Dreißig Meter unter dem Meer Eine Stunde später

Er kam wieder zu sich, als man ihn an Bord des U-Bootes brachte, aber Indiana erinnerte sich an das, was in der darauf folgenden Stunde geschehen war, nur wie an einen Traum: schemenhaft und verschwommen. Das Boot war sofort in See gegangen und wohl auch getaucht, denn er erinnerte sich, nicht lange danach ein unheimliches Grollen und Dröhnen vernom men zu haben, gefolgt von einer Erschütterung, die das Boot wild hin und her warf und den stählernen Rumpf wie ein lebendes Wesen, das Schmerzen litt, aufstöhnen ließ. Danach war der Bootsrumpf lange Zeit vom Schrillen der Alarmglok-ken und aufgeregten Stimmen und den Geräuschen rennender Menschen erfüllt gewesen, aber schließlich war wieder Ruhe eingekehrt, und erst dann hatte Indiana wirklich verstanden, was geschehen war: Die Insel der Langohren existierte nicht mehr.

Indiana fand erst richtig ins Bewußtsein zurück, als die Tür geöffnet wurde und irgend jemand die winzige Kabine betrat, in der er sich befand. Ganz flüchtig schoß ihm durch den Kopf, welchen Luxus die» Einzelzelle «darstellte, in die man ihn gebracht hatte. Mit all den zusätzlichen Passagieren und Gefangenen mußte in dem Unterseeboot eine geradezu uner trägliche Enge herrschen.

Er öffnete die Augen. Im ersten Moment sah er nichts als bunte Schlieren und Bewegung, aber dann gewahrte er einen hellen Fleck über sich, der rasch zum Gesicht eines dunkelhaa rigen Mannes gerann, den er nicht kannte. Einen Augenblick später konnte er auch die Uniform erkennen, die der Unbe kannte trug.

«Oh«, murmelte er schwach.»So schnell?«

Der andere runzelte die Stirn.»So schnell was?«fragte er in fast akzentfreiem Englisch.

«Das Erschießungskommando«, sagte Indiana.»Ich dachte, ich hätte noch ein bißchen mehr Zeit.«

Der Fremde machte ein Gesicht, als wüßte er nicht ganz, ob er lachen oder zornig werden sollte, und entschloß sich schließlich zu einer Miene, die irgendwo dazwischen lag.»Man hat mich vor Ihrem etwas skurrilen Humor gewarnt, Jones«, sagte er.»Ich bin Dr. Müller, der Schiffsarzt. Ich soll mich um Sie kümmern. «Er musterte Indiana mit einem sehr langen, prüfenden Blick, zog eine Grimasse und fügte hinzu:»Sieht so aus, als hätten Sie es nötig.«

Indiana setzte sich behutsam auf der schmalen Liege auf und biß die Zähne zusammen, als Müller routiniert, aber alles andere als sanft seine diversen Verletzungen zu untersuchen begann.

«Ich wußte gar nicht, daß die Nazis ihre Gefangenen foltern, ehe sie sie erschießen«, stöhnte er.

Müller blickte kurz hoch. In seinen Augen blitzte es amüsiert, aber sein Gesicht blieb völlig ausdruckslos.»Tun wir gar nicht«, sagte er und beugte sich wieder über Indianas Oberkör per.»Sie erschießen, meine ich. Gewöhnlich nageln wir sie ans Kreuz.«

Indiana konnte nicht sehen, was er genau tat, aber es fühlte sich zumindest an, als träfe er schon gewisse Vorbereitungen, seine Worte in die Tat umzusetzen.

«Ich hoffe doch, standesgemäß an ein Hakenkreuz«, sagte Indiana gepreßt.

«Sicher«, antwortete Müller.»Das Problem ist nur, daß wir ihnen vorher Arme und Beine brechen müssen, damit sie auch passen.«

Indiana grinste und sog eine Sekunde später vor Schmerz hörbar die Luft ein, als Müller unsanft auf sein Handgelenk drückte.»Au!«

«Gebrochen ist jedenfalls nichts«, sagte Müller fröhlich. Er schüttelte den Kopf.»Sie sind entweder der zäheste Bursche, der mir je untergekommen ist, oder Sie haben geradezu unverschämtes Glück gehabt. Was haben Sie getan, Jones? Versucht, den Weltrekord im 100-Meter-Kraulen in kochender Lava zu brechen?«

«Nein. Ich fürchte, ich bin zu tief darüber hinweggeflogen«, antwortete Indiana.

Müller blinzelte, sah ihn einen Moment verwirrt an, zuckte dann aber nur mit den Schultern.»Eigentlich gehören Sie für mindestens vierzehn Tage ins Krankenhaus«, sagte er.»Trotz dem: Können Sie laufen?«

«Ich denke schon«, antwortete Indiana.»Wieso? Ich dachte, dieses Schiff hat eine Maschine.«

«Zwei sogar«, erwiderte Müller.»Der Kommandant möchte Sie sprechen. Fühlen Sie sich kräftig genug dazu?«

«Was passiert, wenn ich nein sage?«erkundigte sich Indiana.

Müller lächelte nur, trat zurück und machte eine einladende Geste, und Indiana stemmte sich mühsam in die Höhe und folgte ihm.

Seine Vermutungen über die Enge an Bord des Schiffes waren offensichtlich falsch gewesen. Es war nicht so schlimm, wie er geglaubt hatte. Es war schlimmer.

Das Schiff barst vor Menschen geradezu aus den Nähten. Außer der normalen Besatzung, den Gefangenen und den Überlebenden von Delanos Gruppe hielt sich noch eine erstaunlich große Anzahl Marinesoldaten an Bord auf, so daß sie im wahrsten Sinne des Wortes über die Männer hinwegstei gen mußten, um sich ihren Weg zum Kommandoraum zu bahnen. Auch in der Zentrale herrschte eine drückende Enge. Indiana verstand so gut wie nichts von Unterseebooten, aber er schätzte, daß dieses Schiff mindestens das Dreifache seiner normalen Besatzung an Bord hatte. Wenn ihre Vermutung stimmte und das Boot tatsächlich zu Delanos kleiner Flotte gehört hatte, dann mußten die Stunden, die es vor der Insel gelegen und gewartet hatte, für die Männer hier drinnen die Hölle gewesen sein.

Müller deutete auf einen Mann, der mit dem Rücken zur Tür am Periskop stand. Obwohl er kein Wort sagte, schien er ihre Anwesenheit zu spüren, denn er drehte sich um, als Indiana ihm auf zwei Schritte nahe gekommen war, und musterte ihn einige Sekunden lang mit undeutbarem Ausdruck. Indiana schätzte sein Alter auf vielleicht fünfzig Jahre, eher etwas jünger. Er sah aus wie ein Mann, der sehr hart sein konnte. Trotzdem wirkte er nicht unsympathisch.

