Pau-Pau-Atoll, Polynesien

Vielleicht hatte die Stadt ja sogar einen Namen. Aber wenn, dann schien es bisher niemand für nötig gehalten zu haben, ein entsprechendes Schild aufzustellen — und wozu auch? Es war nicht nur die einzige Stadt auf dieser Insel, sie bestand auch nur aus einem guten Dutzend Häusern, die sich rund um das natürliche Hafenbecken drängten. Es gab nicht einmal eine Straße, aber an den drei hölzernen Stegen lagen mehr Boote, als dieses Kaff wahrscheinlich Einwohner hatte.

«Sind Sie sicher, daß wir diesen Ganty hier finden?«fragte Indiana. Er stampfte ein paarmal kräftig mit den Füßen auf, um das Wasser aus den Schuhen zu bekommen, hatte aber keinen besonderen Erfolg damit. Delano war mit einem kraftvollen Satz vom Schwimmer des Wasserflugzeuges aus an Land gesprungen, aber Indianas Versuch, ihm auf dieselbe Weise zu folgen, hatte leider nicht ganz geklappt. Seine Hosenbeine waren fast bis zu den Knien hinauf naß.

«Sein Boot ist jedenfalls hier«, sagte Delano, nachdem er seinen Blick einen Moment lang über den Hafen hatte schwei fen lassen. Er deutete auf eine schmuddelige weiße Fünfzig Fuß-Yacht, die sicherlich schon bessere Zeiten gesehen hatte, trotzdem aber das mit Abstand größte Schiff im Hafen war.»Ich nehme an, er sitzt in der Hotelbar und läßt sich vollaufen. Kommen Sie.«

Der Commander hatte sich verändert. Er trug jetzt nicht mehr die Navy-Uniform, sondern einfache Seemannskleidung, schwere Leinenhosen, eine schwarze Jacke und dazu eine dunkelblaue Pudelmütze, aber diese Kleidung paßte ebensowe nig zu ihm wie der maßgeschneiderte Anzug, in dem Indiana ihn in Washington gesehen hatte. Er fragte sich, wen Delano mit dieser Verkleidung täuschen wollte.

Auch Indiana hatte sich umgezogen und trug jetzt seine Lederjacke, seinen Hut und die zusammengerollte Peitsche am Gürtel. Delano hatte nur wissend gelächelt, als Indy sie aus dem Koffer geholt hatte, sich aber jeden Kommentars enthal ten.

Sie bewegten sich auf das größte Gebäude der namenlosen Stadt zu, das — dem handgemalten Schild über der Tür nach zu schließen — gleichzeitig Hotel, Bar und Bürgerhaus war. Indiana sah sich aufmerksam um. Der Ort war still, aber nicht verlassen. Er sah einige Weiße in zerlumpten Kleidern, aber auch zwei oder drei Polynesier. Wahrscheinlich waren sie zusammen mit den weißen Siedlern hergekommen, denn Pau-Pau war entschieden zu klein, als daß es hier Eingeborene hätte geben können. So winzig die Stadt war, bedeckte sie doch trotzdem ein gutes Fünftel des überhaupt besiedelbaren Landes; der Rest bestand aus scharfkantiger Lava und schier endlosen Sandflächen. Diese Stadt gehörte eindeutig zu jener Art von Ansiedlungen, die es nach Indianas Auffassung gar nicht geben dürfte, denn sie war praktisch nicht lebensfähig, ohne von außen versorgt zu werden.

Das Hotel-Bar-Bürgerhaus schien zusätzlich auch noch als Ziegenstall zu dienen, zumindest dem Geruch nach zu schlie ßen, der Indiana und Delano entgegenschlug, als sie eintraten.

Nach dem grellen Sonnenlicht draußen war Indiana im ersten Augenblick fast blind.

Blinzelnd sah er sich in der halbdunklen, schmuddeligen Halle um. Hinter dem Tresen neben der Tür lehnte eine Gestalt, die eine Mischung aus Barkeeper, Hotelmanager und Pilot zu sein schien und ihn und Delano mit unverhohlenem Mißtrauen musterte. Indiana lächelte dem Burschen zu und trat näher.

