Die Insel der Langohren Am nächsten Morgen

Sie erreichten den Ort, über den Indiana bis zum Schluß nicht mehr als einige geheimnisvolle Andeutungen gehört hatte, fast auf die Minute genau zu dem Zeitpunkt, den Ganty vorherge sagt hatte, nämlich eine Stunde vor Sonnenaufgang. Es war nicht mehr völlig dunkel, aber auch noch nicht richtig hell, so daß Indiana kaum mehr als einen vagen Eindruck von der Insel erhielt, der sie sich näherten. Sie schien sehr groß zu sein, verglichen mit den zumeist winzigen Archipelen der polynesi-schen Inselwelt, aber auch sehr flach, kaum mehr als eine mit harten Strichen gemalte Linie auf dem Horizont, ohne nen nenswerte Erhöhungen oder Berge. Ganty manövrierte das Boot auf dem letzten Stück des Weges mit äußerster Behut samkeit, und Indiana erkannte auch bald den Grund dafür: ein Ring scharfkantiger Riffe und Korallenbänke umgab die Insel wie ein natürlicher Festungswall. Er verließ schließlich das Ruderhaus, um Ganty nicht in seiner Konzentration zu stören. Er hatte wenig Lust, das letzte Stück zum Ufer schwimmen zu müssen.

Die Schlechtwetterfront war ihnen tatsächlich den ganzen Tag und auch die Nacht über wie ein treuer Wachhund gefolgt, in der Dunkelheit sah sie tatsächlich aus wie eine Wand, hinter der der Rest der Welt verborgen lag, und zusätzlich kam mit dem Morgen nun auch noch leichter Nebel auf. Im Moment war es nur eine Art Dunst, der wie ein in zahllose Stücke zerrissener Schleier über dem Wasser hing, aber er würde bald stärker werden. Indiana war plötzlich sehr froh, daß Ganty seinen Zeitplan so präzise eingehalten hatte. In einer Stunde würde es wahrscheinlich unmöglich sein, die Riffe zu durchfahren.

Wie um ihn daran zu erinnern, daß es auch jetzt gefährlich war, schrammte etwas mit einem unangenehmen Quietschen am Bootsrumpf entlang, und Indiana spürte, wie die Planken unter seinen Füßen zu zittern begannen. Erschrocken drehte er sich zu Ganty um.

Der alte Mann lächelte entschuldigend.»Keine Sorge, Dr. Jones. Wir sind schon fast durch. «Er konzentrierte sich wieder auf das Wasser vor dem Bug der Yacht und sagte leiser, und eigentlich mehr zu sich selbst als zu Indiana gewandt:»Weiter im Norden gibt es eine breitere Passage. Ich sollte vielleicht allmählich anfangen, sie zu benutzen.«

Der Nebel nahm zu, aber sie hatten das gefährlichste Stück jetzt hinter sich. Das Boot glitt, nicht mehr viel schneller als ein Spaziergänger, auf den Strand zu und kam schließlich völlig zur Ruhe. Ganty schaltete den Motor aus, winkte Indiana fast aufgeregt, er solle ihm folgen, und sprang in das nur noch knietiefe Wasser hinab.

Eine wohlbekannte Erregung ergriff von Indiana Besitz, als sie nebeneinander die wenigen Schritte zum Strand hinaufwa teten. Wieder einmal war er dabei, einen vergessen geglaubten Teil der Welt zu entdecken. Es spielte keine Rolle, daß er nicht der erste war, der hierher kam. In diesem Punkt hatte Ganty ihn völlig richtig eingeschätzt. Indiana hatte schon vor langer Zeit begriffen, daß man nicht alles, was man entdeckte, auch der ganzen Welt mitteilen mußte. Wäre es ihm darum gegangen, dann hätte sein Name längst in allen Lehrbüchern noch vor denen eines Cook oder Livingstone gestanden. Aber es war nicht Ruhm, dem die ruhelose Suche galt, die Indiana Jones ganzes Leben beherrschte. Was er wollte, das war die Suche selbst, das prickelnde Gefühl des Entdeckens, das Wissen, etwas in Händen zu halten, was vor ihm noch niemand berührt, ein Stück Boden zu beschreiten, den seit tausend Jahren niemand mehr betreten hatte. Und tief in sich war er überzeugt davon, daß diese Einstellung auch der Grund war, aus dem man ihm all diese Geheimnisse zu entdecken gewährte. Er hatte wohl irgendwann einmal einen Pakt mit dem Schicksal geschlossen, der von seiner Seite Stillschweigen forderte. Die Vergangenheit gab ihre Geheimnisse niemandem preis, der sie herumerzählte.

Einen Meter aus dem Wasser heraus blieben sie stehen. Im ersten Moment nahm Indiana an, es sei, um kurz zu verschnau fen. Aber Ganty blieb auch weiter reglos stehen, nachdem mehr als eine Minute verstrichen war.

«Wie geht es weiter?«fragte Indiana schließlich.

«Wir warten«, antwortete Ganty.»Es ist besser, wenn wir hier warten. Es wird nicht lange dauern. Sie wissen, daß wir kommen. «Er hatte die Stimme zu einem Flüstern gesenkt, daß aber eher ehrfürchtig als ängstlich klang, und auch Indiana sagte nichts mehr. Sie wurden beobachtet, das fühlte er. Der Dschungel schob sich bis auf zwanzig Meter ans Wasser heran, und er war so dicht, daß vermutlich auch am Tage nichts anderes als eine grünschwarze Mauer zu erkennen war. Aber er konnte fühlen, wie unsichtbare Augen sie aus der Dunkelheit heraus anstarrten, wach, vorsichtig und voller Mißtrauen.

«Sie sind verwirrt, weil ich nicht allein komme«, sagte Ganty leise.»Aber sie vertrauen mir, keine Sorge.«

Indiana schwieg. Er hoffte inständig, daß Ganty recht hatte.

Aber ganz sicher war er plötzlich nicht mehr.

Ein mattes Schimmern dicht am Waldrand erregte Indianas Aufmerksamkeit. Fragend sah er Ganty an, bekam keine Antwort und ging los.

Ein paar Schritte vor dem Dschungel lag ein Stück Wellblech.

Ein Eimer Wasser, den man ohne Vorwarnung über ihm ausgoß, hätte Indiana nicht plötzlicher in die Wirklichkeit zurückreißen können. Es war nur ein kleiner Fetzen, kaum größer als eine Kinderhand, aber der war mehr als ein x-beliebiges Stück Metall. Das Stück stammte aus dem Rumpf des Flugzeuges, das vor Pau-Pau ins Meer gestürzt war, und sein Anblick führte ihm fast brutal vor Augen, warum er im Grunde hier war.

Aber er bedeutete auch noch mehr, und dieses Mehr hatte nichts mit deutschen Geheimwaffen, Agenten und versteckten U-Boot-Häfen zu tun. Er bedeutete das Ende einer Zeit, das Ende einer Epoche und wohl auch das Ende von Gantys Traum.

Vielleicht würde es noch eine Weile dauern, vielleicht noch Jahre, möglicherweise sogar noch einige Jahrzehnte, aber es würde eine Zeit kommen, in der es Orte wie diesen nicht mehr gab, in der alles entdeckt, jeder Platz erforscht und jeder Quadratmeter dieses Planeten kartografiert oder zumindest gesehen worden war. Die weißen Flecken auf dem Globus nahmen ab, und in nicht allzu ferner Zukunft würden sie verschwunden sein, geschmolzen wie Eis in der Sonne einer Zukunft, von der Indiana nicht sicher war, ob sie wirklich besser sein würde als die Gegenwart, denn mit ihnen würden vielleicht auch die letzten Geheimnisse dieser Welt verschwin den.

Er spürte erst nach einer Weile, daß er nicht mehr allein war.

Ganty stand neben ihm, und der Ausdruck auf seinem Gesicht bewies, daß sich seine Gedanken nicht so sehr von Indianas Empfindungen unterschieden. Plötzlich trat er einen Schritt nach vorn und stampfte das Blech zornig mit dem Absatz in den Sand. Es verschwand nicht völlig. Eine kleine, scharfe Kante war noch immer zu sehen, glitzernd wie eine Messer klinge, die nur hier war, um sie zu verspotten.

Indiana schwieg, und nach einer weiteren Sekunde wandte auch er sich ab. Er ahnte, was in dem alten Mann vorging, aber es gab nichts, was er hätte sagen können. Keiner von ihnen konnte die Zeit anhalten; oder gar zurückdrehen.

Aus einem plötzlichen Gefühl von Pietät heraus wandte sich Indiana ganz um und ging wieder ein Stück den Strand hinunter. Er hatte das Gefühl, daß es besser war, Ganty jetzt ein paar Minuten allein zu lassen.

Es war spürbar kühler geworden, seit sie an Land gegangen waren. Aus dem Dunst war mittlerweile richtiger Nebel geworden, der grau und schwer wie eine vom Himmel gefalle ne Wolke auf dem Wasser lag und alles mit Feuchtigkeit tränkte.

Und in diesem Nebel … war etwas.

Indiana fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen und versuchte, genau hinzusehen. Er konnte jedoch nichts erken nen. Es war mehr ein Ahnen als ein Sehen gewesen, vielleicht ein Geräusch dicht unterhalb der Grenze des Hörbaren, ein Huschen und Wogen außerhalb des Sichtfeldes. Er sah und hörte nichts, aber er spürte, daß dort draußen irgend etwas war, das — Indiana schloß die Augen, ballte die Hände so heftig zu Fäusten, daß es weh tat, und drehte sich mit einem Ruck um. Dieser Platz war geheimnisvoll und unheimlich genug, auch ohne daß er sich bemühte, Gespenster zu sehen.

Als Ganty wieder zu ihm zurückkehrte, hatte er sich beruhigt. Er sah beinahe verlegen aus. Indiana lächelte ihm verstehend zu, und Ganty erwiderte sein Lächeln nach einem kurzen Augenblick, und damit war das Thema erledigt und wurde nie wieder zwischen ihnen besprochen.

«Wo bleiben Ihre Freunde?«fragte Indiana.

Ganty antwortete nicht, aber plötzlich wurde das Gefühl, daß sie beobachtet wurden, fast so deutlich wie eine Berührung.

Indiana wandte sich zum Waldrand um.

Vor der schwarzen Wand des Dschungels waren die beiden Gestalten mehr zu erahnen, als daß Indiana sie wirklich sehen konnte. Sie mußten völlig lautlos aus dem Busch getreten sein, und er fragte sich, wie lange sie wohl schon dastanden und sie beobachteten.

Ganty ging den beiden Männern entgegen und begann in der gleichen, unverständlichen Sprache mit ihnen zu reden, die Indiana zwei Abende zuvor gehört hatte. Indiana verstand ihn auch jetzt nicht, aber ihm entging nicht der Ausdruck auf Gantys Gesicht; und ebensowenig, daß die Gesten der beiden Eingeborenen immer größeren Unwillen verrieten.

«Stimmt etwas nicht?«fragte er.

Ganty schüttelte hastig den Kopf.»Es ist … alles in Ord nung«, sagte er in einem Ton, der nicht einmal ihn selbst überzeugen konnte.»Sie sind ein bißchen nervös, das ist alles. Kommen Sie, Jones. Es wird sich schon alles aufklären.«

Indiana war da nicht so sicher. Ganty war kein talentierter Lügner. Vielleicht war es ihm einfach nicht mehr möglich, in kleinen Dingen überzeugend zu lügen, nachdem sein ganzes Leben im Grunde nichts als eine große Lüge gewesen war. Als Indiana ihm und seinen beiden Begleitern tiefer in den Dschungel hineinfolgte, war er alles andere als beruhigt.

Auch diese beiden waren sehr groß und entsprechend breit schultrig, wahre Riesen, genau wie die Gestalt, die Indiana auf Pau-Pau gesehen hatte. Ganz schwach erinnerte er sich an das, was die Legende über die Ureinwohner der Osterinseln überlieferte: ein Volk von Riesen, das vor Urzeiten über das Meer gekommen war.

Obwohl Indiana so dicht vor den beiden Polynesien herging, daß er ihre Atemzüge in seinem Nacken spüren konnte, hörte er nur seine Schritte und die von Ganty, die beiden Langohren bewegten sich so lautlos wie Schatten.

«Wohin bringen sie uns?«fragte Indiana.

Ganty drehte sich im Gehen herum und warf ihm einen fast beschwörenden Blick zu.»Nicht so laut, Dr. Jones!«Er sprach in einem gehetzten, erschrockenen Flüsterton, der Indiana mehr als alles andere klarmachte, daß hier tatsächlich etwas nicht stimmte. Ganty schien sein eigener Tonfall selber aufzufallen, denn er versuchte zu lächeln.»Wir sind gleich am Ziel, Dr. Jones. Sie lieben es nicht, wenn man die Stille der Nacht stört.«

«Blödsinn«, sagte Indiana.»Hier stimmt etwas nicht, Ganty.

Was ist es?«

Ganty sah ihn erschrocken, aber auch ein wenig nachdenklich an, und vielleicht hätte er Indianas Frage tatsächlich beantwor tet, wenn er dazu noch gekommen wäre.

Neben ihnen raschelte etwas, und die beiden Langohren verwandelten sich von lautlosen in rasende Schatten, die sich so schnell bewegten, daß Indiana ihren Bewegungen kaum mehr folgen konnte. Aber sie waren trotzdem nicht schnell genug.

Etwas kam aus dem Busch geflogen und traf einen der beiden Riesen am Schädel, und im selben Augenblick stürzte ein dunkler Körper aus der Höhe der Baumwipfel auf den zweiten Riesen herab und riß ihn zu Boden. Gleichzeitig traf irgend etwas Indianas Rücken mit solcher Wucht, daß er haltlos vorwärts taumelte und gegen Ganty prallte, den er bei seinem Sturz mit sich riß. Sie fielen. Indiana begrub Ganty unter sich, rollte instinktiv zur Seite und erwachte endlich aus seiner Erstarrung.

Ein Schatten flog auf ihn zu, und jemand versuchte, sich mit weit ausgebreiteten Armen auf ihn zu werfen. Indiana zog blitzschnell die Knie an den Körper. Der Aufprall schien ihn ein Stück weit in den weichen Waldboden hineinzutreiben, und für einen Moment hatte er das Gefühl, seine Beine wären an mindestens einem Dutzend verschiedener Stellen gebrochen und müßten aussehen wie eine Ziehharmonika. Aber aus dem zornigen Knurren des Angreifers wurde rasch ein schmerzer fülltes, pfeifendes Keuchen, als seine Rippen gegen Indianas Knie stießen und mindestens eine davon dabei brach.

Indiana schleuderte ihn von sich, setzte vorsichtshalber noch einen Fausthieb hinterher, der den Burschen vollends ausschal tete, und sprang auf. Er versuchte sich zu orientieren, aber das gelang ihm nicht auf Anhieb. Neben ihm rang Ganty mit einem anderen Angreifer, und wo die beiden Langohren waren, erblickte er nur ein schwarzes, unentwirrbares Knäuel von Körpern und Gliedmaßen.

Für einen Moment war er unentschlossen. Er wußte nicht einmal, wer die Angreifer waren, geschweige denn, warum sie sie überfallen hatten oder wem der Überfall galt. Ganty und ihm oder den beiden Langohren.

Es war wirklich nur eine Sekunde, aber selbst das war zu lang.

Indiana hörte ein Rascheln hinter sich und versuchte sich umzudrehen, aber er war zu langsam. Ein furchtbarer Hieb traf seinen Hinterkopf, schleuderte ihn nach vorn und auf die Knie. Er schwankte. Alles wurde schwarz um ihn herum, und er spürte kaum noch, wie er nach vorn und aufs Gesicht fiel.

Indiana verlor nicht das Bewußtsein, aber er war für Sekun den gelähmt, blind und taub. Er fühlte nicht einmal mehr den Schmerz, als er zu Boden geschleudert wurde. Sein Gesicht schien durch eine gewaltige, schwarze Leere zu gleiten, und hinter dieser Leere wartete noch etwas anderes, etwas Endgül tiges. Mit aller Macht stemmte er sich gegen den Sog, der von diesem Abgrund ausging. Er würde nicht mehr erwachen, wenn er die unsichtbare Grenze in die Dunkelheit erst überschritten hatte.

Er konnte nicht sagen, wie lange es dauerte, bis sich seine Sinne allmählich wieder klärten (außerdem war das erste, was er fühlte, ein rasender Schmerz in seinem Schädel), aber der Kampf war vorüber. Er hörte Stimmen, die sich leise auf englisch unterhielten, ohne daß die Worte so weit in sein Bewußtsein drangen, daß er sie verstehen konnte, hob stöhnend die Hand an den Hinterkopf und fühlte warmes, klebriges Blut.

Jemand trat ihn in die Seite. Indiana krümmte sich, öffnete vor Schmerz die Augen und blickte in ein stoppelbärtiges Gesicht, das in einer Mischung aus Wut und Schmerz zu einer Grimasse verzerrt war.

Der Bursche holte zu einem weiteren Tritt aus, aber plötzlich trat eine zweite Gestalt neben ihn und hielt ihn zurück.»Laß das!«

«Der Kerl hat mir eine Rippe gebrochen!«heulte der Bärtige.

«Dafür hat ihm Bell eins übergezogen«, sagte der andere.»Ihr seid quitt, denke ich. Außerdem haben wir wahrhaftig keine Zeit für solche Spielereien. «Er warf dem Bärtigen noch einen warnenden Blick zu, dann drehte er sich herum und ließ sich neben Indiana in die Hocke sinken.

«Sind Sie okay?«fragte er.