«Dr. Jones, nehme ich an«, sagte er.»Ich bin Kapitänleutnant Brenner. Willkommen an Bord.«

«Oh, ich bitte Sie«, sagte Indiana.»Die Freude ist ganz auf meiner Seite.«

Brenner entging der sarkastische Unterton in Indianas Stimme keineswegs, aber er reagierte nicht darauf. Erst jetzt fiel Indiana auf, daß er nicht nur ebenso erschöpft und müde wie alle anderen hier aussah, sondern auch sehr besorgt.

«Wo sind die anderen?«fragte Indiana.»Ganty und die Barlowes und — «

«Ihren Freunden geht es gut«, unterbrach ihn Brenner.»Miß Barlowe hat sich eine leichte Verletzung zugezogen, aber das ist kein Grund zur Besorgnis. Sie können später mit ihnen reden.«

Er legte eine winzige Pause ein, in der er Indiana auf sonder bar abschätzende Art musterte, dann seufzte er und gab sich offensichtlich einen Ruck.

«Ich will ganz offen mit Ihnen sein, Dr. Jones, denn wir haben wenig Zeit. Wir haben … ein Problem.«

«Wie erfreulich«, sagte Indiana.»Sinkt Ihr Boot?«

Brenner sah ihn zornig an, beherrschte sich aber.»Ihre Ver bitterung ist verständlich, Dr. Jones«, sagte er.»Aber sie nutzt im Moment weder Ihnen noch uns etwas. Ich bin nicht sicher, ob wir im Augenblick wirklich noch Feinde sind.«

«Wie meinen Sie das?«fragte Indiana alarmiert.

Statt zu antworten, trat Brenner einen Schritt zur Seite und zeigte mit einer einladenden Geste auf das Sehrohr. Indiana zögerte eine Sekunde, in der er Brenner nur verwirrt anstarrte, aber dann trat er gehorsam an das Periskop und preßte die Augen gegen das Okular.

Draußen herrschte noch immer tiefste Nacht, und es dauerte eine Weile, bis sich seine Augen an das schwache Licht gewöhnt hatten. Aber dann begriff er, was Brenner meinte.

Das Meer war voller Schiffe.

Hunderte von kleinen, schlanken Schilfbooten bedeckten den Ozean.

«Sie folgen uns, seit wir die Insel verlassen haben«, sagte Brenner.»Fragen Sie mich nicht, wie sie das machen. Wir sind die ganze Zeit getaucht gewesen, aber irgendwie haben sie unsere Spur aufgenommen. Und es werden immer mehr. Die Flutwelle hat sie kräftig durcheinandergewirbelt, aber diese Dinger scheinen unsinkbar zu sein.«

«Und ziemlich schnell«, sagte Indiana, ohne den Blick von der gespenstischen Flotte zu wenden. Es waren nicht einfach nur einige Polynesier-Krieger, die ihnen gefolgt waren. Es war das gesamte Volk der Langohren, das seine untergehende Insel verlassen hatte, um die gleiche, schier endlose Reise anzutreten wie schon einmal vor mehr als tausend Jahren.

«Nein«, gestand Brenner nach einem fühlbaren Zögern.»Ich fürchte, wir sind so langsam.«

Indiana löste nun doch den Blick vom Okular und sah ihn fragend an.

«Das Schiff ist beschädigt«, erklärte Brenner.»Die Druck welle hat uns ziemlich übel mitgespielt. Wir laufen kaum noch Fahrt, und mein Erster Offizier behauptet, daß wir allerhöch stem noch eine Stunde auf Tauchstation bleiben können.«

«Dann fürchten Sie, daß sie angreifen, wenn Ihr Boot auf taucht?«

«Genau das will ich ja von Ihnen wissen, Dr. Jones«, antwor tete Brenner ernst.»Verstehen Sie mich nicht falsch — ich glaube nicht, daß sie uns wirklich gefährlich werden könnten.

Aber einmal haben wir nicht genug Torpedos an Bord, um sie alle zu versenken, vor allem aber widerstrebt es mir, ein sinnlos Blutbad unter diesen Wilden anzurichten. Außerdem sind meine Männer völlig erschöpft.«

«Und unsere Vorräte so gut wie aufgebraucht«, fügte Müller hinzu.»Der Treibstoff übrigens auch. Wir kreuzen jetzt schon seit zwei Wochen vor dieser verdammten Insel. Diese Wilden können uns einfach belagern und aushungern, wenn sie das wollen.«

Brenners ärgerlicher Blick bewies, daß diese Information nicht unbedingt für Indianas Ohren bestimmt gewesen war.

Aber er beherrschte sich auch weiter.»Das ist unsere momen tane Situation, Dr. Jones«, sagte er.

«Und Sie möchten von mir wissen, was Sie tun sollen«, vermutete Indiana.»Ich fürchte, ich muß Sie enttäuschen, Herr Kapitänleutnant. Ich weiß über diese Einge-«

«Ich will von Ihnen wissen, was auf der Insel geschehen ist, Jones«, unterbrach ihn Brenner.»Sehen Sie, diese Wilden da draußen sind nur ein Teil unseres Problems. Die andere Hälfte — «

Er brach mitten im Satz ab. Aber es war auch nicht nötig, daß er fortfuhr, denn die andere (und wahrscheinlich weit größere) Hälfte seines Problems betrat im selben Moment die Zentrale.

Es war Jonas.

Indiana war nicht einmal besonders überrascht, ihn frei zu sehen, statt eingesperrt wie die anderen Überlebenden. Eben sowenig überraschte ihn die dunkelgraue Wehrmachtsuniform, die Jonas nun anstelle seiner zerrissenen Kleider trug. Er hatte es geahnt, spätestens seit ihrem Gespräch am Strand.

Aber er erschrak zutiefst, als er in Jonas’ Gesicht sah.

Jonas war nicht mehr er selbst.

Er sah aus wie zuvor, er bewegte sich so, und als er sprach, war seine Stimme die von Jonas, aber all das war nur noch Fassade. Das Wesen, dem er gegenüberstand, war … kein Mensch mehr. Es war etwas anderes, etwas Böses und Finste res, das aus einem längst vergangenen Zeitalter stammte; ja, vielleicht nicht einmal von dieser Welt.

Und er war nicht der einzige, der das fühlte. Die Männer in Jonas’ Nähe wichen instinktiv vor ihm zurück, und auch Brenner zeigte Anzeichen von Nervosität, vielleicht sogar Angst.

«Dr. Jones!«begann Jonas mit einem Lächeln, das keines war.»Wie schön, daß Sie schon wieder auf den Beinen sind. Ich hatte schon Angst, ich hätte Sie ernsthaft verletzt.«

«So schnell geht das nicht«, antwortete Indiana kühl. Er maß Jonas mit einem langen, bewußt abfälligen Blick.»Wie ich sehe, geht es Ihnen ja auch schon wieder besser. Aber Sie sollten den Schneider wechseln.«

Jonas lachte, dann salutierte er übertrieben spöttisch vor Indiana.»Gestatten Sie, daß ich mich korrekt vorstelle, wenn auch mit einiger Verspätung? Obersturmbannführer Heinrich, verantwortlicher Leiter der Operation Phönix. «Er griff in die Tasche und zog ein verschmutztes Blatt Papier hervor.»Bitte.«

Indiana griff nach dem Zettel, faltete ihn auseinander und warf einen flüchtigen Blick darauf. Der Zettel sagte ihm gar nichts. Er enthielt nichts weiter als Kolonnen von Zahlen und Buchstaben. Fragend sah er Jonas an.

