Indiana bewegte vorsichtig die Finger und biß dabei die Zähne zusammen, um nicht vor Schmerz aufzustöhnen. Die Fesseln waren so eng angelegt gewesen, daß sie ihm das Blut abge schnürt hatten. Jetzt kehrte das Leben ganz allmählich in seine tauben Hände zurück; ein Vorgang, der ebenso langsam wie schmerzhaft war. Und er war nicht einmal sicher, ob es sich lohnte, die pochenden Schmerzen zu ertragen. Wahrscheinlich würde er bereits den Moment, in dem sie aufhörten, nicht mehr erleben.
Verstohlen wandte er den Kopf und sah aufs Meer hinaus.
Vom Kraterrand aus hatte er einen ungehinderten Blick bis zum Horizont — jedenfalls hätte er ihn gehabt, wäre es nicht so dunkel gewesen, daß er kaum hundert Meter weit sehen konnte, ehe sich sein Blick in vollkommener Finsternis verlor.
Irgendwo dort draußen in der Dunkelheit war die HENDERSON. Vielleicht. Irgendwo dort draußen stand ein Mann mit einem Fernglas, der das Notsignal, das die Langoh ren ohne ihr eigenes Wissen jetzt seit fast einer Stunde ab schickten, erkannt und darauf reagiert hatte. Vielleicht. Und vielleicht war jetzt schon ein Boot mit einer Rettungsmann schaft zu ihnen unterwegs.
Indiana seufzte tief auf. In ihrem» Plan «waren so viele Vielleichts, daß er ihn ebensogut vergessen konnte. Selbst wenn er aus allen Vielleichts ein »Ganz bestimmt!« machte, würden sie einfach zu spät kommen.
«Geben Sie sich keinen falschen Hoffnungen hin, Doktor Jones«, sagte Sandstein hinter ihm.
Indiana drehte sich erschrocken zu ihr herum, und Sandstein fuhr fort:»Selbst wenn Ihnen persönlich die Flucht gelänge, kämen Sie niemals von der Insel herunter. Und Ihre Kamera den müßten teuer dafür bezahlen. Also machen Sie lieber keine Dummheiten.«
Indiana blickte sie böse an, aber er hatte gleichzeitig auch Mühe, sich seine Erleichterung nicht allzu deutlich anmerken zu lassen. Für eine Sekunde war er fest davon überzeugt gewesen, daß sie alles wußte und das Spiel nur mitgespielt hatte, um ihn zu verhöhnen.
«Worauf warten Sie noch?«fragte er übertrieben zornig, um seine wahren Gefühle zu verbergen.»Bringen Sie mich doch endlich um!«
Sandstein lachte.»Sie haben es sehr eilig, zu sterben«, sagte sie.»Aber ich will großzügig sein, Dr. Jones. Ich gebe Ihnen die Chance, um Ihr Leben und das Ihrer Kameraden zu kämpfen.«
Sie gab ein Zeichen mit der Hand. Zwei Langohren kamen herbei, und gleichzeitig bewegte sich einer der großen Kräne knarrend in ihre Richtung. Einer der beiden Polynesier trug einen grellbunten Federmantel über den Armen; der andere schleppte ein ganzes Sammelsurium von Waffen mit sich: Speer, Keule, Axt, Messer. Ein ausgesprochen ungutes Gefühl begann sich in Indiana breitzumachen.
«Ich nehme an, Sie haben lange genug zugesehen, um die Regeln zu kennen«, sagte Sandstein.»Sind Sie bereit?«
«Ich … ich soll dort hinunter?«fragte Indiana mit einer ungläubigen Geste in den Vulkan hinab. Erst jetzt fiel ihm auf, daß der zeremonielle Kampf der Langohren zu Ende war. Die letzten Polynesier kletterten in diesem Moment geschickt wie große Affen an den Seilen nach oben.
«Sie haben die Wahl«, sagte Sandstein lächelnd.»Den siche ren Tod für sich und Ihre Begleiter — oder mein Versprechen, in Frieden gehen zu dürfen, wenn Sie den Kampf gegen drei meiner besten Krieger bestehen.«
«Oh«, sagte Indiana.»Nur drei.«
«Niemand soll mir nachsagen, ich wäre unfair«, erwiderte Sandstein spöttisch.»Wählen Sie Ihre Waffen.«
«Ganz gleich welche?«
«Sicher.«
«Dann hätte ich gern eine Maschinenpistole«, sagte Indiana.
«Und wenn es geht, einen Flammenwerfer.«
Sandsteins Gesicht verfinsterte sich.»Strapazieren Sie meine Geduld nicht zu sehr, Jones.«
Indiana verbiß sich die Antwort, die ihm auf den Lippen lag, und wandte sich dem Polynesier zu. Er überlegte ein paar Augenblicke, dann nahm er das Messer, schob es unter seinen Gürtel und streckte die Hand nach der Axt aus. Aber er führte die Bewegung nicht zu Ende, sondern drehte sich plötzlich zu Sandstein um.»Könnte ich meine Peitsche haben?«
Sandstein schien die Bitte erwartet zu haben, denn sie winkte nur herrisch, und der Polynesier reichte Indiana die zusam mengerollte Lederschnur. Er befestigte sie neben dem Dolch am Gürtel. Dann wollte er nach dem Umhang greifen, aber der Polynesier schlug grob seinen Arm beiseite und machte sich allein daran, Dr. Indiana Jones in einen Vogelmenschen zu verwandeln — was im übrigen nicht halb so einfach war, wie es im ersten Moment den Anschein hatte. Die beiden Langohren benötigten eine gute Viertelstunde, um den Mantel mit einem komplizierten System aus Stangen und Lederriemen an seinen Schultern und Armen zu befestigen. Das Kleidungsstück erwies sich als erstaunlich schwer und erstaunlich unbequem.
Möglicherweise konnte man darin fliegen, dachte Indiana verärgert, aber man konnte kaum darin gehen.
Sandstein machte eine einladende Geste auf das Tau zu, das neben ihm hing.»Bitte, Dr. Jones.«
Indiana sah sich mit übertriebener Geste um.»Und meine … Partner?«
«Sie haben fünf Minuten zum Üben«, antwortete Sandstein spöttisch.»Es ist nicht leicht, wie ein Vogel zu fliegen, Dr. Jones.«
Wortlos drehte sich Indiana um und streckte Kopf und Schul tern durch die Seilschlaufe. Während die Polynesier das Tau fester zogen und sich von dessen korrektem Sitz überzeugten, sah Indiana noch einmal zu den anderen zurück. Die Blicke der anderen Gefangenen waren gebannt auf ihn gerichtet. Er las Furcht und Resignation und Hoffnung darin, aber auch Zorn. Er verstand dieses Gefühl nur zu gut. Für sie alle mußte es so ausgesehen haben, als hielte er die Rettung in Händen. Sie hatten nicht gefühlt, was er gefühlt hatte. Der einzige, in dessen Augen er so etwas wie Verständnis zu lesen glaubte, war Ganty.
«Eine Minute ist bereits um, Dr. Jones«, drang Sandsteins Stimme durch seine Gedanken.»Beeilen Sie sich lieber. Die Hoffnungen all Ihrer Freunde ruhen auf Ihnen.«
Mit einem entschlossenen Schritt trat er an den Kraterrand.
Ein Schwall kochender Luft schlug ihm ins Gesicht, als ihm der Vulkan ein glühendes Willkommen entgegenfauchte. Die Glut war so grell, daß sie ihm die Tränen in die Augen trieb. Für einen Moment verließ ihn der Mut. Vielleicht war es wirklich besser, hierzubleiben und einen schnellen Tod unter den Messern der Polynesier in Kauf zu nehmen, als dort unten bei lebendigem Leibe langsam gegrillt zu werden. Aber dann blickte er noch einmal in Sandsteins Gesicht, und er las in ihren Augen, daß es für ihn keinen schnellen Tod geben würde, und schon gar keinen schmerzlosen, und er stieß sich ohne zu zögern ab.
Abgesehen von der Hitze, die schlimmer war, als er erwartet hatte, war es beinahe leicht. Dem Beispiel der Polynesier folgend, breitete er weit die Arme aus, und er spürte schon auf den ersten Metern, wie sich die aufsteigende heiße Luft unter seinen Flügeln fing und den Sturz bremste.
Trotzdem schien ihm das glühende Herz des Vulkans regelrecht entgegenzufliegen. Die Hitze verbrannte sein Gesicht, seine Augenbrauen und Lungen, und als er vorsichtig die Arme bewegte, um seinen Kurs zu korrigieren, wie er es bei den Langohren gesehen hatte, geriet er prompt ins Trudeln und wäre in die Lava gestürzt, hätte ihn das Tau nicht gehalten. Fast eine Minute lang zappelte er hilflos am Ende der Leine herum, bis es ihm auch nur wieder gelang, eine halbwegs ruhige Position wiederzugewinnen; von einem gezielten Flug oder gar dem eleganten Gleiten und Schweben, das er bei den Vogelmenschen beobachtet hatte, gar nicht zu reden.
