Bruno Jenkins verschwindet

Die Hoch- und Großmeister-Hexe holte Luft, um weiterzusprechen: «Und jetzt will ich euch beweisen», sagte sie, «dass dieses Rezept perfekt funktioniert. Ihr habt hoffentlich begriffen, dass ihr den Wecker auf jede beliebige Zeit einstellen könnt. Es muss nicht unbedingt neun Uhr sein. So habe ich zum Beispiel gestern höchstpersönlich eine kleine Portion des Zaubermittels hergestellt, um es euch öffentlich vorführen zu können. Dabei habe ich das Rezept nun ein wenig abgewandelt. Bevor ich den Wecker röste, stelle ich ihn ein, aber ich habe ihn nicht für neun Uhr am kommenden Morgen gestellt, sondern für halb vier am kommenden Nachmittag. Und das bedeutet: auf halb vier heute Nachmittag. Und das -» sagte sie, indem sie einen Blick auf ihre Armbanduhr warf, «ist in genau sieben Minuten.»

Die Hexengesellschaft hatte in atemloser Spannung zugehört, denn alle spürten, dass sich irgendetwas Dramatisches anbahnte.

«Was habe ich also gestern mit dem Zaubersaft gemacht?», fragte die Hoch- und Großmeister-Hexe. «Ich werde euch verraten, was ich gemacht habe. Ich habe ein einziges Dröpfchen davon auf einen leckeren Schogoladenriegel dropfen lassen und habe diese Schogolade einem auf das abscheulichste stinkenden gleinen Gnaben gegeben, der in der Hotelhalle herumgelungert hat.»

Die Hoch- und Großmeister-Hexe legte eine Pause ein. Ihre Zuhörerinnen gaben keinen Mucks von sich, sondern warteten darauf, dass sie fortfuhr.

«Ich schaute zu, wie dieser widerwärtige gleine Stinker den leckeren Schogoladenriegel auffutterte, und als er fertig war, da hab ich gefragt: Daraufhin hab ich zu ihm gesagt: , und er hat ja gesagt. Da hab ich gesagt: , hat da der gierige gleine Gnabe gegreischt, Und damit ist die Bühne vorbereitet!», rief die Hoch- und Großmeister-Hexe. «Die Brobe aufs Exempel kann in diesem Augenblick beginnen! Und denkt daran! Bevor ich den Wecker gestern geröstet habe, hab ich ihn für heute Nachmittag halb vier gestellt. Es ist jetzt -» sie schaute wieder auf ihre Uhr, «es ist jetzt genau fünfzehn Uhr fünfundzwanzig, und das egelhafte gleine Stinktier, das sich in fünf Minuten in eine Maus verwandeln wird, müsste genau jetzt draußen vor den Türen stehen!»

O verflixt, sie hatte hundertprozentig Recht. Der Junge, wer er auch sein mochte, ruckelte schon an der Klinke und schlug mit der Faust gegen die Türflügel.

«Rasch!», kreischte die Hoch- und Großmeister-Hexe. «Setzt eure Berücken auf! Zieht eure Handschuhe an! Zieht eure Schuhe an!»

Es entstand ein gewaltiges Geschuffele und Geraschele, während die Perücken und Handschuhe und Schuhe angezogen wurden, und ich sah, dass auch die Hoch- und GroßmeisterHexe nach ihrer Maske griff und sie über ihr schauerliches Gesicht stülpte. Es war wirklich verblüffend, wie sie diese Maske veränderte. Im Handumdrehen war sie wieder eine hübsche junge Dame.

«Lass mich rein!», erklang die Stimme des Jungen hinter den Flügeltüren. «Wo sind diese Schokoladentafeln, die Sie mir versprochen haben? Ich bin hier, um sie abzuholen! Her damit!»

«Er stinkt nicht nur, er ist auch noch gierig», stellte die Hoch- und Großmeister-Hexe fest. «Entfernt die Getten von den Düren und lasst ihn eintreten.» Das Merkwürdigste an der Maske war, dass sich ihre Lippen ganz natürlich bewegten, wenn sie sprach. Man konnte wirklich nicht erkennen, dass es eine Maske war.