«Behalten Sie es ruhig«, sagte Jonas/Heinrich grinsend.

«Deswegen sind Sie doch schließlich gekommen, oder? Auf dieser Liste sind die Positionen aller geheimen U-Boot-Basen der deutschen Marine verzeichnet, die der Agent Jonas heraus finden konnte. Ich fürchte nur, sie ist ein kleines bißchen unzuverlässig. Mit genauen Längen- und Breitenangaben hatte ich schon immer meine Schwierigkeiten.«

«Was soll der Unsinn?«fragte Indiana. Wütend knüllte er das Blatt zusammen und warf es auf den Boden.Heinrich lachte.»Der deutsche Geheimdienst hielt es für eine gute Idee«, sagte er.»Und ich ehrlich gesagt auch. Finden Sie die Vorstellung nicht auch spaßig, daß die Amerikaner ihre besten Leute und etliche Millionen Dollar darauf verschwenden, nach U-Boot Häfen zu suchen, die es gar nicht gibt?«

«Nicht im geringsten«, sagte Indiana.

«Wie bedauerlich. «Heinrich seufzte, zuckte mit den Schul tern, und sein Lächeln erlosch, als sei es abgeschaltet worden.

«Vermutlich haben Sie sogar recht«, sagte er.»Aber das spielt ja jetzt keine Rolle mehr, nicht wahr?«

Wahrscheinlich war Indiana der einzige hier im Raum, der wirklich verstand, was Heinrich damit meinte. Und vermutlich war er auch der einzige, der wußte, wem er wirklich gegenü berstand.

Für endlose Sekunden starrten sie sich wortlos an, dann drehte sich Heinrich/Jonas/Mi-Pao-Lo mit einem Ruck um und deutete auf das Periskop.»Sie folgen uns immer noch?«

Brenner nickte.»Es sind mehr geworden«, antwortete er.»So wie es im Moment aussieht, haben wir keine Chance, ihnen zu entkommen.«

«Höre ich da eine Spur von Angst in Ihrer Stimme, mein Lieber?«fragte Heinrich spöttisch.»Sie werden sich doch nicht von einer Handvoll unzivilisierter Wilder fürchten, oder?«

Brenner schwieg. Heinrich musterte ihn noch einige Sekun den lang spöttisch, dann drehte er sich mit einem Ruck um und ging.»Rufen Sie mich, wenn sich etwas ändert«, sagte er im Hinausgehen.

«Ich glaube, ich verstehe jetzt, was Sie meinen«, murmelte Indiana, als Jonas/Heinrich außer Hörweite war.

Brenner sah ihn ernst und sehr lange an.»Was ist bloß auf der Insel geschehen, Dr. Jones?«fragte er noch einmal.

Indiana begann mit seinem Bericht.

Brenner hatte Wort gehalten und ihn zu den anderen Gefange nen bringen lassen, nachdem ihre Unterredung beendet war.

Das Wort» Gefangene «bekam an Bord dieses Schiffes eine neue Qualität — Ganty, die Barlowes und die beiden Australier waren in einem kleinen Lagerraum im Heck eingesperrt, der vielleicht acht Quadratmeter hatte und so niedrig war, daß sie nicht aufrecht stehen konnten. Trotzdem hatten sie mehr Platz zur Verfügung als irgendein anderer an Bord, den Komman danten und die Offiziere eingeschlossen.

Ganty und die anderen waren offensichtlich ehrlich erfreut, ihn lebend wiederzusehen. Aber ihre Erleichterung hielt nicht sehr lange vor. Als Indiana erzählte, was er durch das Periskop beobachtet hatte, wurde es sehr still in der winzigen Kammer.

Vor allem Ganty wirkte mehr als erschrocken. Er war eindeu tig entsetzt.

Trotzdem war nicht er es, sondern Nancy Barlowe, die schließlich das immer bedrückender werdende Schweigen brach.»Aber sie können uns doch nichts tun, oder?«fragte sie ängstlich. Als ihr niemand antwortete, fuhr sie mit zitternder Stimme fort.»Ich meine … das hier ist ein U-Boot. Es … es ist bewaffnet und … und aus Stahl, und sie haben nur ein paar Messer und Speere!«

«Darum geht es nicht«, antwortete Indiana sanft. Obgleich er vor dem Gedanken zurückschreckte, hatte er auch diese Variante schon für sich durchgespielt. Wahrscheinlich waren Brenners Soldaten mit ihren Maschinenpistolen und Granaten durchaus in der Lage, die gesamte Flotte der Langohren zu vernichten. Aber das würde für die Polynesier weit mehr bedeuten als einen weiteren Kampf. Es hieße nichts weniger, als daß ein ganzes Volk ausgelöscht würde.

Außerdem war er nicht einmal sicher, daß es damit vorbei sein würde. Wahrscheinlich war es wirklich so, wie Brenner gesagt hatte, und die Langohren waren ihr kleinstes Problem.

«Warum denn dann?«fragte Nancy.

«Jonas«, murmelte Indiana.»Er hat den Kristall.«

«Aber dann … dann ist doch alles in Ordnung«, antwortete Nancy.»Er … er kann uns helfen. Dieser Kristall ist doch eine Waffe, und — «

«Jonas ist nicht wirklich Jonas, Nancy«, unterbrach sie Ganty sanft.»Er ist ein Naziagent, verstehen Sie doch.«

«Ich fürchte, er ist nicht einmal mehr das«, fügte Indiana hinzu.»Sie haben nicht verstanden, was ich erzählt habe. Jonas hat den Kristall benutzt. Er ist jetzt nicht mehr er selbst.«

«Was für ein Unsinn!«widersprach Nancy. Sie lachte; schrill und nervös und viel zu laut.»Ich habe ihn doch genau erkannt, als sie ihn an Bord getragen haben!«

«Erinnern Sie sich an die Situation, als ich den Kristall für einen Moment in den Händen gehalten habe?«fragte Indiana sanft. Nancy starrte ihn aus großen, angstvollen Augen an, und Indiana fuhr fort:»Ich habe ihn nicht benutzt, weil ich seine Macht gefühlt habe, Nancy. Ich habe gespürt, was er wirklich ist. Er ergreift Besitz von jedem, der sich seiner Macht bedient.

Heinrich/Jonas sieht nur noch so aus wie der Mann, der er einmal war. Aber er ist es nicht mehr, glauben Sie mir. Was mit Sandstein geschehen ist, das ist auch ihm passiert. Nur schneller. Und schlimmer.«

«Dann sollte man ihn töten«, sagte einer der beiden Austra lier. Sein Bruder nickte. Zum ersten Mal im Leben waren die beiden einer Meinung.

Indiana schwieg. Er war nicht einmal mehr sicher, ob es überhaupt noch möglich war, Jonas — oder wie immer er auch wirklich heißen mochte — zu töten. Außerdem war das nicht wirklich das Problem.