Indiana nahm die Hand herunter, betrachtete mißmutig eine Sekunde lang das Blut, das an seinen Fingerspitzen klebte, und dann das Gesicht seines Gegenübers. Es war unrasiert und schmutzig wie das des Burschen, der ihn getreten hatte, aber ihm fehlte der brutale Zug, der die Physiognomie des anderen beherrschte. Er wirkte entschlossen und sehr mißtrauisch, und auf seiner rechten Wange leuchtete eine frische Narbe, aber im Grunde sah er nicht unsympathisch aus.»Ich glaube schon«, antwortete Indiana mühsam. Seine Zunge fühlte sich schwer an und weigerte sich, seinen Befehlen korrekt zu gehorchen. Er hörte sich an, als wäre er betrunken.»Wer sind Sie?«

«Mein Name ist Barlowe«, antwortete der Mann. Er deutete auf den Bärtigen, der Indiana immer noch voll von unverhoh lenem Haß anstarrte.»Das ist van Lees, und der Mann, der Sie niedergeschlagen hat, ist Bell. Wir sind die letzten. «Eine dritte Gestalt trat in Indianas Blickfeld: ein alter, weißhaariger Mann, der seine liebe Mühe zu haben schien, das Gewicht des gewaltigen Knüppels zu bewältigen, den er in seinen Händen hielt.

Trotzdem konnte er offenbar ausgezeichnet damit umgehen, wie der dröhnende Schmerz in Indianas Schädel bewies.

«Die letzten wovon?«fragte Indiana.

«Die letzten, die sie noch nicht erwischt haben«, antwortete Barlowe.

«Sie waren also in dem Flugzeug«, überlegte Indiana.»In der

Maschine, die vor acht Monaten hier verschwand?«

«Acht Monate?«Barlowe erschrak sichtlich.»Großer Gott, ich wußte nicht, daß es schon so lange her ist!«

«Es wird noch viel länger dauern, wenn wir weiter hier herumstehen und quatschen«, sagte van Lees.»Einer von den Wilden ist abgehauen! Was redest du überhaupt mit dem Kerl? Wahrscheinlich steckt er mit ihnen unter einer Decke, genau wie der Alte!«

Indiana bemerkte erst jetzt, daß Ganty sich ebenfalls aufge setzt hatte und die drei zerlumpten Gestalten der Reihe nach anstarrte. Seine Hand bewegte sich unauffällig zu seiner Jackentasche.

«Wenn du das hier suchst, dann spar dir die Mühe. «Van Lees hielt grinsend Gantys Pistole in die Höhe.»Damit kann ich im Moment mehr anfangen. Jetzt können deine langohrigen Freunde kommen.«

«Freu dich nicht zu früh«, sagte Barlowe.»Jonas hatte auch eine Pistole. Sie hat ihm nicht sehr viel genutzt.«

«Jonas?«Indiana wurde hellhörig.»Ist er hier? Lebt er?«

«Die Wilden haben ihn«, antwortete Barlowe.»Ich habe keine Ahnung, ob er noch am Leben ist. Sie haben ihn ver schleppt, genau wie Mrs. Sandstein, van Lees’ Bruder und den Holländer. — Und meine Frau«, fügte er nach einer deutlichen Pause sehr leise hinzu. Ein bitterer Ausdruck erschien auf seinem Gesicht. Aber nur für einen kleinen Moment, dann hatte er sich wieder in der Gewalt.

«Wieso fragen Sie nach Jonas? Kennen Sie ihn?«

«Nicht persönlich«, gestand Indiana.»Aber er ist der Grund, aus dem ich hier bin. Ich suche ihn.«

Ganty starrte ihn an. Er sagte kein Wort, aber irgend etwas war plötzlich in seinem Blick, was es Indiana unmöglich machte, diesem länger als ein paar Sekunden standzuhalten.

«Sie allein?«Barlowe lachte böse.»Sie hätten eine Armee mitbringen sollen, Mister. Und einen Panzerknacker. Und ich bin nicht einmal sicher, daß Ihnen das genutzt hätte. «Er stand auf und machte eine ungeduldige Geste.»Kommen Sie! Wir nehmen Ihr Boot.«

«Wozu?«fragte Indiana verständnislos.

«Um von hier zu verschwinden, wozu denn sonst? Diese Wilden sind elende Feiglinge, aber in zehn Minuten wimmelt es hier nur so von ihnen, darauf können Sie sich verlassen.«

Indiana stand umständlich auf.»Aber ich kann hier nicht weg!«sagte er.»Ich muß Jonas finden!«

«Sind Sie verrückt?«fragte Barlowe.»Sie hätten keine Chance! Verdammt, was glauben Sie eigentlich, wo wir hier sind? Meine eigene Frau befindet sich in der Gewalt dieser Wilden! Glauben Sie, ich würde sie im Stich lassen, solange auch nur die winzigste Chance bestünde, sie zu befreien? Wenn wir in zehn Minuten noch hier sind, sind wir alle tot, Mann!«

«Wieso redest du überhaupt mit ihm?«fragte van Lees.»Merkst du nicht, daß er nur Zeit schinden will? Er gehört zu ihnen!«

Indiana sparte sich die Mühe, zu widersprechen, und auch Barlowe sah van Lees nur eine Sekunde ausdruckslos an, dann zuckte er mit den Schultern.»Vielleicht«, sagte er.»Vielleicht auch nicht. Aber du hast recht. Verschwinden wir, solange es noch geht.«

Indiana und Ganty wurden grob vorwärtsgestoßen. Barlowe und die beiden anderen waren mit selbstgebastelten Speeren aus Bambus bewaffnet, deren Klingen aus scharfkantigem Stein bestanden. Indiana überschlug seine Chancen, den dreien mit einem beherzten Sprung ins Gebüsch zu entkommen, entschied sich dann aber dagegen. Wenn die drei Männer acht Monate lang in diesem Busch überlebt hatten, dann konnten sie vermutlich ausgezeichnet mit ihren improvisierten Waffen umgehen, und eine Klinge aus Feuerstein zwischen den Schulterblättern war ebenso tödlich wie eine aus Stahl. Und außerdem konnte er Ganty nicht im Stich lassen.

Sie erreichten das Boot nach wenigen Minuten und gingen an Bord. Während van Lees Ganty mit seiner eigenen Waffe zwang, den Motor anzuwerfen, blieben Barlowe, Indiana und Bell an Deck. Der weißhaarige Alte machte sich bereit, das Ruder zu übernehmen. Barlowe schien die Aufgabe zugefallen zu sein, Indiana und den Waldrand zugleich im Auge zu behalten.

Er war in beidem nicht besonders gut. Es wäre Indiana in diesem Moment wahrscheinlich ein leichtes gewesen, ihn zu überwältigen und auch Bell seine Waffe zu entreißen. Aber er tat es nicht. Er war viel zu verwirrt, um überhaupt etwas zu tun — und er mußte sich vor allem erst einmal Klarheit verschaffen, was hier eigentlich vorging. Ganty hatte kein Wort von irgendwelchen Überlebenden erwähnt; und schon gar nicht davon, daß die Langohren sie als Gefangene hielten.

Der Dieselmotor erwachte tuckernd zum Leben, und prak tisch im selben Augenblick setzte sich das Boot in Bewegung, im allerersten Moment nur zögernd, beinahe widerwillig, so als spüre es, daß es nicht von seinem rechtmäßigen Besitzer gesteuert wurde, und versuche sich zu widersetzen. Aber dann geriet es mehr und mehr in den Sog der Ebbe. Der Bug drehte sich und deutete nicht mehr auf den Strand, sondern in den Nebel hinein.

Und auf die Korallenriffe, die dort verborgen waren.

Indiana fuhr so erschrocken zusammen, daß Barlowe ihn mißtrauisch anblickte und seine Hände sich fester um den Bambusspeer schlossen.

«Die Riffe!«sagte Indiana.»Wir werden auf den Riffen auflaufen.«

Barlowe machte eine beruhigende Geste. Gleichzeitig ent spannte er sich wieder ein wenig, wenn auch nicht ganz.»Keine Sorge. Es gibt eine Passage, ein Stück weiter nördlich. «Er sah Indiana durchdringend an.»Der Alte hat nichts von den Riffen gesagt. Ich schätze, er hat sogar gehofft, daß wir auflaufen. Wieso warnen Sie uns?«

«Das Wasser ist entschieden zu kalt für ein Bad«, antwortete Indiana. Er verstand Barlowes Mißtrauen durchaus; aber das änderte nichts daran, daß es ihm allmählich auf die Nerven zu gehen begann.

Barlowe lachte.»Sie sind entweder ehrlich oder der raffinier teste Lügner, den ich je getroffen habe«, sagte er.

«Oder wasserscheu«, fügte Indiana hinzu.

Diesmal lachte Barlowe noch lauter; allerdings nur eine knappe Sekunde, denn dann traf ihn ein warnender Blick von Bell, und er verstummte beinahe schuldbewußt.»Tressler und Perkins haben es also geschafft«, sagte er plötzlich, und im selben Moment verschwand auch die letzte Spur eines Lä chelns von seinen Zügen.»Ich hätte es nicht geglaubt. Wieso sind Sie allein gekommen? Hat Tressler euch nicht erzählt, was hier los ist?«

«Er hat gar nichts mehr erzählt«, sagte Indiana leise.»Er ist tot. Sein Begleiter auch.«

«Abgestürzt?«fragte Barlowe leise.

«Irgendwie hat er es geschafft, die Maschine nach Pau-Pau zurückzubringen«, antwortete Indiana.»Sein Begleiter war schon vorher tot. Es tut mir leid. Waren sie Freunde von Ihnen?«

«Wenn es einen zu Freunden macht, ein halbes Jahr gemein sam auf der Flucht vor diesen Teufeln zu sein, ja«, antwortete Barlowe. Dann schüttelte er den Kopf.»Nein, wir waren keine Freunde. Ich bin erstaunt, daß sie es überhaupt so weit ge schafft haben. Wir haben alle gedacht, es sei aus, als es sie erwischt hat.«

«Als was sie erwischt hat?«fragte Indiana.

Barlowe setzte zu einer Antwort an, aber im selben Moment erschienen Ganty und van Lees wieder an Deck, und Barlowe wandte sich den beiden zu. Er begann halblaut und schnell mit van Lees zu reden.

Indiana blickte wieder in den Nebel hinaus. Der Himmel über ihnen begann sich ganz allmählich aufzuhellen, aber der Nebel wurde immer dichter; Indiana schätzte die Sicht auf kaum zehn Meter. Aber Bell fuhr sehr langsam, und die Art, wie er das Boot lenkte, verriet, daß er sich hier auskannte. Schließlich hatten sie acht Monate Zeit gehabt, sich jede Einzelheit der Küste einzuprägen.

«Ich habe Ihnen vertraut, Dr. Jones«, sagte Ganty leise. Indiana drehte sich zu ihm um, aber Ganty sah ihn nicht an, sondern blickte weiter starr in den Nebel hinaus. Aber Indiana war sicher, daß er in den gleitenden grauen Wogen etwas ganz anderes sah als sie alle.»Aber Sie haben mich belogen. Sie sind auch nicht besser als die anderen. Ich dachte, Sie wären es, aber … Sie sind es nicht. Ihr seid alle gleich.«

«Dr. Ganty, ich — «

«Sparen Sie sich Ihre Lügen, Jones«, sagte Ganty bitter.»Ich will sie nicht hören.«

Indiana sprach tatsächlich nicht weiter. Es war nicht der passende Zeitpunkt, Ganty irgend etwas zu erklären; und vielleicht hatte der alte Mann von seinem Standpunkt aus sogar recht. Sie hatten fast einen ganzen Tag und eine Nacht mitein ander geredet, und Indiana hatte schon bald bemerkt, daß er den richtigen Moment verpaßt hatte, ihm zu erklären, warum er und Delano wirklich nach Pau-Pau gekommen waren.

Irgend etwas fuhr scharrend am Rumpf des Schiffes entlang.

Bell fluchte, drehte wie wild am Ruder, und die kleine Yacht vollführte einen spürbaren, plötzlichen Schwenk nach Back bord. Indiana griff hastig nach der Reling und hielt sich mit beiden Händen fest.

«Keine Sorge«, sagte Bell.»Wir sind durch. Ich habe mich ein bißchen verschätzt, aber es ist nichts passiert.«

«Durch?«Barlowe wirkte plötzlich noch angespannter als bisher.»Wir sind raus? Wir sind … auf offener See?«

Bell nickte.»Wir haben es geschafft«, bestätigte er.»Wenn ich in dieser Waschküche nicht aus Versehen in die falsche Richtung fahre, heißt das.«

«Ihr kommt hier nie raus«, sagte Ganty leise.»Ihr bringt euch um, ihr Narren.«

«Vielleicht«, antwortete Barlowe hart.»Aber wenn, dann fahren wir zusammen zur Hölle, Mister. «Seine Hand schloß sich so fest um den Schaft des Bambusspeeres, daß seine Knöchel knackten.»Ich hätte gute Lust, Ihnen so oder so die Kehle durchzuschneiden. Vielleicht tue ich es ja noch.«

Ganty sah ihn nur an, aber Indiana machte trotzdem einen Schritt und trat zwischen ihn und Barlowe, um den Blickkon takt zwischen den beiden zu unterbrechen. Für eine Sekunde schien es, als würde sich Barlowes Zorn nun auf ihn konzen trieren.

«He!«sagte van Lees plötzlich.»Hört auf!«Er hob warnend die Hand und lauschte eine Sekunde mit geschlossenen Augen.

«Da ist irgendwas!«

Als hätte es nur dieser Worte bedurft, hörte Indiana es plötz lich auch: ein noch leises, aber näher kommendes Plätschern, das er zwar im allerersten Moment nicht einordnen konnte, aber trotzdem zu kennen glaubte. Es war kein gutes Geräusch.

«Die Wilden!«schrie Barlowe plötzlich.»Das sind sie! Bell, gib Gas!«

Das Tuckern des Dieselmotors wurde geringfügig lauter, aber das Boot glitt weiter behäbig wie ein Spaziergänger durch die Wellen.»Es geht nicht!«schrie Bell.»Der alte Kahn gibt nicht mehr her!«In seiner Stimme lag Panik.»Verdammt, Barlowe, tu etwas!«

Das Plätschern kam näher, teilte und vervielfältigte sich, und plötzlich war der Nebel nicht mehr voller eingebildeter, sondern wirklicher Bewegung. Ein halbes Dutzend langge streckter, dunkler Schatten bewegte sich aus ebenso vielen Richtungen auf die Yacht zu, und irgend etwas fuhr mit einem boshaften Sirren kaum eine Handbreit an Indianas Gesicht vorbei und zerschmetterte die Scheibe des Ruderhauses.

Indiana versetzte Ganty einen Stoß, der ihn der Länge nach auf das Deck warf, wich in derselben Bewegung einem zweiten Pfeil aus und versuchte gleichzeitig, die Peitsche vom Gürtel zu lösen. Er hörte einen Schrei hinter sich. Glas klirrte. Laut prallte etwas gegen den Rumpf der Yacht, und plötzlich wuchsen zwei riesenhafte Gestalten am Heck des Schiffes in die Höhe.

Barlowe hob seinen Speer, aber van Lees war schneller. Die Pistole, die er Ganty abgenommen hatte, entlud sich mit einem peitschenden Knall, und einer der Schatten taumelte mit einer fast grotesken Bewegung zurück und verschwand im Nebel.

Indiana ließ seine Peitsche knallen, und auch der zweite Polynesier stürzte wieder über Bord. Barlowe sah ihn über rascht an, öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber in derselben Sekunde zischte ein weiterer Pfeil aus dem Nebel heran und durchbohrte seine Schulter. Mit einem gellenden Schrei stürzte er zu Boden.

Und das war erst der Anfang.

Indiana hatte schon manchen Kampf erlebt — aber noch nie eine Situation, die annähernd so aussichtslos war. Das sonder bare Geräusch, das er gehört hatte, wiederholte sich ein halbes Dutzend Male, als fünf oder sechs der kleinen Schilfboote, mit denen die Polynesier gekommen waren, gleichzeitig gegen die Yacht stießen, und plötzlich wimmelte das Deck von hünenhaf ten, finsteren Gestalten.

Van Lees schoß einen weiteren Polynesier nieder, ehe er unter einem Keulenhieb zu Boden ging, und auch Indiana wehrte sich mit der Kraft der Verzweiflung. Er stieß einen der Angreifer über Bord, fegte mit einem weit ausholenden Peitschenhieb gleich drei Langohren gleichzeitig von den Füßen und wäre um ein Haar selbst gestürzt, als ein vierter Polynesier nach der Peitsche griff und sie ihm mit einem harten Ruck aus den Händen riß.

Indiana taumelte gegen die Wand des Ruderhauses, sah eine Bewegung aus den Augenwinkeln und warf sich instinktiv zur Seite. Eine steinerne Axt zerschmetterte das Holz neben seinem Kopf. Indiana riß die Arme hoch, schlug dem Polyne-sier die Waffe aus der Hand und krümmte sich im selben Moment vor Schmerz, als ihm ein furchtbarer Fausthieb die Luft aus den Lungen trieb. Vor seinen Augen explodierten bunte Sterne. Er rang verzweifelt nach Luft, aber er bekam keine, denn die Hände des Eingeborenen hatten sich wie Stahlklammern um seinen Hals gelegt und drückten mit unbarmherziger Kraft zu.

Indiana bäumte sich auf, zerrte mit aller Gewalt an den Handgelenken des Burschen und rammte ihm das Knie zwischen die Oberschenkel. Der Polynesier keuchte, aber sein Griff lockerte sich nicht.

Indianas Lungen schrien nach Luft. Er wollte ein zweites Mal zutreten, aber er hatte nicht mehr die Kraft dazu. Das Gesicht des Angreifers begann vor seinen Augen zu verschwimmen.

Ein Schuß krachte. Der tödliche Würgegriff um seinen Hals lockerte sich, und das Gesicht vor ihm war plötzlich kein Gesicht mehr, sondern rot und zerstört, und dann kippte der Polynesier stocksteif und lautlos nach hinten.