Eine der Hexen sprang auf und nahm die Ketten ab. Sie stieß die beiden riesigen Flügel auf. Dann hörte ich sie sagen: «O hallo, kleiner Mann. Wie nett, dich zu sehen. Du bist wegen der Schokolade gekommen, nicht wahr? Wir haben sie schon für dich bereitgelegt. Komm nur herein.»

Ein kleiner Junge, der kurze graue Hosen, ein weißes T-Shirt und Turnschuhe trug, trat in den Saal. Ich wusste sofort, wer er war. Er hieß Bruno Jenkins, und er wohnte mit seinen Eltern im Hotel. Ich fand ihn nicht besonders. Er war einer von den Jungen, die immer was essen, wenn man sie trifft. Läuft man ihm in der Hotelhalle über den Weg, so stopft er sich gerade ein Stück Kuchen in den Mund. Trifft man ihn auf dem Flur, so wirft er sich eine Hand voll Kartoffelchips in den Mund. Sieht man ihn zufällig im Hotelgarten, so verschlingt er gerade einen Schokoladenriegel, und die beiden nächsten ragen ihm schon aus der Hosentasche. Und außerdem bläst er sich ewig damit auf, dass sein Vater mehr Geld verdient als meiner und dass ihnen drei Autos gehören. Aber was das Schlimmste ist, gestern früh hab ich ihn auf der Hotelterrasse erwischt, da hat er mit einem Vergrößerungsglas auf den Steinplatten gekniet. Und über eine von diesen Platten ist eine Kette von Ameisen marschiert, und Bruno Jenkins hat mit dem Vergrößerungsglas einen Sonnenstrahl eingefangen und gebündelt und eine Ameise nach der anderen damit versengt. «Ich schau so gern zu, wenn sie verbrennen», sagte er. «Das ist Tierquälerei!», rief ich. «Hör sofort damit auf!» - «Wolln mal sehen, ob du mich dazu kriegst», antwortete er. In dem Augenblick hatte ich ihn auch schon mit aller Kraft beiseite geschubst, und er war seitwärts umgekippt. Sein Vergrößerungsglas fiel dabei auf die Steinplatten und war natürlich in tausend Scherben zerbrochen, und er war aufgesprungen und hatte geschrien: «Dafür wird mein Vater deinen belangen!» Und dann war er weggelaufen, wahrscheinlich um seinen reichen Vater zu suchen. Das war das Letzte, bis zum jetzigen Augenblick. Ich bezweifelte sehr, dass er sich in eine Maus verwandeln würde, obgleich ich zugeben muss, dass ich es mir heimlich wünschte. So oder so, ich beneidete ihn nicht, so allein vor all den Hexen.

«Mein Schätzchen», gurrte die Hoch- und Großmeister-Hexe oben auf ihrem Podium. «Ich habe deine Schokolädchen hier schon für dich liegen! Aber komm zuerst einmal hier herauf und sag all diesen reizenden Damen guten Tag!» Ihre Stimme klang jetzt auch ganz anders. Sie war sanft und weich und triefte fast vor Süßigkeit.

Bruno schaute sich etwas verwirrt um, ließ sich jedoch brav zum Podium führen, wo er neben der Hoch- und GroßmeisterHexe stand und fragte: «Okay, wo sind meine sechs Tafeln Schokolade?»

Ich sah, wie die Hexe, die ihn hereingeführt hatte, die Kette wieder lautlos um die Türgriffe schlang. Bruno merkte nichts davon. Er war ganz wild auf seine Schokolade.

«Es ist jetzt genau eine Minute vor halb vier!», verkündete die Hoch- und Großmeister-Hexe.

«Was geht denn hier vor?», fragte Bruno. Angst hatte er offenbar nicht, aber es schien ihm etwas unbehaglich zu sein. «Was ist denn?», fragte er. «Geben Sie mir meine Schokolade!»

