ZWEITES KAPITEL, in welchem viel und ausschließlich geredet wird

»Alles, was recht ist, Xaveri Feofilaktowitsch, an der Sache ist etwas faul. Da steckt ein Geheimnis dahinter, das sage ich Ihnen!« wiederholte Fandorin hitzig, und in seinem Starrsinn gleich noch einmal: »Ein Geheimnis, jawohl! Urteilen Sie doch selbst: Schon die Art und Weise, wie er sich erschossen hat, ist absurd - zack und peng! - mit einer einzigen Patrone in der Trommel, so als wäre es gar nicht seine Absicht gewesen. Nur ein fatales Mißgeschick! Und der Ton des Abschiedsbriefs, das müssen Sie zugeben, ist mehr als kurios - wie nebenbei, in aller Eile geschrieben, dabei geht es doch darin um das heikelste aller Probleme. Eines, mit dem man nicht spaßt!« Fandorins Stimme bebte vor Mitgefühl. »Aber lassen Sie uns dazu später kommen, erst einmal zum Testament. Höchst verdächtig, oder etwa nicht?«

»Was erscheint Ihnen denn daran so verdächtig, mein Bester?« schnurrte Gruschin, während er gelangweilt im »Polizeilichen Sammelrapport über besondere städtische Vorkommnisse« des Vortages blätterte. Diese durchaus zum Erkenntnisgewinn verfaßte Lektüre traf für gewöhnlich erst in der zweiten Tageshälfte ein, Dinge von Wichtigkeit kamen darin kaum vor - im wesentlichen ging es um Belangloses, kompletten Blödsinn, nur selten war etwas Interessantes darunter. Hier fand sich nun endlich die Mitteilung bezüglich des gestrigen Selbstmords im Alexandergarten, jedoch, wie vom erfahrenen Gruschin vorausgesehen, ohne alle Einzelheiten und natürlich ohne den Text des Abschiedsbriefes.

»Das kann ich Ihnen sagen! Obwohl es den Anschein hat, als wollte Kokorin sich gar nicht im Ernst erschießen, ist das Testament, vom provozierenden Ton einmal abgesehen, in aller Form erstellt - notariell beglaubigt, mit Zeugenunterschriften und Angabe der Testamentsvollstrecker«, zählte Fandorin an den Fingern auf. »Und das Vermögen ist wirklich kein Pappenstiel, ich hab mich erkundigt: zwei Fabriken, drei Manufakturen, Häuser in diversen Städten, Werften in Libau und dazu eine halbe Million an Wertpapieren auf der Staatsbank!«

»Eine halbe Million?« ächzte Xaveri Gruschin und riß den Blick von den Papieren. »Da hat die Lady ja wirklich Glück gehabt!«

»Ja, genau, was diese Lady Aster mit der Sache zu schaffen hat, können Sie mir das erklären? Wieso erbt gerade sie das alles und kein anderer? Welche Verbindung gibt es zwischen ihr und Kokorin? Das müßte man herausfinden!«

»Er hat doch geschrieben, daß er unseren Roßtäuschern nicht traut. Und die Angelsächsin wird schon wochenlang von allen Gazetten in den Himmel gehoben! Nein, mein Lieber, erklären Sie mir besser etwas anderes. Wie kommt es, daß Ihre werte Generation vom Leben gar so wenig hält? Bei jedem bißchen gleich piff-paff, und dabei tun sie alle noch wichtig, mit Pathos und Hohn gegen den Rest der Welt. Mit welchem Recht, frage ich Sie, mit welchem Recht?« Gruschin redete sich in Rage, während er daran denken mußte, wie frech und respektlos ihm gestern abend seine sechzehnjährige Lieblingstochter Saschenka gekommen war. Aber die Frage war wohl eher rhetorisch gemeint, die Meinung seines Schriftführers interessierte den Kriminalbeamten herzlich wenig, weshalb er die Nase gleich wieder in das Protokoll steckte.

Dafür ereiferte sich Fandorin um so mehr.

