen Strich unter ihre Junibuchhaltung ziehen und einen dicken Brief an Nickolas Croog in Petersburg schicken. Als erster wird wohl der Wirkliche Staatsrat sein Leben lassen - verdienstvoller Beamter, Vater dreier Kinder. Er wohnt ja auch dort in Petersburg, ihn hat man im Nu beim Kragen. Eigentlich ziemlich dämlich: daß da wer aus Petersburg nach London schreibt, und die Antwort kommt wieder aus Petersburg. Scheint man um der Konspiration willen in Kauf zu nehmen. Die Außenstellen der Geheimorganisation dürfen nicht wissen, wo sich der Zentralstab befindet. Oder wandert dieser Stab von einem europäischen

Land ins andere? Ist heute in Petersburg, morgen wer weiß wo? Oder womöglich existiert gar kein Stab, sondern nur eine einzelne Person? Dieser Croog vielleicht? Das wäre zu einfach. Aber man müßte verhindern, daß Croog den Brief bekommt.

Nur, läßt sich ein Brief aufhalten?

Nein. Schlicht unmöglich.

Stopp. Man muß diesen Brief nicht aufhalten, man muß ihm zuvorkommen! Wie viele Tage geht die Post von hier nach Petersburg?

Die nächste Szene spielt Stunden später im Büro des Amtsvorstehers für den Londoner Postbezirk Mitte-Ost. Der Direktor fühlt sich geehrt (immerhin hat Fandorin sich als russischer Fürst vorgestellt), tituliert ihn »Prince« und »Your Highness« und verhehlt nicht die Lust, die ihm das bereitet. Fandorin steht vor ihm im eleganten Einreiher und mit jenem dünnen Spazierstöckchen, ohne das sich ein echter Prince einfach nicht denken läßt.

»Es tut mir außerordentlich leid, mein Prince, doch Sie werden Ihre Wette verlieren«, erklärt der Postdirektor dem begriffsstutzigen Russen nun schon zum dritten Mal. »Ihr Land gehört dem Weltpostverband an, welcher vorletztes Jahr ins Leben gerufen wurde und zweiundzwanzig Staaten mit mehr als dreihundertundfünfzig Millionen Einwohnern in sich vereint. Auf diesem Territorium gelten einheitliche Reglements und Tarife. Wenn ein Brief heute, am 30. Juni, in London als Eilpost abgeht, dann schaffen Sie es nicht, ihn zu überholen. Pünktlich in sechs Tagen, am Morgen des 6. Juli, wird er im Postamt von Sankt Petersburg anlangen. Das heißt, nicht am 6. sondern . der wievielte ist das nach Ihrem Kalender?«

»Woher wollen Sie wissen, daß er am 6. anlangt und ich nicht?« äußert der »Fürst« seine Zweifel. »Er wird ja nicht durch die Luft fliegen!«

Mit gewichtiger Miene gibt der Direktor nähere Erläuterungen.

»Sie müssen wissen, Eure Hoheit, Briefe mit Eilpostaufdruck werden ohne den geringsten Aufschub zugestellt. Angenommen, Sie besteigen in Waterloo Station genau den Zug, der Ihren Eilbrief befördert. In Dover schaffen Sie es auf dieselbe Fähre. Und auch in Paris, Gare du Nord, treffen Sie rechtzeitig ein.«

»Na also! Wo ist das Problem?«

»Das Problem ist«, verkündet der Postdirektor feierlich, »daß die Schnelligkeit einer Eilpost einfach nicht zu überbieten ist! Nach Ankunft in Paris müssen Sie umsteigen in den Zug nach Berlin. Dafür müssen Sie eine Fahrkarte erwerben, denn Sie haben verabsäumt, sie vorzubestellen. Sie müssen erst einen Kutscher finden, der Sie von einem Bahnhof quer durch das Zentrum zum anderen fährt. Dort müssen Sie sich gedulden, denn der Berliner Zug fährt nur einmal täglich. Wir haben also Zeit, zu unserem Eilbrief zurückzukehren. Von Gare du Nord wird er in einer das Schienennetz nutzenden Sonderpostdraisine zum nächstbesten Zug transportiert, welcher in östlicher Richtung unterwegs ist. Es muß sich nicht um einen Personenzug handeln, es kann auch ein Güterzug mit Postwagen sein.«

»Aber ich könnte genauso verfahren«, widerspricht Fan- dorin in großer Erregung.

Der Verfechter des europäischen Postwesens kann sich eine gestrenge Antwort nicht versagen.

»Vielleicht wäre so etwas bei Ihnen in Rußland möglich, aber gewiß nicht in Europa. Na gut, der Franzose ließe sich womöglich bestechen, aber spätestens beim Umsteigen nach Berlin würden Sie scheitern - die Post- und Eisenbahnbeamten in Deutschland sind berühmt für ihre Unbestechlichkeit.«

»Dann ist also alles futsch?« ruft Fandorin, der endlich zu begreifen scheint - glücklicherweise auf russisch.

»Wie bitte?«

»Ich meine, Sie halten die Wette für unwiderruflich verloren?« fragt der niedergeschlagene »Fürst« und findet damit zum Englischen zurück.

»Um wieviel Uhr, sagten Sie, ist der Brief abgegangen? Das heißt, nein, es spielt eigentlich keine Rolle. Selbst wenn Sie von hier aus direkt zum Bahnhof führen, Sie kämen zu spät.«

Die Worte des Engländers rufen bei dem russischen Aristokraten eine magische Wirkung hervor.

»Um wieviel Uhr, fragen Sie? Ja, das ist überhaupt die Frage! Wir haben doch noch Juni! Morbid holt die Briefe erst heute abend um zehn! Bis alles abgeschrieben ist . Und chiffriert! Sie wird das Ganze doch nicht einfach unchiffriert verschicken! Sie muß es chiffrieren, was sonst! Also geht der Brief frühestens morgen ab! Und kommt nicht am sechsten an, sondern am siebten! Nach unserem Kalender am fünfundzwanzigsten Juni. Ich habe einen Tag Vorsprung!«

»Mein Prince, ich verstehe leider kein Wort!«

Der Oberpostdirektor hebt die Arme. Fandorin aber ist schon draußen, die Tür fällt hinter ihm ins Schloß.

»Your Highness, the stick!« ruft es hinter ihm her, und: »Oh, those russian boyars.«

Schließlich der Abend dieses beschwerlichen, wie vernebelten und dennoch so wichtigen Tages. Die Fluten des Ärmelkanals. Über dem Meer der letzte, unverschämt rote Sonnenuntergang des Junimonats. Die »Duke of Gloucester« nimmt Kurs auf Dunkerque. Am Bug steht Fandorin, waschechter Brite: Schirmmütze, karierter Anzug, Schottenpelerine. Er schaut angestrengt voraus, zur französischen Küste hinüber, der man sich nur quälend langsam nähert. Auf die Kreidefelsen von Dover blickt Fandorin kein einziges Mal zurück.

»Hoffentlich schickt sie ihn erst morgen ab«, flüstern seine Lippen. »Hoffentlich.«

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