Meine Großmutter trug mich in ihr Schlafzimmer zurück und setzte mich auf den Tisch. Die kostbare Flasche stellte sie neben mich. «Um wie viel Uhr essen die Hexen im Speisesaal zu Abend?», fragte sie mich.
«Um acht», erwiderte ich.
Sie warf einen Blick auf ihre Uhr. «Es ist jetzt zehn Minuten nach sechs», sagte sie. «Wir haben nur die Zeit bis acht, um uns unseren nächsten Schritt zu überlegen.» Da fiel ihr Blick plötzlich auf Bruno. Er saß immer noch in der Bananenschüssel auf dem Tisch. Er hatte drei Bananen aufgefuttert und nahm jetzt eine vierte in Angriff. Er war richtiggehend fett geworden.
«Das reicht allmählich», entschied meine Großmutter, hob ihn aus der Schüssel und setzte ihn auf die Tischplatte. «Ich glaube, es ist an der Zeit, dass wir diesen kleinen Burschen in den Schoß seiner Familie zurücktransportieren. Findest du nicht auch, Bruno?»
Bruno runzelte die Stirn und schaute sie an. Ich hatte vorher noch nie eine Maus gesehen, die die Stirn kraus zieht, aber er brachte das zustande. «Meine Eltern lassen mich so viel essen, wie ich will», sagte er. «Ich will lieber bei denen sein als bei Ihnen.»
«Aber das ist doch selbstverständlich», antwortete meine Großmutter. «Hast du eine Ahnung, wo sich deine Eltern in diesem Augenblick aufhalten könnten?»
«Vor gar nicht langer Zeit haben sie noch in der Halle gesessen», sagte ich. «Ich hab sie dort gesehen, als wir auf dem Weg hier herauf da vorbeigekommen sind.»
«Na schön», antwortete meine Großmutter. «Dann wollen wir mal sehen, ob sie da noch sind. Willst du mitkommen?», setzte sie hinzu und schaute mich an.
«Ja bitte», entgegnete ich.
«Ich stecke euch beide in meine Handtasche», verkündete sie. «Haltet euch ruhig und lasst euch nicht sehen. Wenn ihr von Zeit zu Zeit Luft schnappen müsst, so streckt nicht mehr als eure Nasenspitzen heraus.»
Ihre Handtasche war eine große sackartige Angelegenheit aus schwarzem weichen Leder mit einem Verschluss aus Schildpatt. Sie hob Bruno und mich auf und stopfte uns hinein. «Ich werde den Verschluss offen lassen», sagte sie. «Aber passt auf, dass man euch nicht sehen kann.»
Ich hatte jedoch nicht die Absicht, mich außer Sichtweite zu halten. Ich wollte alles mitkriegen. Ich setzte mich in der Handtasche in eine kleine Seitentasche, dicht beim Verschluss, und von dort aus konnte ich meinen Kopf herausstrecken, wann immer ich es wollte.
«He!», rief Bruno. «Geben Sie mir den Rest von der Banane, die ich gegessen habe!»
«Na gut, na gut», antwortete meine Großmutter. «Du sollst alles haben, was dich friedlich hält.» Sie ließ die halb aufgefressene Banane in ihre Tasche fallen, hängte sich die Handtasche dann über den Arm, marschierte aus dem Zimmer und pochte mit ihrem Krückstock den Korridor entlang.
Wir fuhren mit dem Aufzug ins Erdgeschoss, und dort bahnten wir uns den Weg durch das Lesezimmer in die Halle. Und dort saßen Mister und Missis Jenkins dann auch in zwei Sesseln und hatten zwischen sich einen runden niedrigen Tisch mit einer Glasplatte. Es gab dort noch verschiedene andere Gruppen, aber die Jenkins' waren das einzige Ehepaar, das alleine saß. Mister Jenkins las eine Zeitung, Missis Jenkins strickte irgendetwas Umfangreiches und Senffarbenes. Ich schaute nur mit der Nase und den Augen über den Verschluss von der Handtasche meiner Großmutter hinaus, aber ich hatte einen fabelhaften Überblick. Ich konnte alles sehen.
Meine Großmutter, in schwarze Spitze gehüllt, pochte quer durch die Halle und blieb vor dem Tisch der Jenkins' stehen. «Sind Sie Mister und Missis Jenkins?», fragte sie. Mister Jenkins warf ihr über den Rand seiner Zeitung hinweg einen Blick zu und runzelte die Stirn.
«Ja», antwortete er. «Ich bin Mister Jenkins. Was kann ich für Sie tun, gnädige Frau?»
«Ich fürchte, ich habe einige nicht sehr erfreuliche Nachrichten für Sie. Es dreht sich um Ihren Sohn, um Bruno.»
«Was ist mit Bruno?», fragte Mister Jenkins. Missis Jenkins schaute auf, strickte aber weiter. «Was hat der kleine Lauser denn jetzt schon wieder angerichtet?», fragte Mister Jenkins. «Wahrscheinlich räubert er die Küche aus.»
«Etwas ärger als das ist es schon», sagte meine Großmutter. «Ob wir uns vielleicht irgendwohin zurückziehen könnten, wo man ungestört Privatgespräche führen kann?»
«Privat?», fragte Mister Jenkins. «Warum müssen wir denn Privatgespräche führen?»
«Es ist nicht ganz einfach für mich, das richtig zu erklären», fuhr meine Großmutter fort. «Mir wäre es lieber, wenn wir alle zusammen in Ihr Zimmer hinaufgingen und Platz nähmen, ehe ich Ihnen die Einzelheiten berichte.»
