Es war herrlich, wieder in Norwegen, wieder in dem schönen alten Haus meiner Großmutter zu sein. Weil ich jetzt aber so klein war, kam mir alles anders vor, und ich brauchte eine Zeit, um mich überall zurechtzufinden. Meine Welt bestand aus Teppichen und Tischbeinen und Stuhlbeinen und den kleinen Schlupfwinkeln hinter den großen Möbelstücken. Eine verschlossene Tür konnte nicht geöffnet werden, und was sich auf einem Tisch befand, blieb unerreichbar. Nach ein paar Tagen begann meine Großmutter jedoch, Kleinigkeiten für mich zu erfinden, die mir das Leben etwas leichter machen sollten. Sie bestellte einen Tischler, der eine Reihe von langen, aber sehr schmalen Trittleitern baute, und sie lehnte eine an jeden Tisch im ganzen Hause, sodass ich immer hinaufklettern konnte, wenn ich es wollte. Außerdem konstruierte sie aus Draht und Federzügen und Rollen und schweren Gewichten, die an langen Stricken hingen, selber einen überaus kunstreichen Türöffner, und bald war auch jede Tür im ganzen Hause damit ausgerüstet. Ich brauchte nur mit den Vorderpfoten auf ein kleines Holzbrett zu tippen, und -schwups - schon zog sich eine Feder, ein Gewicht wurde ausgelöst, und die Tür schwang auf.
Als Nächstes entwickelte sie ein sinnreiches System, mittels dessen ich überall das Licht anknipsen konnte, wenn ich nachts ein Zimmer betrat. Ich kann nicht erklären, wie es funktionierte, weil ich nichts von Elektrizität verstehe, aber in jedem Zimmer des Hauses war neben der Tür ein kleiner Knopf in den Fußboden eingelassen, und wenn ich meine Pfote auch nur leicht auf den Knopf legte, ging das Licht an.
Wenn ich noch einmal drückte, ging das Licht wieder aus. Meine Großmutter machte mir eine winzige Zahnbürste. Sie benutzte ein Streichholz als Griff, und da hinein bohrte sie kleine Borstenstücke, die sie von einer ihrer Haarbürsten abschnippelte. «Du darfst keine Löcher in den Zähnen bekommen», sagte sie. «Ich kann doch eine Maus nicht zum Zahnarzt bringen! Er würde mich für verrückt erklären!»
«Komisch», sagte ich, «aber seit ich eine Maus bin, ist mir der Geschmack von Süßigkeiten und Schokolade zuwider. Deshalb glaub ich, dass ich gar keine Löcher kriege.»
«Trotzdem, nach jeder Mahlzeit werden die Zähne geputzt!», befahl meine Großmutter, und ich gehorchte ihr. Als Badewanne gab sie mir eine silberne Zuckerschale, und darin badete ich mich jeden Abend, bevor ich zu Bett ging. Sie wollte niemanden mehr im Hause haben, nicht einmal eine Bedienerin oder einen Koch. Wir lebten ganz zurückgezogen, und einer war mit der Gesellschaft des anderen sehr glücklich und zufrieden. Als ich eines Abends vorm Kaminfeuer auf dem Schoß meiner Großmutter lag, sagte sie zu mir: «Ich möchte wirklich wissen, was mit dem kleinen Bruno passiert ist.»
«Es würde mich nicht wundern, wenn ihn sein Vater dem Portier in die Hand gedrückt hätte, damit er ihn im Löscheimer ertränkt», antwortete ich.
«Ich fürchte, du könntest Recht haben», seufzte meine Großmutter. «Das arme kleine Ding.»
Wir versanken für eine Weile in Schweigen, während meine Großmutter ihre schwarze Zigarre paffte und ich gemütlich in der Wärme vor mich hin döste.
«Kann ich dich etwas fragen, Großmama?», sagte ich endlich.
«Du kannst mich alles fragen, was du willst, mein Schätzelchen.»
«Wie lange lebt eine Maus?»
«Aha», erwiderte sie. «Auf diese Frage habe ich schon gewartet.» Wieder herrschte Schweigen. Sie saß da und rauchte und schaute ins Feuer.