«Es geht nicht um ihn«, sagte er nach einer Weile.»Es ist dieser Stein. Ich weiß nicht, was er ist, aber er ist … mehr als ein Kristall.«

Mit Ausnahme von Ganty sahen ihn alle einfach nur ver ständnislos an. Ganty schien der einzige zu sein, der wirklich begriffen hatte, was Indiana meinte. Er wirkte immer noch entsetzt.

«Jetzt übertreiben Sie aber, Dr. Jones«, sagte Barlowe. Er lachte, aber es klang nervös und wenig überzeugend.»Ich meine, dieses Ding ist … gefährlich, sicher. Eine schreckliche Waffe, aber trotzdem doch wohl nicht mehr als das. Sandstein hat sie letztendlich nichts genutzt, und Jonas — «

«Was immer es ist, es hat zwei Monate gebraucht, um Sand stein zu verändern«, unterbrach ihn Indiana.»Bei Jonas genügten wenige Stunden.«

«Vielleicht wird es stärker«, murmelte Ganty.»Mit jedem Leben, das es nimmt.«

Ja, dachte Indiana schaudernd. Und vielleicht war alles, was sie bisher erlebt hatten, erst der Anfang. Vielleicht begann der Kristall gerade erst zu erwachen …

Aber da war noch etwas. Irgendeine Information, die er bereits hatte, die er aber nicht richtig einzuordnen vermochte. Etwas, das er gesehen oder gehört oder erlebt hatte. Und das wichtig war, ungeheuer wichtig sogar. Aber er wußte einfach nicht, was.

Ihre Diskussion drehte sich eine gute Stunde weiter im Kreis, ohne zu irgendeinem Ergebnis zu führen. Dann wurde die Tür wieder geöffnet, und zwei von Brenners Männern erschienen, um Indiana abzuholen.

Wie das erste Mal, als Indiana den Kommandoraum betreten hatte, stand Kapitänleutnant Brenner am Periskop. Er sah jetzt noch besorgter aus als das erste Mal, als er sich zu Indy herumdrehte und ihn ansah.

«Neue Probleme?«fragte Indiana direkt.

Brenner deutete wortlos auf das Sehrohr.

Über dem Meer brach der Tag heran. Die Dunkelheit hatte einem grauen Zwielicht Platz gemacht, in dem die Konturen der Dinge zu verschwimmen schienen wie in treibendem Nebel.

Die Polynesier-Flotte war nicht näher gekommen, aber größer geworden. Es mußten an die fünfhundert Schilfboote sein, die das Meer in weitem Umkreis bedeckten.

«Fünf Grad weiter westlich«, sagte Brenner.

Indiana drehte das Periskop in die falsche Richtung, lächelte entschuldigend und korrigierte seinen Fehler hastig. Der Horizont und die Flotte der Polynesierboote huschten als verschwommene Schatten vorbei. Dann sah er, was Brenner meinte. Ein gewaltiger Schatten näherte sich der Position des U-Bootes.

«O ja, das sieht nach Problemen aus«, sagte Indiana. Er trat vom Periskop zurück und wandte sich zu Brenner um.»Eins von euren?«

«Ich fürchte, nein«, antwortete Brenner.»Aber um diese Frage zu beantworten, habe ich Sie holen lassen.«

«Sie glauben, das könnte eins von unseren sein?«

Indiana zuckte mit den Schultern.»Ich bezweifle, daß ich Ihnen da helfen kann. Und um ehrlich zu sein, ich bezweifle auch, daß ich es will«, fügte er nach kurzem Zögern hinzu.

«Das da draußen ist Ihr Problem, Herr Kapitänleutnant.«

«Wenn sie uns angreifen und versenken, ist es wahrscheinlich auch Ihres, Dr. Jones«, erwiderte Brenner kühl.»Außerdem hatte ich vorhin das Gefühl, daß Ihnen daran gelegen ist, unnötiges Blutvergießen zu vermeiden.«

Indiana schwieg einige Augenblicke.»Entschuldigen Sie«, sagte er dann hörbar verlegen.»Ich wollte nicht — «

«Schon gut«, Brenner unterbrach ihn mit einer hastigen Geste.»Vergessen Sie es einfach. Sie kennen dieses Schiff nicht?«

Indiana warf einen weiteren und diesmal sehr viel aufmerk sameren Blick durch das Periskop.»Es könnte die HENDERSON sein«, vermutete er.

«Der Gedanke liegt nahe, nicht wahr?«

Indiana fuhr unmerklich zusammen, als er die Stimme er kannte. Es war nicht die von Brenner oder dem Schiffsarzt. Mit erzwungener Ruhe drehte er sich um. Die Hände ließ er weiter auf den Handgriffen des Sehrohres liegen, damit man nicht bemerkte, wie sie zitterten. Jonas/Heinrich stand neben dem Kommandanten des U-Bootes und sah ihn mit einem Lächeln ohne eine Spur von Gefühl an.»Sie und der angebliche Mr. Delano sind seit einer ganzen Weile überfällig. Und bei der Wichtigkeit Ihrer Mission ist es doch nur logisch, daß man sich Gedanken um Sie macht und Sie sucht. Oder?«

«Wir sind Hunderte von Seemeilen von Pau-Pau entfernt«, sagte Indiana.

Jonas lächelte abfällig. Sein Lächeln wurde vollends zur Grimasse.»Dr. Jones, ich bitte Sie«, sagte er. Er schüttelte den Kopf.»Ihr Amerikaner werdet es nie begreifen. Ihr seid ein großes Volk, das wirklich gute Männer und gute Ideen hervor gebracht hat, aber ihr habt einen gewaltigen Fehler — ihr neigt dazu, eure Feinde zu unterschätzen. Wir nicht. «Er wies auf das Sehrohr.»Wäre ich der Kommandant bei so einer Mission, dann hätte ich schon vor Tagen angefangen, nach Ihnen und Delano zu suchen. Immerhin wußten sie, daß Sie Pau-Pau mit Gantys Boot verlassen haben.«

«Und dann haben sie uns hier rein zufällig gefunden, wie?«

Indiana versuchte, seiner Stimme einen möglichst spöttischen Klang zu verleihen, aber der Ausdruck auf Jonas’ Gesicht blieb unverändert.

«Kaum«, antwortete er mit kühler Stimme.»Aber sie müßten schon blind sein, wenn sie den Vulkanausbruch nicht bemerkt haben. Und diese kleine Armada da oben ist auch nicht zu übersehen.«

Natürlich hatte er recht. Die gleichen Überlegungen waren auch Indiana durch den Kopf geschossen, als er zum zweiten Mal durch das Periskop geblickt und den Umriß des Schiffes studiert hatte. Er hatte es nicht erkannt, aber das besagte gar nichts.»Wenn es wirklich die HENDERSON ist«, sagte er nach einer Weile,»dann … sind Sie tatsächlich in Schwierig keiten.«

Wieder war es Jonas, der antwortete, und nicht Kapitänleut nant Brenner.»Ich fürchte, Sie haben den guten Herrn Kapitän nicht ganz verstanden, Dr. Jones«, sagte er mit einem spötti schen Seitenblick auf den Offizier.»Sollte es zum Kampf zwischen Ihren und unseren Leuten kommen, dann werden wir vielleicht sterben, vielleicht in Gefangenschaft geraten oder sogar gewinnen. «Er zuckte mit den Schultern.»Was Sie und Ihre Freunde aber angeht, Dr. Jones, so sieht die Sache anders aus.

