Auf hoher See

Die Begegnung mit der Reporterarmee hatte Indiana den Rest gegeben. Er konnte sich nicht mehr erinnern, wie er an Bord der HENDERSON gekommen war, und schon gar nicht, wie er die Kabine erreicht hatte. Er erwachte mit Kopfschmerzen, einem furchtbaren Geschmack im Mund und einem leisen Gefühl von Übelkeit im Magen, von dem er sicher wußte, daß es genau wie er gerade erst erwacht war und daß es noch sehr viel heftiger werden würde. Das Bett, auf dem er lag, war nicht nur äußerst unbequem, sondern bewegte sich auch noch, und was er im ersten Moment für das schwere Hämmern seines eigenen Herzschlages gehalten hatte, identifizierte er nach einigen Augenblicken als das Arbeitsgeräusch großer Maschi nen, die irgendwo in der Nähe liefen. Sie befanden sich bereits auf hoher See. Aber das hatte Franklin ihm ja gesagt.

Behutsam setzte Indiana sich auf, schwang die Beine von der Pritsche und versuchte aufzustehen. Sofort begann sein Magen zu rebellieren, und er bewegte sich noch vorsichtiger weiter.

Der Boden unter seinen Füßen schwankte heftig, und sein Magen und sein Kopf schienen sich in gleichem Rhythmus mitzudrehen. Irgendwie war das seltsam, fand Indiana. Es war beileibe nicht das erste Mal, daß er sich an Bord eines Schiffes befand — aber seekrank war er bisher noch nie geworden.

Indiana sah sich müde in der kleinen, schäbigen Kabine um.

Klein und schäbig war sogar noch geschmeichelt. Sie war ein besserer Wandschrank, gerade breit genug für das Bett und einen winzigen Tisch — allerdings nicht gleichzeitig. Beides war mit Scharnieren an der Wand festgeschraubt, so daß man jeweils das eine hochklappen mußte, um das andere zu benutzen.

Indiana verlängerte in Gedanken die Liste der unangenehmen Aufgaben, die er Franklin nach ihrer Landung auf den Osterin-seln zuteilen würde, und verließ seine Kabine.

Der Gang, auf den er hinaustrat, war kaum weniger schmal und heruntergekommen als die Kabine. Das Dröhnen der Maschinen war hier deutlicher zu hören, und sein Magen rebellierte plötzlich so stark, daß er sich mit beiden Händen die Wand entlangtasten mußte, als er den Weg zur Treppe ein schlug. Er brauchte frische Luft, und zwar dringend.

Indiana bekam fast mehr davon, als ihm lieb war, denn Sturm und Gischt schlugen ihm wie eine nasse Hand ins Gesicht, als er auf das Deck der HENDERSON hinaustrat. Einen Moment lang erwog er ernsthaft den Gedanken, wieder in seine Kabine zurückzugehen und einfach weiterzuschlafen, aber dann trat er doch vollends in den Sturm hinaus und sah sich aus zusam mengekniffenen Augen um.

Es war dunkel. Sturm und Seegang waren ganz kurz vor dem Punkt, an dem die Männer oben auf der Brücke anfangen würden, sich Sorgen zu machen, und die HENDERSON pflügte mit voller Fahrt durch die Wellen.

An Deck brannte kein einziges Licht.

Indiana hielt sich mit der linken Hand fest, um auf dem glitschigen, schwankenden Deck nicht die Balance zu verlie ren, drehte das Gesicht aus dem Wind und sah sich mit wachsender Beunruhigung um. Unter seinen Füßen dröhnten die Maschinen des Schiffes, der Bug teilte mit einem unabläs sigen, kraftvollen Dröhnen die Wellen, aber nirgends war auch nur eine Bewegung oder ein Licht zu sehen. Es war, als befände er sich auf einem Geisterschiff. Selbst hinter den großen Scheiben der Brücke herrschte Dunkelheit. Was um alles in der Welt ging hier vor?

Durch das Dröhnen der Maschinen und des Sturmes drang ein anderer Laut an sein Ohr: ein gepreßtes Stöhnen, dem ein plötzliches Würgen folgte. Indiana drehte sich um und sah eine gebeugte Gestalt an der Reling. Offenbar war er nicht der einzige, der trotz Regen, Sturm und Dunkelheit an Deck gekommen war.

Als er sich der Gestalt näherte, sah er, daß es niemand ande res war als Grisswald, der an der windabgewandten Seite der HENDERSON stand und ausgiebigst, aber wahrscheinlich ohne großes Vergnügen Poseidon opferte.