»Das ist ja gerade das Problem, auf das ich noch zu sprechen kommen wollte. Sie brauchen sich einen wie Kokorin doch nur einmal näher anzuschauen. Das Schicksal meint es gut mit ihm, er hat alles: Reichtum, Freiheit, Bildung, Schönheit . « (Letzteres behauptete Fandorin einfach so, der Vollständigkeit halber, obwohl er überhaupt nicht wußte, wie der Tote ausgesehen hatte.) »Und doch spielt er mit dem Tod und bringt sich am Ende tatsächlich um. Wollen Sie wissen, warum? >Eure Welt kotzt uns an< - Kokorin hat es geschrieben, ohne viel Drumherum. Ihre Ideale - Karriere, Geld, Titel - bedeuten den meisten von uns Jungen gar nichts. Unsere Träume sind heute ganz andere. Glauben Sie, es ist Zufall, daß in den Zeitungen schon von einer Selbstmordepidemie die Rede ist? Die besten von den gebildeten jungen Leuten treten ab, ersticken an zu wenig geistigem Sauerstoff, und ihr, die Väter der Gesellschaft, wollt keine Lehren daraus ziehen!«

Man durfte annehmen, daß sich Fandorins anklagendes Pathos gegen Xaveri Gruschin richtete, andere »Väter der Gesellschaft« waren nicht in der Nähe; der schien jedoch nicht im mindesten gekränkt, im Gegenteil, er nickte vergnügt.

»Apropos!« sagte er grinsend und sah in seine Papiere, »da wir gerade bei zu wenig geistigem Sauerstoff sind: Tschicba- tschew-Gasse, Revier Meschtschanskaja, dritter Polizeiabschnitt. Gegen 10 Uhr morgens wurde der Schuster Iwan Jeremejew Buldygin (27) erhängt aufgefunden. Als Grund für den Selbstmord gab der Hausmeister Pjotr Silin Schwierigkeiten bei der Beschaffung von Rauschmitteln an. Die Besten treten ab, so ist es. Nur wir alten Narren, wir bleiben übrig.«

»Lachen Sie nur«, sagte Fandorin mit Bitterkeit in der Stimme. »In Petersburg und auch in Warschau vergeht kein Tag, an dem nicht ein Student, eine Kursistin oder gar ein Gymnasiast sich vergiftet, erschießt oder ertränkt. Sie finden das lustig ...«

Und Sie werden es bereuen, Xaveri Feofilaktowitsch, aber dann wird es zu spät sein! dachte er boshaft - obwohl ihm bis zu diesem Moment noch nie der Gedanke an Selbstmord gekommen war, dafür war er von Natur aus viel zu fidel. Stille trat ein, in der sich Fandorin ein bescheidenes kleines Grab ohne Kreuz und außerhalb der Kirchenmauern vorstellte, Gruschin mit dem Finger die Zeilen entlangfuhr und raschelnd umblätterte.

»Aber irgendwie geht das wirklich nicht mit rechten Dingen zu«, brummelte er. »Sind die denn alle verrückt geworden? Hier sind noch zwei Einträge, einer aus Abschnitt drei, Revier Mjasnitzkaja, Seite acht, der andere aus Abschnitt eins, Revier Rogoshskaja, Seite neun ... Um 12.35 Uhr wurde Revierinspektor Fjodoruk von der Gutsfrau Awdotja Fili- powna Spizyna (wohnhaft in Kaluga, derzeitiger Aufenthaltsort: Hotel »Bojarskaja«) zum Haus der Moskauer Feuerversicherungssozietät, Podkolokolnyj-Gasse, bestellt. Frau Spizyna gab an, neben dem Eingang zur dortigen Buchhandlung habe ein anständig gekleideter, ca. 25 Jahre alter Mann vor ihren Augen den Versuch unternommen, sich zu erschießen; er habe sich die Pistole an die Schläfe gesetzt, die jedoch offenbar versagte, worauf der verhinderte Selbstmörder verschwunden sei. Frau Spizyna verlangte von der Polizei, den jungen Mann ausfindig zu machen und der Geistlichkeit zu überstellen, damit ihm kirchliche Bußübungen auferlegt werden könnten. In Ermangelung eines realen Tatbestands wurden keinerlei Fahndungsmaßnahmen ergriffen.«

»Da sehen Sie, ich sagte es ja!« triumphierte Fandorin, dessen Rachedurst schon gestillt war.

