Auf hoher See Sonnenaufgang

Eine der wenigen Erinnerungen, die Indiana an seine Mutter hatte, war das Gefühl einer warmen, zärtlichen Nähe und die Erinnerung daran, sanft in den Armen gehalten und geschau kelt zu werden, und vermutlich war es nur normal, daß genau dieses Gefühl ihn empfing, als er auf der anderen Seite jener Grenze ankam, die jeder Mensch irgendwann einmal über schreiten muß. Er sah nichts, aber er hörte ein gleichmäßiges, beruhigendes Rauschen und Wispern, und er fühlte sich gut und geborgen und wohltuend hin und her geschaukelt.

Doch dann versuchte er zu atmen, und ihm wurde auf ziem lich drastische Art und Weise klar, daß auch das Paradies seine kleinen Nachteile hat, denn ein so grausamer Schmerz schoß durch seine Brust, daß er mit einem Schmerzensschrei hoch fuhr.

Und gleich darauf wieder zurückfiel, denn der Himmel war nicht nur nicht frei von Schmerzen, sondern auch ziemlich klein; und er hatte eine Decke aus Eisen, an der sich Indiana sehr unsanft den Schädel gestoßen hatte.

Er stöhnte, hob vorsichtig die Hände an den Kopf und öffnete noch vorsichtiger die Augen. Jeder Atemzug tat entsetzlich weh, und wenn das der Himmel war, dann entsprach er ganz und gar nicht den Vorstellungen der Bibel oder auch des Korans oder irgendeiner anderen Religion, denn er war klein und dreckig und stank nach Schnaps und fauligem Fisch, und statt himmlischer Chöre hörte er das asthmatische Schnauben eines uralten Dieselmotors. Kein Zweifel — die Bibel hatte sich gründlich geirrt.

Es gab natürlich noch eine zweite Möglichkeit: nämlich die, daß er gar nicht tot war. Allerdings war dieser Gedanke beinahe ebenso unwahrscheinlich. Indiana erinnerte sich recht genau an alles, was passiert war. Und er hatte noch nie gehört, daß jemand zwei Bauchschüsse aus allernächster Nähe überlebt hätte.

So vorsichtig, wie er überhaupt konnte, versuchte er sich ein zweites Mal aufzusetzen, aber der Schmerz in seiner Brust war einfach zu stark. Er stöhnte gepreßt, öffnete mühsam Jacke und Hemd und sah an sich hinunter. Er hatte Angst vor dem, was er erblicken würde.

Nicht ganz zu Unrecht, wie sich herausstellte. Sein Bauch und seine gesamte rechte Seite schillerten in allen Farben des Regenbogens. Es war der gewaltigste Bluterguß, den er jemals zu Gesicht bekommen hatte.

«Ich an Ihrer Stelle würde mich nicht unnötig bewegen«, sagte eine Stimme irgendwo außerhalb seines Gesichtskreises.

«Tut nur unnötig weh.«

Indiana drehte den Kopf und erkannte Ganty, der auf der anderen Seite der winzigen Kajüte hockte und ihn kopfschüt telnd betrachtete.»Üble Sache«, sagte er mit einer Geste auf Indianas Brust.»Aber Sie sind ein zäher Bursche. In ein paar Tagen werden Sie sich schon wieder ganz normal bewegen können. Beinahe, jedenfalls.«

Er lachte, und dieses Lachen hätte Indiana eigentlich wütend machen sollen. Aber er war viel zu verwirrt, um mehr als einen fragenden Gesichtsausdruck zustande zu bringen. Wieder sah er an sich hinunter. Er sah nicht nur so aus, er fühlte sich auch, als hätte ihn ein Kamel getreten — aber seine Haut hatte nicht einmal einen Kratzer!

«Aber wie … wie ist das möglich?«

Ganty griff in die Jackentasche und zog eine Pistolenkugel heraus, die er vor Indianas ungläubig aufgerissenen Augen zwischen Daumen und Zeigefinger zerquetschte.»Zinn, Quecksilber und Wismuth«, erklärte er,»und gerade genug

Blei, daß sie nicht im Lauf auseinanderfliegt und mir die Hand wegreißt. Ich gieße die Dinger selber. Es hat eine Weile gedauert, bis ich die richtige Mischung heraus hatte.«

«Ich … verstehe überhaupt nichts mehr«, murmelte Indiana.

Er versuchte zum dritten Mal, sich aufzusetzen, und diesmal schaffte er es, wenn auch nur schwankend und mit zusammen gebissenen Zähnen.

Ganty nickte anerkennend.»Sie sind wirklich ein zäher Bursche, Dr. Jones«, sagte er. Mit einer fast beiläufigen Bewegung zog er die Pistole aus der Tasche, mit der er Indiana schon einmal niedergeschossen hatte, und fuhr fort:»Aber bitte versuchen Sie jetzt nicht, den Helden zu spielen.«

«Keine Sorge«, stöhnte Indiana.»Ich bin nicht einmal sicher, ob ich mich jemals wieder bewegen kann. Warum, zum Teufel, haben Sie das getan?«

«Wäre es Ihnen lieber, ich hätte echte Kugeln benutzt?«fragte Ganty lächelnd.