Indiana räusperte sich, erzielte damit aber keinerlei Erfolg und räusperte sich noch einmal und noch einmal, bis Grisswald schließlich reagierte und mit einem Ruck den Kopf umwandte.

Auf seinem Gesicht erschien ein fast entsetzter Ausdruck, als er Indiana erkannte.»Dr. Jones!«sagte er.»Was tun — «

Den Rest seiner Frage spie er zusammen mit seinem letzten Abendessen über Bord, und Indiana wandte sich diskret ab, bis die unangenehmen Würgegeräusche hinter ihm wieder ver klangen. Ihm wurde klar, daß er Grisswald in eine peinliche Situation gebracht hatte.

«Bitte verzeihen Sie, Mr. Grisswald«, sagte er, ohne sich zu seinem Dekan umzudrehen.»Ich wollte Sie nicht in eine peinliche Situation bringen.«

«Peinlich? Peinlich!«Grisswald begann zu schimpfen wie ein Rohrspatz, und nach ein paar Sekunden drehte sich Indiana doch wieder herum und sah ihn an. Grisswald war grün im Gesicht, aber er wirkte nicht peinlich berührt, sondern er war offenbar stinkwütend.»Verdammte Sauerei!«giftete er, während er sich mit einem alles andere als sauberen Taschen tuch immer wieder über die Lippen fuhr.»Irgend jemand wird mir dafür bezahlen, Dr. Jones, das schwöre ich Ihnen!«

«Niemand kann etwas für den Sturm«, antwortete Indiana.

«Und vor Seekrankheit ist keiner gefeit. Glauben Sie mir, ich habe schon ganz andere — «

«Seekrank?«unterbrach ihn Grisswald aufgebracht.»Ich und seekrank? Daß ich nicht lache! Mein Vater war Kapitän!

Ich bin praktisch auf einem Schiff aufgewachsen! Noch dazu besitze ich selbst eine ansehnliche Hochseeyacht und verbringe jede Minute, die ich erübrigen kann, auf hoher See! Ich werde nie seekrank, Dr. Jones, niemals!«

Indiana war so perplex, daß er Grisswald nur verwirrt an blickte.»Aber was — «

«Irgend jemand hat uns betäubt, Dr. Jones«, fuhr Grisswald aufgebracht fort.»Merken Sie es nicht? Ich habe den Ge schmack noch im Mund. Ich weiß zwar nicht, wer es war oder warum, aber ich verspreche Ihnen, daß ich es herausbekommen werde, und wer immer es auch war, er wird mir Rede und Antwort stehen!«

«Ich bin sicher, Kapitän Franklin wird das mit großem Ver gnügen tun, Professor Grisswald«, sagte eine Stimme hinter ihnen.

Indiana und Grisswald fuhren im selben Moment herum, aber zumindest für Grisswald war die Bewegung wohl ein bißchen zu schnell, denn er beugte sich sofort wieder über die Reling und opferte auch noch den Rest seines Mageninhaltes den Meeresgöttern.

Indiana konnte das Gesicht seines Gegenübers in der Dunkel heit nicht erkennen, aber die Stimme kam ihm vage bekannt vor, und immerhin sah er, daß der Mann eine Uniform trug.»Delano?«fragte er zögernd.

«Commander Delano«, verbesserte ihn der andere, nahm seinen Worten aber sofort wieder die Schärfe, indem er lachte und leise hinzufügte:»Aber damit nehmen wir es hier nicht so genau. Bitte kommen Sie, meine Herren. Es ist kalt und naß hier draußen, und Sie wollen sich doch keine Erkältung einfangen, oder?«

«Ihre Sorge führt mich zu Tode«, sagte Grisswald böse.»Vor allem, nachdem Sie gerade versucht haben, uns zu vergiften.«

Delano überging die Bemerkung mit einem neuerlichen Lachen und wiederholte seine einladende Geste.»Kommen Sie, meine Herren. Es ist wirklich kalt hier. Und ich fürchte, es wird bald noch ungemütlicher werden. Ein Sturm zieht auf.«

«Fährt dieses Schiff deshalb ohne ein einziges Licht?«fragte Indiana.»Damit der Sturm uns nicht findet?«Aber er folgte Delano trotzdem, und nach einem letzten, fast sehnsüchtigen Blick zur Reling schloß sich ihnen auch Grisswald an.

Indiana sah sich aufmerksam um, während sie hinter Delano die eiserne Treppe zur Brücke hinaufstiegen, und trotz der Dunkelheit erkannte er jetzt viele Einzelheiten. Er war nicht einmal besonders überrascht. Wäre er nicht so völlig übermü det gewesen, als sie in Sydney an Bord gingen, hätte er es gleich bemerkt.