«Ein Zimmer?«fragte der Kerl, ohne sich mit so überflüssi gen Formalitäten wie einer Begrüßung aufzuhalten.

«Vielleicht später«, antwortete Indiana.»Im Augenblick suchen wir jemanden. Einen gewissen Mr. Ganty. Ist er zufällig hier?«

«Sitzt dahinten am Fenster«, antwortete der Barkeeper mit einer entsprechenden Geste. Seine Augen wurden schmal.»Was wollen Sie denn von ihm?«

«Ihn zu einem Drink einladen«, antwortete Indiana.»Und Sie auch, wenn Sie mögen. Bringen Sie uns drei an den Tisch?«

Er wandte sich um, ehe der Bursche eine weitere Frage stellen konnte, und gab Delano ein Zeichen, er solle ihm folgen.

Ganty war ein grauhaariger Mann von massiger Gestalt und schwer schätzbarem, aber sicher nicht geringem Alter. Sein Gesicht wurde von einem weißen, pedantisch gestutzten Vollbart beherrscht, und die winzigen roten Äderchen rings um Nase und Augen verrieten den gut trainierten Säufer. Aber seine Augen, die Indiana und Delano unter buschigen weißen Brauen musterten, waren wach und sehr aufmerksam.

«Mr. Ganty?«fragte Delano.

Ganty sah auf.»Mister hat mich schon lange keiner mehr genannt«, sagte er.»Aber Ganty stimmt.«

Delano zog sich einen Stuhl heran und deutete auf sich selbst und Indiana, während sie sich setzten.»Mein Name ist Dela-no«, begann er.»Das ist Dr. Indiana Jones. Wir würden uns gerne einen Moment mit Ihnen unterhalten, Ganty.«

«Ein Medizinmann?«fragte Ganty und sah Indiana an.»Von welchem Stamm?«

Indiana unterdrückte ein Lachen.»Indiana«, sagte er betont,»nicht Indianer. Und ich bin Doktor der Archäologie, nicht der Medizin.«

«So? Schade. «Der Ober kam und brachte die drei bestellten Drinks. Ganty schüttete den ersten hinunter, noch ehe das Tablett den Tisch berührt hatte, und angelte sich sofort ein zweites Glas.»Dachte, Sie wären Arzt. Ich habe einen einge wachsenen Zehennagel, um den sich mal jemand kümmern sollte.«

Er rülpste lautstark, leerte auch das zweite Glas in einem Zug und griff sich das dritte. Indiana signalisierte dem Ober, eine weitere Runde zu bringen, und warf Delano gleichzeitig einen fast beschwörenden Blick zu. Ganty spielte den Barbaren, aber er war gewiß keiner. Indiana fragte sich allerdings, warum er das tat.

«Was wollen Sie von mir?«fragte Ganty, nachdem er auch den dritten Schnaps hinuntergestürzt hatte, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken.»Wollen Sie mein Boot mieten? Kostet fünfzehn am Tag. Zwanzig, wenn ich Ihnen ein paar gute Fischgründe zeigen soll.«

«Unter Umständen«, antwortete Delano.»Mr. Ganty, Dr. Jones und ich sind — «

Indiana kürzte die Prozedur ab, indem er in die Tasche griff und eine der Fotografien herauszog, die er von Franklins Schreibtisch genommen hatte.»Haben Sie so etwas schon einmal gesehen?«fragte er.

Das Bild zeigte eine der riesigen Götterstatuen von den Osterinseln. Ganty starrte sie sekundenlang an, aber seine Reaktion war völlig anders, als Indiana erwartet hatte. Man mußte kein Hellseher sein, um zu erkennen, daß er das, was das Foto zeigte, nicht zum ersten Mal sah. Aber plötzlich verfin sterte sich sein Gesicht. Er sah Indiana und Delano eindeutig wütend an.