Ein zweiter Schuß fiel. Indiana hörte, wie die Kugel irgendwo ganz in seiner Nähe splitternd ins Holz fuhr, und noch während er auf die Knie sank und würgend und qualvoll nach Atem rang, krachte dicht hintereinander eine ganze Salve peitschen der Gewehrschüsse.

Ein grelles Licht blendete Indiana. Er hob die Hand vor das Gesicht, blinzelte in die gleißende Helligkeit des Scheinwerfer strahles, der wie ein Messer durch den Nebel und in seine Netzhäute schnitt, und erkannte einen riesigen, dunklen Schatten, der dahinter im Nebel heranwuchs. Orangerotes Mündungsfeuer blitzte auf, und zwei, drei weitere Polynesier stürzten getroffen zu Boden oder über Bord.

Der Kampf war so schnell vorbei, wie er begonnen hatte, und es war kein wirklicher Kampf, es war ein Gemetzel. Wer immer die Angreifer waren, sie schossen mit unglaublicher Präzision, und sie kannten keine Gnade. Kaum einer der Polynesier, die die Yacht geentert hatten, entging ihrem Feuer. Und die wenigen, die es schafften, sich mit einem beherzten Sprung über die Reling zu retten, starben im Wasser.

Indiana registrierte mit einer Mischung aus Entsetzen und Unglauben, wie sich das dumpfe Hämmern eines Maschinen gewehres in das Peitschen der Schüsse mischte. Zwei, drei der verzweifelt um ihr Leben schwimmenden Polynesier versanken in einem Strudel aus kochendem Schaum und Blut unter Wasser, dann erreichte die MG-Salve eines der Schilfboote und zerfetzte es mitsamt den beiden Eingeborenen, die sich darauf gerettet hatten.

Nur einem einzigen der kleinen Schiffe gelang es davonzu kommen. Es entfernte sich im rechten Winkel von der Yacht und begann im Nebel zu verschwinden, und so absurd es vielleicht war, Indiana hoffte nichts mehr, als daß es ihm gelingen würde.

Das Boot verschwand im Nebel. Über dem Schatten auf der anderen Seite der Yacht blitzte es grell auf, ein dumpfer Knall wehte über das Wasser, und eine halbe Sekunde später glühten die grauen Schwaden im Widerschein einer gewaltigen Explosion auf. Indiana hörte nicht einmal einen Schrei.

Die Stille, die auf das Krachen der Explosion und das nerven zerfetzende Rattern der MG-Salve folgte, war fast betäubend.

Indiana stand schwankend auf. Aus dem Schatten war mitt lerweile ein Schiff geworden, das langsam längsseits ging, aber er sah nicht einmal hin. Sein Blick glitt über das Deck, und alles, was er empfand, war Entsetzen. Nicht einmal Erleichte rung, noch am Leben zu sein. Seine Hände und seine Jacke waren naß und klebrig vom Blut des Polynesiers, der ihn hatte erwürgen wollen, und er zählte acht, zehn … ein Dutzend Tote, die nicht mitgerechnet, die im Wasser gestorben waren.

Jemand sprang polternd vom Deck des Schiffes auf die Yacht hinunter und kam auf ihn zu. Indiana drehte sich langsam um.

Er war nicht einmal sehr überrascht, als er Delano erkannte.

Der Commander trug ein Gewehr im Arm.

«War das nötig?«fragte er bitter.»Dieses … Gemetzel?«

«Sie haben eine seltsame Art, sich zu bedanken, Dr. Jones«, antwortete Delano.

«Bedanken? Wofür?«

«Zum Beispiel dafür, daß wir Ihnen gerade das Leben gerettet haben«, sagte Delano.»Und Ihren Freunden auch.«

«Dafür hätten ein paar Schüsse in die Luft vermutlich auch genügt«, sagte Indiana aufgebracht.

«Möglich«, antwortete Delano ruhig.»Allerdings wären Sie in diesem Fall jetzt vermutlich tot.«

Indiana setzte zu einer zornigen Antwort an, doch im selben Moment hörte er ein Stöhnen, und eine der Gestalten, die das Deck bedeckten, regte sich. Delano hob sein Gewehr, aber Indiana drückte die Waffe zur Seite und kniete neben dem Verletzten nieder.

Es war Barlowe. Er bot einen fürchterlichen Anblick, wenn das meiste Blut auf seinem Gesicht auch nicht sein eigenes war. Aber die Wunde in seiner Schulter war schwer. Er würde verbluten, wenn er nicht sofort ärztlich versorgt wurde.»Bell!«schrie Indiana.»Kommen Sie her!«

Bell antwortete nicht. Indiana sah auf und erkannte, daß er über dem Ruder zusammengesunken war. Eine Gewehrkugel hatte ihn genau zwischen die Schulterblätter getroffen.

Delano beugte sich neugierig vor, sah eine Sekunde auf Barlowe hinab und bildete dann mit den Händen einen Trichter vor dem Mund.»Sanitäter!«rief er.»Hierher! Wir haben einen Verwundeten.«

Eigentlich hätte Indiana es sofort begreifen müssen, aber es bedurfte erst dieses Ausrufes, ehe er sich die Wahrheit eingestand. Ungläubig starrte er zu Delano hoch.

Delano lächelte. Aber es war ein Lächeln, das Indiana eben sowenig gefiel, wie es zu seiner schwarzen Uniform mit den beiden silbernen Totenköpfen und den SS-Runen auf den Schultern paßte.

Wie sich herausstellte, waren Indiana und Ganty die einzigen, die ohne nennenswerte Verletzungen davongekommen waren. Bell war tot, getroffen von einer verirrten Kugel, die sein Rückgrat zertrümmert hatte. Van Lees hatte eine klaffende Platzwunde an der Schläfe und mindestens eine schwere Gehirnerschütterung, wenn nichts Schlimmeres, und Barlowes durchbohrte Schulter blutete so heftig, daß der Sanitäter nicht versprechen konnte, daß sie ihn durchbringen würden.

Der Nebel begann sich allmählich aufzulösen, während sie an Bord des deutschen Schiffes gingen. Was Indiana im ersten Moment für ein gewaltiges Kriegsschiff gehalten hatte, war eher eine Fregatte, kaum dreißig Meter lang, aber doch mit einer großkalibrigen Kanone vorne und einer Zwillings-Flak im Heck bewaffnet, deren Läufe drohend in den Nebel gereckt waren. Indiana zählte allein an Deck an die dreißig Soldaten, alle in den schwarzen Uniformen der SS und die meisten mit Maschinenpistolen, einige aber auch mit Präzisionsgewehren oder schweren Waffen ausgerüstet.

«Was haben Sie vor?«fragte er, während er neben Delano auf das Ruderhaus der Fregatte zuging.»Einen Krieg anfangen?«

«Wenn es sein muß, ja«, antwortete Delano ruhig.»Aber ich glaube nicht, daß das nötig sein wird. Diese Wilden sind vielleicht ungebildet, aber nicht dumm. Ich schätze, daß eine kleine Machtdemonstration durchaus genügen wird, sie zur Vernunft zu bringen.«

«Oder ein kleines Gemetzel wie das gerade eben«, sagte Indiana bitter.

Delanos Verwirrung war nicht gespielt.»Ich verstehe Ihre Entrüstung nicht, Dr. Jones«, sagte er.»Wir hatten gar keine andere Wahl, um Sie und Ihre Freunde zu retten. Wäre es Ihnen lieber gewesen, wir hätten zugesehen, wie diese Wilden Sie abschlachten? Sie haben selber ja auch schon getötet, Dr. Jones.

Mehr als einen Menschen!«

«Nicht so!«antwortete Indiana.»Das war nicht nötig, Delano oder Müller oder Schmitz oder Meier oder wie immer Sie in Wirklichkeit heißen mögen!«

Delano lächelte und überging die unausgesprochene Frage, die sich in Indianas Worten verbarg. Sie hatten die Brücke erreicht. Delano öffnete eine Tür und forderte Indiana und Ganty mit einer spöttischen Geste auf, einzutreten. Über eine kurze, eiserne Treppe gelangten sie ins Ruderhaus der Fregatte. Die anwesenden Soldaten salutierten eher lässig als mit preußischem Eifer, und Delano erwiderte ihren Gruß mit einem angedeuteten Kopfnicken. Dann deutete er auf eine schmale, eiserne Sitzbank, die an der Wand festgeschraubt war.»Neh men Sie Platz, meine Herren«, sagte er.»Sie müssen erschöpft sein.«

Ganty gehorchte, aber Indiana rührte sich nicht. Delano zuckte nur mit den Schultern und wechselte ein paar Worte auf deutsch mit dem Mann am Ruder. Indiana verstand die Antwort nicht, die er bekam, aber sie schien Delano nicht besonders zufriedenzustellen, denn seine nächsten Worte klangen wesentlich schärfer.

«Wie haben Sie es geschafft, sich in Franklins Vertrauen einzuschleichen?«fragte Indiana, als Delano sich nach einer Weile wieder zu ihm umwandte.»Oder gehört er in Wirklich keit auch zu euch?«

«Ich bitte Sie, Dr. Jones!«Delano lächelte.»Sie erwarten doch nicht, daß ich Ihnen die Geheimnisse der deutschen Abwehr verrate, oder? Aber ich kann Sie beruhigen. General Franklin ist ein loyaler Amerikaner. Er hat nicht die mindeste Ahnung, wer ich bin.«

«Wissen Sie das überhaupt selber noch?«fragte Indiana.

«Eine interessante Frage«, erwiderte Delano.»Leider haben wir im Moment keine Zeit, uns philosophischen Betrachtungen zu widmen. Sobald sich der Nebel hebt, werden wir versuchen, eine Passage durch die Riffe zu finden und an Land zu gehen. Ich nehme an, Sie sind gern dabei.«

«Habe ich denn eine Wahl?«

Delano seufzte.»Ich wollte, Sie wären vernünftiger, Dr. Jones«, sagte er.»So wie die Dinge nun einmal liegen, sind Sie zwar mein Gefangener, aber es wäre mir trotzdem lieber, wenn Sie sich als eine Art Gast betrachten würden. Mit gewissen Einschränkungen, versteht sich.«

«Danke«, murmelte Indiana.»Ich hatte schon mehrmals das Vergnügen, die deutsche Gastfreundschaft zu genießen.«

«Sie haben sie überlebt, oder?«

«Ja. Trotz allem, was Ihre Landsleute dagegen unternommen haben.«

Delano — oder wie immer er heißen mochte — lachte herzhaft, führte das Gespräch aber nicht weiter, sondern gab einem der Soldaten einen Wink, er solle auf Indiana und Ganty aufpassen, und trat wieder neben den Mann am Ruder.

Indiana setzte sich nun doch. Ganty rutschte demonstrativ so weit von ihm fort, wie es der Platz auf der schmalen Bank zuließ, und als Indiana versuchte, ihn anzusprechen, starrte er mit steinernem Gesicht an ihm vorbei ins Leere.

Er konnte Ganty verstehen. Und er machte sich schwere Vorwürfe, daß er sich so leicht hatte übertölpeln lassen. Ihm war schon auf der Fahrt hierher klar geworden, daß sie auf dieser Insel vielleicht alles mögliche finden würden, nur eines ganz bestimmt nicht: ein deutsches Geheimlabor, in dem die Nazis an einer Wunderwaffe bastelten. Wie hatte er nur so naiv sein können, sich wirklich einzubilden, daß niemand sie verfolgte.

Ganty hatte ihm doch sogar gesagt, daß Delano ein doppeltes Spiel spielte!

«Es tut mir leid, Dr. Ganty«, sagte er leise.»Das … wollte ich nicht.«

Zu seiner Überraschung sah Ganty ihn plötzlich doch an und antwortete:»Es muß Ihnen nicht leid tun, Dr. Jones. Es war genauso mein Fehler wie Ihrer. Keiner von diesen Narren wird es überleben. Sobald sich der Nebel lichtet, werden wir alle sterben.«

Indiana sah ihn gleichermaßen fragend wie erschrocken an, aber Ganty blickte weg und versank wieder in dumpfes Brüten, und Indiana wußte, daß er vorerst nicht mehr von ihm erfahren würde.

Gantys Worte erfüllten ihn mit einem Gefühl banger Vorah nung. Das war nicht nur das verzweifelte Aufbegehren eines alten Mannes. Plötzlich erinnerte er sich, daß auch Bell davon gesprochen hatte, daß sie die Insel verlassen müßten, ehe sich der Nebel verzog. Vielleicht hatte er damit gar nicht die Polynesier gemeint, die sie auf ihren Schilfbooten verfolg ten …

Unruhig stand er auf und trat neben Delano. Der SS-Offizier sah ihn flüchtig an, schien aber nichts dagegen einzuwenden zu haben, und so sah sich Indiana zum ersten Mal aufmerksam auf der Brücke um.

Er war noch nicht oft an Bord eines Kriegsschiffes gewesen, schon gar nicht eines deutschen Kriegsschiffes, aber irgendwie kam ihm dieses Boot hier ungewöhnlich vor. Es war sehr alt, das erkannte er auf den ersten Blick, und das Pult vor Delano bestand aus einem Sammelsurium zum Teil uralter, anderer seits aber auch wieder supermoderner Geräte und Anzeigen, die zum Teil in englisch, zu einem anderen in deutsch beschrif tet waren. Es kam Indiana einigermaßen verwunderlich vor, daß sich Delano auf einem uralten und ganz offensichtlich in aller Hast wiederhergerichteten Schiff auf eine so wichtige Mission begeben hatte.

Delano bemerkte seine forschenden, verwunderten Blicke, aber er sagte nichts dazu, sondern lächelte nur geheimnisvoll und fuhr fort, dem Mann am Ruder und den anderen Offizieren Anweisungen zu erteilen.

Draußen glühte plötzlich ein grelles Licht auf, und als Indiana den Blick hob, sah er, daß Gantys Yacht steuerlos brennend auf das Meer hinaustrieb. Delanos Männer mußten sie angezündet haben.

Der Nebel lichtete sich nur ganz allmählich. Der Himmel hellte sich mehr und mehr auf, und aus den unheimlichen grauen Wogen wurde ein beinahe noch unheimlicheres Weiß.

Die Sicht betrug aber trotzdem kaum zwanzig Meter. Um so überraschter war Indiana, als sich das Schiff plötzlich in Bewegung setzte.

«Keine Sorge«, sagte Delano. Indianas leichtes Zusammen zucken war ihm nicht entgangen.»Ich habe ein Boot vorausge schickt, daß die Fahrrinne auslotet.«

«Ich mache mir keine Sorgen«, antwortete Indiana.»Jeden falls nicht um die Riffe.«

In Delanos Augen glitzerte es amüsiert.»Sie fürchten sich doch nicht etwa vor diesen Wilden, Dr. Jones?«

«Ich fürchte mich vor etwas ganz anderem, Delano«, sagte Indiana leise.»Sie haben die Fotos doch gesehen, oder? Vor mir und länger als ich, nehme ich an. «Plötzlich wurde er doch noch zornig.»Verdammt, Delano, seid ihr Deutschen tatsäch lich so borniert, daß ihr euch für unbesiegbar haltet, oder sind nur Sie einfach dumm?«Er deutete erregt in den Nebel hinaus.»Kein Mensch weiß, was uns auf dieser Insel erwartet, und Sie — «

«Wir sind auf alle Eventualitäten vorbereitet, Dr. Jones«, unterbrach ihn Delano.

«Ja. Das haben Tressler und sein Copilot bestimmt auch gedacht.«

«Das hier ist ein Kriegsschiff, Dr. Jones, kein kleines Passa gierflugzeug aus Wellblech. «Delanos Stimme klang ein wenig schärfer, aber Indiana war nicht sicher, ob der vorherrschende Ton darin wirklich Überzeugung war.

«Mir ist aufgefallen, wie Sie sich umgesehen haben, Dr. Jones«, fuhr er fort.»Sie haben recht — dieses Schiff ist etwas ganz Besonderes.«

«Mir kommt es eigentlich nur besonders alt vor«, sagte Indiana.

«Das ist es auch«, bestätigte Delano.»Es stammt noch aus dem Ersten Weltkrieg, und ich glaube, es war selbst da schon nicht mehr ganz taufrisch. Plump, kaum zu manövrieren und nicht besonders schnell — aber es hat einen gewaltigen Vorteil.

Das Ding ist gepanzert wie ein Rhinozeros. «Er schlug de monstrativ mit den Fingerknöcheln gegen die eiserne Wand unter dem Fenster. Nicht der mindeste Laut war zu hören.»Acht Zentimeter dicker Stahl, Dr. Jones. So etwas wird heute gar nicht mehr gebaut. Es wäre wahrscheinlich auch sinnlos. Aber im Moment bin ich sehr froh, daß wir dieses uralte Schiff haben. Glauben Sie mir, wir sind hier drinnen sicher wie in Abrahams Schoß.«

Indiana sagte nichts dazu, aber er drehte sich zu Ganty um und fing einen Blick des alten Mannes auf, der ihm einen eisigen Schauer über den Rücken laufen ließ. Schweigend wandte er sich wieder um und sah aus dem Fenster.

Die Fregatte bewegte sich nur im Schrittempo. Der Motor brachte gerade genug Leistung, um den Sog der Ebbströmung auszugleichen und das Schiff praktisch zentimeterweise von der Stelle zu bewegen. Nach einer Weile sah er einen Schatten weit vor dem Schiff, und er hörte Stimmen, die sonderbar dumpf und verzerrt durch den Nebel über das Wasser hallten.

Die Lotsen, von denen Delano gesprochen hatte.

Indiana konnte sich eines Schauders nicht erwehren. Das alles wirkte so unheimlich, fast wie in einem Alptraum.