Sie betraten die Brücke. Die Beleuchtung war ausgeschaltet.

Nur hier und da gewahrte Indiana den grünen Schimmer eines Instrumentes, in dessen Widerschein der Mann am Ruder und die anderen Mitglieder der Brückenbesatzung wie unheimliche Gespenster wirkten, die sich beinahe lautlos bewegten. Frank lin war nirgends zu sehen, aber Delano deutete auf eine Tür in der rückwärtigen Wand der Brücke und ging rasch weiter.

Franklin erwartete sie dort in einem kleinen, fast behaglich eingerichteten Raum. Die Fenster waren mit schwerem, dunkelblauem Samt verhängt, so daß kein Lichtschimmer nach außen dringen konnte, und auf einem Bord neben der Tür stand das größte und komplizierteste Funkgerät, das Indiana jemals gesehen hatte. Es war ausgeschaltet. Der Tisch, an dem Franklin saß, war mit Papieren und großformatigen Fotografien übersät, die aber allesamt herumgedreht waren, so daß Indiana nicht erkennen konnte, was sie zeigten. Aber er hätte wahr scheinlich sowieso nur einen flüchtigen Blick darauf geworfen, denn die nächsten zehn Sekunden tat er nichts anderes, als Franklin mit offenem Mund anzustarren.

Genauer gesagt: seine Uniform.

Nach Delanos Anblick überraschte es ihn nicht einmal mehr, Franklin nicht mehr in Zivil zu sehen, und nach allem, was ihm auf dem Weg hier herauf klar geworden war, war er nicht einmal mehr verwundert über den Umstand, daß es eine Army-Uniform war.

Aber sie war noch mehr als das. Es war die Uniform eines Generals.

Soviel zu der Idee, Franklin und seinen Begleiter für die Dauer ihres Aufenthaltes auf den Osterinseln Steine klopfen zu lassen, dachte er. Er war nicht einmal mehr sicher, daß sie überhaupt zu den Osterinseln fuhren.

Franklin gab ihm eine ganze Weile Zeit, ihn und seine Uni form zu bestaunen, dann wies er mit einer einladenden Geste auf die beiden freien Plätze vor dem Tisch, und Indiana und Grisswald gehorchten ganz automatisch. Delano schloß die Tür hinter ihnen, blieb aber stehen. Franklin schwieg weiter. Er lächelte auch weiter, und schließlich war es Grisswald, der das Schweigen brach.

«Ist … diese Uniform echt?«fragte er stockend. Franklin nickte stumm, und Grisswald fuhr nach einem fast flehenden, hilfesuchenden Blick zu Indiana fort:»Ich habe nie von einem General Franklin gehört.«

«Den gibt es auch nicht«, antwortete Franklin.»Aber ich versichere Ihnen, daß mein Name in diesem Raum das einzige ist, was nicht der Wahrheit entspricht. Unser Unternehmen muß leider unter der allerstrengsten Geheimhaltung verlaufen. Aus diesem Grund habe ich mich leider auch gezwungen gesehen, Ihnen gewisse … Unannehmlichkeiten zuzumuten. Aber das ist nun vorbei.«

«Geheimhaltung?«fragte Indiana.»Haben sie deshalb eine ganze Armee von Reportern nach Sydney bestellt?«

«Natürlich«, antwortete Franklin ungerührt.»Ich war schon immer der Meinung, daß die überzeugendsten Lügen diejeni gen sind, die der Wahrheit sehr nahekommen. Wo würden Sie einen Eimer Wasser verstecken, Dr. Jones? In der Wüste oder im Meer?«

«Zumindest würde ich nicht versuchen, ein Kriegsschiff als Forschungsschiff zu verkaufen, und darauf hoffen, daß die ganze Welt blind ist!«sagte Indiana. Er suchte nach irgendwel chen Anzeichen von Schrecken oder Bestürzung in Franklins Gesicht. Aber er fand keine, und so fuhr er fort:»Die HENDERSON ist ein Kriegsschiff! Sogar ich habe das bemerkt.«

«Ich habe nichts anderes erwartet, Dr. Jones«, antwortete Franklin.»Bitte, halten Sie uns nicht für geistig minderbemit telt, nur weil wir eine Uniform tragen.«

Indiana war nun vollends verwirrt.