Etwas im Rhythmus der Trommeln änderte sich. Indiana hob — sehr vorsichtig, um nicht durch eine unbedachte Bewegung wieder aus dem Gleichgewicht und ins Trudeln zu geraten — den Kopf und sah, wie sich dicht nebeneinander drei Polynesier mit weit ausgebreiteten Schwingen in die Tiefe stürzten. Von unten betrachtet sah es noch eleganter aus als von oben. Und noch tödlicher.
Indiana griff nach seiner Peitsche, löste die Hand nach kur zem Zögern wieder vom Griff und zog statt dessen den Dolch.
Seine Peitsche würde vielleicht eine Überraschung für die Langohren sein, aber diese Chance hatte er nur einmal. Wenn er sie zu früh ausspielte, war es aus.
Die drei Polynesier stürzten wie Raubvögel auf ihn herab, einer von rechts, einer von links, der dritte direkt von oben. Offenbar wollten sie die Sache zu einem schnellen Ende bringen.
Indiana hatte dasselbe vor, aber er war nicht sehr sicher, daß ihm das gleiche Ergebnis vorschwebte wie den Vogelmen schen.
Er sah die Messer in den Händen der Polynesier, die ihn von den Seiten angriffen, und versuchte, sich herumzuwerfen und zugleich an Höhe zu gewinnen. Dabei geriet er prompt ins Trudeln.
Wahrscheinlich rettete ihm seine Ungeschicklichkeit das Leben. Indiana überschlug sich am Ende seiner Leine, stürzte ein gutes Stück weit der Lava entgegen und gewann fast gegen seinen Willen in einer bizarren Spirale wieder an Höhe, als er instinktiv die Arme ausbreitete und in die Thermik geriet.
Einer der Polynesier verfehlte ihn nur um Haaresbreite; die beiden anderen schossen plötzlich aufeinander statt auf ihren gemeinsamen Gegner zu und hatten mit einem Male alle Hände voll zu tun, nicht miteinander zu kollidieren und ihre Taue nicht zu verheddern. Vielleicht hätte er in diesem Moment eine gute Chance gehabt, die Überraschung seiner Gegner auszu nutzen und wenigstens einen von ihnen auszuschalten.
Theoretisch.
Praktisch riß die Thermik ebenso plötzlich wieder ab, wie sie ihn in die Höhe katapultiert hatte, und Indiana stürzte kopfüber und mit Armen und Beinen strampelnd in die Tiefe.
Eine grün gefiederte Gestalt schoß auf ihn zu. Indiana breitete die Arme aus und versuchte, wieder in die Thermik zu gelan gen, aber er war nicht schnell genug. Der Polynesier glitt kaum eine Handbreit an ihm vorbei, und sein Dolch schlitzte Indianas Hemd vom Gürtel bis zum Halsausschnitt auf.
Die Haut darunter auch.
Indiana keuchte vor Schmerz auf und versuchte ebenfalls einen Messerhieb anzubringen, aber seine Klinge fetzte nur ein paar Federn aus dem Mantel des Polynesier. Indiana warf sich herum, schlug ungeschickt mit den Flügeln und versuchte ihm zu folgen, wurde aber in diesem Moment von den beiden anderen angegriffen. Sie glitten wieder von beiden Seiten auf ihn zu, diesmal aber in unterschiedlicher Höhe, so daß ihn einer von beiden auf jeden Fall erwischen mußte, ganz egal, was für ein Ausweichmanöver er vollführte.
Also versuchte er es erst gar nicht.
Statt dessen warf er sich herum und raste direkt auf einen der beiden zu.
Seine Attacke überraschte den Polynesier vollkommen. Sie bewegten sich mit irrsinniger Geschwindigkeit aufeinander zu, und Indiana stellte sich dabei so ungeschickt an, daß sein Gegner ihn der Länge nach aufgeschlitzt hätte, wenn er nur das Messer gehoben hätte. Aber er tat es nicht, sondern starrte Indiana nur fassungslos an. Indiana hackte mit dem Messer nach ihm, erwischte aber auch diesmal nichts als ein paar Federn, und dann waren sie aneinander vorbei, und im näch sten Augenblick begriff Indiana schlagartig, warum der Polynesier ihn so fassungslos angestarrt hatte; genauer gesagt: so entsetzt.
Ihre Taue begannen sich umeinanderzuwickeln.
Sowohl Indiana als auch sein Gegner versuchten eine Aus weichbewegung, aber es war zu spät. Ihre Seile drehten sich umeinander, und Indiana und der Polynesier begannen einander gegen ihren Willen und immer schneller zu umkreisen. Der Kraterrand und die lodernden Feuer rasten immer schneller und schneller an ihm vorbei.
Der Zusammenstoß war fürchterlich. Das Messer wurde ihm aus der Hand gerissen und flog davon, und aus dem Federman tel seines Gegenübers löste sich ein fast metergroßes Stück, das trudelnd in die Tiefe zu stürzen begann und Feuer fing, noch bevor es die Lava erreichte.
Indiana klammerte sich instinktiv am Körper seines Gegners fest. Der andere tat dasselbe; allerdings nur mit einer Hand. Mit der anderen griff er nach Indianas Kehle und drückte mit erbarmungsloser Kraft zu.
Indiana ließ die Schultern des Langohrs los und begann mit beiden Fäusten auf dessen Gesicht einzuschlagen. Er traf. Blut lief aus Nase und Gesicht des Eingeborenen, aber sein Würge griff verstärkte sich nur noch. Indianas Kräfte ließen bereits nach. Er hämmerte weiter auf seinen Gegner ein, aber seine Schläge waren jetzt kraftlos und hatten so gut wie keine Wirkung mehr.
Ein furchtbarer Ruck ging durch seinen Körper. Indiana sah hoch und erkannte voller Entsetzen, daß nur noch einer der beiden Polynesier auf seinen Flügeln über ihnen kreiste. Der andere hatte sich zu den ineinandergedrehten Seilen emporge schwungen und daran festgeklammert. In der rechten Hand hielt er ein gewaltiges Messer, mit dem er verbissen an den Tauen herumsäbelte.
Dieser Anblick gab Indiana noch einmal Kraft. Mit einem verzweifelten Hieb sprengte er den Würgegriff seines Gegners, stieß sich von ihm ab und versuchte, irgendwie in die Höhe zu kommen. Augenblicklich begannen sie wieder umeinander zu kreisen, diesmal in entgegengesetzter Richtung.
Wieder spürte er einen Ruck, der ihm sämtliche Knochen im Leib zu zerbrechen schien. Das erste Seil war gerissen. Es war das, an dem sein Gegner hing, aber da ihre Taue sich minde stens dreißig- oder vierzigmal umeinandergedreht hatten, stürzte der Polynesier nicht sofort ab, sondern glitt mit kleinen, harten Rucken in die Tiefe, wobei er gleichzeitig wie besessen mit den Armen ruderte, um in Indianas Nähe zu kommen. Der zweite Polynesier säbelte fröhlich weiter am Seil. Es würde nur noch Sekunden halten.
Indiana hielt verzweifelt nach dem dritten Vogelmenschen Ausschau und löste gleichzeitig seine Peitsche vom Gürtel. Er entdeckte ihn keine zehn Meter von sich entfernt, warf sich herum und sah aus den Augenwinkeln, wie der Polynesier, mit dem er gerade gekämpft hatte, von unten auf ihn zuglitt. Sein Tau gab ihm jetzt keinen Halt mehr, aber er hatte die Thermik so günstig erwischt, daß er für einen Moment tatsächlich flog.
Was er vorhatte, war klar.
Trotzdem ignorierte ihn Indiana und ließ seine Peitsche knallen.
Die Schnur verfehlte den Polynesier und wickelte sich über dessen Schulterblättern um das Haltetau. Aus dem eleganten Gleitflug des Polynesiers wurde ein hilfloses Trudeln, als Indiana die Peitsche mit einem Ruck straffzog und den Eingeborenen auf sich zuzuzerren begann. Hand über Hand zog er den Vogelmann auf sich zu.
Der Polynesier begann wild zu strampeln und versuchte, sich auf den Rücken zu drehen, um die Peitschenschnur zu errei chen, aber es gelang ihm nicht.
Und dann ging alles entsetzlich schnell.
Indianas Seil riß. Er spürte, daß er zu fallen begann und klammerte sich mit verzweifelter Kraft an den Peitschenstiel, gleichzeitig versuchte er sich nach vorn zu werfen und die strampelnden Beine des Polynesiers zu erreichen.
Wahrscheinlich hätte er es sogar geschafft, wäre in diesem Moment nicht sein vorheriger Gegner herangekommen und hätte nach seinen Beinen gegriffen. Mit aller Kraft klammerte der sich an Indiana fest.