«So ist das also!«sagte er gepreßt.»Aber das hätte ich mir eigentlich denken können, nicht? Haut ab, alle beide!«

Delano war vollkommen verwirrt.»Ich verstehe nicht ganz, Ganty — «, begann er.

«Für Sie immer noch Mr. Ganty!«unterbrach ihn Ganty aufgebracht.»Spielen Sie nicht den Dummkopf! Glauben Sie etwa, ich weiß nicht, warum ihr zwei schrägen Vögel hier seid?«

«Ich fürchte, da liegt ein Mißverständnis vor, Mr. Ganty«, sagte Indiana. Er tauschte einen verwirrten Blick mit Delano und deutete ein Achselzucken an.

«Ein Mißverständnis, ha!«Ganty sprach jetzt sehr laut. Eigentlich schrie er schon. Erregt beugte er sich vor und blies Indiana und Delano eine Kokosnußschnapsfahne ins Gesicht, als er weitersprach.»Ich erkenne Aasgeier auf hundert Mei len!«behauptete er.»Ein paar nette Worte, ein paar Schnäpse und vielleicht noch ein paar Dollar, und schon habt ihr eine Story, wie? Und die Leser eures Schmierblattes können sich über den alten Spinner amüsieren, der — «

«Wir sind keine Journalisten, Mr. Ganty«, unterbrach ihn Indiana.

Ganty blinzelte.»Nicht?«

«Ganz bestimmt nicht«, versicherte ihm Delano. Er deutete auf Indiana.»Dr. Jones ist einer der führenden Archäologen der Welt. Und auch ich habe mit Reportern sehr wenig am Hut. Wir sind ganz bestimmt nicht hier, um uns über Sie lustig zu machen, Mr. Ganty. Dafür wäre der Weg wahrhaftig ein bißchen zu weit.«

Ganty musterte sie abwechselnd voller Mißtrauen. Er war zwar noch immer nicht völlig besänftigt, aber zumindest kochte er nicht mehr vor Zorn.

«Sie haben so etwas schon einmal gesehen, nicht wahr?«Indiana deutete auf das Foto, das zwischen ihnen auf dem Tisch lag.»Aber nicht auf den Osterinseln.«

«Und wenn?«knurrte Ganty.

«Sie haben soeben ›ja‹ gesagt, Mr. Ganty, ist Ihnen das klar?«fragte Indiana.

Ganty sah ihn an, und zum ersten Mal lächelte er. Allerdings nur eine Sekunde.»Was wollen Sie?«fragte er noch einmal.

«Wir gehören zu einer wissenschaftlichen Expedition«, begann Indiana noch einmal.»Wir versuchen, das Rätsel dieser Statuen zu lösen. Sehen Sie, Ganty, es gibt da eine Theorie, nach der es noch andere Inseln geben soll, auf der solche Statuen stehen. Bisher wissen wir nicht einmal, ob die Kultur, die diese Statuen erschaffen hat, tatsächlich auf den Osterinseln entstanden ist. Es wäre ein gewaltiger Durchbruch für die Wissenschaft, wenn uns der Nachweis gelänge, daß es ähnliche Statuen auch noch auf anderen Inseln in Polynesien gibt.«

«So, wäre es das?«brummelte Ganty.»Und was habe ich davon?«

«Unsere finanziellen Mittel sind nicht unbegrenzt«, sagte Delano,»aber — «

«Geld?«Ganty machte ein unanständiges Geräusch.»Behal ten Sie es, Mister. Ich habe alles, was ich brauche.«

«Sie könnten der ganzen Welt beweisen, daß Sie recht hat ten«, sagte Indiana. Ganty starrte ihn an und schwieg, und Indiana fuhr fort:»Daß Sie nicht der alte Spinner sind, als den man Sie denunziert hat. Wenn Sie uns helfen, mit einer solchen Sensation aufzuwarten, Ganty, dann wird niemand mehr über Sie lachen, da bin ich sicher.«