«Das hier war einmal ein Kriegsschiff, Dr. Jones«, sagte Grisswald.»Vor ungefähr zehn Jahren wurde es ausgemustert und zu einem Forschungsschiff umgebaut. Das ist allgemein bekannt, zumindest in Schiffahrtskreisen.«

«Ja«, pflichtete ihm Franklin bei.»Allerdings haben wir in den letzten Wochen einige … kleine Veränderungen vorge nommen, die etwas weniger bekannt sein dürften. Aber das spielt im Moment keine Rolle. Ich bin sicher, Sie beide brennen darauf, endlich zu erfahren, warum Sie hier sind. Warum Sie wirklich hier sind, meine ich.«

«Worauf Sie sich verlassen können!«giftete Grisswald. Indiana sah Franklin nur wortlos an, und Grisswald fügte in drohendem Ton hinzu:»Ich hoffe für Sie, daß Sie einen guten Grund für dieses Theater haben!«

«Den haben wir«, versicherte ihm Franklin. Plötzlich klang er sehr ernst. Zum ersten Mal, seit Indiana ihn kannte, erlosch sein Lächeln.»Übrigens war es nicht nur Theater. Es ist gut möglich, daß wir tatsächlich etwas für die Wissenschaft tun, Professor. Neben einer Anzahl … anderer Dinge enthalten die Laderäume der HENDERSON die komplette Ausrüstung für das Forschungsvorhaben, das ich Ihnen versprochen habe. Sie werden Ihre Expedition bekommen, Professor Grisswald.«

«Er«, sagte Indiana.»Und ich?«

Franklin nickte anerkennend.»Wie ich sehe, verfügen Sie tatsächlich über den scharfen Verstand, den man Ihnen nach sagt, Dr. Jones. Vielleicht werden Sie Ihrem Kollegen bei seinen Forschungen helfen können. Ich hoffe es sogar.«

«Und wenn nicht?«Indiana wurde allmählich zornig.»Ver dammt, hören Sie doch endlich auf, wie die Katze um den heißen Brei herumzuschleichen! Was wird hier gespielt? Wozu sind wir wirklich unterwegs?«

Franklin schwieg eine ganze Weile, ehe er leise und mit veränderter Stimme begann:»Wie Sie wissen, befinden wir uns im Krieg mit Japan und dem Deutschen Reich, meine Herren.«

Indiana erstarrte, und auch Grisswald sog hörbar die Luft ein, aber Franklin sah ihre Reaktion voraus, hob abwehrend beide Hände und fuhr beinahe hastig fort:»Bitte glauben Sie mir, meine Herren: ich weiß, daß Sie Wissenschaftler sind, und keine Politiker oder Soldaten, und nichts liegt mir ferner, als Sie in irgend etwas hineinzuziehen, das Ihrem Beruf fremd wäre. Aber es handelt sich um eine Angelegenheit von mögli cherweise unabsehbarer Bedeutung. Wenn es das ist, was ich befürchte, dann brauchen wir Sie einfach.«

«Wozu?«fragte Indiana. Seine Stimme bebte.

Franklin stand auf. Er begann nervös in der kleinen Kabine auf und ab zu gehen.»Ich muß etwas weiter ausholen«, begann er.»Wie Sie vielleicht wissen, führt die deutsche Kriegsmarine schon seit geraumer Zeit einen brutalen Vernichtungsfeldzug gegen alle Schiffe, die unter alliierter Flagge laufen. Sie versenken alles, was ihnen vor die Rohre läuft: Kriegsschiffe, Tanker, Frachtschiffe …«

«Sie etwa nicht?«fragte Grisswald.

Franklin überging den Einwand.»Vor allem ihre U-Boote machen uns schwer zu schaffen. Unsere Jagdeinheiten sind zwar mittlerweile ganz gut darin, sie aufzuspüren und zu versenken, aber sie richten noch immer einen enormen Scha den an. Was Sie aber wahrscheinlich nicht wissen, ist folgen des: Die Deutschen planen, ihren Terror weltweit auszudehnen, das heißt, unsere Schiffe überall zu jagen und zu versenken, selbst vor unserer eigenen Haustür. Dazu benötigen sie nicht nur mehr Unterseeboote, als sie bisher haben, sondern vor allem ein Netz von geheimen Auftankstationen und U-Boot Häfen überall auf der Welt. Seit zwei Jahren sind sie dabei, dieses Netz aufzubauen.«

«Und Polynesien mit seinen zahllosen Inseln und Atollen bietet sich geradezu dafür an«, vermutete Indiana.