Indiana funkelte ihn an.»Sie wissen genau, was ich meine!«

Ganty seufzte.»Ich hatte keine andere Wahl, Dr. Jones«, sagte er.»Nach dem, was Sie gesehen haben, konnte ich Sie nicht einfach zurücklassen. Und es mußte für Ihren Freund überzeugend aussehen.«

«Hätte es nicht gereicht, mir einfach eins über den Schädel zu ziehen?«maulte Indiana.

«Ich fürchte, nein«, antwortete Ganty betrübt.»Sehen Sie, wenn Ihre Freunde denken, Sie wären tot, dann wird man vielleicht ein paar Wochen nach Ihrem Mörder suchen, und das nicht einmal besonders intensiv. Danach kräht kein Hahn mehr nach Ihnen. Andererseits … wenn der berühmte Dr. Indiana Jones entführt worden ist, dann könnte es hier unter Umständen in ein paar Tagen von Schiffen und Flugzeugen nur so wim meln.«

«Der berühmte Dr. Indiana Jones?«wiederholte Indy.

Ganty lachte.»Ich weiß genau, wer Sie sind, Dr. Jones. Ich

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bin nicht der Dummkopf, für den mich alle halten.«

«Das habe ich Ihnen auch keine Sekunde lang abgekauft«, antwortete Indiana.»Darf ich aus Ihren Worten schließen, daß meine Hinrichtung nur aufgeschoben ist?«

«Darüber habe ich nicht zu entscheiden«, antwortete Ganty.

«Aber ich glaube nicht, daß sie Sie töten werden.«

«Sie?«

Ganty lächelte und schwieg.

Indiana versuchte, die Beine von der Pritsche zu schwingen, stellte den Versuch aber sofort wieder ein, als Ganty eine drohende Bewegung mit seiner Pistole machte.»Wer sind Sie, Ganty?«fragte er.»Wer sind Sie wirklich?«

«Nur ein alter Mann«, antwortete Ganty,»der zufällig hinter eines der letzten Geheimnisse dieser Welt gekommen ist und nicht möchte, daß es zerstört wird. «Er lachte leise.»Vor zwanzig Jahren hätte ich mich selbst als ihr Wächter bezeich net, aber ich glaube, dieses Wort wäre ein wenig zu schwül stig.«

«Dann hatte ich recht«, sagte Indiana.»Es gibt einen anderen Ort, an dem die Osterinsel-Kultur existierte. Und Sie wissen, wo das ist.«

«Ihre Vermutung ist richtig, Dr. Jones«, antwortete Ganty.

«Nur die Grammatik stimmt nicht.«

«Wie?«

«Sie benutzen die Vergangenheitsform«, sagte Ganty.

Es dauerte einen Moment, bis Indiana wirklich begriff, was sein Gegenüber meinte. Aber dann sperrte er ungläubig Mund und Augen auf.»Sie … Sie wollen behaupten, sie existiert noch?«keuchte er.

Ganty nickte.»Unverändert und unberührt wie am ersten Tag. Und das wird auch so bleiben.«

«Und Sie wissen, wo diese Insel liegt?«fuhr Indiana aufge regt fort.»Wir sind auf dem Weg dorthin«, sagte Ganty.»Wenn das Wetter sich hält, werden wir sie morgen früh erreichen.«

«Aber das ist ja … phantastisch!«sagte Indiana. Er war so aufgeregt, daß er sich nun doch aufsetzte und dabei den Schmerz in seinen geprellten Rippen kaum noch spürte. Den in seinem Hinterkopf schon, als er zum zweiten Mal gegen die Kante der oberen Pritsche knallte.

«Bitte freuen Sie sich nicht zu früh, Dr. Jones«, sagte Ganty, während Indiana sich mit der linken Hand die Rippen und mit der rechten den dröhnenden Schädel rieb.»Ich glaube, ich kann für Ihr Leben garantieren. Aber nicht dafür, daß man Sie wieder weglassen wird.«

Es dauerte noch mehrere Stunden, bis Indiana sich wieder so weit bei Kräften fühlte, daß er die Kajüte verlassen und an Deck des Schiffes hinaufgehen konnte. Sie fuhren in westlicher Richtung. Vor ihnen und zu beiden Seiten war der Himmel leer, und die See lag glatt wie ein Spiegel da, aber allerhöch stem eine Meile hinter der Yacht türmten sich schwere, schwarze Wolken wie finstere Märchenburgen auf, und das Meer war unter einer dichten Nebelbank verborgen. Indiana hoffte, daß das Schiff schnell genug war, dem Sturm davonzu laufen. Er konnte sich angenehmere Dinge vorstellen, als in dieser Nußschale einen Orkan mitzuerleben.

Ganty stand hinter dem Ruder, aber seine Hände ruhten nur darauf, sie hielten es nicht wirklich fest. Er mußte Indianas Schritte gehört haben, denn der gab sich nicht die mindeste Mühe, leise zu sein, aber er drehte sich nicht einmal zu ihm herum. Indiana trat neben ihn, blickte eine ganze Weile schweigend an ihm vorbei nach Westen und fragte dann unvermittelt:»Wieso vertrauen Sie mir, Ganty?«

«Sollte ich nicht?«Ganty sah ihn nicht an.