«Na gut», fing ich an. «Wie lange leben wir, wir Mäuse?»
«Ich habe mich über Mäuse informiert», erwiderte sie. «Ich habe versucht, alles über sie herauszufinden, was es überhaupt von ihnen zu wissen gibt.»
«Schieß los, Großmama. Warum sagst du's mir denn nicht?»
«Wenn du's wirklich wissen willst», sagte sie, «so muss ich dir leider gestehen, dass Mäuse nicht sehr lange leben.»
«Wie lange?», fragte ich.
«Tja, eine gewöhnliche Maus lebt nur ungefähr drei Jahre», erwiderte sie. «Aber du bist keine gewöhnliche Maus. Du bist ein Mäusemensch, und das ist ganz etwas anderes.»
«Wie anders denn?», fragte ich. «Wie lange lebt ein Mäusemensch, Großmama?»
«Länger», antwortete sie. «Viel länger.»
«Wie viel länger?», fragte ich.
«Ein Mäusemensch wird mit größter Wahrscheinlichkeit dreimal so alt wie eine gewöhnliche Maus», sagte meine Großmutter. «Ungefähr neun Jahre.»
«Gut!», rief ich. «Das ist großartig! Das ist die beste Nachricht, die ich jemals gehört habe.»
«Warum sagst du das?», fragte sie verblüfft.
«Weil ich keinen Tag länger leben will als du», entgegnete ich. «Ich könnte es nicht ertragen, wenn sich jemand anders um mich kümmerte.»
Danach schwiegen wir wieder eine Weile. Sie hatte eine köstliche Art, mich mit der einen Fingerspitze hinter den Ohren zu kraulen. Man fühlte sich himmlisch dabei.
«Wie alt bist du, Großmama?», fragte ich.
«Ich bin sechsundachtzig», antwortete sie.
«Wirst du noch acht oder neun Jahre leben?» «Das könnte schon sein», erwiderte sie. «Mit ein bisschen Glück.»
«Das musst du haben», sagte ich. «Denn bis dahin werde ich eine uralte Maus sein, und du wirst eine uralte Großmutter sein, und dann können wir beide miteinander sterben.» «Das wäre ideal», sagte sie.
Danach machte ich ein kleines Nickerchen. Ich schloss nur die Augen und dachte an gar nichts und fühlte mich im Einklang mit der ganzen Welt.
«Soll ich dir noch etwas von dir erzählen, etwas sehr Interessantes?», fragte meine Großmutter.
«O ja, bitte, Großmama», erwiderte ich, ohne die Augen zu öffnen.
«Zuerst konnte ich es gar nicht glauben, aber offensichtlich ist es vollkommen wahr», begann sie.
«Was denn?», fragte ich.
«Das Herz einer Maus», sagte sie, «und das bedeutet: Dein Herz schlägt fünfhundertmal in der Minute. Ist das nicht fabelhaft?»
«Das ist gar nicht möglich», antwortete ich und riss meine Augen weit auf.
«Es ist so wahr, wie ich hier sitze», sagte sie. «Es ist eine Art von Wunder.»
«Das sind ja fast neun Schläge pro Sekunde», rief ich, nachdem ich es im Kopf ausgerechnet hatte.
«Richtig», antwortete sie. «Dein Herz schlägt so schnell, dass man die einzelnen Schläge unmöglich hören kann. Was man hört, ist ein sanftes Summen.»
Sie trug ein Spitzenkleid, und die Spitze kitzelte mich in der Nase. Ich musste meinen Kopf auf meine Vorderpfoten legen.
«Hast du mein Herz schon mal summen gehört?», fragte ich sie.
«Oft», erwiderte sie. «Ich höre es immer, wenn du nachts dicht neben mir auf dem Kopfkissen liegst.»
Danach blieben wir beide lange Zeit schweigend vorm Feuer sitzen und dachten über diese wunderbaren Dinge nach.
«Mein Schätzelchen», sagte sie schließlich. «Bist du auch ganz bestimmt nicht traurig, dass du für den Rest deines Lebens eine Maus bleiben musst?»
«Das ist mir ganz egal», antwortete ich. «Es spielt gar keine Rolle, wer man ist oder wie man aussieht, solange einen nur jemand liebt.»