Franklin nickte.»Ja. Natürlich waren wir nicht untätig und haben gewisse Nachforschungen angestellt. Die Deutschen sind gefährliche Gegner, Dr. Jones, und leider Gottes alles andere als dumm. Trotzdem ist es uns vor einem guten Jahr gelungen, einen unserer Agenten in ihre Organisation einzu schleusen. Dieser Agent trägt den Decknamen Jonas

Indiana blinzelte, und in Franklins Augen erschien ein amü siertes Funkeln, aber er fuhr sofort wieder fort:»Jonas ist in den Besitz sehr wertvoller Unterlagen gelangt, die es uns ermöglicht hätten, den größten Teil der deutschen U-Boot Basen in Polynesien zu zerstören beziehungsweise zu verhin dern, daß sie überhaupt gebaut werden.«

«Hätten?«fragte Indiana.»Das heißt, das ist Ihnen nicht gelungen?«

«Leider nein«, gestand Franklin.

«Haben die Deutschen ihn erwischt?«

«Ich wollte, ich wüßte es«, sagte Franklin. Er seufzte tief.»Ich glaube es nicht, aber …«Er suchte einen Moment sichtlich nach Worten.»Unser Agent mußte ziemlich vorsich tig sein, wie Sie sich vielleicht vorstellen können. Er konnte ja schlecht bei uns anrufen und um ein Flugzeug bitten, das ihn abholt.«

Er lächelte auf eine Art, als erwarte er, daß Indiana und Grisswald dieses Lächeln erwiderten. Als sie ihm diesen Gefallen auch nach einigen Sekunden noch nicht taten, fuhr er stockend fort:»Wir mußten uns die Geschichte mühsam zusammenreimen, aber ich nehme an, daß sie sich ungefähr so abgespielt hat: Jonas hat versucht, sich irgendwie nach Austra lien durchzuschlagen. Wir haben seine Spur bis zu einem kleinen Atoll namens Pau-Pau zurückverfolgt. Dort hat er eine knappe Woche in einem Hotel verbracht und auf ein Flugzeug gewartet.

Schließlich ist er zusammen mit neun anderen Passagieren an Bord gegangen.«

«Aber das Flugzeug ist niemals angekommen«, vermutete Indiana.

Franklin nickte wortlos.

«Die Deutschen werden es abgeschossen haben«, sagte Grisswald.

«Das war auch unser erster Gedanke«, antwortete Franklin finster.»Aber wenn es so einfach wäre, wäre ich noch froh. Und Sie und ich wären jetzt nicht hier. Vor ungefähr drei Monaten nämlich tauchte das Flugzeug wieder auf, genauer gesagt: es stürzte eine halbe Meile vor dem Pau-Pau-Atoll ins Meer. An Bord befanden sich ein toter und ein sterbender Mann. Der Pilot und einer der Passagiere. Und ein Teil von Jonas’ Aufzeichnungen.«

Er griff in das Durcheinander auf dem Tisch, grub ein kleines, in schwarzes Leder gebundenes Notizbuch aus und reichte es Indiana. Grisswald beugte sich neugierig vor, um über dessen Schulter blicken zu können, als er es aufschlug.

Mit Ausnahme des Einbandes, der deutliche Brandspuren aufwies, enthielt es nur noch wenige Seiten, der Rest war herausgerisser oder verkohlt. Und auch die übriggebliebenen Seiten schienen auf den ersten Blick eine Enttäuschung zu sein.

Die Tinte war zerlaufen, denn zu allem Überfluß hatte das Büchlein offensichtlich auch noch eine geraume Weile im Wasser zugebracht. Und was leserlich war, war dennoch unverständlich, denn es schien sich um das sinnlose Gekrakel eines kleinen Kindes zu handeln. Oder zumindest um eine Handschrift, die dem nahekam.

«Verderben Sie sich nicht die Augen«, sagte Franklin seuf zend.»Wir haben die Seiten von den besten Kryptologen des Landes untersuchen lassen. Es ist das sinnlose Gekrakel eines Wahnsinnigen. Blättern Sie zur letzten Seite.«

Indiana tat es — und sog im selben Moment ebenso wie Grisswald überrascht die Luft ein. Wahnsinnig oder nicht, der Besitzer dieses Buches war ein ganz passabler Zeichner gewesen. Die beiden letzten Seiten zeigten einen Meeresstrand, auf dem ein halbes Dutzend menschlicher Gestalten stand. Vor ihnen im Wasser, von der offenbar zurückweichenden Flut nur zum Teil freigegeben, erhoben sich zwei kolossale Statuen.

«Erkennen Sie sie wieder?«fragte Franklin.