Es gab einen doppelten, entsetzlichen Ruck, der ihm die Arme aus den Gelenken zu reißen schien, aber sein Vorrat an wundersamen, rettenden Fügungen war wohl noch nicht aufgebraucht: Sowohl seine Peitsche als auch das Tau des Polynesiers hielten der Belastung stand, und irgendwoher nahm er sogar die Kraft, sich Hand über Hand in die Höhe zu ziehen und die Füße des Langohrs zu packen. Der Polynesier trat wütend aus, aber die schiere Todesangst — und der Anblick der brodelnden Lava unter sich — gaben Indiana fast übermenschli che Kräfte. Obwohl die gut zwei Zentner des anderen Langohrs an seinen Beinen zerrten, kletterte er weiter in die Höhe, krallte sich in die Arme des Polynesiers und griff weiter nach oben.
Der Polynesier rammte ihm das Knie in den Leib. Eine seiner Hände tastete über Indianas Gesicht und packte nach seinen Augen. Indiana biß ihm in den Daumen, schmeckte Blut und krümmte sich gleich darauf selbst vor Schmerz, als das Knie des Burschen mit der Wucht eines Hammerschlags in seinem Magen landete. Sein Griff lockerte sich; er begann abzurut schen.
Instinktiv warf er die Arme nach oben und packte, was er zu fassen bekam.
Es waren die Ohren des Vogelmenschen.
Der Polynesier begann hysterisch und schrill zu kreischen, als seine Ohrläppchen plötzlich und brutal zur doppelten Länge gedehnt wurden, nachdem er selbst sie in den letzten zehn oder fünfzehn Jahren sehr behutsam gestreckt hatte. Indiana spürte einen weiteren, harten Ruck, und plötzlich waren seine Hände voller Blut. Verzweifelt krallte er sich in das Gesicht des Polynesiers, glitt weiter ab und fand schließlich an dessen Schultern halt. Der Polynesier kreischte vor Schmerz und begann sich wild hin und her zu werfen, während er beide Hände auf seine blutenden Ohren preßte.
Unter Indiana ertönte ein schriller Schrei, und als er den Blick senkte, machte sein Herz einen erschrockenen Hüpfer bis in seinen Hals hinauf.
Der Polynesier, der sich an seine Beine geklammert hatte, stand in Flammen. Sein Tau war in die Lava geraten, und das heiße, flüssige Gestein hatte es wie eine Lunte in Brand gesetzt.
Die Flammen hatten bereits den Rand seines Federmantels erreicht und griffen mit rasender Schnelligkeit um sich!
Indiana hatte bisher gezögert, aber nun blieb ihm keine andere Wahl mehr: mit einem entschlossenen Tritt stieß er den Polynesier von sich. Der Eingeborene kreischte, stürzte rücklings in die Tiefe und breitete im Fallen die Arme aus. Wie ein riesiger, brennender Vogel stürzte er in die Lava hinab und verschwand in der brodelnden Masse. Eine gewaltige Stich flamme schoß in die Höhe, und ein Hagel aus winzigen, glühenden Lavaspritzern versengte Indianas Rücken und seine Beine.
In der Zwischenzeit war jedoch der zweite Polynesier wieder halbswegs zur Besinnung gekommen. Seine zerfetzten Ohr läppchen bluteten noch immer heftig, aber der Ausdruck seiner Augen verriet jetzt viel weniger Schmerz als rasende Wut.
Indiana schlang den linken Arm um seinen Nacken, klammer te sich mit aller Kraft daran fest und rammte ihm die rechte Faust in den Leib; einmal, zweimal, dreimal, immer wieder.
Zuerst schien es, als hätten seine Hiebe überhaupt keine Wirkung, aber dann spürte er, daß der Körper seines Gegners allmählich erschlaffte.
Nur um sicherzugehen, schlug er noch einmal zu, dann begann er, weiter in die Höhe zu steigen, bis er wie ein Zirkusartist auf den Schultern des bewußtlosen Polynesiers stand und sich mit der linken Hand am Haltetau festklammerte.
Der dritte und letzte Vogelmensch glitt mit weit ausgebreite ten Schwingen heran. In seinen Händen blitzte eine gewaltige Machete, und als Indiana seinen Kurs in Gedanken verlängerte, wurde ihm klar, daß er selbst gar nicht das Ziel des Polynesiers war. Der hatte vor, das Tau zu kappen, damit sie beide in die Lava hinabstürzten. Das Leben ihrer eigenen Leute schien den Langohren nicht besonders viel wert zu sein.
Indiana wartete ruhig ab, bis der Polynesier nahe genug heran war, dann schlug er mit der Peitsche zu. Diesmal war der Hieb anders: kürzer, härter und mit sehr viel mehr Kraft geführt, und ein kurzes Schnappen aus dem Handgelenk, das die Peitschen schnur mit fürchterlicher Kraft nach dem Tau züngeln ließ.
Sie durchtrennte das Tau wie ein Messer.
Der Vogelmann schrie vor Schrecken auf, aber er behielt trotzdem die Nerven. Mit weit ausgebreiteten, reglosen Schwingen glitt er dicht an Indiana vorbei, ließ plötzlich seine Machete fallen und ging in einen rasenden Sturzflug über. Als Indiana schon glaubte, er würde in der Lava versinken, warf er sich gerade noch herum und nutzte den Schwung seines eigenen Sturzes, um auf der heißen Luft wieder in die Höhe zu reiten. Er hatte keine Chance, den Kraterrand zu erreichen, aber er prallte auf halber Höhe gegen die Böschung, schlitterte ein Stück in die Tiefe und fand schließlich irgendwo einen Halt.
Sein Umhang schwelte, und an einer Stelle züngelten bereits winzige Flammen. Mit fliegenden Fingern schlug er sie aus, riß sich das schwere Kleidungsstück von den Schultern und begann an der Innenseite des Kraters in die Höhe zu klettern. Indiana gönnte ihm, daß er es schaffte.
Allerdings sah er nicht weiter zu, sondern blickte zu Sand stein hinauf, die am Rande der steinernen Plattform stand und zu ihm hinunterstarrte. Er konnte ihr Gesicht nur als hellen Fleck erkennen, aber er glaubte ihre fassungslosen Blicke geradezu zu spüren.
«Ich habe die Bedingung erfüllt!«schrie er.»Jetzt halten Sie Ihr Wort! Ziehen Sie mich rauf!«
Sekundenlang regte sich Sandstein überhaupt nicht, und Indiana glaubte schon, sie hätte seine Worte gar nicht verstan den, aber dann hob sie die Hand und winkte befehlend.
Er wurde jedoch nicht in die Höhe gezogen.
Statt dessen beobachtete er voll ungläubigem Entsetzen, wie sich drei weitere Vogelmänner bereit machten, in den Vulkan krater hinabzugleiten!
«Sandstein!«schrie er.»Ist das Ihre Art, Ihr Wort zu halten?«
«Ich halte mein Wort, Dr. Jones!«schrie Sandstein zurück.
«Ich habe Ihnen versprochen, daß Sie Gelegenheit zum Üben erhalten, oder? Nun, Sie haben sie bekommen — und gut genutzt. Jetzt werden Sie gegen drei meiner Krieger kämpfen, die wirklich gut sind. Die beiden Versager, die Sie getötet haben, haben nichts anderes verdient!«
«Glauben Sie, daß Ihr Volk einer Göttin vertraut, die ihr Wort bricht, Mi-Pao-Lo?«fragte Indiana.
Sandstein lachte häßlich.»Ein guter Versuch, Dr. Jones!«antwortete sie.»Aber geben Sie sich keine Mühe! Sie verste hen kein Wort Ihrer Sprache, Jones! Wenn Sie diese drei besiegen, dann sind Sie frei!«
Sie gab ein Zeichen, und die drei Polynesier stürzten sich nebeneinander in die Tiefe.
Indiana fluchte lautlos in sich hinein. Er war ein Narr gewesen, dieser Wahnsinnigen zu vertrauen. Sie würde nie zulassen, daß er oder einer der anderen diese Insel lebend verließ. Selbst dann nicht, wenn er auch mit den nächsten drei Langohren fertig würde.
Was ihm aber sowieso nicht gelingen konnte.
Schon die Art, in der sie auf ihn zuglitten, machte ihm klar, daß diese Krieger den Ritt auf der Thermik ungleich besser beherrschten als die drei ersten. Und sie hatten gesehen, auf welche Weise er sich zur Wehr gesetzt hatte, und würden kaum noch einmal auf den gleichen Trick hereinfallen. Nein, er hatte keine Chance.
Trotzdem ergriff er seine Peitsche fester und sah den dreien entschlossen entgegen. Er wollte sein Leben so teuer verkaufen wie möglich.
Er brauchte es nicht.