«Noch dreißig Sekunden!», schrie die Hoch- und Großmeister-Hexe und packte Bruno am Arm. Bruno schüttelte ihre Hand ab und starrte sie an. Sie starrte ihn ebenfalls an und lächelte mit den Lippen ihrer Maske. Die ganze Hexengesellschaft starrte Bruno an.

«Zwanzig Sekunden!», rief die Hoch- und GroßmeisterHexe.

«Geben Sie mir die Schokolade!», jaulte Bruno, der plötzlich misstrauisch wurde. «Geben Sie mir die Schokolade und lassen Sie mich hier raus!»

«Fünfzehn Sekunden!», rief die Hoch- und GroßmeisterHexe.

«Ob mir eine von euch Vogelscheuchen vielleicht freundlicherweise verraten könnte, worum es hier geht?», rief Bruno.

«Zehn Sekunden!», kreischte die Hoch- und GroßmeisterHexe. «Neun... acht... sieben... sechs... fünf... vier... drrrei... zwei... eins... null! Und: Feuääärrr!»

Ich hätte schwören können, dass ich einen Wecker läuten hörte. Ich sah jedenfalls, wie Bruno einen Satz machte. Er sprang so in die Höhe, als ob ihm jemand mit einer Hutnadel kräftig in den Popo gestochen hätte, und er jammerte «Autsch!». Er sprang so hoch, dass er auf einem kleinen Tisch oben auf dem Podium landete, und er fing an, auf dieser Tischplatte herumzuhüpfen und mit den Armen zu wedeln und aus vollem Halse zu brüllen. Dann wurde er plötzlich stumm. Sein ganzer Körper versteifte sich.

«Die Weckerglocke ist abgelaufen!», kreischte die Hoch-und Großmeister-Hexe. «Der Mäusemacher beginnt zu wirken!» Sie begann, oben auf dem Podium herumzutanzen und dabei in ihre behandschuhten Hände zu klatschen, und dann rief sie aus:

«Dies Stinkekind, die faule Nuss, wird Hokuspokus Fidibus ganz niedlich und ganz klitzeklein, in eine Maus verwandelt sein.»

Während dieses Singsangs wurde Bruno in jedem Augenblick kleiner. Ich konnte jetzt sehen, wie er schrumpfte...

Jetzt schienen seine Kleider zu verschwinden, und am ganzen Leib wuchs ihm braunes Fell...

Plötzlich hatte er einen Schwanz...

Und dann sprossen ihm Schnurrhaare...

Jetzt hatte er vier Pfoten...

Und es geschah alles so rasch, es dauerte nur Sekunden, und plötzlich gab es ihn gar nicht mehr...

Eine kleine braune Maus rannte auf der Tischplatte hin und her.

«Bravo!», schrien die Zuhörerinnen. «Sie hat es geschafft. Es funktioniert! Es ist phantastisch! Es ist überwältigend! Es ist das Größte, was es gibt! Du bist ein Wunder, o Klügste aller Klugen!» Sie waren aufgesprungen, und sie klatschten und applaudierten, und die Hoch- und Großmeister-Hexe zog eine Mausefalle aus den Falten ihres Gewandes und schickte sich an, sie zu spannen.

O nein!, dachte ich. Das darf nicht geschehen! Bruno Jenkins mochte ja wirklich ein Stinker gewesen sein, aber zum Kuckuck, ich wollte doch nicht dabei zuschauen müssen, wie sie ihm seinen Kopf absäbelten.

«Wo steckt er?», fauchte die Hoch- und Großmeister-Hexe und suchte auf dem Podium herum. «Wo hat sich diese Maus versteckt?»

Sie konnte sie nicht entdecken. Der schlaue Bruno musste vom Tisch gesprungen sein und sich in irgendeine Ritze oder vielleicht sogar in ein kleines Loch verkrochen haben. Dem Himmel sei Dank dafür.

«Das spielt jetzt keine Rolle!», rief die Hoch- und Großmeister-Hexe. «Schweigt still und setzt euch hin!»

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