Indiana schwieg, aber Grisswald sagte unsicher:»Ich habe … Bilder von den Figuren auf den Osterinseln gesehen, und — «

Er sprach nicht weiter, als Franklin eines der Fotos auf dem Tisch herumdrehte und in seine Richtung schob. Indiana sah ohne große Überraschung, daß es eine der gewaltigen Kopfsta tuen zeigte, wie sie auf den Osterinseln entdeckt worden waren. Nachdenklich betrachtete er eine Weile abwechselnd das Foto und die Zeichnung.

«Die Ähnlichkeit ist verblüffend«, sagte er schließlich.

«Ähnlichkeit?«Franklin lachte.»Sie sind völlig identisch, Jones. Sehen Sie sich die übergroßen Köpfe an, und die langgezogenen Ohren. Ich habe diese Bilder von einem Dutzend Fachleuten vergleichen lassen, und sie sind alle zu demselben Ergebnis gekommen. Wer immer diese Zeichnung angefertigt hat, hat das da als Vorbild gehabt. «Sein ausge streckter Zeigefinger schien das Foto aufspießen zu wollen.

«Warum ist Ihr Dutzend Fachleute dann nicht hier, an unserer Stelle?«fragte Grisswald.

Franklin ignorierte seine Bemerkung, und Indiana sagte langsam:»Das bedeutet, Jonas ist auf den Osterinseln.«

«Nein«, antwortete Franklin.»Er war niemals dort, das wissen wir genau. Und die Reichweite des Flugzeuges war nicht annähernd groß genug. Es muß noch eine zweite Insel geben, auf der solche Statuen stehen. Und sie befindet sich irgendwo im Umkreis von dreihundert Seemeilen um Pau-Pau. Und wir sind hier, um sie zu finden.«

«Sie nehmen an, daß Jonas und die anderen noch am Leben sind und sich dort aufhalten«, vermutete Indiana. Etwas schärfer fügte er hinzu:»Und Sie haben uns praktisch entführt, damit wir Ihnen helfen, Ihren kostbaren Agenten wiederzufin den — samt den Plänen, die er bei sich hat!«

«Ich wollte, es wäre so«, sagte Franklin leise. Er seufzte, schüttelte ein paarmal den Kopf und sah Indiana sehr ernst an.

«Wenn das, was wir befürchten, zutrifft, Dr. Jones, dann brauchen die Deutschen keine geheimen Unterseehäfen mehr in Polynesien. Ich fürchte, dann brauchen sie nicht einmal mehr U-Boote.«

Indiana starrte ihn an. Er hatte plötzlich unerklärliche Angst.

«Wie … wie meinen Sie das?«fragte Grisswald. Auch seine Stimme zitterte.

«Ich habe Ihnen noch nicht erzählt, in welchem Zustand das Flugzeug auf Pau-Pau angekommen ist«, sagte Franklin. Er reichte Indiana zwei weitere Fotos. Sie zeigten das Wrack einer Junkers JU80, das in einer gewaltigen Flugzeughalle auf einem komplizierten hölzernen Gestell aufgebaut worden war.»Sie sehen, daß die Maschine sehr stark beschädigt worden ist«, fuhr er fort.»Das Wrack lag in zwanzig Metern Tiefe auf dem Meeresgrund. Wir haben es geborgen und so gut wieder zusammengesetzt, wie es uns möglich war. Unsere Techniker haben allein dafür zwei Wochen gebraucht, und leider haben wir nicht alle Teile bergen können.«

Das ist nicht zu übersehen, dachte Indiana. Die JU80 sah aus wie ein dreidimensionales Puzzle, das jemand mit viel zu großen, ungeschickten Wurstfingern zusammengesetzt hatte.

«Die Maschine muß vorher schon einmal abgestürzt sein«, sagte Franklin,»oder eine ziemlich unsanfte Notlandung hinter sich gehabt haben. Offensichtlich wurde sie mit primitivsten Mitteln wieder instand gesetzt. Diese Privatpiloten sind manchmal die reinsten Zauberkünstler und kriegen es hin, eine Maschine mit einer Rolle Draht und ein paar Nägeln wieder flottzukriegen. «Er lachte leise, aber seine Augen blieben ernst.»Aber das ist es nicht, was uns angst macht, Dr. Jones.«

«Und was … macht Ihnen angst?«fragte Indiana zögernd. Er hatte das Gefühl, er kennte die Antwort bereits.

Franklin beugte sich vor.»Das«, sagte er und deutete nach einander auf drei verschiedene Punkte am Flugzeugwrack.

«Und das und das.«

Auch Indiana waren die Stellen schon aufgefallen. Fragend sah er Franklin an.