Ganty überlegte.»Wie kommt es, daß ein Mann wie Sie einem alten Säufer wie mir glaubt?«fragte er mißtrauisch.»Sie wollen mir doch nicht erzählen, daß Sie den ganzen Weg von Amerika aus nur mal so auf blauen Dunst hin gemacht haben!«

«Nein, bestimmt nicht. «Indiana lächelte, griff abermals in die Tasche und zog das angesengte Notizbuch heraus. Auf Gantys Gesicht war nicht die mindeste Reaktion zu erkennen, als er es aufschlug und die Zeichnungen auf den letzten beiden Seiten betrachtete. Auch keine Überraschung.

«Das stammt von einem Schiffbrüchigen, den man in diesen Gewässern aufgefischt hat«, sagte Indiana.»Leider war er nicht mehr in der Lage, uns genauere Informationen zu geben. Aber eines wissen wir hundertprozentig: Es stammt nicht von den Osterinseln.«

Ganty schwieg. Nachdenklich blätterte er in dem Notizbuch. Auf eine Art und Weise, die Indiana verwirrte. Hätte er es nicht besser gewußt, dann hätte er geschworen, daß Ganty die Seiten las. Aber schließlich hatten die fähigsten Kryptologen der USA einhellig bestätigt, daß es sich nur um das Gekritzel eines Wahnsinnigen handelte.

Schließlich klappte Ganty das Buch zu, gab es Indiana zurück und sah ihn und Delano lange fast durchdringend an. Doch allmählich erkannte Indiana, daß das nicht stimmte. Er sah nicht sie an, er sah ihre Ohren an. Verrückt. Und gleichzeitig hatte Indiana das Gefühl, eigentlich wissen zu müssen, was das bedeutete.

«Ich denke darüber nach«, sagte Ganty, ehe Indiana den Gedanken weiter verfolgen konnte.»Morgen früh sage ich Ihnen Bescheid.«

«Wir sind ein bißchen in Eile, Mr. Ganty«, drängte Delano.

«Morgen früh«, beharrte Ganty stur. Und dabei blieb es.

Sie hatten sich wohl oder übel ein Zimmer im Hotel genom men; klein, schmutzig und zu einem wahren Wucherpreis — aber immer noch besser, als in der Kabine des Wasserflugzeu ges zu schlafen, das draußen auf den Wellen schaukelte. Nachdem sie eine halbe Stunde mit Spinnen- und Wanzenjagen verbracht hatten, gingen sie bei Sonnenuntergang zu Bett. Es gab auf Pau-Pau natürlich keinen elektrischen Strom, und für eine winzige Petroleumlampe mit einem gesprungenen Glas hatte der Halsabschneider unten am Empfang nicht weniger als fünf Dollar Miete verlangt; ein Ansinnen, das Indiana schon aus Prinzip ausgeschlagen hatte.

Wider Erwarten schlief Indiana fast auf der Stelle ein, aber er erwachte nach einer Weile auch von selbst wieder, und er spürte, daß noch nicht allzuviel Zeit vergangen war. Er spürte aber auch, daß er zumindest im Moment nicht wieder würde einschlafen können. Vorsichtig, um Delano nicht zu wecken, stand er auf und ging zum Waschtisch, um einen Schluck Wasser zu trinken.

Die Wasserkaraffe war leer, und Delano konnte er nicht wecken, denn der lag gar nicht in seinem Bett. Er war nicht einmal im Zimmer.

Vielleicht hatte er ebenfalls nicht schlafen können und war noch einmal hinunter in die Bar gegangen, um etwas zu trinken. Also verließ auch Indiana das Zimmer und ging nach unten.

Er fand Delano nicht in der Bar, der Mann hinter der Theke erklärte ihm aber, daß er vor einer halben Stunde hier etwas getrunken und dann das Hotel verlassen hätte, um draußen noch ein wenig frische Luft zu schnappen.