Ich werde höchstpersönlich für jeden Schuß, den die HENDERSON auf uns abgibt, einen von Ihnen hinrichten.«

«Das werden Sie ganz bestimmt nicht«, sagte Brenner.»Dr. Jones und seine Freunde sind Zivilisten.«

«Im Moment sind sie unsere Gefangenen«, sagte Jonas.

«Und als solche werde ich sie behandeln«, fügte Brenner entschlossen hinzu.»Auf meinem Schiff wird niemand umgebracht!«

Jonas machte sich nicht einmal die Mühe, ihm zu antworten.

Er lächelte nur, aber es war etwas in diesem Lächeln, das Indiana einen eisigen Schauer über den Rücken laufen ließ. Auf diesem U-Boot hatte Jonas im selben Moment, in dem er es betreten hatte, das Kommando übernommen, und Brenner wußte das ganz genau.»Was wollen Sie von mir?«Die Frage war an niemand Bestimmten gerichtet, und im ersten Moment antworteten weder Jonas noch Brenner; dann — nach einem raschen, fast angstvollen Seitenblick auf Jonas — sagte der Kapitänleutnant:»Sie haben es ganz richtig erkannt, Dr. Jones — wir haben Probleme. Unsere Treibstoffvorräte sind so gut wie erschöpft. Wir können nicht vor diesem Schiff davonlaufen. Und wir können auch nicht mehr länger getaucht bleiben.«

«Aber wir könnten es torpedieren«, fügte Jonas mit einem bösen Lächeln hinzu.

Brenner ignorierte ihn.»Wir müssen auftauchen, Dr. Jones.

Wenn wir das tun und wenn es zu einem Gefecht zwischen uns und diesem Schiff kommt — können Sie sich vorstellen, was geschieht?«

Das konnte Indiana in der Tat. Die HENDERSON war kein Kriegsschiff. Sie war nicht wehrlos, aber längst nicht schwer genug bewaffnet, um das Unterseeboot mit einer einzigen Salve zu versenken. Wenn es zu einem Gefecht zwischen den beiden Schiffen hier auf offener See kam, dann war nicht nur dessen Ausgang ungewiß, wahrscheinlich würde es auch unter den Polynesiern, die in ihren Schilfbooten dort oben auf dem Meer trieben, zahlreiche Opfer geben.

«Wir werden jetzt auftauchen, Dr. Jones«, sagte Jonas,»und Sie werden mit diesem Schiff und seinem Kapitän Kontakt aufnehmen und dafür sorgen, daß man uns in Ruhe läßt.«

«Wie kommen Sie auf die Idee, daß ich das könnte?«fragte Indiana.

«Sie werden es tun müssen«, antwortete Jonas gelassen.

«Denn wenn nicht, dann sind Ihre Freunde die ersten, die sterben müssen, darauf gebe ich Ihnen mein Wort.«

«Und wenn mir das gleich wäre?«

Jonas lachte nur.»Versuchen Sie nicht, mir etwas vorzuspie len, Dr. Jones«, sagte er.»Ich weiß zuviel über Sie. Sie sind nicht der Mann, der ein Menschenleben opfert, weil es zu seinem Vorteil sein könnte.«

Indiana widersprach nicht mehr. Es war auch sinnlos, denn Jonas hatte recht. Er hätte mit Sicherheit sein eigenes Leben riskiert, um den Kristall und die böse, uralte Macht, die ihm innewohnte, unschädlich zu machen. Aber es ging eben nicht um sein Leben.

Jonas wandte sich mit einer Geste an Brenner.»Tauchen Sie auf. Dr. Jones wird tun, was wir von ihm verlangen. Wenn nicht, lassen Sie einen der Gefangenen exekutieren. Am besten fangen Sie mit dem alten Mann an.«

Brenner maß ihn mit einem eisigen Blick, aber er widersprach nicht mehr, sondern sah schweigend und mit ausdruckslosem Gesicht zu, wie Jonas die schmale Eisenleiter zum Turm hinaufzuklettern begann.

Es war empfindlich kalt, als Indiana hinter Jonas auf den Turm hinaustrat. Vom Meer stieg ein eisiger Hauch empor, und die graue Dämmerung hatte sich aufgehellt, obwohl es noch nicht Tag war. Trotzdem konnte Indiana erkennen, daß Jonas mit seiner Vermutung recht gehabt hatte: Das Schiff, das sich ihnen näherte, war die HENDERSON. Auch das angebliche For schungsschiff hatte seine Fahrt gedrosselt und bewegte sich kaum wahrnehmbar von der Stelle, was aber wohl weniger am plötzlichen Auftauchen des U-Bootes lag als vielmehr an der Flotte der Schilfboote, die das Meer bedeckten, soweit das Auge reichte. Die Polynesier taten ihr Bestes, dem stählernen Giganten auszuweichen, aber die kleinen Boote, die nur von Paddeln angetrieben wurden, hatten alle Mühe, überhaupt von der Stelle zu kommen. Im nachhinein kam es Indiana immer mehr wie ein reines Wunder vor, daß es ihnen überhaupt gelungen war, mit dem Unterseeboot Schritt zu halten.

Aber vielleicht war das gar kein Zufall. Er hatte Jonas unauf fällig von der Seite beobachtet, seit sie auf den Turm hinausge stiegen waren. Jonas hatte der HENDERSON nur einen flüchtigen Blick gegönnt und seine Aufmerksamkeit dann voll und ganz der Polynesier-Flotte zugewandt. Und ob er nur von einem fremden Geist besessen war oder nicht — sein Mienen spiel und vor allem der Ausdruck seiner Augen blieben die eines Menschen. Was Indiana in seinen Augen sah, das war keine Furcht vor den Polynesiern. Auch kein Erstaunen, sie so weit draußen auf dem Meer und in so großer Zahl zu treffen. Es war etwas, wie … es fiel Indiana im ersten Moment schwer, seinen Eindruck in Worte zu fassen. War das Stolz? Nein. Die Art, wie Jonas die Langohren ansah, war die, wie ein Heerfüh rer seine Armee betrachten mochte. Eine Armee, die er im Grunde verachtete; die er einsetzen und bei Bedarf auch opfern würde wie ein Schachspieler seine Figuren, deren Macht er aber auch bewußt in sein Kalkül einbezog.