«Wir haben das Wrack von mehreren Metallurgen untersu chen lassen«, sagte Franklin.»Sie sagen alle übereinstimmend das gleiche: Das Metall muß unvorstellbaren Temperaturen ausgesetzt gewesen sein. Sehen Sie die Verfärbungen an den Rändern?«

Indiana nickte. Wieder spürte er ein eiskaltes Frösteln.

«…haben sie versucht, es zu schweißen?«sagte Grisswald stockend.

«Kein Schweißgerät entwickelt Temperaturen von mehreren tausend Grad Kelvin«, antwortete Franklin ruhig.»Und — Sie können es auf diesem Bild genauer erkennen, sehen Sie — «, er reichte Grisswald ein anderes Foto,»— die Löcher haben jeweils das passende Gegenstück auf der anderen Seite der Maschine.«

«Als hätte jemand darauf geschossen«, murmelte Indiana schaudernd.»Aber womit?«

Franklins Antwort bestand aus einem vielsagenden, düsteren Schweigen. Er nahm ein weiteres Foto zur Hand, zeigte es ihnen aber noch nicht.»Wir sprachen von den beiden Passagie ren, erinnern Sie sich?«fuhr er fort.»Der Pilot war sehr schwer verwundet, als man ihn aus dem Wasser zog. Ich … habe auch Bilder von ihm, aber ich werde Ihnen den Anblick ersparen, wenn Sie nicht darauf bestehen. Bitte glauben Sie mir einfach, daß er fast bis zur Unkenntlichkeit verbrannt war. Wie er es überhaupt geschafft hat, das Flugzeug zum Atoll zurückzusteu ern, ist uns allen ein Rätsel.«

«Und der andere?«fragte Indiana.

«Der Copilot? Ein gewisser Perkins, einer der Passagiere. Offensichtlich hat er beim Aufprall das Bewußtsein verloren und ist ertrunken. Aber auch er war nicht unverletzt. «Er legte eine sekundenlange, genau bemessene Pause ein.»Der Mann war blind. Der Pathologe, der ihn untersucht hat, erklärte, daß seine Netzhäute verbrannt seien.«

«Wissen Sie, was Sie da sagen?«fragte Indiana. Es war eine ausgesprochen dumme Frage, und Franklin machte sich nicht einmal die Mühe, darauf zu antworten. Stumm reichte er Indiana und Grisswald das Foto, das er bisher selbst in der Hand gehalten hatte.

Indianas Finger begannen zu zittern, während er es betrachte te. Er konnte regelrecht fühlen, wie Grisswald neben ihm blaß wurde.

«Die dunklen Linien sind Blut«, sagte Franklin leise.»Menschliches Blut. Offensichtlich hatte er keinen Stift zur Hand.«

Es war eine grobe Zeichnung, die mit ungeschickten, dicken Strichen auf ein Stück des Armaturenbretts der JU gemalt worden war. Sie zeigte — nur grob und angedeutet, aber trotzdem klar zu erkennen — drei Dinge: eine der gewaltigen Götterstatuen, das Flugzeug- und einen gezackten Blitz, der aus den Augen der Steinfigur fuhr und das Flugzeug aufspießte.

«Ich glaube, ich verstehe Sie jetzt«, flüsterte Indiana.

«Das hoffe ich, Dr. Jones«, antwortete Franklin ernst.»Und ich hoffe bei Gott, daß wir uns alle irren und das alles nur die Fieberphantasien eines sterbenden Mannes sind.«

«Ich … ich verstehe einfach nicht, was … was das alles bedeutet«, stammelte Grisswald. Indiana sah ihn an, und etwas in seinen Augen machte Indiana klar, daß er sehr wohl verstand, es im Moment aber einfach noch nicht zugeben wollte.

«Es gibt schon seit Jahren Gerüchte, daß die Nazis an einer neuen Geheimwaffe arbeiten, Professor Grisswald«, sagte Franklin. Er deutete auf das Foto, auf dem die fast bis zur Unkenntlichkeit zerschmolzene Flanke des Flugzeuges zu erkennen war.»Es sieht so aus, als wäre sie fertig.«

Eine Stunde später begann es zu dämmern, und mit der Nacht zog sich auch der Sturm in sein finsteres Versteck zurück. Der Seegang ließ spürbar nach, und die HENDERSON legte noch einmal ein paar Knoten an Tempo zu. Sie waren auf die Brücke hinausgegangen. Indiana fielen die nervösen Blicke auf, die der Brückenoffizier immer wieder auf das Meer warf.