Auch Indiana ging nach draußen. Er war irritiert, aber auch ein wenig beunruhigt. Delano gehörte nicht zu den Menschen, die mitten in der Nacht noch Spazierengehen, um frische Luft zu schnappen.

Er fand ihn draußen auch nicht. Indiana durchsuchte sowohl den Hafen als auch die Stadt von einem Ende bis zum anderen (was wahrhaftig kein großes Kunststück war), ohne auch nur eine Spur von ihm zu entdecken. Schließlich wandte er sich dem zu, was die Einheimischen wohl als Landesinneres bezeichnen mochten, und stieg auf den höchsten (und einzigen) Berg des Atolls hinauf, einen nicht einmal zehn Meter hohen Hügel, von dessen Gipfel aus er die gesamte Insel überblicken konnte.

Am anderen Ende der Insel stand eine einsame Gestalt und blickte aufs Meer hinaus.

Delano? Aber was tat er da?

Indiana blickte eine ganze Weile schweigend auf Delano hinab, und Delano stand während der ganzen Zeit reglos da und blickte aufs Meer hinaus. Schließlich balancierte Indiana vorsichtig die jenseitige Flanke des Hügels hinunter und ging auf den Commander zu. Da er sich keine Mühe gab, besonders leise zu sein, hörte Delano schon bald seine Schritte und drehte sich zu ihm herum. Er machte eine hastige Bewegung, fast als würde er etwas unter seiner Jacke verschwinden lassen. Indiana merkte sich diese Beobachtung für später, ging aber im Moment nicht darauf ein.

«Delano?«fragte Indiana.»Was tun Sie denn hier?«

Delano zuckte mit den Schultern und lächelte.»Dasselbe könnte ich Sie auch fragen.«

«Ich habe Sie gesucht«, antwortete Indiana leicht verärgert.

«Und Sie?«

Delanos Schulterzucken wiederholte sich.»Es ist eine schöne Nacht«, sagte er.»Ich wollte ein bißchen frische Luft schnap pen. Außerdem konnte ich nicht schlafen.«

Indiana starrte einen Moment aufmerksam in die Richtung, in die Delano geschaut hatte. Täuschte er sich, oder sah er tatsächlich einen Schatten auf dem Meer?

«Was meinen Sie, Jones — sagt Ganty die Wahrheit, oder ist er wirklich nur ein alter Spinner, wie alle behaupten?«fragte Delano.

Indiana riß seinen Blick vom Meer los und sah Delano an.

«Ich weiß es nicht«, gestand er.»Aber ich habe sein Gesicht beobachtet, als er die Bilder sah. Er war nicht besonders überrascht. Er hat so etwas wie auf den Fotos und der Zeich nung auf jeden Fall schon einmal gesehen.«

«Diese seltsamen Götzenbilder, meinen Sie?«Delano wandte sich um und begann gemächlich wieder auf die Stadt zuzuge hen. Indiana folgte ihm.

«Es sind keine Götzenbilder«, antwortete er lächelnd.»Jeden falls glaube ich das nicht. Waren Sie jemals auf den Osterin-seln, Delano?«

«Ich? Gott bewahre, nein.«

«Aber Sie haben die Bilder gesehen?«

«Selbstverständlich. Sie sind beeindruckend.«

«Und die Originale sollen noch viel beeindruckender sein«, sagte Indiana.»Ich war auch noch nie dort, aber ich habe natürlich das eine oder andere gelesen. Sie sind bis zu zwölf Meter hoch, und einige sollen mehr als dreißig Tonnen wiegen. Wenn Sie bedenken, daß die Polynesier keine Werkzeuge aus Eisen kannten, ehe die Weißen sie entdeckten, dann wird das noch beeindruckender.«

«Kein Eisen?«vergewisserte sich Delano.»Aber womit haben sie diese Dinger denn dann aus dem Fels gehauen?«»Das wüßten nicht nur Sie und ich gerne«, antwortete Indiana.»Und das ist noch nicht einmal das Erstaunlichste. Sie haben diese Figuren aus dem Felsgestein der Vulkane herausgemei ßelt, wissen Sie? Meilen im Landesinneren. Aber einige stehen an der Küste. Niemand weiß genau, wie sie dorthin gekommen sind, aber die Legende behauptet hartnäckig, sie wären dorthin gelaufen.«