«Das ist keine Antwort«, sagte Indiana.»Sie haben Ihr Ge heimnis zwanzig Jahre lang gehütet.«

«Leider nicht gut genug«, gestand Ganty.»Früher, als ich jünger war, habe ich manchmal mehr geredet, als gut war.«

«Daher die Gerüchte?«

«Ja. Leider. Um ein Haar hätte ich alles verdorben. Aber dann ist mir gerade noch rechtzeitig klar geworden, welches Schick sal ihnen blüht, wenn die Welt von ihrer Existenz erfährt. «Er lachte. Es klang sehr bitter.»Also habe ich versucht, den Schaden wiedergutzumachen. Wer glaubt schon einem ver rückten, alten Säufer?«

«Und nach all diesen Jahren vertrauen Sie sich ausgerechnet mir an?«fragte Indiana.

Ganty löste seinen Blick nun doch vom Horizont und sah ihn an.»Wüßten Sie einen Besseren, Dr. Jones?«

Indiana wurde verlegen.»Nun, ich — «

«Ich weiß, wer Sie sind, Dr. Jones«, erinnerte ihn Ganty.»Zugegeben, wir leben hier fast am Ende der Welt, aber das eine oder andere hört man doch. Und es gibt Dinge, auf die ich ganz besonders achte. Ich habe noch immer gewisse Verbin dungen von früher.«

Indiana blickte ihn fragend an, und Ganty lächelte ganz leise.

«Ich war einmal Professor für Archäologie, Dr. Jones. Genau wie Sie. Aber das ist lange her.«

«Sie?!«fragte Indiana ungläubig. Gleich darauf tat ihm der Tonfall, in dem er die Frage gestellt hatte, selber leid, und er entschuldigte sich.

Ganty winkte ab.»Sie müssen sich nicht entschuldigen, Dr. Jones. Ich habe genau den Ruf, den ich haben wollte. Aber ich weiß noch, wie ich in Ihrem Alter war. Und deshalb glaube ich, Ihnen vertrauen zu können. Sie sind nicht so wie die meisten meiner sogenannten Kollegen, die an nichts anderes als an ihren persönlichen Erfolg und Ruhm denken können. Ich war auch einmal so. Aber dann habe ich irgendwann begriffen, daß es Dinge gibt, die man versteckt halten muß, um sie zu bewah ren. Und ich glaube, Sie wissen das auch.«

Indiana sagte nichts. Gantys Worte hatten ihn verlegen ge macht, aber er spürte auch, daß sie ehrlich gemeint waren.

Nur um von dem Thema abzulenken, deutete er nach Osten.

Die graue Wand war nicht näher gekommen, aber ihr Abstand zu der Schlechtwetterfront hatte sich auch nicht sichtbar vergrößert.»Glauben Sie, daß der Sturm uns einholt?«fragte er.

«Oder daß Ihr Schiff ihn aushält?«

In Gantys Augen glitzerte es spöttisch.»Die Antwort auf beide Fragen ist nein«, sagte er.»Dieses Schiff ist beinahe so alt wie ich. Und ich fürchte, es ist auch in keinem wesentlich besseren Zustand. «Er weidete sich einige Sekunden lang sichtlich an Indianas unübersehbarem Schrecken, dann fuhr er fort:»Aber er wird uns nicht einholen.«

«Sind Sie sicher?«fragte Indiana zweifelnd. Er verstand nicht annähernd soviel von der Seefahrt wie Ganty, aber er wußte, wie unberechenbar das Wetter gerade in diesem Teil der Welt sein konnte.»Absolut«, antwortete Ganty.»Das ist nur eine kleine Vorsichtsmaßnahme. Für den Fall, daß Ihr Freund Delano auf die Idee kommen sollte, uns zu folgen.«

«Wie bitte?«fragte Indiana verwirrt.

«Wußten Sie nicht, daß Ihnen ein Schiff nach Pau-Pau gefolgt ist?«fragte Ganty.»Sie sollten bei der Auswahl Ihrer Freunde etwas sorgfältiger sein.«

«Das habe ich nicht gemeint«, sagte Indiana. Er deutete auf die graue Wand aus Nebel und Wolken, die der Yacht tatsäch lich im Abstand von einer guten Seemeile zu folgen schien.

«Was soll das heißen: eine reine Vorsichtsmaßnahme?«

«Können Sie sich ein Schiff vorstellen, daß uns in diesem Wetter noch folgen könnte?«fragte Ganty.»Oder ein Flug zeug?«

Wieder blickte Indiana sekundenlang zu der gewaltigen Barriere aus Nebel und Wolken zurück.»Nein«, sagte er dann.

«Sehen Sie? Ich auch nicht«, antwortete Ganty lächelnd.

Und das war alles, was Indiana ihm über den Sinn seiner geheimnisvollen Bemerkung entlocken konnte.

Aber es war beinahe schon mehr, als er eigentlich hatte wissen wollen.

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