»Gemach, gemach, junger Mann, das ist noch nicht alles«, unterbrach ihn der Vorgesetzte. »Hören Sie weiter. Seite neun. Es rapportiert Wachtmeister Semjonow. Der sitzt im Revier Rogoshskaja. Um elf Uhr wurde obiger zum Angestellten Nikolai Kukin, Verkäufer in der Kolonialwarenhandlung »Brykin & Söhne« gegenüber der Kleinen Jausa-Brücke, gerufen. Kukin sagte aus, einige Minuten zuvor sei ein Student auf die steinerne Brüstung der Brücke gestiegen und habe sich die Pistole an den Kopf gesetzt, in augenscheinlicher Absicht, sich zu erschießen. Kukin will ein metallisches Klicken gehört haben, jedoch keinen Schuß. Nach besagtem Klicken sei der Student auf das Trottoir hinuntergesprungen und schnell in Richtung Jausa-Straße gelaufen. Weitere Augenzeugen waren nicht zu ermitteln. Kukin befürwortet die Einrichtung eines polizeilichen Brückenpostens, da letztes Jahr an selbiger Stelle ein leichtes Mädchen ins Wasser gegangen sei, was sich ungünstig auf die Handelstätigkeit ausgewirkt habe.«

»Merkwürdig«, sagte Fandorin und zuckte mit den Achseln. »Was ist das für ein Ritual? Es wird doch nicht schon einen Geheimbund der Selbstmörder geben?«

»Von wegen Geheimbund«, versetzte Gruschin gedehnt und fuhr dann, allmählich in Fahrt kommend, fort: »Nein, Verehrtester, das ist alles viel einfacher. Jetzt wird mir übrigens auch die Sache mit der Revolvertrommel klar, die uns so spanisch vorkam! Es ist immer ein und derselbe. Ein Schabernack unseres lieben Studenten Kukorin. Schauen Sie her!« Gruschin war aufgestanden und flink an den Moskauer Stadtplan getreten, der neben der Tür an der Wand hing. »Hier ist die Kleine Brücke über die Jausa. Von da ist er die Jausa-Straße entlang, hat sich noch ein Stündchen irgendwo rumgedrückt und dann wieder in der Podkolokolny sehen lassen, bei der Feuersozietät. Dort hat er der guten Frau Spizyna einen Schreck eingejagt und sich anschließend in Richtung Kreml davongemacht. Gegen drei ist er im Alexandergarten angelangt, wo der Stadtrundgang auf die uns bekannte Art sein Ende nahm.«

»Aber wozu? Was hat das alles zu bedeuten?« fragte Fandorin, während seine Augen noch an dem Plan klebten.

»Was es zu bedeuten hat, darüber habe ich mir keine Gedanken zu machen. Aber wie die Sache gelaufen ist, kann ich mir vorstellen. Unser aristokratisches Studentlein hatte beschlossen, der Welt Adieu zu sagen. Aber vor dem Tod brauchte er noch einen kleinen Nervenkitzel. Irgendwo hab ich gelesen, daß dieses Spielchen amerikanisches Roulette genannt wird. Weil die Amerikaner es sich ausgedacht haben, in ihren Goldgruben. Du lädst die Trommel mit nur einer Patrone, läßt sie rotieren und drückst ab. Wenn du Glück hast, sprengst du die Bank, wenn nicht - pardon und adieu. So hat unser Studentlein einen Rundgang unternommen und dabei sein Schicksal herausgefordert. Gut möglich, daß er öfter als dreimal abgedrückt hat, nicht jeder Augenzeuge ruft gleich die Polizei. Die Gutsfrau mit ihrem Abonnement auf Seelenrettung und dieser Kukin mit seinen pri- vatimen Interessen waren nur wachsamer als andere - wie viele Versuche Kukorin im ganzen unternommen hat, weiß der liebe Gott. Vielleicht hat er auch eine Abmachung mit sich selber getroffen, so und so viele Runden spiele ich mit dem Tod, überlebe ich, dann soll es so sein. Aber das sind schon meine ganz persönlichen Phantasien. Jedenfalls war die Szene im Alexandergarten kein fatales Mißgeschick. Fortuna hat den jungen Mann zur dritten Mittagsstunde einfach mal im Stich gelassen.«

»Xaveri Feofilaktowitsch, Sie sind ein großes analytisches Talent!« Fandorin war aufrichtig begeistert. »Ich sehe geradezu vor mir, wie alles war.«

Das Lob schmeichelte Gruschin, auch wenn es von einem Milchbart kam.