«Gelaufen?«Delano riß erstaunt die Augen auf.»Sagten Sie nicht gerade erst, die wären zwölf Meter hoch und würden ein paar Dutzend Tonnen wiegen?«

«Es ist trotzdem möglich«, sagte Indiana.»Wahrscheinlich haben sie sie aufgerichtet und dann stehend transportiert. «Er blieb stehen, stellte die Füße ganz dicht nebeneinander und begann auf der Stelle zu wackeln.»So, sehen Sie? Ich schätze, sie haben Seile um ihre Hälse gebunden und dann vorsichtig in alle Richtungen zugleich gezogen und gewackelt, bis sie nach und nach den Weg hinunterzuhoppeln begannen. Es gibt ein paar zerbrochene Statuen, die offenbar gestürzt sind und daher diese Theorie zu untermauern scheinen. «Er lächelte und ging weiter.»Aber wie gesagt, es ist nur eine Theorie. Niemand hat bisher versucht, sie experimentell zu beweisen.«

Delano runzelte anerkennend die Stirn.»Für jemanden, der nichts weiß, außer der Tatsache, daß er sehr wenig weiß, wissen Sie eine Menge, Dr. Jones«, sagte er.

«Aber was ich weiß, weiß ich genau«, fügte Indiana lächelnd hinzu.»Es ist ein sehr interessantes Thema, Delano. Sie werden sehen, daß die Osterinseln viele Geheimnisse bergen. Und bisher leider sehr viel mehr Fragen als Antworten.«

«Und Sie glauben, Ganty hat darauf Antworten?«

«Vielleicht ein paar«, sagte Indiana achselzuckend.»Ist Ihnen aufgefallen, wie er unsere Ohren studiert hat?«

Delano hob ganz automatisch die Hand und befühlte sein Ohrläppchen. Als ihm die Bewegung selbst zu Bewußtsein kam, ließ er den Arm beinahe verlegen wieder sinken.

«Das war kein Zufall«, sagte Indiana.

Delano sah ihn scharf an.

«Sehen Sie, Delano — die Osterinseln sind heute kaum noch bewohnt, aber das war nicht immer so. Bis vor ungefähr zweihundert Jahren gab es dort eine blühende Zivilisation. Sie ging unter, weil die Stämme ein paar Kriege zuviel gegenein ander führten. Man nimmt an, daß sie ihre eigenen Lebens grundlagen zerstört haben. Sie haben ein paar Wälder zuviel abgeholzt, um Festungswälle und Waffen zu bauen. Schließlich kam es zum ökologischen Kollaps, und die gesamte Tier- und Pflanzenwelt brach zusammen. Die Inseln hatten einmal über zehntausend Einwohner. Heute kann von dem, was dort wächst, gerade noch eine Handvoll Bauern existieren.«

«Interessant«, sagte Delano.»Aber was hat das mit unseren Ohren zu tun?«

«Warten Sie ab«, sagte Indiana.»Die Osterinselkultur war in zwei Klassen unterteilt — die eine herrschte, und die andere wurde beherrscht. In dem letzten großen Krieg zerschlugen die Sklaven die Tyrannei ihrer Herrscher und löschten sie aus. Die Legende sagt, daß nur eine Handvoll von ihnen mit dem Leben davonkam und fliehen konnte.«

«Aha«, sagte Delano. Er klang ein kleines bißchen ungedul dig.

«Die Sklaven waren normale Polynesier«, fuhr Indiana fort.

«Ihre Herren sollen angeblich einem Volk von Riesen ent stammt sein. Sie hatten eine Menge verschiedener Namen. Einer davon war Langohren

Delano blieb abermals stehen. Diesmal sah er allerdings sehr viel erschrockener als verwirrt aus.»Und was schließen Sie daraus?«fragte er.