In diesem Punkt irrte sich Indiana Jones. Der Alptraum hatte noch nicht einmal angefangen. Aber er begann. Jetzt.

Sie brauchten zwanzig Minuten, um die Lücke in der Korallen barriere zu passieren, und es gab ein paar Augenblicke, in denen nicht nur Indiana daran zweifelte, daß sie es schaffen würden.

Mehr als einmal prallte der Rumpf des Schiffes knirschend gegen die Korallenriffe. Ein weniger stabil gebautes Boot hätte es vermutlich auch nicht geschafft, aber das uralte Panzerschiff brach sich schließlich seinen Weg durch die Barriere mit brutaler Gewalt.

Als sie in die Lagune einliefen, begann sich der Nebel zu lichten. Es war geradezu unheimlich, dachte Indiana, wie schnell sich die grauweißen Schwaden jetzt auflösten, nachdem sie sich vorher so beharrlich geweigert hatten, den wärmenden Strahlen der Sonne zu weichen. Als hätten sie mit den Riffen auch gleichsam den letzten Verteidigungswall der Insel überrannt, und als hätte der Nebel beschlossen, den Widerstand aufzugeben.

Er tauschte einen verwirrten Blick mit Ganty. Ganty lächelte, aber es war kein gutes Lächeln.

Das Schiff wurde langsamer und kam vollends zur Ruhe, und der Nebel zog sich weiter zurück. Wie in einem Film, der rückwärts abgespult wurde, wogten die grauweißen Schwaden vor ihnen über das Wasser, krochen den Strand hinauf und in den Dschungel hinein. Indiana mußte plötzlich wieder an die unheimliche Schlechtwetterfront denken, die ihnen den ganzen Weg von Pau-Pau bis hierher gefolgt war.

«Das gefällt mir nicht«, murmelte er.»Wir sollten hier ver schwinden, Delano. Irgend etwas stimmt hier nicht! Spüren Sie das denn nicht?«

«Ich spüre nur, daß wir ganz kurz davor sind, etwas Gewalti ges zu entdecken, Dr. Jones«, antwortete Delano.»Reizt Sie der Gedanke denn gar nicht? Vielleicht werden wir etwas sehen, was vor uns noch kein anderer Mensch zu Gesicht bekommen hat! Sie enttäuschen mich, Dr. Jones.«

«Tressler und Perkins haben es gesehen«, erinnerte ihn Indiana.

Delano preßte die Lippen aufeinander und überlegte ein paar Sekunden. Dann nickte er ruckartig.»Sie haben vermutlich recht, Dr. Jones. Wir sollten gewisse Sicherheitsvorkehrungen treffen. «Er löste das Sprechrohr aus seiner Halterung und gab eine Anweisung auf deutsch in den Maschinenraum hinunter, dann drehte er sich mit einem Ruck zur Tür.»Kommen Sie!«

Indiana und Ganty folgten ihm auf das Deck hinaus. Trotz der frühen Stunde hatte die Sonne schon große Kraft. Es war fühlbar warm geworden, seit sie zur Brücke hinaufgegangen waren, aber der Nebel hatte alles mit Nässe getränkt, und auch in der Luft lag noch ein unangenehm klammer Hauch.

Delano begann mit gedämpfter Stimme rasch Befehle zu erteilen. Männer erschienen an Deck oder verschwanden, und sowohl das große Geschütz im Bug als auch die Zwillingsläufe der Flak richteten sich lautlos und drohend auf den Waldrand.

«Narren«, murmelte Ganty.»Verdammte Narren! Es wird ihnen nichts nutzen. Gar nichts!«

Er hatte sehr leise gesprochen. Trotzdem hatte Delano die Worte verstanden, denn er drehte sich zu ihm um und sah ihn sekundenlang sehr ernst an. Dann gab er ein weiteres Kom mando.

Eine Anzahl kleiner Schlauchboote wurde zu Wasser gelas sen, und ein ganzer Zug Soldaten erschien an Deck des Schiffes.

Sie waren bis an die Zähne bewaffnet und trugen sonderbar plump anmutende Schutzanzüge, in denen sie sich kaum bewegen konnten, dazu wuchtige Helme mit verspiegelten Visieren, die ihre Gesichter völlig bedeckten.

«Wer hat ihre Ausrüstung zusammengestellt?«fragte Indiana spöttisch.»Hugo Gernsback?«

Zu seiner Überraschung schien Delano die Anspielung zu verstehen, denn er lachte laut und herzlich. Der Laut hallte unheimlich über das Wasser, und Indiana sah, daß einige der Männer unter ihren Masken erschrocken zusammenfuhren. Die Nervosität der Männer war nicht zu übersehen. Offensichtlich hatte Delano seine Soldaten zumindest informiert, was sie erwartete, statt sie blind in ihr Verderben rennen zu lassen. Aber das machte ihn Indiana auch nicht sehr viel sympathi scher.

Die Männer kletterten in die Schlauchboote hinab. Nebenein ander, in einer weit auseinandergezogenen Kette, näherten sie sich dem Strand, während an Deck der Fregatte MG- und Scharfschützen in Stellung gingen, um ihnen Feuerschutz zu geben. Es war eine beeindruckende Demonstration militäri scher Präzision, die sicher noch beeindruckender gewesen wäre, hätte sie nicht einem leeren Strand und einem ebenso leeren Waldrand gegolten.

Die Schlauchboote glitten auf den Strand, und die Männer sprangen ab. Fast lautlos bildeten sie eine präzise, wie mit dem Lineal gezogene Schützenkette, die ohne ein weiteres Kom mando vorzurücken begann.

Auf einmal schien der Waldrand lebendig zu werden. Dut zende von schlanken, buntbemalten Gestalten traten aus dem Unterholz hervor, keiner kleiner als zwei Meter und alle mit Speeren, Äxten oder Bögen bewaffnet. Ihr Erscheinen war vollkommen lautlos. Indiana hörte nicht einmal das Rascheln von Laub oder das Knacken eines Astes. Aber vielleicht wirkte es gerade deshalb so gespenstisch.

Delanos Soldaten waren stehengeblieben, und ihr Verhalten sagte Indiana, daß sie auch auf diese Situation vorbereitet waren: Sie bildeten drei Linien, von denen die erste ausgestreckt im Sand lag, während die zweite kniete und die dritte hoch aufgerichtet stehen blieb. Indiana kannte diese Taktik. Sie war so alt wie der Gebrauch von Schußwaffen, und zumindest gegen einen Gegner wie diese Polynesier mußte sie von verheerender Wirkung sein. Ein einziger Befehl Delanos, und dieser Strand würde ein unvorstellbares Blutbad erleben.

«Delano, nicht!«flüsterte er.»Ich flehe Sie an!«

Delanos Blick war wie gebannt auf die buntbemalten Gestal ten am Waldrand gerichtet.»Es liegt nicht bei mir, Dr. Jones«, sagte er leise.»Ich hoffe, diese Wilden verstehen, was ich ihnen zu sagen versuche. Wenn nicht …«

Indiana begriff erst jetzt, daß Delano seine Männer ganz bewußt in dieser uralten (und im Zeitalter automatischer Waffen im Grunde überflüssigen) Formation vorrücken ließ, damit die Langohren begriffen, wie aussichtslos ihr Widerstand war. Er schickte ein Stoßgebet zum Himmel, daß sie es verstanden.

Es wurde nicht erhört. Sekundenlang standen sich die beiden ungleichen Armeen gegenüber, und Indiana begann bereits zu hoffen, daß vielleicht doch noch alles gut ausgehen könnte, aber dann machte einer der Langohren einen plötzlichen Schritt nach vorn und riß seinen Speer in die Höhe.

Eine Maschinenpistole ratterte. Eine Kette winziger Explo sionen raste durch den Sand auf den Polynesier zu und schwenkte nur Zentimeter vor seinen Beinen zur Seite. Doch entweder verstand der Eingeborene die Bedeutung dieser allerletzten Warnung nicht, oder er ignorierte sie. Er rannte weiter, schleuderte seinen Speer und traf einen von Delanos Männern.

Der Soldat kippte mit einem Schrei nach hinten und blieb reglos im Sand liegen.

Indiana schloß in Erwartung des kommenden Gemetzels die Augen — aber er hatte Delano abermals unterschätzt. Ein einzelner Schuß krachte. Der Polynesier, der den Speer geschleudert hatte, griff sich an den Hals und brach lautlos zusammen, und eine Sekunde später hallte der Strand unter einer ganzen Salve von Gewehr- und MPi-Schüssen wider.

Aber keine der Kugeln traf.

Die Geschosse ließen den Sand vor den Füßen der Polynesier aufspritzen, zerfetzten Büsche und Blätter und rissen Äste von den Bäumen. Rings um die Polynesier schienen Sand und Dschungel wie von unsichtbaren Krallen zerfetzt zu werden, aber keines der Geschosse kratzte die buntbemalten Gestalten auch nur an.

«Das ist ihre letzte Chance, Dr. Jones«, sagte Delano.»Wenn sie das nicht verstehen, kann ich ihnen auch nicht mehr helfen.«

«Sie verdammter Idiot!«sagte Ganty. Seine Stimme zitterte.»Sie können es gar nicht begreifen, geht das nicht in Ihren Kopf? Sie kennen keine Feuerwaffen!«

Delano blickte ihn ungläubig und voller Schrecken an, aber seine Antwort ging in einem gellenden Geschrei aus Dutzenden von Kehlen unter, das plötzlich vom Strand herüberwehte.

Die Polynesier griffen an. Speere, Pfeile und Äxte wirbelten durch die Luft, und Delanos Soldaten eröffneten ihrerseits das Feuer, noch ehe die ersten Geschosse ihr Ziel trafen.

Es war wie eine schlimmere Wiederholung des Kampfes von vorhin. Die Polynesier hatten nicht die Spur eine Chance. Vier oder fünf von Delanos Männern wurden getroffen und stürzten tot oder verwundet zu Boden, aber schon ihre erste Salve fegte mehr als zwei Dutzend der Eingeborenen von den Füßen.

Die zweite beendete den Kampf.

Indiana stand reglos an der Reling und starrte zum Strand hinüber. Er war erschüttert wie niemals zuvor im Leben. Der Sandstreifen vor dem Dschungel war voller toter und sterben der Eingeborener, vielleicht drei Dutzend, aber es war nicht nur dieser Anblick allein, der etwas in ihm vor Entsetzen auf schreien ließ. Es war die Schnelligkeit, mit der es geschehen war. Delanos Männer hatten mit der Präzision von Scharf schützen gefeuert. Sie hatten genau zwei Salven abgegeben. Die ganze Schlacht hatte nicht einmal fünf Sekunden gedauert.

«Es tut mir leid, Dr. Jones«, sagte Delano leise neben ihm.»Ich wollte das nicht, bitte glauben Sie mir.«

«O ja«, antwortete Indiana bitter.»War das die kleine Macht demonstration, von der Sie gesprochen haben?«

«Verdammt noch mal, was hätte ich denn tun sollen?«schrie Delano plötzlich.»Zusehen, wie meine Männer abgeschlachtet werden?«

Indiana fühlte sich hilflos. Er fühlte Entsetzen und Zorn, einen tiefen, brodelnden Zorn über dieses schreckliche, sinnlose Gemetzel, aber vor allem war er verwirrt und fühlte sich hilflos wie selten zuvor im Leben. Vielleicht, weil er tief in sich spürte, daß Delano recht hatte. Er hatte gar keine andere Wahl gehabt. Seine Männer oder die Eingeborenen, so brutal und zugleich einfach war das gewesen.

«Sie hätten gar nicht erst hierherkommen sollen«, murmelte er.

«Damit haben Sie vermutlich sogar recht«, sagte Delano hart.»Aber wir sind nun einmal hier. Und wenn wir es nicht wären, dann wären es Ihre Leute, oder etwa nicht?«Er starrte Indiana sekundenlang an und wartete vergeblich auf eine Antwort. In seinen Augen lag ein Ausdruck, den Indiana im ersten Moment nicht verstand. Und als es ihm langsam klar wurde, war er zutiefst verwirrt. Vielleicht hatte er sich in Delano getäuscht. Vielleicht war nicht jeder, der die schwarze Uniform mit den Totenköpfen trug, ein gewissenloser Mörder.

«Sie werden dafür bezahlen«, sagte Ganty leise. Seine Stim me zitterte vor Haß.»Sie und Ihre ganze Mörderbande!

Einen höheren Preis, als Sie sich vorstellen können!«

Delano fuhr zornig herum. Seine Hände zuckten, als könne er sich nur noch mit letzter Kraft beherrschen, sich nicht auf den alten Mann zu stürzen und ihn zu packen.»Mörder?«fragte er.

«Sie nennen mich einen Mörder, Mr. Ganty? Und was ist mit Ihnen?«

Plötzlich packte er Ganty doch, schüttelte ihn wild und deutete mit der anderen Hand zum Strand.»Das da ist genauso Ihre Schuld wie meine! Sie hätten es verhindern können! Warum sind Sie nicht zu Ihren Freunden gegangen und haben ihnen gesagt, daß wir in Frieden kommen?«

«Mit Maschinengewehren und Kanonen?«

«Wir wären jetzt tot, wenn wir sie nicht hätten«, antwortete Delano. Er ließ Ganty los.

«Das sind Sie sowieso«, sagte Ganty böse.»Sehen Sie zum Wald.«

Delano und Indiana fuhren im selben Moment herum — und schrien gleichzeitig überrascht auf.

Der Dschungel schien lebendig geworden zu sein. Überall raschelte und wogte es, Blätter und Zweige bewegten sich, und etwas Großes, Dunkles begann durch das Unterholz zu bre chen, etwas, das –

«Jones!«brüllte Ganty. »Gehen Sie in Deckung!«

Die ersten Soldaten begannen zu feuern. Gewehr- und MPi-Schüsse schlugen in den Wald, und eine Sekunde später gesellte sich das dumpfe Hämmern eines Maschinengewehrs dazu.

Indiana sah nicht, was weiter geschah, denn Ganty hatte ihn gepackt und zerrte ihn mit solcher Kraft mit sich, daß er alle Mühe hatte, überhaupt auf den Beinen zu bleiben, während Ganty ihn hinter den Brückenaufbau zerrte.

«Nicht hinsehen!« schrie Ganty mit einer Stimme, die in Panik beinahe überschnappte. »Um Gottes willen, sehen Sie nicht hin!«

Natürlich drehte sich Indiana trotzdem herum und blickte über das Deck.

Er bedauerte für den Rest seines Lebens, es getan zu haben.

Die Welt wurde rot.

Ein unerträglich grelles, rotes Lodern tauchte den Strand, die See, den Himmel und das Schiff in gleißendes Licht und löschte alle anderen Farben aus, und gleichzeitig hörte Indiana einen Ton, wie er ihn noch nie zuvor im Leben vernommen hatte, ein helles, an- und abschwellendes Singen und Kreischen wie den Schrei eines zornigen Gottes, so laut und durchdrin gend, daß jeder einzelne Knochen in seinem Leib zu vibrieren begann.

Ganty taumelte weiter zurück, prallte gegen die Reling und zerrte Indiana mit sich. Rückwärts stürzten sie über Bord. Aber was Indiana in der halben Sekunde sah, die der Sturz dauerte, das sollte er nie wieder wirklich vergessen.

Das rote Leuchten wurde immer intensiver, bis es selbst durch die Eisenplatten des Schiffsrumpfes zu dringen schien, als hätte die ganze Welt Feuer gefangen. Indiana sah eine schemenhafte Gestalt über das Deck des Schiffes taumeln, schreiend und verzweifelt auf ihre brennenden Kleider und das hell lodernde Haar einschlagend.

Dann tauchte er in das Wasser ein, und das schreckliche Bild verschwand vor seinen Augen.

Das rote Licht nicht.

Auch das Wasser hatte sich rot gefärbt, und von seiner Ober fläche aus drang gleißendes, unerträglich helles Licht herab.

Und das Wasser war heiß.

Indianas Lungen begannen nach Luft zu schreien. Er versuch te, sich aus Gantys Griff zu lösen, um wieder zur Oberfläche hinaufzuschwimmen, aber Ganty ließ ihn nicht los, sondern zog ihn im Gegenteil immer tiefer und tiefer ins Wasser hinab. Aber das rote Licht folgte ihnen auch dorthin. Selbst hier unten, vier oder fünf Meter unter der Wasseroberfläche, war es plötzlich so heiß, daß Indiana vor Schmerz aufgeschrien hätte, hätte er es gekonnt.

Seine Atemnot wurde allmählich unerträglich. Hitze und Licht erreichten eine Intensität, die Indiana sich vor ein paar Augenblicken nicht einmal hätte vorstellen können, und er wußte, daß er verbrennen würde, wenn er jetzt auftauchte, aber er würde auch hier unten sterben, und der instinktive Wunsch aufzutauchen war einfach größer als seine Vernunft. Mit aller Kraft riß er sich los, paddelte mit verzweifelten Schwimmbe wegungen zur Oberfläche hinauf und sog die Lungen voller Sauerstoff.

Es war, als atmete er Flammen. Die Luft war so heiß, daß er vor Schmerz aufschrie. Von der Wasseroberfläche stieg Dampf auf, und nicht weit neben ihm trieb etwas Riesiges, Brennendes auf den Wellen, aber Hitze und Schmerz trieben ihm die Tränen in die Augen, so daß er nicht genau erkennen konnte, was es war.

Er ahnte die Richtung, in der der Strand lag, mehr, als daß er ihn sah. Mit zusammengebissenen Zähnen schwamm er los, wobei er versuchte, Kopf und Schultern so weit aus dem Wasser zu heben, wie es nur ging. Er würde gekocht werden wie ein Hummer, wenn er nicht schleunigst hier herauskam!