Indianas Blick löste sich von Jonas’ Gesicht und glitt wieder auf das Meer hinaus. Den meisten Schilfbooten, die auf dem Kurs der HENDERSON lagen, war es mittlerweile gelungen, einen sicheren Abstand zu gewinnen. Aber nicht allen. Und nicht alle versuchten es überhaupt. Eine Anzahl der kleinen Schiffchen — nicht viele, aber doch genug, daß es auffiel — bewegte sich parallel zu dem hundertmal größeren Schiff, und eine noch kleiner Anzahl steuerte gar direkt darauf zu.

Und endlich erkannte Indiana die Absicht.

«Das wollen Sie doch nicht wirklich!«rief er erschrocken.

Jonas drehte sich ganz langsam zu ihm herum und lächelte.

«Was?«

«Sie … Sie wollen, daß sie dieses Schiff angreifen?« stieß er ungläubig hervor. Er wies mit einer Geste auf die HENDER-SON.»Die Soldaten dort drüben werden Ihre Krieger ab schlachten, Jonas! Sie haben nicht die gerinste Chance!«

Jonas’ Lächeln wurde noch eine Spur breiter.»Es liegt allein an Ihnen, ob es zu einem Blutband kommt oder nicht, Dr. Jones«, sagte er in einem Tonfall, der so freundlich war, daß Indiana ihm allein dafür alle Zähne hätte einschlagen mögen. Er wies zum Bug, wo zwei von Brenners Soldaten damit beschäftigt waren, ein Schlauchboot zu Wasser zu lassen.»Das Boot ist bereit. Fahren Sie hinüber und fordern Sie Kapitän Franklin auf, zu kapitulieren, und es wird kein Tropfen Blut fließen. Weder auf Ihrer noch auf unserer Seite.«

«Sie sind völlig verrückt!«erklärte Indiana.»Selbst wenn ich tue, was Sie verlangen, glauben Sie doch nicht wirklich, daß Franklin sich darauf einläßt.«

«Er wird es müssen«, antwortete Jonas im unverändert freundlichem Ton.»Und es wäre wirklich besser, wenn Sie ihn dazu brächten, es zu tun, Dr. Jones. Denn wenn er es nicht tut, dann bleibt mir keine andere Wahl, als sein Schiff und ihn und alle seine Männer zu vernichten. Sie wissen, wie einfach ich das kann

Indianas Blick wanderte nervös von Jonas zu den beiden Männern auf dem Vordeck und wieder zurück. Das Schlauch boot war fast einsatzbereit. Er hatte nur noch ein paar Sekun den, um eine Entscheidung zu treffen, deren Tragweite er nicht einmal abschätzen konnte.

Die Entscheidung wurde ihm abgenommen. Ein dumpfes Krachen wehte vom Bug der HENDERSON zu ihnen herüber, und eine Sekunde später schoß zehn Meter vor dem Bug des U-Bootes eine dreißig Meter hohe, weiße Wassersäule von der Meeresoberfläche empor. Jonas fuhr herum und starrte die langsam auseinanderstiebende Gischtwolke einige Augenblicke völlig fassungslos an, dann verzerrte sich sein Gesicht vor Wut. Mit einem Ruck trat er von der Turmverkleidung zurück und griff in die Tasche. Als seine Hand wieder erschien, lag der dunkelrote Feuerkristall darin.»Diese verdammten Narren!«sagte er gepreßt.»Aber gut — wenn sie eine Demonstration meiner Macht wollen, die können sie haben!«

Er hielt den Kristall in die Höhe. Das düstere rote Licht im Inneren des Steines begann schneller zu pulsieren und an Leuchtkraft zu gewinnen, und Indiana glaubte ein unheimliches elektrisches Knistern zu spüren, ein Gefühl wie während eines Gewitters, wenn der Blitz in unmittelbarer Nähe eingeschlagen hat.

«Nein!«rief er entsetzt.

Jonas starrte ihn an. In seinen Augen flackerte ein Feuer, das schlimmer war als das im Herzen des Kristalls.

«Tun Sie es nicht«, sagte Indiana.»Ich … ich werde tun, was Sie verlangen. Ich fahre hinüber und rede mit Franklin. Es wird mir bestimmt gelingen, ihn zu überzeugen.«

Jonas schwieg. Zu dem unstillbaren, unmenschlichen Haß in seinen Augen gesellte sich Mißtrauen. Der Kristall pulsierte, und Indiana konnte sehen, wie an Jonas’ Hals eine Ader zu zucken begann, schnell und hektisch und im gleichen Takt wie das unheimliche Feuer im Inneren des Steins.

«Sie haben gewonnen«, sagte er.»Ich gebe auf.«

Endlose, quälend lange Sekunden vergingen. Das glühende Licht im Herzen des Kristalls pulsierte weiter, und Indiana glaubte die unvorstellbare Kraft zu spüren, die sich darin sammelte, die hinaus wollte wie etwas Gieriges, etwas Leben diges.

Aber dann senkte Jonas ganz langsam, zögernd und beinahe widerwillig, seine Arme wieder.

«Also gut«, sagte er leise.»Gehen Sie.«

Indiana verließ den Turm, balancierte über das schwankende Deck des U-Bootes zum Bug und näherte sich den beiden Soldaten und dem Schlauchboot. Auch die beiden Männer waren bleich und wirkten erschrocken und unsicher. Sie hatten das Licht in Jonas’ Händen gesehen, und obwohl sie nicht wissen konnten, was es bedeutete, so schienen sie das Fremde, unaussprechlich Böse, das von Jonas Besitz ergriffen hatte und sich wie eine schleichende Krankheit allmählich über dieses ganze Boot ausbreitete, doch zu spüren. Und es war der Ausdruck in ihren Augen, der Indiana begreifen ließ, daß er recht gehabt hatte mit seinen Grübeleien vorhin unten im Lagerraum.

Es war erst der Anfang. Die Macht des Kristalls begann gerade erst zu erwachen. Sie hatte geschlafen, ein Jahrtausend lang. Und was er mit Sandstein erlebt hatte, jenes Höllenfeuer, das Delanos Schiff und seine Männer verbrannt hatte, das böse Lodern in Jonas’ Augen, das alles war erst der Beginn. Es wurde stärker mit jeder Sekunde, und vielleicht würde es unaufhörlich an Macht gewinnen. Er mußte verhindern, daß dieses» Etwas «sich auf der Welt verbreitete, die doch keine Ahnung von seiner Existenz und keine Möglichkeit zur Gegenwehr hatte. Er mußte das verhindern, ganz egal, welchen Preis er dafür bezahlen mußte.

Er ging zwischen den beiden Soldaten hindurch, wartete ab, bis sich das U-Boot unter dem Anprall einer neuen Welle leicht auf die Seite legte und tat so, als verliere er das Gleichgewicht.