»Nun ja. Man kann auch von alten Narren noch etwas mitkriegen«, versetzte er in überlegenem Tonfall. »Sie hätten mal wie ich das kriminalistische Handwerk erlernen sollen, nicht in so hochkulturellen Zeiten wie den heutigen, nein, unter Nikolaus I. Damals kannte man das Wort Kriminalpolizei noch gar nicht, und es gab in Moskau noch keine Behörde wie diese, nicht mal eine eigene Ermittlungsabteilung. Man hat einfach alles gemacht: heute einen Mörder gesucht, morgen zur Abschreckung auf dem Jahrmarkt herumgestanden und übermorgen die Kneipentour, ausweislose Existenzen aufspüren. Das schult die Beobachtungsgabe, die Menschenkenntnis, na, und man kriegt ein dickes Fell, ohne das man im Polizeiwesen nicht weit kommt!« endete der Kommissar mit einem Seitenhieb auf seinen Schriftführer und merkte erst jetzt, daß der ihm gar nicht zuzuhören schien und statt dessen seinen eignen Gedanken nachhing, die sichtlich nicht sonniger Natur waren.

»Was haben Sie denn noch, spucken Sie’s aus.«

»Ja, eines verstehe ich immer noch nicht . « Nervös zuckten Fandorins Brauen, zwei schöne Halbmonde. »Dieser Kukin gibt an, ein Student hätte auf der Brücke gestanden.«

»Natürlich, unser Student, wer sonst?«

»Und woher weiß ein Kukin, daß Kokorin Student ist? Er trug Gehrock und Hut, niemand im Alexandergarten hielt ihn für einen Studenten. In den Protokollen steht immer nur >dieser Mann< oder >der junge Herr< ... Das ist mir ein Rätsel!«

»Sie immer mit Ihren Rätseln!« Gruschin winkte ab. »Ein Idiot mag dieser Kukin sein, und basta. Er sieht einen jungen Herrn in Zivil und denkt: aha, ein Student. Oder er hat als Verkäufer ein Auge dafür, kennt seine Kundschaft, weil er von früh bis spät mit ihr zu tun hat.«

»Einen Kunden wie Kokorin hat Kukin in seinem Krämerladen noch nie zu Gesicht bekommen«, widersprach Fandorin.

»Na und? Was wollen Sie damit sagen?«

»Ich will damit sagen, daß es nicht verkehrt sein kann, Frau Spizyna und Herrn Kukin zu befragen. Sie, Xaveri Filakto- witsch, haben freilich nicht die Zeit, sich um solche Kleinigkeiten zu kümmern, aber wenn Sie nichts dagegen haben, könnte ich . « Fandorin hatte sich gar ein wenig vom Stuhl erhoben, so sehr wünschte er, daß Gruschin nichts dagegen haben mochte.

Gruschin wollte schon ein strenges Gesicht aufsetzen, besann sich jedoch. Ein bißchen Praxis zu schnuppern, zu lernen, wie man mit Zeugen umging, konnte dem Bürschchen wahrlich nicht schaden. Vielleicht wurde ja so noch etwas aus ihm. Und Gruschin sagte in großspurigem Ton: »Nichts einzuwenden!« Um dem Freudenschrei, der sich von des Kollegienregistrators Lippen lösen wollte, zuvorzukommen, fügte er hinzu: »Aber zuerst bitte ich gefälligst den Bericht für Seine Exzellenz zu Ende zu schreiben. Und noch etwas, mein Bester. Wir haben es jetzt vier Uhr. Darum begebe ich mich in mein trautes Heim. Und Sie erzählen mir morgen, wo der Verkäufer den Studenten her hat.«

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