Es war nicht einmal weit zum Strand, vielleicht zwanzig, allerhöchstem dreißig Meter. Trotzdem kostete diese Strecke Indiana jedes bißchen Kraft, das er noch hatte. Zu Tode erschöpft und mehr bewußtlos als bei Sinnen kroch er den Strand hinauf und brach dort zusammen. Minuten vergingen, ehe er auch nur die Kraft fand, den Kopf zu heben und sich umzusehen.

Der Strand bot einen grauenerregenden Anblick. Dutzende von dunklen, verkohlten Körpern bedeckten den Sand. Einige von ihnen brannten, von anderen kräuselte sich schwarzer, fettiger Rauch in die unbewegte Luft. Und auch an Bord der Fregatte regte sich nichts mehr. Das Schiff war gekentert und halb auf die rechte Seite gekippt. Die Panzerplatten waren schwarz und verkohlt, und dicht unterhalb der Brücke glühte das Eisen in einem düsteren, drohenden Rot. Dampf hüllte das Schiff ein wie ein graues Leichentuch.

Indianas Blick glitt wieder den Strand hinauf. Auch die Leichen der Langohren, die Delanos Männer zum Opfer gefallen waren, waren bis zur Unkenntlichkeit verbrannt, und hier und da schimmerte der Sand, als wäre er einer unvorstell baren Hitze ausgesetzt gewesen und zu Glas geschmolzen. Der Waldrand selbst war unversehrt. Aber nicht unverändert.

Eine weitere Gruppe Langohren war aus dem Busch getreten, aber sie war es nicht, die Indianas Blick beinahe hypnotisch anzog.

Es war eine fast fünf Meter große Figur aus schwarzem Basalt, die zwischen den Bäumen erschienen war.

Sie stellte einen Menschen dar, aber die Proportionen stimm ten nicht. Der Kopf war gut dreimal so groß wie der Körper, Arme und Beine geradezu lächerlich klein und nur angedeutet.

Die Ohren waren zu lang und verschmolzen mit den Schul tern, und auf dem Kopf trug er einen noch einmal gut andert halb Meter großen Hut aus rotem Tuffstein. Aber das Erschreckendste an der riesigen steinernen Gestalt waren die Augen.

Anders als bei seinen größeren Brüdern von den Osterinseln waren sie nicht nur leere Höhlen. Sie waren rot. Und sie leuchteten.

Und dann, ganz langsam und von einem dumpfen, knirschen den Poltern begleitet, drehte sich der steinerne Gigant herum und starrte Indiana an. Das unheimliche rote Glühen in den Augen nahm zu.

Der Anblick war zuviel. Schwäche, Erschöpfung und Furcht forderten ihren Tribut.

Indiana verlor das Bewußtsein.

Etwas Kühles, Feuchtes strich über sein Gesicht, als er wider Erwarten das Bewußtsein zurückerlangte. Die Berührung tat sehr wohl, denn sein Gesicht brannte, als hätte ihm jemand die Haut abgezogen. Er fühlte sich benommen, und er spürte, daß viel Zeit verstrichen war. Seine Kleider waren getrocknet, und er lag auf einem Lager, das zugleich hart wie weich zu sein schien. Etwas stach in seinen Nacken: Stroh.

«Ich glaube, er ist wach«, sagte eine Stimme. Eigentlich war es eher ein Piepsen, eine Stimme, die gut zu einem blonden Dummchen aus einem Humphrey-Bogart-Film gepaßt hätte.

Das Gesicht übrigens auch, das Indiana über sich sah, als er die Augen aufschlug.

«Er wacht auf«, sagte Blondie, blinzelte und fügte hinzu:»Glaube ich.«

Schritte, dann verschwand das Gesicht aus seinem Blickfeld, und einen Augenblick später erschienen die Züge von Ganty über ihm. Jedenfalls vermutete Indiana, daß es einmal Gantys Gesicht gewesen war — bevor jemand versucht hatte, es zu kochen und ihm Augenbrauen, Wimpern und einen Gutteil des Haupthaares abgesengt hatte.

«Ganty!«sagte Indiana erschrocken.»Wie … wie sehen Sie denn aus?«

«Genau wie Sie, Dr. Jones«, antwortete Ganty.»Wir haben noch einmal Glück gehabt.«

«Glück?«Indiana setzte sich auf und hob vorsichtig die Hand ans Gesicht. Schon die geringste Berührung tat weh.

Ganty nickte.»Die meisten Ihrer Nazi-Freunde hat es schlimmer erwischt.«

«Sie sind nicht meine Freunde«, knurrte Indiana. Er schwang die Beine von der Liege und sah sich um. Sie befanden sich in einer kleinen, fensterlosen Kammer, deren Wände aus Stein quadern zusammengefügt worden waren, von denen jeder eine Tonne wiegen mußte. Außer Ganty und der Blondine hielt sich noch ein bärtiger Mann in abgerissener Kleidung in der Kammer auf, der Indiana schweigend, aber sehr aufmerksam musterte und eine unübersehbare Ähnlichkeit mit van Lees hatte.

Indiana nahm an, daß es sich um dessen Bruder handelte, von dem Barlowe gesprochen hatte.

«Ich weiß, Dr. Jones«, sagte Ganty.»Hätte ich irgend etwas anderes angenommen, dann wären Sie jetzt tot. «Er grinste, als Indiana sich herumdrehte und ihn zornig ansah.»Immerhin kann man sich jetzt mit gutem Gewissen mit Ihrem Vornamen vertun, Dr. Jones«, sagte er.»Sie sehen wirklich aus wie eine Rothaut.«

«Was ist passiert?«fragte Indiana.»Dieses rote Licht … was war das?«

Ganty grinste wieder, aber eigentlich war es kein richtiges Lächeln, sondern eher ein Zähnefletschen.»Die nordische Herrenrasse ist auf eine Macht gestoßen, die ihr ebenbürtig ist, das ist passiert«, sagte er.

«Ja. Und zwar in jeder Beziehung, nicht wahr?«gab Indiana zurück.

Gantys Lächeln erlosch. Er hatte genau verstanden, wie Indianas Worte gemeint waren, aber er enthielt sich jeden Kommentars, und auch Indiana führte den sinnlosen Disput nicht fort. Statt dessen machte er eine weit ausholende Geste und fragte:»Wo sind wir?«

«Bei den Vogelmenschen«, antwortete van Lees an Gantys Stelle. Mit einem abfälligen Blick in Gantys Richtung fügte er hinzu:»Seinen Freunden. Sie haben uns alle gefangengenom men, bis auf meinen Bruder, Bell und Nancys Mann. Den Holländer haben sie umgebracht.«

Indiana wandte sich wieder der jungen Frau zu. Er fühlte sich plötzlich befangen, obwohl er Barlowe kaum gekannt hatte.

«Es tut mir leid, Nancy«, sagte er.»Aber ich fürchte, Ihr Mann — «

«Er lebt«, fiel ihm Ganty ins Wort.»Und der Australier auch. Sie sind nebenan, bei den anderen.«

Indiana sah ihn zweifelnd an. Das Bild des verkohlten, ausge glühten Schiffswracks stand noch deutlich vor seinen Augen.

Die Vorstellung, daß irgend jemand in diesem Schiff das Inferno überlebt haben sollte, war schwer zu akzeptieren.

«Er sagt die Wahrheit, Dr. Jones«, piepste Nancy, der India nas zweifelnder Blick nicht entgangen war.»Ich habe bereits mit ihm gesprochen. Sie sind ein bißchen angekratzt, aber wohlauf.«

«Die Frage ist nur, wie lange das so bleibt«, fügte van Lees düster hinzu.»Wir haben bald wieder Vollmond.«

Ganty schwieg dazu, aber auf seinem Gesicht erschien ein neuer, finsterer Ausdruck, und auch Indiana hatte plötzlich ein sehr ungutes Gefühl.

«Wieso Vollmond?«fragte er.

Van Lees grinste, aber es war ein Lächeln, dem jegliche Spur von Humor fehlte.»Gantys Freunde sind ein lustiges Völk chen«, sagte er.»Sie feiern bei Vollmond immer ein Fest mit einem großen Essen als Höhepunkt. Das letzte Mal haben sie den Holländer eingeladen. Er war die Hauptmahlzeit. Wahr scheinlich werden sie uns der Reihe nach alle auffressen.«

«Ist das wahr?«fragte Indiana, an Ganty gewandt.

Ganty druckste einen Moment herum.»Sie … sie sind keine richtigen Kannibalen«, sagte er schließlich.»Sie töten nur zu zeremoniellen Anlässen.«

«Zum Beispiel, um einen großen Sieg zu feiern«, fügte van Lees hinzu.

Ganty wollte auffahren, aber Indiana brachte ihn mit einer energischen Geste zum Schweigen.»Diese Streiterei nutzt niemandem etwas«, sagte er.»Versuchen wir lieber herauszu finden, wo wir hier sind, und vor allem, wie wir hier wegkom men.«

Van Lees starrte ihn an, als zweifle er ernsthaft an seinem Verstand, und auch Nancy seufzte nur. Ganty zog eine Grimasse.

«Habe ich irgend etwas Falsches gesagt?«fragte Indiana.

Anstelle einer direkten Antwort wandte sich van Lees um und winkte.»Kommen Sie, Dr. Jones.«

Sie verließen die Kammer und traten auf einen schmalen Gang hinaus, dessen Decke und rechte Wand ebenfalls aus zyklopischen Felsquadern bestanden. Die andere Wand und der Boden bestanden aus Lava, und als Indiana sie berührte, fiel ihm auf, daß sie warm war. Nicht heiß, aber viel wärmer, als sie hätte sein dürfen.

Obwohl hier draußen keine Fackel brannte, war der Gang von rotem Licht erfüllt. Die Luft war stickig, und ein Geruch wie von brennendem Fels lag darin. Van Lees deutete nach rechts. In einer Entfernung von vielleicht zwanzig Schritten lag eine schmale, rechteckige Tür, die von flackerndem roten Licht erfüllt war. Indiana suchte vergeblich nach einer Wache oder irgendeinem anderen Anzeichen der Langohren; oder der Vogelmenschen, wie van Lees sie genannt hatte.

Als sie den Ausgang erreichten, begriff er auch, warum.

Die Tür führte ins Freie, aber nicht in die Freiheit.

Vor ihnen lagen drei breite, ausgetretene Steinstufen, und dahinter ging es mindestens zwanzig Meter senkrecht in die Tiefe. Als Indiana sich vorbeugte, schlug ihm ein Hauch kochendheißer Luft ins Gesicht. Unter ihm brodelte die hellrote Lava eines Vulkankraters. Das Gebäude, in dem sie sich befanden, war zur Hälfte in die Lava des Vulkans hineinge meißelt worden, zur anderen wie ein steinernes Schwalbennest an den steil abfallenden Hang angeklebt. Es war ein beeindruk-kender Anblick. Indiana wäre vermutlich noch viel beeindruck ter gewesen, hätte es einen Weg gegeben, von hier fortzukommen.

Aber es gab keinen. Die Treppe endete im Nichts, und die Wände, die in einem Winkel von gut fünfundvierzig Grad zum kochenden Herzen des Vulkans hinabführten, waren spiegel glatt. Eine Flucht war unmöglich.

Aber dieser Vulkan war eigentlich auch unmöglich. Indiana hatte die Silhouette der Insel noch deutlich vor Augen. Da war kein Berg gewesen, nicht einmal ein Hügel.

«Sie stehen da wie ein Mann, der sich dasselbe fragt wie ich, als ich zum ersten Mal hier war«, sagte eine Stimme hinter ihm.

Indiana drehte sich herum. Neben van Lees war eine zweite Gestalt erschienen, die Indiana abschätzend, aber nicht un freundlich ansah.

«Der Vulkankrater liegt unterhalb des Meeresspiegels«, fuhr der Fremde fort und streckte Indiana die Hand entgegen.»Mein Name ist Jonas. Und Sie müssen mein Beinahenamensvetter sein. Dr. Jones, nehme ich an.«

Indiana ergriff Jonas’ ausgestreckte Rechte und schüttelte sie.»Indiana«, sagte er.»Ich glaube, in Anbetracht der Umstände ist es leichter, wenn wir uns auf Indiana einigen. Indy, für meine Freunde.«

Jonas lachte.»Indy, gut. Ich nehme an, van Lees hat Ihnen schon alles gezeigt?«

«Nur diesen Krater und den Gang, aber — «

«Viel mehr gibt es hier auch nicht zu sehen«, seufzte Jonas.

«Und leider auch nicht zu erzählen. Sie haben uns einen nach dem anderen geschnappt, und seitdem sitzen wir hier. Das ist im Prinzip auch schon alles.«

«Das glaube ich nicht«, antwortete Indiana. Er warf einen verstohlenen Blick in van Lees Richtung, aber Jonas winkte ab.

«Diese Geheimniskrämerei ist nicht nötig, Indy«, sagte er.

«Delano hat uns alles erzählt. Wir wissen alle, warum Sie wirklich hier sind. Ich muß Sie enttäuschen. Ich habe die Pläne nicht mehr. Sie waren an Bord des Flugzeuges. Wenn Sie sie nicht gefunden haben, nehme ich an, daß sie vernichtet wurden.«

«Delano lebt?«fragte Indiana überrascht.

«Mehr oder weniger«, antwortete Jonas.»Kommen Sie — ich bringe Sie zu ihm.«

Sie kehrten ins Innere des Gebäudes zurück, gingen aber an der Tür der Kammer vorbei, in der Indiana aufgewacht war.

Indiana sah, daß sich der Gang noch ein gutes Stück an der Kraterwand entlangzog, wobei er ihrer Krümmung folgte, und daß es eine ganze Anzahl gleichartiger, kleiner Kammern zu geben schien.

Ganty und er waren nicht die einzigen, die das Inferno am Strand überstanden hatten. Indiana blickte in jede Kammer, an der sie vorüberkamen, und zählte nach und nach an die zwei Dutzend SS-Soldaten, die meisten in angesengten Uniformen und mit mehr oder weniger schweren Brandwunden.

In der letzten Kammer fanden sie Delano, Barlowe und die beiden Australier. Barlowe trug den verletzten Arm in der Schlinge und begrüßte Indiana mit einem Nicken, während van Lees ihn unter einem dicken Stirnverband hervor so feindselig anstarrte, als wäre alles, was ihnen zugestoßen war, ganz allein Indianas Schuld.

Delano saß vornübergebeugt auf einem niedrigen, strohge deckten Lager wie jenem, auf dem auch Indiana erwacht war.

Seine Uniform war verkohlt und hing in Fetzen, und seine Hände und Arme waren bis zu den Ellbogen hinauf bandagiert.

Seine linke Gesichtshälfte war übel verbrannt.

Das Schlimmste aber waren seine Augen. Plötzlich glaubte Indiana noch einmal Gantys Stimme zu hören, wie er ihn voller Panik anschrie, er solle nicht hinsehen. Jetzt wußte er auch, warum.

«Delano?«fragte Indiana zögernd.

Der SS-Offizier hob den Kopf. Sein Blick ging in die Rich tung, aus der er Indianas Stimme vernommen hatte, aber er blieb leer.

Es waren die Augen eines Blinden, in die Indiana sah.»Jones.

Sind … sind Sie das?«

Indiana nickte. Erst eine Sekunde danach wurde ihm klar, daß Delano die Bewegung gar nicht sehen konnte, und er sagte laut:»Ja.«

«Sie sind am Leben«, murmelte Delano.»Und unverletzt.«

«Beinahe, jedenfalls«, antwortete Indiana.»Ein paar Kratzer, das ist alles.«

«Gut«, murmelte Delano.»Das ist … gut. Sie müssen uns hier herausholen, Jones. Sie müssen verhindern, daß … daß jemand sie bekommt.«

«Sie?«

«Die Waffe. Dieses … dieses schreckliche Licht. Niemand … niemand darf sie bekommen, hören Sie? Sie nicht, und wir nicht. Zerstören Sie sie, Jones! Jemand muß sie zerstören!«

Er begann zu stammeln. Seine Schultern sackten wieder nach vorn, und aus seinen Worten wurden sinnlose Laute. Indiana mußte ihn nicht berühren, um zu wissen, daß er hohes Fieber hatte. Daß er in dieser Verfassung überhaupt die Kraft aufge bracht hatte, sich aufzusetzen und zu reden, grenzte an ein Wunder.

«Glauben Sie, daß er das ernst meint?«fragte Jonas.»Er phantasiert.«

«Ich wollte, alle Menschen auf der Welt würden so phantasie ren«, murmelte Indiana. Aber die Worte galten nur ihm selbst. Lauter fügte er hinzu:»Auf jeden Fall müssen wir hier heraus — bevor seine Leute anfangen, sich Gedanken zu machen, wo er abgeblieben ist, und nach ihm suchen.«

«Oder unsere?«

Indiana sah Jonas lange und sehr nachdenklich an. Es war absurd — aber für einen Moment war er nicht mehr sicher, wer hier eigentlich sein Feind war und wer nicht.

Jemand betrat die Kammer, und Indiana schrak aus seinen Gedanken hoch.

Es war Ganty. Er streifte Delano nur mit einem flüchtigen, fast verächtlichen Blick, dann wandte er sich an Indiana.»Sie wollen Sie sehen.«

«Ihre Freunde?«

Ganty schwieg eine Sekunde, und Jonas sagte spöttisch:»Sie bohren in einer offenen Wunde, Indy. Ich fürchte, sie sind nicht länger seine Freunde.«

«Ist das wahr?«

«Irgend etwas … hat sich verändert«, gestand Ganty wider willig.»Ich weiß auch nicht genau, was es ist. Ich spreche nur ein paar Worte ihrer Sprache. «Er machte plötzlich eine ungeduldige Handbewegung.»Kommen Sie. Sie wollen Sie sehen.