Etwas wie ein weit entfernter, sonderbar trockener Donner schlag wehte vom Meer heran, dann war ein Pfeifen zu hören, hoch und schrill, das immer näher kam und dabei immer lauter wurde. Irgend etwas flog unsichtbar, aber mit einem höllischen Getöse über den Krater hinweg. Für eine Sekunde herrschte eine fast unnatürliche Stille, dann drang das Geräusch einer gewaltigen Explosion aus dem Dschungel. Roter Flammen schein erfüllte den Himmel, und Indiana glaubte zu spüren, wie die ganze Insel unter ihnen erzitterte.
Dem Donner der Explosion folgte eine fast unheimliche Stille. Das Dröhnen der Trommeln war verstummt, und selbst das Grollen des Vulkans schien für einen Moment auszusetzen.
Auch Indiana hielt unwillkürlich den Atem an. Er sah aus den Augenwinkeln, wie die drei Polynesier immer näher kamen; aber ihr Flug war jetzt kein Angriff mehr. Sie wirkten verwirrt und zu Tode erschrocken, und ihre Blicke waren nicht mehr auf ihn gerichtet, sondern in den Himmel.
Ein zweiter Donnerschlag wehte vom Meer heran, und noch bevor das schrille Heulen und Pfeifen wieder einsetzte, sanken die Langohren auf dem Kraterrand einer nach dem anderen auf die Knie und senkten demütig die Häupter, und endlich begriff Indiana, was da geschah. Für die Polynesier war das Donnern die Antwort ihres Gottes, den sie mit der Zeremonie angerufen hatten.
Der Irrtum hielt sich allerdings nur wenige Augenblicke, bis er auf grausame Weise richtiggestellt wurde. Das Heulen und Pfeifen setzte wieder ein und kam näher, und Indiana fand gerade noch Zeit, sich mit Armen und Beinen an das Tau zu klammern, ehe Make-Makes Antwort, die in Wirklichkeit aus einer 12-cm-Granate bestand, die Insel erreichte und inmitten der betenden Polynesier auf dem Kraterrand explodierte.
Ein rot-orangener Feuerball überstrahlte das Licht der Zere monienfeuer. Das Krachen der Explosion schien Indianas Trommelfelle zu zerreißen, und die Druckwelle fegte ihn von seinem lebenden Halt herunter und wirbelte die drei anderen Vogelmenschen haltlos durcheinander. Einer rutschte aus seinem Haltegeschirr und stürzte in die Lava hinab, die beiden anderen wurden gegen die Kraterwand geschleudert.Indiana klammerte sich mit verzweifelter Kraft an das Seil, das ebenfalls wild zu pendeln begonnen hatte. Flammen und glühende Gesteinssplitter regneten auf ihn nieder, und die Lava im Herzen des Vulkans antwortete mit einem wütenden Brodeln und meterhohen Stichflammen. Diesmal war er sicher, daß er sich das Schwanken des Bodens nicht nur einbildete. Der ganze Berg zitterte; und es war nicht nur die Antwort auf den Granateneinschlag.
Sekunden, ehe die Granate heulend heranraste, warnte ihn das Dröhnen eines dritten Kanonenschusses. Indiana begann verzweifelt in die Höhe zu klettern. Seine Hände waren nach Sekunden aufgeschürft und blutig, und sein Körpergewicht schien sich mit jedem Meter zu verdoppeln, den er in die Höhe kletterte. Trotzdem kletterte er verbissen weiter, und seine Entschlossenheit rettete ihm das Leben.
Die dritte Granate traf genau ihr Ziel.
Sie explodierte nicht auf dem Kraterrand, sondern raste weißglühend an Indiana vorbei und verschwand in der Lava.
Eine halbe Sekunde lang schien es, als würde gar nichts geschehen, doch dann hörte Indiana einen dumpfen, sonderbar gedämpften Knall, und plötzlich flammte der ganze Lavasee in greller Weißglut auf. Eine Woge unvorstellbarer Hitze stieg in die Höhe, und dann brachen an einem Dutzend Stellen gleich zeitig brodelnde Lavageysire aus. Glutflüssiges Gestein spritzte empor, setzte den Mantel des bewußtlosen Polynesiers unter Indiana in Brand und verschlang einen der anderen. Indiana kletterte mit verzweifelter Kraft weiter, ignorierte die mörderi sche Hitze, die seine Haut versengte und seine Kleider schwe len ließ, ebenso wie die grausamen Schmerzen in seinen Händen und Schultern. Jedes bißchen Kraft und Energie, das er noch in sich fand, verwandte er dafür, sich Meter für Meter in die Höhe zu ziehen.
Eine weitere Granate raste heran und explodierte an der Innenseite des Kraters. Der Einschlag lag so weit entfernt, daß er Indiana nicht gefährdete, aber er zertrümmerte fast ein Drittel des Kraterrandes. Es war, wie Ganty gesagt hatte: Die Langohren hatten ein Jahrtausend Zeit gehabt, den Berg auszuhöhlen, und er zerbarst unter der Explosion wie ein Ameisenbau unter dem Fußtritt eines Elefanten. Tonnen von Gestein polterten in einer gewaltigen Lawine in die Lava hinab. Der Berg klaffte auseinander. Für Sekunden sah Indiana Stollen und Säle, die noch niemals ein Sonnenstrahl berührt hatte, ehe auch sie zusammenbrachen und sich der Felslawine anschlossen, die in die Lava hinunterstürzte. Indiana hielt jedoch keine Sekunde inne, sondern kletterte weiter, und irgendwie gelang es ihm, den Rand der Felsplattform zu erreichen, ehe ein weiteres Geschoß heranjagte, das diesmal wieder genau sein Ziel traf und eine weitere, brüllende Säule aus geschmolzenem Gestein in die Höhe steigen ließ.
Auf dem steinernen Viereck herrschte ein heilloses Chaos.
Kleine Pfützen aus allmählich abkühlender Lava bildeten ein fast regelmäßiges Muster aus dunkelrotem Licht auf dem Felsen. Einige Langohren lagen verletzt oder auch tot am Boden, und die anderen waren in ein verbissenes Handgemen ge mit Jonas und den anderen verwickelt.
Indiana zog sich mit letzter Kraft über den Rand des Felsens, brach zusammen und vermochte für endlose Sekunden nichts anderes, als keuchend ein- und auszuatmen und darauf zu warten, daß die grausame Hitze nachließ.
Als er die Augen wieder aufschlug, war der Kampf so gut wie entschieden. Der Großteil der Vogelmenschen hatte wohl die Flucht ergriffen, als das Bombardement begann, und auch von Sandstein und ihrem Feuerkristall war nichts mehr zu sehen.
Indiana hoffe inständig, daß sie mitsamt dem verfluchten Kristall in den Krater hinabgestürzt wäre, aber irgend etwas sagte ihm, daß die Lösung nicht so leicht sein würde.
Eine Gestalt kam auf ihn zu, aber Indiana erkannte erst, wer es war, als der andere sprach und er die Stimme identifizieren konnte. Es war Jonas.»Jonas! Um Gottes willen, sind Sie in Ordnung?«
Indiana fand, daß das die mit Abstand dümmste Frage war, die er seit Wochen gehört hatte, aber alles, was er als Antwort zustande brachte, war ein kaum erkennbares Nicken. Er versuchte aufzustehen, aber es gelang ihm erst, als Jonas ihm dabei half.
«Wo … ist Sandstein?«stieß er mühsam hervor. Er konnte immer noch nicht richtig sehen. Seine Augen tränten ununter brochen, und sein Gesicht fühlte sich an, als hätte jemand versucht, ihm bei lebendigem Leibe die Haut abzuziehen. Jonas’ Blick nach zu schließen, schien er auch ungefähr so auszusehen.
«Verschwunden«, antwortete Jonas. Er machte ein abfälliges Geräusch.»Sie war weg wie der Blitz, als die erste Granate im Dschungel einschlug. Eine feine Göttin haben sich diese Wilden da angelacht!«
Indiana schüttelte ein paarmal den Kopf, um ihn wieder klar zu bekommen, aber Jonas’ Worte weigerten sich einfach, einen Sinn zu ergeben.»Was … ist passiert?«murmelte er.
Jonas lachte.»Ich schätze, Ihr Nazi-Freund hat Sie am Ende doch noch aufs Kreuz gelegt.«
«Wie?«murmelte Indiana.
«Delano hat Sie reingelegt«, sagte Jonas. Es klang beinahe fröhlich.»Verstehen Sie immer noch nicht? Ihr Signal ist angekommen, aber Sie haben nicht um ein Rettungskommando gebeten, sondern einen Feuerbefehl gegeben. Ganty hat mir erzählt, was Sie getan haben. Ganz schön clever, Sie und Ihr Nazi-Freund.«
«Ja«, murmelte Indiana.»Wenn er nicht schon tot wäre, dann würde ich ihn jetzt mit Freuden erwürgen.«
Jonas wurde übergangslos ernst.»Ich schätze, die Mühe können Sie sich sparen, Indy. Sieht nicht so aus, als ob wir lebend hier herauskommen.«
Indiana sah ihn verwirrt an. Während dieser wenigen Worte hatte der Kampf ein Ende gefunden; die wenigen Polynesier, die nicht verletzt oder geflüchtet waren, waren von den anderen Gefangenen überwältigt und mit ihren eigenen Gürteln gefes selt worden.