«Im Moment noch gar nichts«, antwortete Indiana.»Ich habe es mir abgewöhnt, voreilige Schlüsse zu ziehen. Ich beobachte und schaue zu, das ist alles. «Er ging weiter.»Aber wenn Ganty tatsächlich nichts weiter ist als ein versoffener alter Spinner, dann dürfen Sie mich ab morgen Adolf nennen.«

Sie hatten bereits die Stadt erreicht, und Indiana wandte sich dem Hotel zu. Aber plötzlich blieb Delano stehen, hielt Indiana an der Schulter zurück und legte gleichzeitig Zeige- und Mittelfinger der anderen Hand auf die Lippen. Indiana verstand. Rasch wich er in den Schatten eines Gebäudes zurück und blickte in die Richtung, in die Delanos ausgestreckte Hand zeigte.

Wie von jeder anderen Stelle der Stadt aus konnten sie den Hafen in ganzer Länge überblicken. Gantys Boot lag zwar am entgegengesetzten Ende des Hafens, aber an Bord der kleinen Yacht brannte Licht, so daß sie die Umrisse der beiden Gestal ten an Deck deutlich erkennen konnten. Eine davon war Ganty. Indiana hätte die untersetzte Gestalt mit den breiten Schultern und dem massigen Kopf selbst unter noch viel ungünstigeren Umständen erkannt. Die andere war schlanker, aber sehr groß. Neben Ganty wirkte sie wie ein Riese.

«Wer mag das sein?«flüsterte Delano.

Indiana zuckte nur mit den Schultern. Natürlich hatte er keine Ahnung, wer Gantys Gesprächspartner war, aber eines war ihm klar: daß Ganty sich bewußt hier draußen mit dem Fremden getroffen hatte, um nicht gesehen zu werden. Er hatte im Laufe der Jahre ein Gespür für so etwas entwickelt. Gantys Gestik war eindeutig die eines Menschen gewesen, der sich unbehag lich fühlt und Angst hat, beobachtet zu werden. Gesichter und Stimmen konnten lügen; die Körpersprache tat das selten.

«Warum sehen wir nicht nach?«schlug er vor.»Es ist eine schöne Nacht und warm genug für ein Bad.«

Delano blickte ihn fragend an, aber Indiana grinste nur noch einmal, wandte sich um und huschte geduckt zum Strand.

Das Wasser war nicht annähernd so warm, wie er geglaubt hatte, aber der Weg war auch nicht allzuweit. Beinahe lautlos schwamm Indiana auf Gantys Yacht zu, schlug einen Bogen und näherte sich dem Schiff von der offenen See her. Er konnte Ganty und seinen Gesprächspartner jetzt zwar nicht mehr sehen, dafür aber um so deutlicher hören.

Es nutzte nur nicht viel. Ganty und der andere redeten in einer Sprache miteinander, die er nicht verstand — und auch noch nie gehört hatte. Sie klang nicht einmal vertraut, obwohl es eigentlich kaum einen Dialekt gab, den Indiana nicht minde stens schon einmal gehört hatte und von dem er sagen konnte, in welche Ecke der Welt er gehörte.

Er lauschte einige Sekunden, dann schwamm er so vorsichtig wie möglich um das Boot herum, um in eine Position zu gelangen, aus der heraus er sowohl Ganty als auch seinen geheimnisvollen Besucher sehen konnte.

Ganty sah er nicht ganz, aber dafür war der Anblick des anderen Mannes um so erstaunlicher.

Sein Gesicht war nicht das breite, flachgedrückt-freundliche Antlitz des typischen Polynesiers, sondern es war schmal und hart, mit einem fast asketischen Zug, und der Unbekannte hatte auch nicht den typischen, untersetzten Körperbau der Insula ner, sondern war ein Riese von mindestens zwei Metern Größe; wahrscheinlich aber mehr. Seine enorme Größe ließ ihn überschlank erscheinen, aber das war er gar nicht, sondern er verfügte ganz im Gegenteil über geradezu ehrfurchtgebietende Muskelpakete an Schultern, Bizeps und Oberschenkeln. Er war nackt bis auf einen Lendenschurz und tropfnaß; offensichtlich war er auf einem ähnlichen Weg hierhergekommen wie Indiana.