Und ihn — «, er deutete verächtlich auf Delano,»— auch.«

Sie mußten Delano stützen, als sie die Kammer verließen, und Indiana war nicht sicher, ob der SS-Offizier überhaupt noch mitbekam, was mit ihm geschah. Er hatte hohes Fieber, und Indiana war nicht wohl bei dem Gedanken, ihn nach draußen zu schaffen. Es konnte gut sein, daß sie ihn damit umbrachten.

Vier Langohren erwarteten sie vor dem Ausgang. Drei waren so gekleidet, wie Indiana die unheimlichen Krieger kannte — nämlich gar nicht, nur mit einem winzigen Lendenschurz und einem bunten Lederband um die Hüften —, aber der vierte trug einen prachtvollen Federmantel und dazu einen Kopfschmuck, der jeden Sioux-Häuptling vor Neid hätte erblassen lassen.

Plötzlich verstand Indiana, warum Jonas und die anderen die Eingeborenen Vogelmenschen genannt hatten. Der Polynesier sah wirklich aus wie ein großer, tödlich bunter Vogel.

Ganty wechselte ein paar Worte mit den Eingeborenen, und der Polynesier mit dem Federmantel machte eine herrische Geste. Indiana verstand die Worte nicht, aber der Ausdruck auf Gantys Gesicht wurde noch verbissener. Jonas’ Bemerkung schien der Wahrheit ziemlich nahe gekommen zu sein.

Über der im Nichts endenden Treppe hing jetzt ein großer Korb aus Bambus und geflochtenem Stroh. Die Konstruktion machte auf Indiana nicht den Eindruck, als ob sie das Gewicht von sieben Menschen tragen könnte, aber ihre Bewacher scheuchten sie, ohne zu zögern, hinein und folgten ihnen. Indiana spürte, wie der Korb unter ihrem Gewicht ächzte. Für eine Sekunde war er felsenfest davon überzeugt, daß das Seil einfach reißen würde und sie in die Tiefe stürzen müßten. Aber der Korb hielt. Knirschend und auf bedrohliche Weise hin und her schaukelnd entfernte er sich von der Treppe und begann gleichzeitig in die Höhe zu steigen. Indiana legte den Kopf in den Nacken und erkannte, daß er an einer Art Kran hing, der sie in einem weiten Bogen über das glühende Herz des Vulkans auf einen zweiten, viel größeren Tunneleingang zuschwenkte.

Eingang und Kran waren beide nicht die einzigen ihrer Art.

Dicht unterhalb des Kraterrandes ragten Dutzende unter schiedlich großer, bizarrer Gebilde aus Holz und Bast in die Luft, und es gab so viele Stolleneingänge und auf den Hang aufgesetzte, gemauerte Eingänge und Wände, daß das Innere der Kraterwände so löcherig sein mußte wie ein Schweizer Käse. Es war eine Stadt in einem Vulkan.

Die Hitze, die von dem brodelnden Magma unter ihnen ausging, war beinahe unerträglich. Indiana bekam kaum noch Luft, und Delano sackte vollends zwischen ihm und Ganty zusammen und begann zu stöhnen. Auf den Gesichtern der vier Polynesier erschien nicht einmal ein Schweißtröpfchen.

Der Korb erreichte auf den Zentimeter genau den Eingang, auf den sie gezielt hatten, und sie stiegen aus. Andere Eingebo rene kamen ihnen entgegen, viele davon in die prachtvollen Federumhänge gekleidet, und einige mit großen, roten Hüten, die wie zu lang geratene Zylinder aussahen und einigermaßen lächerlich wirkten.

Indiana war allerdings nicht zum Lachen zumute. Die Bedro hung, die von den schreiend bunt bemalten Gestalten ausging, war zu deutlich zu fühlen. Ihre Gesichter waren starr wie Masken, doch sie wirkten schon allein wegen ihrer Größe gefährlich. Keiner von ihnen war kleiner als zwei Meter, und die halbmeterhohen Hüte ließen sie noch riesenhafter erschei nen, als sie waren.

Indianas Mut sank. Es war weiß Gott nicht das erste Mal, daß er sich in einer scheinbar aussichtslosen Situation befand.

Bisher war er immer irgendwie davongekommen, aber viel leicht klappte das ja nicht jedesmal. Einmal war immer das erste Mal.

Dummerweise gehörte diese Situation zu denen, bei denen das erste zugleich auch das letzte Mal war …

Mehr, um sich von seinen düsteren Gedanken abzulenken, denn aus irgendeinem anderen Grund versuchte er, sich auf seine Umgebung zu konzentrieren.

Viel gab es allerdings nicht zu sehen. Die Vogelmenschen bildeten einen dichten Kordon rings um sie herum, und das Licht wurde immer schlechter, je tiefer sie in den Berg hinab stiegen.

Nur hier und da brannte noch eine Fackel, die einen düsteren, roten Schein verstrahlte, in dem Indiana den nächsten Meter, seine nächsten Schritte, mehr erriet als wirklich erkannte.

Trotzdem schienen ihre Begleiter keinerlei Schwierigkeiten zu haben, sich zurechtzufinden. So wenig, wie ihnen die mörderische Hitze draußen etwas ausmachte, so gut konnten sie sich offenbar auch bei einem Minimum an Licht orientie ren.

Indiana überlegte, wie lange wohl ein Volk in einer Umge bung wie dieser leben mußte, um sich derart perfekt anzupas sen. Und er fragte sich, was eine Umgebung wie diese einem Volk antun mochte. Es waren nicht nur die Hitze und die Dunkelheit. Es war diese Welt. Die schwarze, kantige Lava, das unaufhörliche, sanfte Zittern und Beben des Bodens unter seinen Füßen, der erstickende Hauch, der in der Luft lag. Jeder Quadratzentimeter der schwarzen Höhlenwelt, durch die sie schritten, war hart und abweisend und heiß und strahlte Gewalt aus wie einen alles durchdringenden Pesthauch. Wie mußte ein Volk werden, das Generation um Generation in dieser Welt lebte, Jahrhunderte, vielleicht Jahrtausende? Er wollte die Antwort auf diese Frage plötzlich gar nicht mehr wissen.

Der Stollen endete vor einem gewaltigen, zweiflügeligen Tor, das wie alles hier unten aus schwarzer Lava bestand und mit kunstvollen Ornamenten und Reliefarbeiten verziert war.

Das Licht war zu schlecht, um ihn Einzelheiten erkennen zu lassen, aber er bekam einen allgemeinen Eindruck, der zu dem paßte, was er auf dem Weg hierher erlebt hatte. Alles war düster, roh und voller in den Stein gemeißelter Gewalt.

Vielleicht, dachte er, wurde jetzt sein schlimmster Alptraum wahr. Denn es gab etwas, vor dem sich Indiana Jones zeit seines Lebens gefürchtet hatte, auch wenn er es niemals ausgesprochen, ja, es nicht einmal in Gedanken sich selbst gegenüber zugegeben hatte. Aber die Angst war dagewesen. Die Angst, daß er vielleicht eines Tages etwas entdecken, ein Geheimnis der Vergangenheit wiederfinden und wiederbeleben könnte, das besser für alle Ewigkeiten vergessen geblieben wäre. Vielleicht war es jetzt soweit.

Das Tor schwang auf. Obwohl es Tonnen wiegen mußte, bewegte es sich völlig lautlos, als einer der Langohren die Hand dagegen legte, und gab den Blick in eine gewaltige unterirdische Halle frei, die anders als der Stollen von Hunder ten von Fackeln in beinahe taghelles Licht getaucht wurde.

Indiana blinzelte in die ungewohnte Helligkeit. Im ersten Moment war er fast blind, doch nach einigen Sekunden gerannen die Schatten vor seinen Augen zu dunklen Körpern und Umrissen, und was er sah, ließ ihn erschrocken den Atem anhalten.

Die Höhle war so groß, daß man bequem einen fünfstöckigen Häuserblock hätte hineinstellen können. Dutzende der riesigen, schwarzen Steinfiguren, die fast nur aus Kopf und Schultern bestanden, bedeckten den Boden und bildeten mit nach innen gerichtetem Blick einen doppelten Ring um eine besonders gewaltige Statue, die als einzige einen Körper, Arme und Beine hatte. Sie hockte in einer knienden Stellung da, so daß Ober schenkel und Arme einen martialischen Thron für die buntge kleidete Gestalt bildete, die darauf saß.

«Oh, mein Gott!«flüsterte Ganty. Sein Gesicht hatte jedes bißchen Farbe verloren.

«Ihrer?«Indiana lachte ganz leise und sehr bitter.»Ich fürch te, da irren Sie sich, Ganty.«

Einer der Vogelmenschen versetzte ihm einen Stoß, der ihn zwei Schritte vorwärts taumeln ließ. Delano entglitt seinem Griff und stürzte schwer zu Boden.

Indiana wollte ihm zu Hilfe eilen, doch die Gestalt auf dem Thron stieß einen scharfen Befehl aus, und zwei Langohren packten ihn und schleiften ihn grob auf den Thron zu. Die anderen packten Ganty und den stöhnenden SS-Mann und schleuderten ihn brutal neben Indiana auf den Boden. Wieder erklang ein scharfer Befehl. Der Fuß, der Indianas Nacken gegen den Boden gepreßt hatte, zog sich zurück, und Indiana stützte sich mühsam auf Hände und Knie, wagte aber nicht, ganz aufzustehen.

«Bitte entschuldigen Sie, Dr. Jones«, sagte die Gestalt auf dem Thron in nahezu perfektem Englisch.»Die Umgangsfor men meiner Untergebenen lassen manchmal ein wenig zu wünschen übrig. Sie sind eben ein wildes Volk. Aber ich denke, das bekomme ich nach und nach auch noch in den Griff.«

Indiana sah verwirrt auf. Im allerersten Moment fiel es ihm schwer, auf dem Thron mehr als ein einziges, buntes Durchein ander aus Federn, vielfarbigem Korallenschmuck und glitzern den Kristallen zu erkennen. Erst nach einigen Augenblicken gewahrte er ein Gesicht in diesem Chaos.

Aber es sah völlig anders aus, als er erwartet hatte. Es waren nicht die harten, grausamen Züge eines Langohrs, die Indiana aus einem Kranz kunterbunter Federn heraus anlächelten. Es waren nicht einmal die Züge eines Mannes. Indiana blickte völlig verdattert in das Gesicht einer mindestens sechzig jährigen, weißhaarigen Lady, deren vornehme Ausstrahlung nicht einmal ihr barbarischer Aufzug vollends zu zerstören vermochte.

«Wer … sind Sie?«fragte er stockend. Er hörte, wie Ganty neben ihm scharf die Luft einsog, wandte sich aber nicht zu ihm um.

«Meine Untergebenen nennen mich Mi-Pao-Lo, aber Sie dürfen mich Baroneß von Sandstein nennen, Dr. Jones«, antwortete sie. Sie beugte sich vor und lachte, wodurch ihr Gewand aus Vogelfedern zu rascheln und zu wogen begann, als wäre der gesamte Thron zum Leben erwacht.»Guten Freunden gestatte ich dann und wann sogar, mich Fräulein Adele zu nennen«, fügte sie hinzu.»Aber soweit sind wir wohl noch nicht, oder?«

Indianas Verwirrung wuchs von Sekunde zu Sekunde. Er sah nun doch Ganty an, aber Ganty blickte so starr zu der Frauen gestalt auf dem Thron hinauf, daß er Indianas Blick nicht einmal registrierte.

Die Sandstein lächelte verzeihend.»Ich sehe, Sie sind ein wenig verwirrt, Dr. Jones«, sagte sie.»Das ist allerdings auch nur zu verständlich, nach allem, was Ihnen in den letzten Tagen widerfahren ist. Aber ich hoffe doch, daß Sie Ihre Fassung ein wenig schneller zurückerlangen, mein lieber Obersturmbann führer. Das ist doch Ihr Rang, oder?«

Die Worte galten Delano, und zu Indianas Überraschung hob der SS-Offizier tatsächlich den Kopf, als sähe er zu dem Thron hinauf. Sandstein lächelte ihm zu.

«Wer … ist das?«murmelte Delano.

«Er kann Sie nicht sehen«, sagte Indiana rasch.»Er ist blind.«

Sandstein seufzte.»Oh, ich verstehe. Er hat in das Licht gesehen, nicht wahr? Wie unachtsam von ihm. Haben Sie ihn denn nicht gewarnt, Mr. Ganty?«Ihre Hand kroch unter die Federwolken, die sie von Kopf bis Fuß einhüllten, und kam mit einem faustgroßen Kristall von blutroter Farbe wieder zum Vorschein. Es war nicht irgendein Kristall. Indiana hatte so etwas wie diesen Stein noch nie zuvor im Leben gesehen und auch noch nie davon gehört, aber er wußte trotzdem beinahe sofort, was er vor sich hatte. Er weigerte sich im allerersten Moment einfach nur, es zu glauben.

Der Stein war etwas größer als Adele Sandsteins Faust und von einem unheimlichen, dunkelroten Licht erfüllt, das gemächlich pulsierte. Etwas Böses, Gewalttätiges, das mit Worten kaum zu beschreiben war, ging von diesem Licht aus.

«Sie?«flüsterte Indiana fassungslos.»Das … das waren Sie? Sie haben all diese …«Er mußte all seine Kraft aufbieten, um weiterzusprechen.»… all diese Männer getötet?«

In Sandsteins Augen blitzte es auf.»Es war der Zorn von Make-Make, der sie vernichtete, nicht ich!«sagte sie erregt.

Der Kristall in ihrer Hand begann schneller zu pulsieren; seine Leuchtkraft nahm zu.»Sie haben das Unheil herausge fordert, Dr. Jones! Nicht ich. Ich war nur ein Werkzeug, so wie wir alle Werkzeuge im Spiel der Götter sind.«

Indiana sprach nichts von alledem aus, was ihm auf der Zunge lag. Der Kristall in Sandsteins Hand pulsierte immer heftiger, und sein Licht war jetzt stechend, als hielte sie eine winzige, rotglühende Sonne in den Fingern. Aus den Augen winkeln bemerkte er, daß sich die Langohren neben ihnen nervös zu bewegen begannen.

«Bitte, Baroneß«, sagte er hastig.»Ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten. Ich weiß nicht, wer Make-Make ist, aber — «

«Der Gott meines Volkes«, unterbrach ihn Sandstein.»Unser Gott, Dr. Jones. Der Gott, der diesen Ort und seine Menschen über all die Jahre hinweg beschützt und behütet hat, während Menschen wie Sie und diese …«, sie starrte Delano beinahe haßerfüllt an,»… Kreatur ihr Bestes getan haben, um die Welt zu ruinieren!«

«Delano gehört aber doch zu Ihrem eigenen Volk«, wandte Indiana verwirrt ein.

«Schweigen Sie, Dr. Jones!«Sandstein schrie plötzlich. Der Kristall in ihrer Hand loderte in greller Glut auf, und nicht nur Indiana, sondern auch die Langohren fuhren erschrocken zusammen. Inmitten des Lichtes schien sich etwas zu bewegen, etwas Grelles und Böses, das hinauswollte, um zu vernichten, zu zerstören und zu verbrennen …

«Was wissen Sie von meinem Volk?«fuhr Sandstein mit blitzenden Augen fort.»Ich verbiete Ihnen, mich mit diesem Nazi-Pack in einem Atemzug zu nennen! Ich habe nichts mit diesen Verbrechern zu schaffen, hören Sie, nichts!«Sie begann immer nervöser mit dem lodernden Feuerball zu spielen, den sie in Händen hielt. Ihr Atem ging schnell, und auf ihrem Gesicht waren auf einmal hektische rote Flecken zu sehen.»Ich habe nichts mit diesen Verbrechern zu schaffen, nichts!« sagte sie noch einmal.

Indiana antwortete nicht, und zu seiner Erleichterung schwie gen auch Ganty und Delano. Offensichtlich hatten auch sie begriffen, daß alles, was sie dazu sagen konnten, die Sache nur verschlimmert hätte.

Und daß Adele Sandstein vollkommen und hoffnungslos verrückt war.

Nach einer Weile beruhigte sich das Flackern des Feuerkri stalls wieder, und im gleichen Maße, wie die Lichtkugel aufhörte, wie ein rasendes kleines Herz zu flattern, beruhigte sich auch Adele Sandstein wieder. Ihr Atem ging langsamer, und die roten Flecken verschwanden nach und nach von ihrem Gesicht und von ihrem Hals. Schließlich schloß sie beide Hände um die Kristallkugel und ließ sie nach einigen weiteren Sekunden wieder unter ihrem Federgewand verschwinden. Plötzlich wirkte sie sehr, sehr müde.

«Gehen Sie, Dr. Jones«, sagte sie matt.»Gehen Sie, Dr. Jones. Und nehmen Sie diesen Verbrecher und diesen alten Narren mit. «Ihr Kopf sank nach vorn, und sie schlief ein, kaum daß sie das letzte Wort ausgesprochen hatte.

«Natürlich ist sie verrückt«, sagte Jones später, nachdem sie zurück waren und Ganty und er von ihrem Zusammentreffen mit Adele Sandstein erzählt hatten.»Wer wäre das nicht nach acht Monaten in der Gefangenschaft dieser Menschenfresser?«

«Acht Monate? Aber dann muß sie ja — «

«— praktisch am ersten Tag gefangengenommen worden sein, ja«, führte Jonas den Satz zu Ende und nickte.»Sie war die erste, die ihnen in die Hände gefallen ist.«

«In die Hände gefallen ist gut«, murmelte Indiana.»Ich hatte vorhin eigentlich eher das Gefühl, daß es die Langohren sind, die ihr in die Hände gefallen sind, und nicht umgekehrt. «Er begann unruhig in der kleinen Kammer auf und ab zu gehen, aber nach ein paar Augenblicken gab er es auf und setzte sich wieder.