Aber das war gar nicht die Gefahr, von der Jonas gesprochen hatte, und es dauerte nur einige Sekunden, bis Indiana das begriff. Die Langohren waren wahrscheinlich das kleinere Problem für sie.
Der Beschuß von See aus hatte aufgehört. Indiana registrierte erst jetzt, im nachhinein, daß keine weiteren Granaten mehr vom Himmel gestürzt waren, seit er das Plateau erreicht hatte.
Aber der Boden hatte trotzdem nicht aufgehört zu zittern. Ganz im Gegenteil.
Der Fels unter ihren Füßen wankte und zitterte immer stärker, und der Krater spie mehr und heißere Flammen und Glut aus denn je. Die Feuer auf dem Kraterrand waren zum größten Teil erloschen, aber der Himmel glühte noch immer blutrot.
Ein unablässiges Grollen und Dröhnen drang an sein Ohr, durchdrungen von einem Geräusch, als stürzten unter ihren Füßen gewaltige Hohlräume zusammen.
Und ganz genau das war es auch.
«Großer Gott!«flüsterte Indiana.
«Stimmt«, sagte Jonas trocken.»Diese ganze verdammte Insel fällt auseinander. Ich schätze, in zwei Stunden ist hier nichts mehr als unbewegte See.«
Indiana streifte vorsichtig Jonas’ Hand ab und versuchte aus eigener Kraft zu stehen. Es gelang ihm nicht. Der Boden schwankte und zitterte mittlerweile so heftig, daß es selbst Jonas und den anderen schwerfiel, sich auf den Füßen zu halten.
Und er selbst hatte sich in der letzten halben Stunde aber auch alles abverlangt. Jonas mußte ihn stützen, als sie zu den anderen hinüberschwankten.
«Jones!«rief Ganty erschrocken.»Sind Sie verletzt?«
«Nein«, antwortete Indiana automatisch. Er versuchte zu lächeln und verbesserte sich:»Jedenfalls nicht schlimm. Wir müssen weg hier, Ganty. Wohin sind Sandstein und die anderen verschwunden?«
Ganty deutete schweigend auf das zweiflügelige Tor aus schwarzem Basalt am Ende des Plateaus. Es war geschlossen.
Indiana machte sich nicht einmal die Mühe, sein Gewicht zu schätzen. Es spielte auch keine Rolle. Ohne Werkzeug oder besser noch einige Kisten Dynamit hatten sie keine Chance, es zu öffnen.
«Dann müssen wir klettern«, sagte er schweren Herzens.
«Klettern?«Ganty klang eindeutig entsetzt. Indiana blickte an der Felswand in die Höhe und verstand plötzlich den schrillen Klang in der Stimme des Alten. Die Wand war allerhöchstens noch zwanzig Meter hoch, aber sie stieg vollkommen senkrecht in die Höhe, und die Lava war so glatt wie sorgsam poliertes Glas. Kein Wesen, das nicht über Flügel verfügte, kam da hinauf.
Indiana blickte nachdenklich auf einen der bewußtlosen Polynesier hinab. Der Eingeborene trug einen der grünen Federmäntel; vielleicht war er einer von Sandsteins» allerbe sten «Männern, die sich schon einmal bereitgemacht hatten — nur für den unwahrscheinlichen Fall, daß er auch mit den drei nächsten Vogelmenschen fertig geworden wäre. Er war schwer verwundet, vielleicht tot. Ein Lavasplitter hatte seinen Hals getroffen und sich tief in sein Fleisch gebrannt. Aber sein Mantel war unversehrt …
Indiana kniete neben dem Polynesier nieder und begann mit zitternden Fingern, das komplizierte Geschirr aus ledernen Riemen und Stangen zu lösen, das den Polynesier mit seinen künstlichen Flügeln verband.
«Was tun Sie da, Indy?«fragte Ganty.
Indiana antwortete nicht. Schon der bloße Gedanke an das, was er zu tun beabsichtigte, trieb ihm den Angstschweiß auf die Stirn. Aber es war vermutlich die einzige Chance, die sie überhaupt noch hatten. Er arbeitete schneller, schälte den Polynesier aus seinem Mantel und schlüpfte selbst hinein.
«Sind Sie verrückt, Indy?«keuchte Jonas.»Das schaffen Sie nicht mehr! Sie sind völlig am Ende!«Diese Feststellung hinderte ihn jedoch nicht daran, Indiana dabei zu helfen, den Mantel sicher und fest zu verzurren. Gleichzeitig fuhr er fort:»Seien Sie vernünftig, Indy! Sie können ja kaum noch aus eigener Kraft stehen!«
«Das habe ich auch nicht vor«, antwortete Indiana. Er lächelte matt und bewegte die Arme, als schlüge er probehalber mit den Flügeln. Jonas wollte antworten, aber Indiana ließ ihn nicht zu Wort kommen, sondern deutete mit einer Kopfbewegung zum Kraterrand.»Wir müssen dort hinauf, und ich sehe keinen anderen Weg. Wollen Sie es versuchen?«
Er wartete Jonas’ Antwort nicht ab, sondern trat an den Rand des Plateaus und sah in die Tiefe.
Die Hitze war jetzt selbst hier oben schlimmer als vorhin, als er über die Lava geglitten war. Das glühende Gestein war deutlich höher emporgestiegen, und die Luft kochte. Er konnte nicht atmen. Ein glühender Sturmwind peitschte ihm ins Gesicht und trieb ihm die Tränen in die Augen. Hastig trat er wieder einen Schritt vom Rand zurück und sah sich um.»Ich brauche ein Seil.«
Gantys Lippen wurden zu einem schmalen, blutleeren Strich. Indiana konnte regelrecht sehen, wie es hinter seiner Stirn arbeitete. Aber er sprach nichts von alledem aus, was in ihm vorgehen mochte, sondern wandte sich schweigend um und kam nach wenigen Augenblicken mit einem zusammengeroll ten Tau zurück, das er Indiana reichte. Indiana band sich das eine Ende um die Hüfte und reichte Jonas das andere.
«Versuchen Sie nicht, mich zu halten, wenn ich stürzen sollte«, sagte er, ehe er wieder an die Felskante trat.
Er hatte entsetzliche Angst. Die Lava war weiter gestiegen und schien ihm jetzt näher als vorhin, als er unten im Krater um sein Leben gekämpft hatte. Der Berg zitterte immer stärker.
Von der gegenüberliegenden Seite lösten sich immer wieder kleine und große Felstrümmer und rutschten in die Lava hinab.
Jonas hatte recht, dachte Indiana entsetzt. Die ganze Insel brach auseinander.
Er verscheuchte sowohl diesen als auch alle anderen uner freulichen Gedanken, breitete die Arme aus und stieß sich mit aller Kraft ab. Fast sofort ergriff ihn der glühende Sturmwind und trug ihn in die Höhe; viel schneller, als er erwartet hatte, und vor allem in eine völlig andere Richtung.
Indiana unterdrückte im letzten Moment den Impuls, sich herumzuwerfen und die Arme zu bewegen, was zweifellos sein Ende bedeutet hätte, denn er wäre ins Trudeln geraten und wie ein Stein in die Tiefe gestürzt. Statt dessen versuchte er, mit weit ausgebreiteten, reglosen Armen auf der Thermik zu schwimmen, um wieder zu seinem Ausgangspunkt zurückzu kommen.
Es ging nicht. Das Fliegen selbst war leichter, als er zu hoffen gewagt hatte, denn der kochende Sturm aus der Tiefe hatte eine Geschwindigkeit erreicht, die selbst einen Menschen ohne seine besondere Ausrüstung von den Füßen gerissen hätte.
Aber es war völlig ausgeschlossen, diesen Flug in irgendeiner Weise zu steuern. Statt auf den Kraterrand zu wurde Indiana weiter in seine Mitte hineingesogen.
Plötzlich spürte er einen harten Ruck. Indiana unterdrückte auch jetzt den Impuls, die Arme zu bewegen, aber er sah an sich hinunter und entdeckte, daß sich das Seil an seiner Taille gespannt hatte. An seinem anderen Ende, winzig klein und absurd tief unter ihm, zappelten Ganty, Jonas und zwei der SS-Soldaten, die sich mit aller Kraft gegen den Boden stemmten und ihn hielten wie einen übergroßen, bizarren Spielzeugdra chen.