Die beiden Männer reagierten so, wie er erwartet hatte: Sie versuchten ihm zu helfen. Indiana packte einen Arm, der nach ihm griff, stolperte absichtlich einen weiteren Schritt zurück und riß den Mann mit sich, daß er das Gleichgewicht verlor. Er stieß einen überraschten Schrei aus und fiel, und Indiana ließ sich rücklings mit ihm auf das Deck fallen, riß ihm die Pistole aus dem Gürtel und schlug ihm den Griff über den Schädel. Der Soldat verdrehte die Augen und verlor das Bewußtsein. Sein Kamerad, den sie im Fallen umgerissen hatten, richtete sich mit einem erschrockenen Keuchen wieder auf und wollte seine eigene Waffe ziehen. Indiana trat ihm die Beine unter dem Leib weg, versetzte ihm noch im Fallen einen zweiten Stoß, der ihn hilflos mit den Armen rudernd nach hinten taumeln und über Bord stürzen ließ, und sprang auf die Füße.

Jonas stand hoch aufgerichtet im Turm und sah zu ihm hinun ter. Er hatte sich nicht gerührt, und er bewegte sich auch jetzt nicht, sondern stand einfach da und starrte Indiana an, während Indy die Pistole mit beiden Händen ergriff, auf ihn zielte — und abdrückte.

Er traf. Er konnte sehen, daß Jonas wie unter einem Fausthieb zurücktaumelte und die Beine spreizte, um sein Gleichgewicht zu halten. Ein dunkler, rasch größer werdender Fleck breitete sich auf seiner Uniform aus. Aber er schien die Verletzung nicht einmal zu spüren. Langsam trat er wieder vor, blickte aus haßerfüllten Augen auf Indiana und hob den Kristall. Das rote Pulsieren in dessen Inneren war zu einem rasenden Flackern geworden, das sich in Jonas’ Augen brach und sie in einem dämonischen Licht glänzen ließ.

«Also gut, Dr. Jones!«schrie er.» Sie haben es nicht anders gewollt!«

Indiana drückte zum zweiten Mal ab. Die Kugel traf Jonas in die Schulter, aber diesmal schwankte er nicht einmal mehr unter dem Aufprall, sondern drehte sich mit einem höhnischen Lachen herum und hob den Feuerkristall höher.

Das Licht und der letzte entsetzliche Schmerz, auf den India na wartete, kamen nicht. Der Feuerkristall stieß eine blenden de, blutfarbene Woge aus Licht aus, aber sie bewegte sich nicht auf ihn zu — sondern auf die HENDERSON.

Indiana sah, wie der Bug des Schiffes in einer Feuerwolke verschwand. Das dumpfe Donnern einer Explosion wehte über das Meer heran, dann Schreie und das Wimmern einer Sirene, die nach kaum einer Sekunde wieder verstummte. Flammen tobten über das Vorschiff der HENDERSON — und erloschen.

Jonas stieß ein ärgerliches Knurren aus und starrte auf das Schiff. Der Blitz war ungleich heftiger gewesen als der, der die beiden Polynesier oder auch Delanos Männer am Strand getötet hatte, aber die HENDERSON war kein kleines Kanonenboot, sondern ein gewaltiges Kriegsschiff. Ein Teil ihrer Reling und etliche Quadratmeter der Panzerplatten am Bug glühten in einem düsteren Rot, aber der Blitz hatte nicht soviel Kraft gehabt, sie zu vernichten oder auch nur ernsthaft zu beschädi gen. Und so sehr dieser unerwartete Angriff die Besatzung auch überrascht haben mochte, Franklin und seine Männer reagierten augenblicklich. Das große Geschütz im Bug der HENDERSON stieß eine brüllende Feuerzunge aus, und Indiana begriff beinahe zu spät, in welcher Gefahr er sich befand.

In einer hastigen Bewegung warf er sich entsetzt herum und flach auf das Deck.

Die Granate explodierte am Vorschiff des U-Bootes, riß dort das Bordgeschütz in Stücke und hinterließ ein riesiges, glühendes Loch in den Panzerplatten. Ein gewaltiger Schlag schleu derte Indiana über das Deck, als ihn die Druckwelle traf. Er prallte gegen den Turm, suchte verzweifelt irgendwo nach Halt und klammerte sich fest. Seine Fingernägel brachen ab. Blut lief über seine Hände und wurde weggespült, als eine zweite Granate unmittelbar neben dem Rumpf des U-Bootes explo dierte und kochende Gischt das Deck überflutete. Diesmal hatte er nicht mehr die Kraft, sich zu halten. Er wurde ins Wasser geschleudert, tauchte unter und kämpfte sich verzwei felt wieder an die Oberfläche zurück.

Ein drittes Geschoß heulte heran, verfehlte den Turm um Haaresbreite und detonierte etliche Dutzend Meter entfernt im Meer. Die Druckwelle schleuderte Indiana gegen den Boots rumpf und raubte ihm fast das Bewußtsein. Instinktiv griff er nach oben, konnte dort irgend etwas fassen und klammerte sich mit verzweifelter Kraft daran fest. Das Unterseeboot zitterte wie ein waidwundes Tier. Er sah Flammen und Gestalten, die hin und her rannten, über sich und spürte, wie die Dieselma schinen im Rumpf des Schiffes anliefen, obwohl die Männer dort drinnen wissen mußten, wie sinnlos jeder Fluchtversuch war. Dann verschlang ein rotes flackerndes Licht den Himmel, und Indiana wandte mit einem Stöhnen den Blick ab und preßte die Augen zu.

Sekunden vergingen, in denen er hilflos und fast blind an den Rumpf des U-Bootes geklammert hing und auf das Ende wartete. Aber die Kanonen der HENDERSON schwiegen.

Überrascht und von einer furchtbaren Vorahnung erfüllt, hob Indiana den Kopf und sah zu dem Kriegsschiff hinüber. Die HENDERSON hatte eine zweite Narbe bekommen; ein scheunentorgroßes Stück ihrer Panzerplatten war schwarz verkohlt, und in dessen Mitte glühte es dunkelrot. Trotzdem war es nicht mehr als ein Nadelstich, der diesem Riesen vielleicht weh tat, ihn aber im Grunde nur um so wütender machen mußte. Wieso schossen sie nicht zurück?

Als Indiana zum Turm hinaufblickte, wußte er die Antwort.

Jonas war nicht mehr allein. Brenner und zwei seiner Offizie re waren neben ihm auf dem Turm erschienen und versuchten gemeinsam, ihn niederzuringen.

Es gelang ihnen nicht. Jonas war rücklings gegen die Turm verkleidung getaumelt. Er blutete aus den beiden Wunden, die Indiana ihm zugefügt hatte, aber er schien die Verletzungen nicht einmal zu spüren. Er hielt den Kristall in hoch erhobenen Händen über den Kopf. Rotes Feuer floß träge wie leuchtender Nebel aus dem pulsierenden Stein, ergriff einen der Männer und ließ ihn schreiend und lichterloh brennend zurücktaumeln und zu Boden stürzen. Brenner und der zweite Offizier ließen von ihm ab, und Indiana sah, daß es in den Händen des Kapitänleutnants zweimal kurz hintereinander aufblitzte, als er aus unmittelbarer Nähe auf Jonas schoß. Er traf. Aber die Kugeln richteten keinen sichtbaren Schaden an. Irgend etwas schützte Jonas und bewahrte seinen Körper, der zu einem Werkzeug geworden war, vor allzu großem Schaden, weil er noch gebraucht wurde.