Während ihrer Abwesenheit hatten die Polynesier Essen gebracht: flache hölzerne Schalen mit einem zähen Brei, der genauso schmeckte, wie er aussah: wie aufgeweichte Wellpap pe.

Indiana schrak im ersten Moment davor zurück, aber dann sagte er sich, daß er vielleicht für ziemlich lange Zeit mit genau dieser Art von Nahrung würde auskommen müssen, und begann in Ermangelung eines Bestecks mit den Fingern zu essen.

«Wie hat sie es bloß geschafft, sich zu ihrer Anführerin aufzuschwingen?«fragte er.

«Das wissen wir ebensowenig wie Sie«, antwortete Jonas. Er sah Indiana einige Sekunden lang schweigend zu, dann ging er zu dem bewußtlosen Delano hinüber und begann, dessen Uniform zu durchsuchen. Indiana unterbrach seine Mahlzeit und beobachtete Jonas, bis der fündig geworden war: mit einem Gesicht wie ein Kind, das die Geschenke unter dem Weihnachtsbaum hervorholt, zog er eine angesengte Zigaret tenpackung aus Delanos Uniformjacke und ließ sein Feuerzeug aufschnappen.

«Ah, das tut gut. «Er verzog genießerisch das Gesicht, hustete plötzlich und nahm einen neuen, noch tieferen Zug, kaum daß er wieder zu Atem gekommen war.»Die erste, nach acht Monaten Abstinenz«, erklärte er Indiana.»Ist wahrscheinlich ziemlicher Blödsinn, nach einem Dreivierteljahr wieder anzufangen, aber ich glaube nicht, daß wir uns um unsere Gesundheit noch allzu große Sorgen machen müssen. Viel leicht«, fügte er grinsend hinzu,»verderben sie sich ja schließ lich noch den Magen an meiner Teerlunge.«

Indiana fand das nicht besonders lustig.»Wir sprachen über Baroneß Sandstein«, erinnerte er ihn.

«Baroneß?«Jonas hustete wieder, wobei er grauen Zigaret tenrauch wie in einer Explosion durch Mund und Nase aus stieß.»Sie ist so wenig Baroneß, wie Sie ein Indianerhäuptling sind, Indy«, sagte er, nachdem er wieder zu Atem gekommen war und einen weiteren, gierigen Zug aus seiner Zigarette genommen hatte. Er tippte sich bezeichnend mit dem Daumen gegen die Stirn.»Ich sagte es Ihnen doch: sie ist verrückt geworden. Wahrscheinlich hält sie sich mittlerweile selbst für das, was die Vogelmenschen in ihr sehen.«

«Und was ist das?«fragte Indiana.

«Eine Göttin«, antwortete Ganty an Jonas Stelle.

Alle wandten ihre Aufmerksamkeit plötzlich verblüfft ihm zu. Ganty hatte kein Wort gesprochen, seit sie zurückgekehrt waren, sondern sich stumm in eine Ecke der Kammer gehockt und war in dumpfes Brüten verfallen. Auch jetzt sah er niemanden direkt an, sondern starrte auf einen imaginären Punkt irgendwo an der Wand hinter Indiana.

«Wie bitte?«fragte Indy schließlich.

Ganty sah nun doch auf.»Haben Sie ihre Ohren gesehen?«

Indiana verneinte. Ganty blickte fragend von einem zum anderen, erntete aber überall die gleiche Antwort: ein verblüff tes Kopfschütteln.»Aber ich«, sagte er schließlich.»Sie trägt große Anhänger mit Diamanten.«

«Straß«, korrigierte ihn Jonas.»Billige Imitationen, glauben Sie mir.«

«Und wenn es Pferdedreck wäre«, antwortete Ganty düster.

«Sie sind groß, und sie müssen schwer sein, und sie wird sie wohl lange Zeit über getragen haben. Verstehen Sie denn nicht?«

«Nein«, sagte Jonas. Indiana glaubte zumindest zu verstehen, worauf Ganty hinauswollte, aber er hielt es im Augenblick einfach für besser, Ganty reden zu lassen, und gab auch Jonas ein verstohlenes Zeichen, er solle still sein.

«Sie werden nicht mit diesen Ohren geboren«, sagte Ganty.

«Die Kinder tragen schwere Anhänger, die ihre Ohrläppchen dehnen, noch ehe sie erwachsen sind.«

Jonas riß die Augen auf. Er wurde ein ganz kleines bißchen blaß.»Sie … Sie meinen, für die Wilden ist sie ein Langohr?«fragte er stockend.

«Mehr als das«, antwortete Ganty.»Ist Ihnen nicht aufgefal len, daß es hier keine Frauen gibt? Nur drei von zehn Kindern, die geboren werden, sind weiblichen Geschlechts. Als sie hierherkamen, da waren sie Tausende. Aber in jeder Generati on werden weniger Mädchen geboren. Deshalb behüten sie ihre Frauen wie einen Schatz. Sie halten sie an einem geheimen Ort versteckt und gehen nur einmal im Jahr zu ihnen, um sie zu befruchten.«

«Alle zusammen?«Nancy Barlowe kicherte und schlug die Hand vor den Mund.»Wie unanständig.«

Sie verstummte abrupt, als sie von einem Dutzend verärgerter Blicke gleichzeitig regelrecht aufgespießt wurde, und Ganty fuhr fort:»Haben Sie den Namen gehört, mit dem Sie sich selbst bezeichnet hat? Mi-Pao-Lo?«

Indiana nickte. Er wußte nicht, was er bedeutete, aber für Ganty war es offensichtlich mehr als nur ein fremdartig klingendes Wort.

«Es gibt eine Legende unter den Vogelmenschen«, fuhr Ganty fort.»Niemand kennt sie genau, denn damals, als sie vor den aufständischen Kurzohren flohen und ihre Heimat verlie ßen, zerstörten sie alle schriftlichen Aufzeichnungen, die sie nicht mitnehmen konnten, aber hier ist sie noch so lebendig wie am ersten Tag. Es war eine Frau, die die Herrschaft der Langohren in ihrer Heimat beendete, indem sie ihren Feinden den einzigen Weg durch den Feuergraben zeigte, der ihr Reich vor allen Angriffen schützte. Und es heißt, daß es eine abtrün nige Frau sein wird, die sie eines Tages wieder zurück in ihre Heimat führen wird, wenn die Zeit der Prüfungen vorbei ist und sich ihr Aufenthalt an diesem Ort dem Ende zuneigt.«

«Und Sie glauben wirklich, Adele Sandstein wäre diese Frau?«

«Natürlich nicht. «Ganty hatte sich jetzt wieder gefangen und sprach mit normaler, fester Stimme und nicht mehr wie in Trance.»Aber ich fürchte, die Langohren glauben es. Alles stimmt. Sie ist eine Frau, die ihr eigenes Volk verachtet, eine Abtrünnige. Die Zeit dieses Ortes geht zu Ende. In jedem Jahr werden weniger Mädchen geboren, und bald werden es gar keine mehr sein. Und noch etwas: ich kenne diese Insel seit dreißig Jahren. In dieser Zeit ist die Lava im Vulkankrater um mehr als zwei Meter gestiegen. Sie mußten die ersten Höhlen bereits aufgeben, weil die Hitze unerträglich wurde.«

«Das kann doch noch Jahrzehnte dauern!«sagte Barlowe.

Aber Ganty schüttelte den Kopf.

«Sie vergessen, wo wir uns befinden«, erklärte er.»Dieser Vulkankrater liegt unterhalb des Meeresspiegels. «Er wies zur Decke hinauf.»Was von hier aus wie ein gewaltiger Berg aussieht, ist nur ein kaum zehn Meter hoher Wall. Die Vogel menschen haben die letzten tausend Jahre daran gearbeitet, jeden Quadratzentimeter dieses Berges auszuhöhlen. Diese Insel ist von Gängen und Stollen durchzogen wie ein riesiger Termitenbau. Eine einzige, heftige Erschütterung, und das Meer strömt in diesen Krater. Wissen Sie, was das bedeutet?«

Niemand antwortete, aber das war auch gar nicht nötig. Von der ganzen Insel würde nicht mehr übrigbleiben als eine Dampfwolke, die vermutlich noch in New York zu sehen sein würde.

Indiana wartete darauf, daß Ganty weitersprach. Als er es nicht tat und Indiana begriff, daß er es auch nicht tun würde, stand er auf und ging zu Delano hinüber. Erst als er sich wieder neben den SS-Mann setzte, fiel ihm auf, daß Delano wieder bei Bewußtsein war. Er hatte jedes Wort gehört.

Während der nächsten drei Tage geschah nichts wirklich Erwähnenswertes — abgesehen von der Tatsache vielleicht, daß Delano allen Voraussagen zum Trotz nicht starb, sondern beständig zwischen Bewußtlosigkeit, Koma und einem halbwachen Zustand hin und her glitt. Er aß nichts und trank sehr wenig, aber etwas in ihm klammerte sich mit verzweifelter Kraft ans Leben, obwohl die wenigen Momente, in denen er wach war, eine einzige, grauenhafte Qual sein mußten.

Nach und nach lernten sie ihre Mitgefangenen kennen. Von den siebzig Elitesoldaten, die Delano begleitet hatten, lebten noch einundzwanzig — und von denen waren allerdings nur elf in einem Zustand, der sie zu einer Hilfe machte.

Was aber nicht viel änderte. Auch hundert Männer hätten ihnen nicht viel genutzt. Die Falle, in der sie saßen, war so simpel wie unüberwindlich: der einzige Weg hinaus war der große Bastkorb, in dem ihre Bewacher zweimal am Tag heruntergeschwebt kamen, um ihnen Essen zu bringen. Ihn zu erobern wäre vermutlich kein großes Problem gewesen — aber großer Blödsinn. Am Ende des dreißig Meter langen Taues, an dem der Korb hing, hockte ein Vogelmensch mit einem gewaltigen Messer, der nur darauf wartete, es zu kappen und den Korb mitsamt seinen Insassen in die brodelnde Lava hinabstürzen zu lassen.

Am Abend des vierten Tages ließ Adele Sandstein Indiana wieder zu sich kommen. Sie erwartete ihn nicht in der Thronhalle, sondern in einem kleineren, tief im Felsen gelegenen Raum, dessen Wände über und über mit Bildern und verwir renden Mustern bedeckt waren. Sie sah sehr viel besser aus als am ersten Tag. Der krankhafte Glanz ihrer Haut war ver schwunden, und sie hockte nicht mehr kraftlos in sich zusam mengesunken da, sondern kam ihm mit kleinen, energischen Schritten entgegen und lächelte. Wären nicht der schreiend bunte Federmantel und der schwächer gewordene, aber immer noch sichtbare Schimmer des Wahnsinns in ihren Augen gewesen, hätte man sie für nichts anderes halten können als eine nette, alte Lady. Indiana nahm sich vor, auf der Hut zu sein und sich jedes Wort, das er sagte, sehr genau zu überlegen.

«Dr. Jones!«Adele Sandstein trat ihm freudestrahlend entge gen, ergriff seine Hände und wich dann wieder einen Schritt zurück, um ihn eingehend von Kopf bis Fuß zu mustern. Was sie sah, schien sie zufriedenzustellen, denn sie lächelte noch herzlicher.

«Wie schön, Sie gesund und unverletzt wiederzusehen«, sagte sie in einem Ton, als hätte sie nicht wirklich damit gerechnet.»Wie fühlen Sie sich?«

«Gut«, antwortete Indiana verwirrt. Was sollte das? Mit einem flüchtigen Lächeln fügte er hinzu:»Die Unterbringung läßt zu wünschen übrig. Der Zimmerservice ist miserabel, und das warme Wasser in meinem Zimmer funktioniert nicht.«

Sandstein lachte lange und herzhaft, dann wandte sie sich um, ging mit kleinen trippelnden Schritten zu einem steinernen Tisch und winkte Indiana, ihr zu folgen. Auf dem Tisch waren verschiedene Speisen und Getränke in hölzernen Gefäßen aufgebaut. Sandstein forderte ihn mit Gesten auf, sich zu bedienen, aber Indiana lehnte dankend ab.

«Aber Dr. Jones!«sagte sie und drohte ihm spöttisch mit dem Finger.»Sie haben doch nicht etwa Angst, daß ich Sie vergif te?«Sie lachte, aber dann wurde sie von einer Sekunde auf die andere wieder ernst — so plötzlich, daß Indiana beinahe erschrak.

«So etwas Törichtes würde ich bestimmt nicht tun, Dr. Jo nes«, sagte sie,»denn ich brauche Ihre Hilfe. Ihre Hilfe als Wissenschaftler. «Sie setzte sich und forderte Indiana mit Gesten auf, das gleiche zu tun. Nach kurzem Zögern gehorchte er.

«Sie sind Archäologe, nicht wahr?«

Indiana nickte. Er war verwirrt, nicht nur über die Frage. Das wahnsinnige Feuer in Sandsteins Augen war beinahe erloschen. Er schien einer völlig anderen Person gegenüberzusitzen als der, der er vor drei Tagen begegnet war. Der bunte Umhang und der barbarische Thron, auf dem sie Platz genommen hatte, ließen sie noch immer beeindruckend und größer erscheinen, als sie war — aber da war fast nichts mehr von der grausamen, verrückten Göttin, der er in einem anderen Teil dieser unterir dischen Welt begegnet war. Diese Veränderung hätte ihn beruhigen müssen, aber sie tat es nicht. Im Gegenteil: sie machte ihm angst.

«Sind Sie ein guter Archäologe?«

Indiana zögerte.»Manche behaupten es«, antwortete er dann.»Manche halten mich einfach für einen Abenteurer, und andere — «

«Bitte, Dr. Jones«, unterbrach ihn Sandstein.»Wir haben keine Zeit für so etwas. «In ihren Augen erschien wieder ein Flackern, aber es war nicht die Mi-Pao-Lo, die wieder heraus drängte, wie Indiana im allerersten Moment befürchtete. Es war etwas anderes. Angst?

«Ich denke, ich bin ganz gut, ja«, sagte er.

Sandstein atmete hörbar auf.»Das ist gut«, sagte sie.»Denn ich brauche die Hilfe eines guten Wissenschaftlers.«

«Wozu?«erkundigte sich Indiana.

Sandstein machte eine weit ausholende Bewegung mit den Händen, die den gesamten Raum, vielleicht die ganze Insel einschloß.»Wissen Sie, was das hier ist?«

«Ich fürchte, ich verstehe die Frage nicht ganz«, gestand Indiana.

«Dann werde ich sie selbst beantworten«, sagte Sandstein.

«Es ist die letzte Zuflucht eines Volkes, das vor mehr als tausend Jahren aus seiner Heimat vertrieben wurde.«

«Eines sehr grausamen Volkes, Baroneß«, hörte sich Indiana zu seiner eigenen Überraschung sagen. Am liebsten hätte er sich selbst geohrfeigt. Aber die Worte waren einmal heraus und ließen sich nicht mehr zurücknehmen.

Doch Sandstein wurde nicht zornig, sondern lächelte nur verzeihend.»Vielleicht wird man über uns in tausend Jahren dasselbe sagen, Dr. Jones«, sagte sie.»Grausam oder nicht, sie waren ein großes Volk, das über gewaltige Mächte gebot. Und nun sterben sie.«

Indiana nickte.»Diese Insel geht unter.«

Sandstein blickte ihn mit gelinder Überraschung an.»Das haben Sie bemerkt?«

«Ich bin Wissenschaftler«, murmelte Indiana. Das war haar sträubender Blödsinn. Ohne Gantys Erklärung hätte er nicht einmal geahnt, was hier geschah. Aber Sandstein glaubte ihm.

Er konnte es auf ihrem Gesicht ablesen. Sie glaubte ihm schon deshalb, weil er ihr genau das sagte, was sie hören wollte.

«Das ist sehr gut«, sagte sie,»denn es erspart mir eine Menge zeitraubender Erklärungen. Diese Insel wird untergehen. Nicht in hundert Jahren, nicht einmal in zehn, sondern vielleicht schon nächstes Jahr. Oder in wenigen Wochen.«

Indiana sah Sandstein sehr aufmerksam an, aber es war unmöglich, in ihrem Gesicht zu lesen. Trotzdem begann er zu ahnen, auf was sie hinauswollte. Der Gedanke lähmte ihn vor Schrecken beinahe.

«Und sie erwarten von mir, daß ich sie rette«, sagte Sandstein nach einer langen, von unangenehmem Schweigen erfüllten Pause. Sie sprach nicht weiter.

«Aber Sie haben nicht die geringste Ahnung, wie«, vermutete Indiana.

Sandstein schwieg. Ihre Hände schlossen sich so fest um die Lehne des Thrones, daß die Adern wie ein Netzwerk dünner blauer Linien auf ihrer Haut hervortraten.

«Sie halten mich für eine Göttin«, sagte sie leise.»Für eine Art Messias, der sie zurück in die Heimat führen soll. Ich habe versucht, Ihnen klarzumachen, daß ich das nicht bin, aber ich spreche ihre Sprache nicht. Und ich glaube, es hätte auch nichts genutzt, wenn es anders wäre.«

Für einen Moment empfand Indiana nichts als Mitleid mit ihr. Gleich, was sie getan hatte, in diesem Augenblick sah Indiana in Adele Sandstein nichts anderes als eine verzweifelte, alte Frau, die im falschen Moment am falschen Ort gewesen war und von den Ereignissen einfach überrollt wurde.

«Was erwarten sie von Ihnen?«fragte er sanft.»Daß Sie wie Moses das Meer teilen und sie trockenen Fußes zurück in die Heimat führen?«

Sandstein lachte, aber es klang traurig.»O nein, so einfach ist es leider nicht, Dr. Jones. Der Weg zurück nach Te-Pito-O-Henua ist ihnen wohlbekannt. Sie sind große Seefahrer, und sie haben in all den Jahrhunderten nichts von ihren Fähigkeiten eingebüßt.«

Das haben wir gemerkt, dachte Indiana düster, sprach es aber vorsichtshalber nicht aus.