Ganz langsam begannen sie ihn zurückzuziehen. Der heiße Wind schlug wie mit unsichtbaren Krallen nach ihm. Sein Federmantel begann zu schwelen, und als versuche der Vulkan mit aller Gewalt, sein schon sicher geglaubtes Opfer doch noch zurückzuholen, stieg eine dreißig Meter hohe Lavasäule aus der brodelnden Masse empor. Sie verfehlte ihn, aber die Hitze ließ ihn gequält aufschreien und setzte den Saum seines Federmantels in Brand. Er überschlug sich in der Luft, stürzte ein paar Meter weit und fand in einen trudelnden Sturzflug zurück, als Ganty und die anderen mit aller Kraft am Seil zogen. Langsam glitt er wieder auf den Kraterrand zu und verlor dabei allmählich an Höhe. Sein Mantel brannte weiter. Die Flammen fanden in den Vogelfedern reichlich Nahrung, so daß er eine Schleppe aus Funken und Rauch und brennenden Federn hinter sich herzog, während er sich wie ein brennendes
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Segelflugzeug dem Kraterrand näherte.
Auf den letzten fünf oder sechs Metern geriet er aus der Thermik und stürzte. Benommen blieb er einen Moment liegen, ehe ihn die Hitze wieder ins Bewußtsein zurückholte. Hastig sprang er hoch, riß sich den brennenden Mantel von den Schultern und schlug die Flammen aus, die an seinen Hosen beinen züngelten.
Er war genau auf dem Kraterrand aufgeschlagen, zwanzig Meter über und vielleicht fünfzig Meter neben Ganty und den anderen. Rauch nahm ihm die Sicht, während er sich an dem noch immer straff gespannten Seil zurücktastete.
Auch hier oben loderten zahllose Brände. Tote und sterbende Langohren lagen auf dem Kraterrand. Kleine Nester aus rotglühender Lava verwehrten ihm den Weg und zwangen ihn zu einem irren Zickzack, bis er endlich den Kraterrand ober halb der anderen erreicht hatte. Das Seil von seiner Hüfte zu lösen und an einem Felszacken zu befestigen, überstieg fast seine Kräfte.
Er mußte wohl doch das Bewußtsein verloren haben, denn das nächste, was er wieder wahrnahm, waren Nancy und die beiden Australier, die neben ihm knieten und sich mit vereinten Kräften um ihn bemühten, während Ganty und Jonas am Seil standen und den anderen Gefangenen halfen, den Kraterrand zu erreichen.
Die nächste halbe Stunde kam Indiana hinterher vor wie ein böser Traum. Sie waren noch knapp zwanzig, als sie die Flanke des Vulkans hinunterstiegen und den Waldrand erreichten.
Ganty hatte die Führung übernommen, da er der einzige war, der sich auf der Insel wenigstens ein wenig auskannte, aber Indiana fragte sich vergeblich, wohin er sie eigentlich führen wollte. Die Vulkaninsel ging unter, daran bestand gar kein Zweifel. Die Explosionen hatten die ohnehin brüchige Struktur der Insel so erschüttert, daß sie einfach in Stücke fallen würde.
Und das vielleicht schon in ein paar Stunden. Auch hier im Dschungel schwankte und bebte der Boden jetzt ununterbro chen, und die Erdstöße nahmen an Heftigkeit nicht ab, sondern im Gegenteil noch zu. Krachend und splitternd stürzten Urwaldriesen um, und hier und da schossen Flammen aus dem Dschungel.
Und dabei war das alles wahrscheinlich erst das Vorspiel. Indiana dachte schaudernd an das, was Ganty ihm am ersten Tag über diese Insel erzählt hatte: Der Lavasee im Herzen des Vulkans lag ein gutes Stück unter dem Meeresspiegel. Wenn die Erdstöße anhielten, dann würde das Gestein früher oder später so geschwächt sein, daß Wasser in die kochende Lava floß. Der Knall, mit dem die Insel dann in die Luft fliegen würde, würde vermutlich noch auf Hawaii zu hören sein.
Zumindest ließen die Langohren sie in Ruhe. Auf dem ganzen Weg zum Strand hinab sahen sie nicht einen einzigen Eingebo renen. Vermutlich waren sie zusammen mit ihrer Göttin in eine andere Richtung geflohen, um die Insel zu verlassen.
Ganty führte sie nicht zu der Stelle am Strand zurück, an der sie die Insel betreten hatten, sondern nahezu in die entgegenge setzte Richtung. Der Weg wurde immer schwieriger. Zwischen den Bäumen erhoben sich immer öfter scharfkantige Lavafel sen, und ein paarmal mußten sie über glasharte Lava hinweg klettern, die ihnen Hände und Füße zerschnitt. Mehrmals gingen sie den Weg zurück, den sie sich gerade mühsam erkämpft hatten, weil vor ihnen Flammen tobten oder der Boden aufgerissen war und Hitze und giftige Dämpfe erbrach.
Schließlich erreichten sie den Strand. Es war allerdings kein weißer Sandstreifen wie der, über den sie die Insel betreten hatten, sondern eine jäh abbrechende Felskante, kaum zwanzig Meter vom Waldrand entfernt und fünf Meter über einer kochenden See, deren weiße Gischt sich brüllend an der Lava brach. Die Steilküste zog sich so weit dahin, wie der Blick reichte.
Indiana kämpfte sich zu Ganty durch und ergriff ihn unsanft an der Schulter.»Was soll das hier?«schrie er über das Tosen der Brandung hinweg.»Wieso haben Sie uns hierhergebracht?«
Anstelle einer direkten Antwort streifte Ganty seine Hand ab und deutete mit dem anderen Arm aufs Meer hinaus. Indianas Blick folgte der Geste, und erst jetzt sah er, daß der Ozean nicht so leer war, wie er bisher geglaubt hatte: Jenseits der Brandung bewegten sich Dutzende, wenn nicht Hunderte von langgestreckten schlanken Umrissen auf dem Meer. Es waren Schilfboote wie die, die Gantys Yacht geentert hatten.
«Dort!«schrie Ganty.»Sehen Sie?«Sein Arm bewegte sich seitwärts, und er deutete auf einen Punkt an der Steilküste, vielleicht eine halbe Meile entfernt. Als Indiana jetzt genauer hinsah, erkannte er, daß dort der Ursprung der Flotte aus Schilf — booten lag — sie glitten hintereinander und sehr schnell aus einer Höhle heraus, die unter einem überhängenden Felsen verborgen lag; ein perfektes natürliches Versteck.
«Sie fliehen!«schrie Ganty.»Sie wissen, daß diese Insel zum Untergang verurteilt ist! Vielleicht gelingt es uns, ein paar der Boote zu kapern!«
«Sind Sie verrückt?«keuchte Jonas.»Sie werden uns auf der Stelle umbringen!«
«Vielleicht auch nicht«, antwortete Indiana an Gantys Stelle.»Überlegen Sie doch, Jonas — diese Eingeborenen wissen nicht einmal, was eine Kanone ist. Sie glauben wahrscheinlich, daß Make-Makes Zorn für den Untergang ihrer Heimat verantwort lich ist. Keiner von ihnen hat uns angegriffen, seit der Beschuß begann. Im Gegenteil, sie sind allesamt geflohen!«
Jonas überlegte einen Moment angestrengt. Indiana konnte ihm deutlich ansehen, daß er ihm gerne glauben wollte — aber er konnte es nicht.»Selbst wenn«, sagte er.»Wir können unmöglich auf diesen Dingern dreihundert Meilen weit zur nächsten Insel paddeln!«
«Das brauchen wir auch nicht«, sagte Indiana. Er machte eine Kopfbewegung aufs Meer hinaus.»Die HENDERSON kreuzt dort draußen, Jonas. Vielleicht erreichen wir sie, ehe der ganze Laden hier in die Luft fliegt. Wir haben ohnehin keine andere Wahl.«
Wie um seine Worte zu unterstreichen, erschütterte in diesem Moment ein besonders heftiger Erdstoß den Boden. Indiana fuhr erschrocken herum und sah eine gewaltige Feuersäule aus dem Schlund des Vulkans schießen. Glühende Lava regnete meilenweit im Umkreis zu Boden und entfachte Dutzende von neuen Bränden im Dschungel.
Ohne ein weiteres Wort machten sie sich auf den Weg.
Es war nur eine halbe Meile, aber sie brauchten fast eine Stunde für diese Strecke. Die Insel bebte immer stärker, und hier und da hatten sich die Brände schon fast bis zum Wald rand durchgefressen, so daß Hitze und brüllende Flammenzun gen nach den Flüchtenden schlugen. Immer wieder klafften Erdspalten vor ihnen auf, und mehrmals regneten glühende Trümmer vom Himmel. Schließlich schafften sie es.
Aber sie kamen zu spät.
Der Strom aus Schilfbooten versiegte, lange bevor sie das Tor im Felsen erreicht hatten, und unter ihnen lag nichts als eine leere, finstere Höhle.
«Und was jetzt?«fragte Jonas dumpf.