Mister Jenkins ließ die Zeitung sinken. Missis Jenkins hörte auf zu stricken. «Ich denke gar nicht daran, in mein Zimmer hinaufzugehen, beste Frau», sagte Jenkins. «Ich finde es hier sehr gemütlich, besten Dank also.» Er war ein großer grober Mann, und er war es nicht gewöhnt, von jemandem auch nur einen Ratschlag anzunehmen. «Sagen Sie uns also gefälligst, was Sie auf dem Herzen haben, und lassen Sie uns dann wieder alleine», fügte er hinzu. Er redete so, als ob er einen Vertreter vor sich hätte, der ihm an der Haustür einen Staubsauger aufschwatzen wollte.
Meine arme Großmutter, die bis jetzt versucht hatte, ihn so freundlich und rücksichtsvoll wie möglich zu behandeln, stellte jetzt selber die Stacheln auf. «Hier können wir uns unter keinen Umständen unterhalten», sagte sie. «Hier sind zu viele Leute. Es dreht sich um eine ziemlich delikate und persönliche Angelegenheit.»
«Ich unterhalte mich da, wo's mir verflixt nochmal passt, meine Gnädigste», polterte Mister Jenkins. «Und nun machen Sie schon, heraus damit! Wenn Bruno ein Fenster zerschmissen hat oder auf Ihre Brille getreten ist, dann komm ich für den Schaden auf, aber ich denke gar nicht daran, mich aus diesem Sessel zu erheben!»
Ein oder zwei andere Gruppen in der Halle fingen jetzt an, uns anzustarren.
«Wo steckt Bruno?», fragte Mister Jenkins. «Sagen Sie ihm, dass er zu mir kommen soll.»
«Er ist bereits da», sagte meine Großmutter. «Er steckt in meiner Handtasche.» Sie klopfte mit ihrem Krückstock an den großen weichen Lederbeutel.
«Was soll das heißen, er steckt in Ihrer Handtasche?», rief Mister Jenkins.
«Soll das vielleicht komisch sein?», fragte Missis Jenkins beleidigt.
«An dieser Sache ist überhaupt nichts komisch», sagte meine Großmutter. «Ihrem Sohn ist ein ziemlich unangenehmes Missgeschick passiert.»
«Er hat ein Missgeschick nach dem anderen», sagte Mister Jenkins. «Er hat das Missgeschick, sich zu überfressen, und er hat das Missgeschick, unter Blähungen zu leiden. Sie sollten ihn mal nach dem Mittagessen hören. Er knattert wie eine Blaskapelle! Aber eine anständige Portion Rizinusöl bringt die Geschichte wieder in Ordnung. Also, wo steckt das kleine Luder?»
«Das habe ich Ihnen bereits gesagt», entgegnete meine Großmutter. «Er befindet sich in meiner Handtasche. Aber ich glaube wirklich, es wäre besser, wenn wir uns woandershin zurückziehen können, ehe Sie ihm in seinem gegenwärtigen Zustand begegnen.»
«Dies Weib ist verrückt», stellte Missis Jenkins fest. «Sag ihr, dass sie weggehen soll.»
«Die nackte Tatsache ist die», fuhr meine Großmutter fort, «dass sich Ihr Sohn Bruno ziemlich drastisch verwandelt hat.»
«Verwandelt?», rief Mister Jenkins. «Was zum Teufel wollen Sie mit verwandelt sagen?»
«Gehen Sie!», sagte Missis Jenkins. «Sie sind eine alte Frau, die den Verstand verloren hat!»
«Ich versuche Ihnen so schonend wie möglich beizubringen, dass Bruno sich tatsächlich in meiner Handtasche befindet», sagte meine Großmutter. «Mein eigener Enkelsohn hat außerdem gesehen, was sie mit ihm gemacht haben.»
«Hat wen was mit ihm machen sehen, Herrgott nochmal!», rief Mister Jenkins. Er hatte einen schwarzen Schnurrbart auf der Oberlippe, der immer auf und ab zuckte, wenn er schrie.
«Wie ihn die Hexen in eine Maus verwandelt haben.»
«Ruf den Direktor, Lieber», sagte Missis Jenkins zu ihrem Gemahl. «Lass diese verrückte Alte aus dem Hotel werfen.»
In diesem Augenblick riss meiner Großmutter der Geduldsfaden. Sie wühlte in ihrer Handtasche herum und erwischte Bruno. Sie zog ihn heraus und setzte ihn auf die gläserne Tischplatte. Missis Jenkins warf einen einzigen Blick auf die dicke kleine braune Maus, die immer noch an einem Stück Banane schmatzte, und schon stieß sie einen Schrei aus, der die Glaskristalle des Kronleuchters erklirren ließ. Sie fuhr aus ihrem Sessel empor und schrie: «Eine Maus! Weg damit! Ich kann diese Viecher nicht ausstehen!»
«Das ist Bruno», sagte meine Großmutter.
«Sie freches unverschämtes altes Weibsstück!», rief Mister Jenkins. Er begann, mit seiner Zeitung vor Bruno herumzuwedeln, um ihn vom Tisch zu scheuchen. Meine Großmutter stürzte sich vorwärts und schaffte es gerade, ihn noch zu erwischen, ehe er zu Boden gefegt wurde. Missis Jenkins schrie immer noch aus vollem Halse, und Mister Jenkins baute sich drohend vor uns auf und schrie ebenfalls: «Hinaus! Wie können Sie es wagen, meine Gattin so zu erschrecken. Nehmen Sie auf der Stelle Ihre dreckige Maus wieder weg!»
«Hilfe!», heulte Missis Jenkins. Ihr Gesicht hatte die Farbe von Fischbäuchen angenommen.
«Na gut, ich hab mein Bestes versucht», sagte meine Großmutter. Und mit diesen Worten drehte sie sich um und rauschte aus dem Saal, wobei sie Bruno mit sich nahm.