Nach allem, was er von Franklin erfahren hatte, verstand er diese Nervosität nur zu gut. Wenn die Deutschen tatsächlich auf irgendeiner der polynesischen Inseln ein Geheimlabor unterhielten, in dem sie an der Entwicklung einer möglicher weise kriegsentscheidenden Waffe arbeiteten, dann würden sie jedes Stück Treibholz herumdrehen, das sie im Umkreis von tausend Seemeilen fanden. In der Nacht hatte ihnen die Dunkelheit noch ein bißchen Schutz vor deutschen U-Booten oder Flugzeugen gewährt. fetzt befand sich das Schiff praktisch auf dem Präsentierteller. Die HENDERSON war alles andere als klein.

«Angst?«fragte eine Stimme hinter ihm. Indiana drehte sich um und erkannte Delano. Der Commander sah blaß aus, übernächtigt und spürbar nervös.

«Sie nicht?«gab Indiana zurück.»Wenn ich an der Stelle der Deutschen wäre, dann würde ich alles versenken, was auch nur verdächtig sein könnte

«Ja, vielleicht. «Delano seufzte. Sein Blick irrte unstet über die endlos grau daliegende Fläche des Meeres.»Aber ganz so schlimm ist es nun auch wieder nicht, Dr. Jones. Nicht einmal die Nazis würden es wagen, ohne triftigen Grund ein Schiff anzugreifen, das in einer friedlichen Forschungsmission unterwegs ist.«

«Und die Laderäume voller Waffen und Soldaten hat, nehme ich an.«

Delano lächelte flüchtig.»Diese Reporter, die Ihnen in Syd ney so auf die Nerven gegangen sind, Dr. Jones, sind gewis sermaßen unsere Lebensversicherung. Alle Welt weiß jetzt, daß die HENDERSON auf dem Weg zu den Osterinseln ist. Und auch, warum.«

«Sie haben uns aber immer noch nicht gesagt, welche Rolle Grisswald und ich in Ihrer kleinen Charade spielen«, sagte Indiana.

«Professor Grisswald …«Delano sah sich um, als wollte er sich erst davon überzeugen, daß Grisswald nicht in Hörweite war, ehe er antwortete.»Der war sozusagen eine unerwartete, aber willkommene Zugabe. Die HENDERSON befindet sich tatsächlich auf dem Weg zu den Osterinseln, Dr. Jones. Professor Grisswald wird dort nach Herzenslust graben und forschen können. Wir hoffen, daß ihm die halbe Welt dabei zusieht.«

«Während Sie und Franklin nach etwas ganz anderem su chen«, vermutete Indiana.

Delano nickte.»Ja. Im Moment sind die Statuen auf den Osterinseln unsere einzige Spur — beinahe, jedenfalls. Viel leicht gelingt es uns, über sie oder die Polynesier die genaue Position der anderen Insel ausfindig zu machen.«

Indiana starrte sein Gegenüber mit offenem Mund an.»Wie bitte?«ächzte er.»Wissen Sie überhaupt, wovon Sie da reden? Solche Forschungen können Jahre dauern, falls sie überhaupt je — «

Delano hob besänftigend die Hände.»Ich sagte, beinahe, Dr. Jones«, erklärte er.»Es gibt noch eine zweite Spur. Die ist zwar reichlich dünn, aber im Moment die einzige, die wir haben. Franklin hat Ihnen vom Pau-Pau-Atoll erzählt. Nun, es gibt dort einen … Mann. Eine etwas zwielichtige Erscheinung, wie ich gehört habe. Sein Name ist Ganty. Er erzählt seit Jahren verrückte Geschichten über eine Insel, auf der es angeblich ein Volk von Riesen geben soll. Niemand glaubt ihm, aber ich denke, es ist an der Zeit, daß wir uns einmal mit ihm unterhalten. «Er machte eine vage Geste auf das Meer hinaus.»Die HENDERSON ist ziemlich schnell, Dr. Jones. Schnell genug, daß sie einen kleinen Umweg machen und trotzdem pünktlich an ihrem Ziel ankommen kann. Sie und ich werden in etwa zwei Stunden in ein Wasserflugzeug umstei gen, das uns nach Pau-Pau bringt.«

«Um mit Ganty zu sprechen«, sagte Indiana.

Delano nickte.

«Und wenn er wirklich nur ein Spinner ist und nichts weiß?«

«Dann«, antwortete Delano sehr ernst,»sitzen wir ziemlich in der Klemme, Dr. Jones. Und mit uns wohl auch der Rest der Welt.«

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