Indiana antwortete nicht. Sein Blick glitt suchend über den finsteren Höhleneingang und das kochende Wasser. Manchmal zerstoben die Brecher mit solcher Gewalt an den Felsen, daß die Gischt bis zu ihnen heraufspritzte. In dieser kochenden See zu schwimmen, daran war nicht einmal zu denken. Und selbst wenn — wohin schon? Die HENDERSON befand sich auf der anderen Seite der Insel, Meilen entfernt, falls Franklin es nicht vorgezogen hatte, sein Schiff in Sicherheit zu bringen, bevor die ganze Insel in die Luft flog.
«Vielleicht … haben sie ein paar Boote zurückgelassen«, sagte Nancy zögernd.
Indiana sah sie nur schweigend an, und nach einigen Sekunden wandte Nancy fast schuldbewußt den Blick ab. Nach dem, was er vorhin im Krater getan hatte, schien sie wohl der Meinung zu sein, er könne Wunder vollbringen. Vielleicht war das manchmal sogar so. Aber Wandeln auf dem Wasser gehörte nicht zu seinem Repertoire.
«Da draußen ist irgend etwas«, sagte Ganty plötzlich.
Ihre Aufmerksamkeit wandte sich wieder dem Ozean zu. Im Verlauf der letzten Stunde war es merklich dunkler geworden, denn Vulkanasche und Staub verfinsterten den Himmel, so daß es Indiana schwerfiel, irgend etwas zu erkennen, was weiter als hundert oder hundertfünfzig Meter entfernt war. Die Flotte aus Schilfbooten war zu einer Ansammlung verschwommener Schemen geworden, gerade noch an der Grenze des überhaupt Sichtbaren, so daß man sie eigentlich nur noch erkannte, wenn man wußte, daß sie da waren.
Und trotzdem glaubte nach einigen Minuten auch er, dort draußen eine Bewegung wahrzunehmen.
Es war nicht so, daß er sie wirklich sah, es war eher das Gefühl, daß sich irgend etwas Riesiges, Lautloses und Unsicht bares der Insel näherte. Und er war mit diesem Gefühl nicht allein. Außer Ganty und Jonas blickten auch die meisten anderen mit einer Mischung aus Neugier und allmählich immer größer werdender Beunruhigung auf den Ozean hinaus.
«Was ist das?«flüsterte Nancy. Ihre Stimme zitterte. Aber sie war nicht die einzige, die Angst hatte, sie war nur die einzige, der man es so deutlich anmerkte.
Niemand antwortete. Draußen auf dem Meer geschah etwas.
Indiana konnte immer noch nicht genau erkennen, was es war, aber einige Schilfboote änderten plötzlich ihren Kurs und begannen in alle Richtungen davonzurudern, wobei sich zwei oder drei der Insel sogar wieder näherten. Was immer dort vom Meer herkam, es mußte die Polynesier in helle Panik versetzen.
Plötzlich begann das Wasser zwischen den winzigen Booten zu schäumen. Sprudelnde Luftblasen stiegen auf, und darunter wuchs ein kolossaler, schwarzer Schatten heran. Augenblicke später durchbrachen der Turm und gleich darauf auch das Deck eines Unterseebootes die Meeresoberfläche.
Indiana sog erschrocken die Luft zwischen den Zähnen ein, als er die Hoheitszeichen an dem Turm erkannte. Es war ein Unterseeboot der deutschen Marine!
«Dieser verdammte Hund«, murmelte Ganty.
«Wer?«fragte Jonas.
«Delano!«Ganty lachte vollkommen humorlos.»Er hat uns alle reingelegt, verstehen Sie nicht? Jonas hat nicht der HENDERSON Signale gegeben, sondern dem Schiff dort! Wahrscheinlich hat es die ganze Zeit über vor der Insel gelegen und auf ein Zeichen gewartet! Dieser verdammte Hund!«
«Worüber regen Sie sich denn bloß auf?«fragte Jonas scharf.
«Das dort draußen sind wenigstens keine menschenfressen den Wilden.«
«Sind Sie sicher?«fragte Ganty leise.
Jonas blickte ihn beinahe wütend an, antwortete aber nicht mehr, sondern blickte wieder aufs Meer hinaus.
Die Druckwelle des auftauchenden U-Bootes hatte mehrere Schilfboote kentern lassen. Die Polynesier schwammen in panischer Angst vor dem stählernen Giganten davon, einige auf die Insel zu, andere aber auch direkt in die offene See hinaus, als zögen sie den sicheren Tod in den Wellen der bloßen Nähe des eisernen Ungeheuers vor, das das Meer da ausgespien hatte.
Das U-Boot selbst bewegte sich ganz langsam weiter auf die Insel zu, ohne von den Polynesien oder der Flotte aus winzigen Schilfbooten Notiz zu nehmen.
«Warum beeilen sie sich nicht?«murmelte Nancy.»Mein Gott, wir … wir werden alle sterben, ehe sie hier sind!«Ihre Stimme wurde schrill. Indiana begriff, daß sie ganz kurz davor stand, hysterisch zu werden.
«Keine Angst«, sagte er beruhigend.»Sie schaffen es schon noch.«
«Wir sollten sie lieber warnen«, fügte Barlowe hinzu.»Es nutzt uns nicht viel, wenn sie auf ein Riff auflaufen und stranden. Mit einem leckgeschlagenen Boot kommen wir nicht von hier fort!«
«Das wird bestimmt nicht passieren«, sagte Jonas überzeugt.
«Der Kapitän versteht sein Handwerk.«
«Woher wissen Sie das?«fragte Indiana.
Jonas fuhr ganz leicht zusammen, hatte sich aber sofort wieder in der Gewalt.»Das sagt mir die Logik, Indy«, antwor tete er lächelnd.»Nur weil die Deutschen unsere Feinde sind, sind sie nicht automatisch blöd. Würden Sie einem Dummkopf das Kommando über ein Unterseeboot geben?«
«Nein«, erwiderte Indiana.»Aber Sie haben immerhin einem Dummkopf die Gewalt über ihr ganzes Volk gegeben.«
Die Worte waren eine ganz bewußte Provokation, aber wenn sie wirkte, so hatte sich Jonas so gut in der Gewalt, daß er sich nichts von seinen wahren Gefühlen anmerken ließ. Er lächelte nur und sagte:»Ich würde Hitler nicht unbedingt als Dumm kopf bezeichnen. Er ist vielleicht verrückt, aber kein Narr.«
Indiana ersparte sich eine Antwort. Er war nicht sicher, ob er nach allem nicht allmählich anfing, Gespenster zu sehen. Aber er nahm sich auf jeden Fall vor, Jonas ein wenig gründlicher im Auge zu behalten als bisher.
Das Turmluk des Unterseebootes wurde geöffnet. Eine Gestalt erschien hinter der Turmverkleidung, und Augenblicke später flammte ein starker Scheinwerfer auf und tauchte die Steilküste in fast unangenehme Helligkeit. Eine Stimme rief etwas, das Indiana nicht verstehen konnte, aber einer der deutschen Soldaten antwortete in seiner Muttersprache, und nach einigen Augenblicken begann sich das Deck des Bootes mit Gestalten zu füllen. Schlauchboote wurden herangeschafft und in aller Hast aufgeblasen.
Der Vulkan brüllte den Eindringlingen ein zorniges Willkommen entgegen und spie Flammen und Rauch. Glühende Trümmer regneten rings um das Unterseeboot vom Himmel und ließen das Wasser aufspritzen wie Granatenschläge. Die Soldaten auf dem Deck des U-Bootes duckten sich er schrocken, und auch Indiana und die anderen sahen sich instinktiv nach einer Deckung um.
Einer der SS-Soldaten verlor die Nerven und sprang ins Wasser. Die brüllende Gischt verschlang ihn. Er tauchte nicht wieder auf.
Und plötzlich hörte Indiana einen Laut, der ihm das Blut in den Adern gerinnen ließ. Entsetzt fuhr er herum und schrie auf, als er den Krater sah.
Der Berg schleuderte noch immer Funken und geschmolzenes Gestein gegen den Himmel, aber inmitten dieses lodernden Infernos wälzte sich auch eine gewaltige, grauweiße Dampf wolke empor, und das fürchterliche Zischen, das Indiana gehört hatte, wurde immer lauter.
«Das Wasser dringt ein!«schrie Ganty mit überschnappender Stimme.»Das ist das Ende! Um Gottes willen — springt!«
Indiana begriff einen Sekundenbruchteil zu spät, was Ganty vorhatte. Er versuchte ihn zurückzuhalten, aber er kam zu spät.
Ganty nahm zwei Schritte Anlauf, stieß sich mit aller Kraft ab und sprang ins Wasser hinab.