Und seine Ohrläppchen waren so lang, daß sie fast bis auf seine Schultern hinabhingen.

Der Anblick war so bizarr, daß Indiana die Bedeutung seiner anderen Beobachtung — nämlich der allmählich größer werden- den Pfütze, in der die Füße des Fremden standen — entschieden zu spät begriff. Hinter ihm plätscherte etwas, und plötzlich fühlte sich Indiana wie ein Kind unter den Armen gepackt und kurzerhand aus dem Wasser geworfen.

In hohem Bogen flog er auf den Landungssteg, überschlug sich zweimal und wäre um ein Haar auf der anderen Seite gleich wieder ins Wasser gestürzt, hätte er sich nicht im letzten Moment irgendwo festgeklammert. Unsicher und mit dröhnen dem Schädel setzte er sich auf und sah gerade noch etwas Dunkles wie einen riesigen Fisch im Wasser davongleiten; allerdings wie ein Fisch mit großen Händen, den Schultern eines Preisboxers und Ohrläppchen, die wie große Flossen im Wasser wehten. Verwirrt blickte er dem Schatten nach, bis er vollends verschwunden war, dann drehte er sich um — und blickte genau in die Mündung einer Pistole, die Ganty auf ihn richtete.

«Sie spionieren mir nach, Dr. Jones?«fragte Ganty.

Indiana stand ganz vorsichtig auf, bevor er antwortete, und Ganty schien nichts dagegen zu haben. Allerdings folgte der Lauf seiner Waffe jeder Bewegung von Indiana. Und er sah nicht so aus wie jemand, der Skrupel hat, die Waffe auch zu benutzen.

Von seinem unheimlichen Besucher war nichts mehr zu sehen.

«Das ist ein Mißverständnis, Mr. Ganty«, sagte Indiana hastig.»Ich spioniere Ihnen nicht nach. Ich — «

«Sie sind ganz zufällig hier vorbeigeschwommen, wie?«unterbrach ihn Ganty spöttisch.»Ich verstehe.«

Indianas Gedanken rasten. Er suchte verzweifelt nach irgend einer Ausrede, die auch nur halbwegs vernünftig klang oder wenigstens nicht völlig idiotisch. Er fand keine, und so breitete er schließlich mit einem verlegenen Lächeln die Hände aus.»Okay, Sie haben mich erwischt«, gestand er.»Ich habe Ihnen nachspioniert. Aber Sie haben uns auch das eine oder andere verschwiegen, nicht wahr?«Er machte eine Kopfbewegung zu jener Stelle an Deck des Schiffes, an der der Fremde gestanden hatte.»Wer sind Ihre geheimnisvollen Freunde, Mr. Ganty? Sie gehören zu den Langohren, nicht wahr?«

Gantys Gesichtsausdruck verdüsterte sich.»Sie haben sie gesehen?«

«Ich bin schließlich nicht blind«, antwortete Indiana.»Es ist also alles wahr, was man sich über Sie erzählt, Mr. Ganty. Bis auf die Behauptung, daß Sie verrückt sind. Wahrscheinlich haben Sie all die Jahre lauter über den Rest der Welt gelacht als dieser über Sie.«

Gantys Gesicht umwölkte sich noch mehr.»Sie haben sie wirklich gesehen«, sagte er.»Das ist nicht gut. Wirklich. Gar nicht gut.«

«Ich fürchte, Ihr kleines Geheimnis ist keines mehr«, antwor tete Indiana.

Ganty seufzte tief.»Glauben Sie mir, Dr. Jones, ich hasse es, das zu tun«, sagte er und schoß Indiana aus allernächster Nähe zwei Kugeln in den Leib.

Загрузка...