Auf dem Deck der HENDERSON begann ein Maschinenge wehr zu hämmern. Indiana zog instinktiv den Kopf zwischen die Schultern, als die Geschosse eine funkensprühende Spur über den Bootsrumpf zogen und sich dem Turm näherten. Drüben auf der HENDERSON hatte man offenbar gesehen, was geschah; und die richtigen Schlüsse daraus gezogen. Aber es war zu spät. Die Geschoßspur erreichte den Turm, raste funkensprühend daran empor — und brach ab! Ein Geräusch wie das Zischen von Wassertropfen auf einer glühenden Herdplatte erklang, als die MG-Kugeln von einer unsichtbaren Macht aufgehalten wurden und zu Asche verbrannten.

Jonas lachte; es war ein schriller, unmenschlicher Laut, der wie Hohngelächter in Indianas Ohren widerhallte. Hoch aufgerichtet und blutüberströmt stand er auf dem Turm, eine Gestalt wie der Dämon aus einem Alptraum, der Wirklichkeit geworden war, und der Stein in seinen Händen pulsierte in einem unerträglich hellen, gleißend roten Licht.

Das Bordgeschütz der HENDERSON feuerte. Das Geschoß explodierte zwanzig Meter vor dem Turm des Unterseebootes und ließ Feuer und glühende Metallsplitter auf das Meer und die Polynesier-Flotte herabregnen. Jonas lachte wieder. Der Stein in seinen Händen pulsierte heller und rascher, aber der vernichtende Lichtblitz kam immer noch nicht. Indiana konnte regelrecht spüren, wie die Kraft im Inneren des Feuerkristalls wuchs und wuchs, wie sich Energie von unvorstellbarer Stärke sammelte. Ein heller, vibrierender Laut lag plötzlich in der Luft, und hellblaue elektrische Funken liefen über den Stahl des Bootsrumpfes.

Endlich gelang es Indiana, sich wieder auf das Deck hinauf zuziehen. Das Deck schwankte. Ringsum schien das Meer Feuer gefangen zu haben, als das Bordgeschütz der HENDERSON Schuß auf Schuß abfeuerte und die Granaten an der unsichtbaren Wand explodierten, die das U-Boot jetzt schützte. Viele Polynesier-Boote waren in Brand geraten. Tote und verletzte Krieger trieben auf dem Wasser, und ein paar der kleinen Schiffe, die dem U-Boot und dem Kristall in Jonas’ Händen zu nahe gekommen waren, begannen zu schwelen.

Indiana taumelte weiter, erreichte den Turm und begann, Hand über Hand die schmale Eisenleiter hinaufzuklettern. Jonas mußte ihn bemerkt haben, aber er ignorierte ihn, ebenso wie er Brenner und dessen Soldaten zu übersehen schien.

Indiana erschrak trotz allem bis ins Mark, als er den Turm erreichte und Jonas aus der Nähe sah.

Es war unvorstellbar, daß er noch am Leben war. Seine Uniformjacke war schwarz von Blut, und seine Hände brann ten.

Die Finger, die den Kristall hielten, waren schwarz verkohlt, das Fleisch war zu brüchiger Schlacke geworden, und das Licht im Inneren des Kristalls war so intensiv, daß Indiana die Knochen darunter wie auf einer Röntgenaufnahme sehen konnte.

Jonas stieß noch immer dieses irre, unmenschliche Lachen aus, einen Laut, der gar kein Lachen war, sondern der trium phierende Schrei einer Kreatur, die nach einem Jahrtausend der Gefangenschaft endlich aus ihrem Kerker entkommen war. Indiana dachte nicht mehr an die Gefahr, in der er schwebte. Er wußte, daß sein Vorhaben ihn das Leben kosten würde, aber das war ihm gleich. Mit aller Kraft, die ihm verblieben war, sprang er vor und warf sich mit weit ausgebreiteten Armen auf Jonas.

Er erreichte ihn nicht. Eine unsichtbare Faust traf ihn mitten im Sprung und schleuderte ihn mit solcher Wucht gegen die Turmverkleidung zurück, daß er spürte, wie eine seiner Rippen brach und er halb bewußtlos zu Boden sank.

Jonas drehte sich zu ihm herum und starrte ihn an. Seine Augen brannten, und sein Gesicht war zu einer höhnischen Grimasse verzerrt. Es war das bleiche, eingefallene Gesicht eines Toten, der sich wider alle Naturgesetze noch bewegt, von etwas beseelt, das kein Leben, sondern etwas unbeschreiblich Fremdes und Feindseliges war. Etwas, das nicht von dieser Welt war, und das sie vernichten würde, wenn es endgültig frei war.

«Sie haben es nicht anders gewollt, Jones!«keuchte Jonas.

Auch seine Stimme war nicht mehr erkennbar. Es war nicht mehr die Stimme eines Menschen, es war ein Klang, wie ihn Indiana nie zuvor im Leben gehört hatte und nie wieder hören sollte.»Jetzt werden Sie die wahre Macht der Götter erfahren!«

«Ach?«Indiana versuchte zu lachen, aber das ging in ein qualvolles Husten über. Er bekam kaum noch Luft. Ein glühender Dolch schien sich in seine Brust zu bohren. Trotz dem fuhr er fort:»Nicht einmal Sie können diesem Schiff Schaden zufügen. Das ist kein Spielzeugboot wie der Kahn von Delanos. «Jonas’ Gesicht verzerrte sich zu einer haßerfüllten Grimasse, und Indiana setzte hinzu:»Mit Ihrem Hokuspokus beeindrucken Sie vielleicht diese Wilden dort draußen, aber kein Kriegsschiff der amerikanischen Navy

Jonas versetzte ihm einen Tritt, der zielsicher seine gebroche ne Rippe traf und ihn vor Schmerz aufschreien ließ. Zornig wirbelte er herum, wandte sich der HENDERSON zu und hielt den Feuerkristall an ausgestreckten Armen in deren Richtung.

Das Licht in seinem Inneren wurde so intensiv, daß Indiana vor Schmerz aufstöhnte, obwohl er die Augen geschlossen und das Gesicht abgewandt hatte. Aus dem Pulsieren war ein ununterbrochenes, grellrotes Glühen geworden, und der unheimliche, singende Laut war wieder zu hören. Blaue Funken und knisterndes elektrisches Feuer hüllten den stähler nen Rumpf des U-Bootes in ein Netz aus Licht, und das Wasser ringsum schien zu kochen.

Jonas schrie auf und riß die Arme in die Höhe. Indiana konnte spüren, wie sich die unvorstellbare Energie im Inneren des Kristalls bereit machte, endgültig hervorzubrechen.

Jonas’ Hände flammten auf wie trocknes Holz und zerfielen zu Asche. Schreiend taumelte er zurück und betrachtete seine schwarz verkohlten Armstümpfe. Der Kristall hatte sich in eine pulsierende Lichtkugel verwandelt, fiel über die Brüstung des Turmes, prallte wie ein Ball vom Metall des Schiffsrumpfes ab und versank im Meer.

Te Pito o Te Henua

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