Wie der SS-Soldat vor ihm ging er auf der Stelle unter, und Indiana war für einen Moment überzeugt, daß auch er nie wieder auftauchen würde. Aber er hatte entweder mehr Glück oder seine Position besser gewählt: statt in die Tiefe gezogen oder von der Brandung gegen die Felsen geworfen und zerschmettert zu werden, tauchte er nach einigen Augenblicken wieder auf und begann mit kräftigen Stößen auf das U-Boot zuzuschwimmen. Schließlich begriff Indiana, was ihn gerettet hatte: Aus der Höhle, in der der unterirdische» Hafen «der Langohren lag, ergoß sich eine starke Unterströmung ins Meer, die Ganty nutzte, um der Brandung zu entkommen. Er näherte sich sehr schnell dem Unterseeboot und kletterte mit Hilfe eines Seiles, das ihm entgegengeworfen wurde, auf das Deck hinauf.
Ein furchtbarer Erdstoß riß Indiana von den Füßen. Er stürzte, wälzte sich blitzschnell auf den Rücken und keuchte vor Entsetzen. Der Vulkan schien hinter ihnen regelrecht zu explodieren. Häusergroße Trümmerstücke flogen in den Himmel hinauf, und der Kampf zwischen Flammen und Dampf war zu einem Inferno geworden. Die Insel brach auseinander. Nicht irgendwann, nicht in einer Stunde, sondern jetzt.
«Springt!«schrie er.»Schwimmt zum Boot!«
Seine Stimme ging im Brüllen des Vulkans einfach unter, aber auch die anderen hatten gesehen, was Ganty getan hatte, und folgten seinem Beispiel. Einer nach dem anderen riskierte den Sprung in die kochenden Fluten hinab; immerhin eine winzige Chance gegen den sicheren Tod, der sie hier erwartete.
Auch der Kommandant des Unterseebootes schien die Gefahr begriffen zu haben, in der sein Schiff schwebte. Die Soldaten hatten aufgehört, an ihren Schlauchbooten herumzubasteln, und warfen statt dessen Taue und Rettungsringe ins Wasser, während sich das Schiff bereits langsam von der Insel zu entfernen begann.
Indiana, Jonas und einer der Soldaten waren die letzten, die sich dem Punkt über dem Höhleneingang näherten, von dem aus Ganty gesprungen war, und Indiana drehte sich noch einmal um und blickte zum Dschungel zurück.
Er wünschte sich fast, es nicht getan zu haben.
Der Waldrand war nicht mehr leer.
Mindestens fünfzig Langohren waren aus dem Unterholz aufgetaucht und bildeten eine wie mit dem Lineal gezogene Linie vor dem Dschungel. Und in der Mitte dieser Kette, überragt von einem drei Meter hohen Koloß aus schwarzem Basalt, stand Sandstein. In den Händen hielt sie den Feuerkri stall.
Sie waren die ganze Zeit über da gewesen, das begriff Indiana plötzlich. Sie hatten sich eingebildet, ihnen entkommen zu sein, aber das stimmte nicht. Es hatte keine einzige Sekunde gestimmt. Sandstein und ihre Krieger mußten ihnen vom ersten Augenblick an gefolgt sein, und Indiana wußte jetzt auch, warum. Wenn schon nicht die Langohren selbst, so hatte doch ihre Herrin begriffen, daß es keineswegs der Zorn ihres Gottes war, der ihrer Insel den Untergang brachte, und sie war gekommen, um Rache zu üben. Das Höllenfeuer, das im Takt ihres Herzschlages im Inneren des Kristalls pulsierte, würde das Unterseeboot treffen und ebenso zerstören wie Delanos Kanonenboot.
Sandstein lachte; es war ein schriller, fast dämonischer Laut, der nichts Menschliches mehr an sich hatte. Dann trat sie einen Schritt vor und hob den glühenden Kristall mit beiden Händen in die Höhe.
Die Kanone des Unterseebootes stieß eine meterlange Feuer zunge aus. Die Granate heulte so dich über Indiana hinweg, daß er die Hitze des Geschosses spüren konnte, traf den steinernen Riesen hinter Sandstein und riß ihn und ein halbes Dutzend Langohren und Adele Sandstein selbst in Stücke. Der Kristall flog in hohem Bogen davon und fiel zu Boden. Das pulsierende rote Licht in seinem Herzen erlosch.
Und Jonas rannte los.
«Jonas — nein!«brüllte Indiana. Er ahnte, was Jonas vorhatte, und er wußte auch, daß er selbst zu spät kommen würde. Trotzdem stürzte er hinter ihm her, sammelte all seine verblie bene Kraft zu einem gewaltigen Hechtsprung — und verfehlte ihn.
Seine weit vorgestreckten Hände griffen ins Leere. Er fiel schwer zu Boden, versuchte sich hochzustemmen und stöhnte vor Schmerz auf, als er seinen linken Arm betastete. Sein Handgelenk war verstaucht, wenn nicht gebrochen.
«Jonas, tun Sie es nicht!«schrie er verzweifelt.»Um Gottes willen — rühren Sie ihn nicht an!«
Aber es war zu spät. Jonas hatte den Feuerkristall erreicht, bückte sich mit einer hastigen Bewegung und hob ihn auf. Im Inneren des blutroten Balles begann ein düsteres Licht zu pulsieren.
Vielleicht wäre es auch jetzt noch nicht zu spät gewesen, hätten sich in diesem Augenblick nicht einige der überlebenden Polynesier-Krieger umgewandt, um sich auf Jonas zu werfen und ihm ihr Heiligtum zu entreißen. Pfeile und Speere flogen in seine Richtung. Eines der Geschosse traf seine Schulter und schleuderte ihn zu Boden. Doch auch bei diesem Sturz ließ er den Kristall nicht los.
Indiana schloß im letzten Moment die Augen, aber es war wie unten in der Höhle — das Licht drang mühelos durch seine geschlossenen Lider, so daß er trotzdem jedes noch so winzige Detail der furchtbaren Szene sah. Ein roter, pulsierender Strahl brach aus dem Kristall in Jonas’ Händen, traf die heranstür menden Langohren und verbrannte sie zu Asche.
Aber es blieb nicht bei diesem einen Blitz. Jonas kam tor kelnd auf die Füße. Er schrie wie von Sinnen und hielt den Kristall hoch über seinem Kopf. Blitz auf Blitz züngelte aus dem Kristall. Der rote Tod fuhr wie eine Sense aus Licht unter die Polynesier, selbst als sich diese in heller Panik zur Flucht wandten, und tötete jeden einzelnen Mann, als wäre Jonas in einen Blutrausch geraten, in dem er kein Halten mehr kannte.
Selbst als es keine lebenden Ziele mehr für ihn gab, spie der Kristall immer weiter Flammen und Licht, die den Waldrand auf mehr als hundert Meter Länge in Brand setzten.
«Jonas!«stöhnte Indiana.»Hören Sie auf!«
Jonas erstarrte. Die Flut bösen, roten Lichtes versiegte, während er sich ganz langsam zu Indiana herumdrehte. Sein Gesicht war verzerrt. In seinen Augen brannte ein Feuer, das kaum weniger verzehrend und höllisch war wie die Blitze des Feuerkristalls. Das Gesicht, in das Indiana blickte, war das Gesicht eines Wahnsinnigen.
Trotzdem versuchte er noch einmal, mit ihm zu reden.»Jo nas!«sagte er beschwörend.»Werfen Sie ihn weg! Wehren Sie sich! Sie können es!«
Jonas stöhnte. Sein Blick flackerte, und für einen winzigen Moment wich das höllische Feuer darin einem Ausdruck abgrundtiefen Entsetzens und Schreckens, einem Gefühl von der gleichen Tiefe und dem Grauen, wie es auch Indiana verspürt hatte, als er den Kristall in Händen hielt.
«Kämpfen Sie!«sagte er beschwörend.»Kämpfen Sie dage gen, Jonas! Werfen Sie dieses verdammte Ding ins Meer!«
Er konnte den qualvollen Kampf, der sich hinter Jonas’ Stirn abspielte, beinahe sehen. Jonas wimmerte wie unter unerträgli chen Schmerzen, begann zu schwanken und krümmte sich.
Und er verlor den Kampf.
Indiana war auf die Füße gesprungen und lief auf ihn zu. Der Ausdruck von Schmerz und Qual in Jonas’ Augen erlosch, eine Sekunde, ehe Indiana ihn erreichte. Von einem Herzschlag auf den anderen blickte er in die Augen eines Wesens, das nur noch wie ein Mensch aussah, aber keiner mehr war.
Der Kristall in Jonas’ Händen begann zu pulsieren. Ein blutrotes, düsteres Licht glühte im Rhythmus seines Herzschla ges in seinem Inneren auf, und Indiana war fast sicher, daß nun er an der Reihe war, von dem roten Licht verzehrt zu werden.
Aber Jonas tötete ihn nicht. Indiana erfuhr nie, warum er sein Leben verschonte, aber er tat es. Statt ihn mit einem Blitz niederzustrecken, beschränkte sich Jonas darauf, Indiana den Kristall mit solcher Wucht gegen die Schläfe zu schmettern, daß er auf der Stelle das Bewußtsein verlor.