Sandstein fuhr fort.»Es gibt gewisse Rituale, die abgehalten werden müssen, Dr. Jones, bevor sie in ihre Heimat zurückkeh ren können. Nur die Mi-Pao-Lo kann dies tun, und unglückse ligerweise hat die momentan amtierende Mi-Pao-Lo nicht den Hauch einer Ahnung, wie diese Rituale aussehen.«

Indiana lächelte flüchtig, als er den ironischen Unterton in Sandsteins Stimme hörte. Aber dieses Lächeln änderte nichts daran, daß er den Ernst der Situation erkannte.»Und wenn Sie es nicht tun — «

«— werden sie mich töten«, sagte Sandstein.»Verstehen Sie mich richtig, Dr. Jones: Ich bin eine alte Frau, die schon lange keine Angst mehr vor dem Tod hat. Aber sie werden auch Sie töten und alle Ihre Begleiter, oder sie werden Sie hierbehalten, bis diese Insel untergeht, was auf dasselbe hinausliefe.«

Und vielleicht wäre es das Beste, fügte Indiana in Gedanken hinzu. Er dachte an das rote Feuer, das Delanos Männer verschlungen hatte, und ein einziger Schauer lief ihm über den Rücken. Aber er sprach auch diesen Gedanken nicht laut aus.

«Wenn niemand weiß, wie das Zeremoniell aussieht«, sagte er,»dann denken Sie sich doch einfach irgendeinen Unsinn aus.«

Unsinn war das richtige Wort. Natürlich war sein Vorschlag nicht praktikabel, und das wußte er schon, bevor Sandstein mit einem traurigen Seufzen aufstand und den Kopf schüttelte.

«Leider wissen sie sehr wohl, wie das Zeremoniell auszuse hen hat, Dr. Jones«, sagte sie.»Kommen Sie.«

Indiana erhob sich und folgte ihr zur rückwärtigen Wand der Kammer. Erst als er ihr ganz nahe war, erkannte er, daß sie über und über mit gezackten Linien und Strichen übersät war.

«Sie halten es seit mehr als einem Jahrtausend ab, Dr. Jones, jedes Jahr am gleichen Tag. «Sie sah Indiana ernst an.»Von heute an gerechnet in drei Tagen werden sie die Feuer auf dem Kraterrand entzünden und sich in den Himmel schwingen.

Und wenn der Flug vorüber ist und die stärksten unter ihnen ermittelt sind, werden diese zu den Flammen gehen und eine neue Generation zeugen.«

«Aha«, sagte Indiana. Er verstand kein Wort.

«So geschieht es seit mehr als tausend Jahren, und es wird auch wieder geschehen. Aber diesmal verlangen sie von mir, daß ich Make-Make anrufe und seinen Segen für die Heimreise erflehe. «Sie seufzte.»Und ich habe zum Teufel noch mal nicht die geringste Ahnung, wie ich das tun soll.«

«Dann fragen Sie sie.«

«Sie wissen es nicht«, antwortete Sandstein.»Nur die Mi-Pao-Lo weiß um das Geheimnis, mit Make-Make zu spre chen.«

Sie deutete auf die Wand.»Es ist dort aufgeschrieben, Dr. Jones.

Sie haben es mir gezeigt. Denn sie sind nicht dumm. Sie wissen, daß ich eine Fremde bin und nichts von ihren Sitten und Gebräuchen weiß. Das Geheimnis steht dort, aufgeschrie ben in einer Sprache, die nur die Priester der ersten Generation beherrschten, die diese Insel erreichten — und die Mi-Pao-Lo. Sie glauben, ihr Gott würde mir die Macht geben, die Schrift zu lesen.«

Sie seufzte tief, wandte sich vollends dem Relief zu und ließ ihren Blick über die sonderbaren geometrischen Muster und Linien gleiten.»Aber bis jetzt hat Make-Make geschwiegen, Dr. Jones. Ich kann es nicht lesen. Können Sie es?«

Um ein Haar hätte Indiana gelacht. Ohne ihre Erklärung hätte er nicht einmal gewußt, daß er eine Schrift vor sich hatte.

Auch er betrachtete das Relief, aber nicht sehr lange und mit einem Gefühl wachsenden Unbehagens. Die Linien und Striche hatten etwas genauso Unheimliches und Böses an sich wie diese ganze Insel. Wenn man zu lange auf eine bestimmte Stelle sah, dann schien es, als begänne sich dort etwas zu bewegen und ein gräßliches Eigenleben zu entwickeln, als machten sie sich bereit, aus der Wand herauszukriechen und den Betrachter zu verschlingen. Mit einem Ruck wandte er sich ab.

Sandstein sah ihn fragend an, aber Indiana antwortete nicht gleich. So närrisch ihr Ansinnen auch war, er verstand sie irgendwie. Es war nicht nur pure Verzweiflung, die aus ihren Worten sprach, sondern auch jene hoffnungslose Fehleinschät zung, die die meisten Menschen der Wissenschaft in einem Jahrhundert entgegenbringen, in dem die Menschheit gelernt hatte zu fliegen, Schiffe zu bauen, die so groß waren wie Städte, und ihren uralten Feind, die Dunkelheit, mit einem Fingerschnippen zu vertreiben. Nur zu viele begannen die Wissenschaftler für eine Art moderner Zauberer zu halten.

Sie waren es nicht. Indiana hätte ihr erklären können, daß wissenschaftliche Arbeit zum allergrößten Teil aus Schweiß und Mühe bestand und vor allem Zeit brauchte, daß es Jahre, wenn nicht Jahrzehnte dauern konnte, diese uralte Schrift an der Wand zu entziffern, und daß es selbst dann nicht einmal sicher war, ob es überhaupt je gelang. Drei Tage? Lächerlich.

Aber irgend etwas warnte ihn. Was immer er jetzt sagte, würde vielleicht über mehr als nur sein Schicksal und das der anderen entscheiden. Er hatte das rote Licht nicht vergessen.

Und auch nicht den Dämon, der im verborgenen in Adele Sandstein lauerte.

«Drei Tage?«murmelte er, während er so tat, als studiere er die verworrenen Linien an der Wand. In Wirklichkeit bemühte er sich, möglichst wenig von ihnen zu sehen.»Das ist … nicht sehr viel Zeit.«

«Es ist alles, was Sie haben, um Ihr Leben und das Ihrer Freunde zu retten«, sagte Sandstein ernst.»Und ich warne Sie, Dr. Jones. Es wäre töricht, wenn Sie versuchen sollten, sie zu täuschen. Sie erwarten eine Antwort. Wenn ich Make-Make anrufe und nichts geschieht, so werden wir alle sterben.«

Indiana schwieg. Er hatte sich noch nie im Leben so hilflos und verzweifelt gefühlt wie in diesem Moment.

«Und wenn Sie Ihnen erklären, daß dieser Manko-Minko von seinem Volk verlangt, alle Gefangenen freizulassen und ihnen ein Boot zu geben?«

Bei jedem anderen hätte Indiana geschworen, daß er diese Frage einzig und allein stellte, um ihn auf den Arm zu nehmen, auch wenn es ein reichlich unpassender Moment war.

Bei Nancy Barlowe war er nicht ganz sicher. Indiana sah sie nur eine Sekunde an und beschloß dann, daß es wohl das klügste war, so zu tun, als hätte er die Frage gar nicht gehört. Er wandte sich wieder Jonas und den anderen zu.

Niemand sagte etwas. Er hatte vor gut zwei Minuten aufge hört zu reden, und seither hatte sich tiefes Schweigen in der Kammer breitgemacht. Der Ausdruck auf den Gesichtern der anderen war fast identisch: ein Schwanken zwischen Betrof fenheit und Verzweiflung. Wobei die Verzweiflung eindeutig überwog.

Schließlich brach Indiana selbst das Schweigen, indem er sich an Ganty wandte.»Ich nehme an, Sie können diese Schrift auch nicht lesen?«

«Ich?«Gantys Erstaunen war ein wenig zu echt, fand Indiana.»Wie kommen Sie auf diese Idee?«

Indiana zuckte mit den Schultern.»Damals auf Pau-Pau, als ich Ihnen Jonas’ Notizbuch zeigte, hatte ich den Eindruck.«

Ganty lächelte. Seine Finger begannen mit kleinen nervösen Bewegungen am Saum seiner Jacke zu spielen, ohne daß ihm das selbst bewußt zu sein schien.»Ich habe die Zeichen wiedererkannt«, sagte er.»Das heißt nicht, daß ich sie lesen kann. Niemand kann das. Der letzte, der diese Schrift entziffern konnte, ist vor gut tausend Jahren gestorben.«

Indiana sah ihn weiter scharf an. Ganty erschien ihm fast ein bißchen zu sehr bemüht, allen zu versichern, daß er die Schrift der Langohren auch nicht lesen konnte. Aber vielleicht sah er auch nur Gespenster. Indiana machte eine Handbewegung, die das Thema für erledigt erklärte, nahm sich aber trotzdem vor, später noch einmal — und unter vier Augen — mit Ganty darüber zu reden.

«Ich werde versuchen, sie hinzuhalten, so lange ich es kann«, sagte er.»Aber uns bleiben trotzdem maximal drei Tage, um uns etwas einfallen zu lassen.«

«Wir könnten versuchen, einen Tunnel zu graben«, schlug Anthony van Lees vor. Sein Bruder runzelte die Stirn und sagte deutlich hörbar:»Blödsinn!«, aber Anthony fuhr mit einer Geste auf Ganty fort:»Er hat selbst gesagt, daß dieser Berg wie ein Schweizer Käse ist. Wenn wir uns nach draußen graben — «

«Mit bloßen Händen«, warf sein Bruder ein.

«— erreichen wir vielleicht die Küste — «

«— und schwimmen zweihundert Seemeilen zur nächsten Insel«, schloß Steve den Satz ab. Anthony funkelte ihn an und wollte auffahren, aber Ganty machte eine rasche, besänftigende Geste.

«Die Kraterwände sind nicht besonders dick, das stimmt«, sagte er, und Anthonys Gesicht hellte sich so lange auf, bis Ganty mit einem Seufzer fortfuhr:»Aber nicht besonders dick heißt leider nicht dünn. Selbst mit dem entsprechenden Werkzeug hätten wir keine Chance, uns durch fünfundzwanzig Meter Lava zu graben. Nicht einmal in drei Monaten.«

«Ganz abgesehen davon, daß wir uns unter dem Meeresspie gel befinden«, fügte Jonas hinzu. Er machte eine herrische Geste.»Schluß mit dem Unsinn. Wir haben nur eine einzige Chance. «Er deutete auf Indiana.»Indy wird versuchen, Sandstein so lange wie möglich hinzuhalten, und wir arbeiten in der Zwischenzeit einen Plan aus, wie wir die Wachen überrumpeln und den Kran in unsere Gewalt bringen können.«

«Sind Sie verrückt?«fragte Anthony van Lees.

«Das ist das erste vernünftige Wort, das ich heute höre«, sagte sein Bruder.

«Sie werden uns einfach in die Lava fallen lassen«, sagte Barlowe düster.

«Und?«Jonas schürzte geringschätzig die Lippen.»Das ist mir immer noch lieber, als in ihrem Kochtopf zu landen. «Er schwieg einige Sekunden, während derer er den bewußtlosen Delano betrachtete, der fiebernd auf seinem Lager vor sich hin stöhnte.»Oder bei lebendigem Leib gegrillt zu werden.«

Er hatte sehr leise gesprochen, aber sie alle hatten die Worte verstanden, und wieder breitete sich für Sekunden betretenes Schweigen in der Kammer aus. Jonas selbst war es, der es beendete. Er hatte wohl eingesehen, wie unpassend seine Bemerkung gewesen war.

«Ich schlage vor, wir gehen zu den anderen und beraten uns mit ihnen«, sagte er.»Es sind zwar deutsche Soldaten, aber ein paar von ihnen sind nicht auf den Kopf gefallen. Und wie es aussieht, sitzen wir im Moment wohl alle im selben Boot.«

Niemand hatte irgendwelche Einwände, obwohl Jonas’ Vorschlag ebenso sinnlos war wie alles andere, was sie bisher gehört hatten. Wahrscheinlich ging es allen ähnlich: Sie wollten einfach nur hier heraus und dem Gedanken, völlig hilflos zu sein, entfliehen. Über eine unmögliche Flucht zu diskutieren, machte sie nicht möglicher. Aber vielleicht half es wenigstens für eine Weile, den Gedanken an das Ende zu verdrängen.

Indiana blieb zurück, und er gab auch Ganty mit einem Blick zu verstehen, daß er dableiben sollte.

Ganty tat es nicht, aber er kehrte nach kaum einer Minute zurück und blieb mit verschränkten Armen unter der Tür stehen. Seine Haltung war die eines trotzigen Kindes, aber Indiana spürte deutlich die Angst, die sich dahinter verbarg.

«Also?«fragte er.

«Also was?«fragte Ganty patzig.

Indiana seufzte.»Bitte, Ganty«, sagte er müde.»Ich bin erschöpft. Ich bin genauso verzweifelt wie Sie und alle anderen.

Ich habe weder den Nerv noch die Kraft für irgendwelche Spielchen!«

Ganty schwieg. Aber er wurde mit jeder Sekunde nervöser.

«Sie können diese Schrift lesen«, sagte Indiana geradeheraus.

«Nein«, antwortete Ganty. Sekundenlang rang er sichtbar mit sich. Dann sagte er ganz leise:»Aber ich weiß, was die Inschrift bedeutet, von der Sie erzählt haben. Sie haben es mir gesagt, schon vor langer Zeit. Sie waren einmal meine Freun de.«

Der letzte Satz klang bitter. Indiana ignorierte ihn.

«Sie kennen das Zeremoniell?«

«Nein«, erwiderte Ganty.»Sandstein hat die Wahrheit gesagt. Niemand kennt es. Aber sie hat Ihnen eine Kleinigkeit ver schwiegen, Jones. Die Legende der Mi-Pao-Lo geht noch weiter. «Er atmete hörbar ein.»Es heißt, daß an dem Tag, an dem die Heimkehr erfolgen soll, Make-Makes Zorn über alle Ungläubigen und den Rest dieser Welt hereinbrechen wird, wenn die Götter falsch oder gar nicht angerufen werden.«

Indiana starrte ihn an. Er konnte spüren, wie sich jedes ein zelne Haar auf seinem Kopf aufrichtete, als stünde es unter Strom.»Das … das ist doch lächerlich«, sagte er stockend.»Sie glauben doch nicht etwa, daß —«

«Nach allem, was ich am Strand gesehen und erlebt habe, gibt es nicht mehr viel, was ich nicht glaube, Dr. Jones«, unterbrach ihn Ganty.»Muß ich Sie wirklich daran erinnern, daß die meisten Sagen und Legenden einen gemeinsamen Ursprung haben? Vielleicht gefällt Ihnen das Wort Make-Makes Zorn ja nicht. Was halten Sie von Sodom und Gomorrha? Oder Armageddon?«Sekundenlang starrte er Indiana noch aus Augen an, in denen nichts weiter als nackte Panik geschrieben stand.

Dann fuhr er auf dem Absatz herum und stürmte aus der Tür.

Armageddon! Das Jüngste Gericht! Sodom und Gomorrha! Was für ein Unsinn! Seit es Menschen gab, hatten sie sich allen möglichen Humbug zusammenprophezeit, und wenn es um das Ende der Welt oder andere düstere Untergangsvisionen ging, dann waren sie schon immer ganz besonders eifrig bei der Sache gewesen.

Indiana wiederholte den Gedanken immer und immer wieder, als müsse er ihn sich nur oft genug einhämmern, um ihn wahr werden zu lassen. Oder wenigstens selbst daran zu glauben.

Leider geschah weder das eine noch das andere.

Indiana war weit davon entfernt, tatsächlich an den bevorste henden Weltuntergang zu glauben. Aber wenn nicht er, wer sollte dann erst wissen, daß nicht alle Legenden nur Märchen waren und daß es sehr wohl Mächte gab, die dem menschli chen Begreifen auf immer entzogen bleiben würden — und daß nur zu viele dieser Mächte grausamer und erbarmungsloser als der biblische Racheengel waren. Die Welt würde nicht unter gehen, wenn Make-Makes Zorn über sie kam, wie Ganty es ausgedrückt hatte. Aber es war denkbar, daß sie eine weitere, schreckliche Katastrophe erlebte, daß sich zu allen finsteren Mächten dieser Zeit eine weitere zerstörerische Kraft gesellte, und es spielte im Grunde nicht einmal eine Rolle, ob sie nun nur eines oder eine Million unschuldiger Leben auslöschte.

Sein Alptraum war Wahrheit geworden. Es gab sehr wohl Dinge, über die die Zeit mit Fug und Recht den Mantel des Vergessens gebreitet hatte. Und eine dieser Kräfte war erwacht, und sie würde mit Sicherheit mehr tun, als nur diese Insel und ihre Bewohner zu verschlingen, wenn sie erst einmal wirklich entfesselt war.

Indiana saß lange in düstere Gedanken versunken da, ehe ihm bewußt wurde, daß er nicht allein in der Kammer war. Etwas im Rhythmus von Delanos mühsamen Atemzügen hatte sich verändert.

Er stand auf, ging zu ihm hinüber und setzte sich sehr vor sichtig auf den Rand des Lagers, um ihn nicht zu berühren und ihm unnötige Schmerzen zuzufügen. Delanos Augen standen weit offen, aber ihr Blick war leer wie immer. Trotzdem wußte Indiana, daß Delano wach war.

«Sie haben alles gehört?«fragte er.

«Ja«, flüsterte Delano. Seine Stimme war so schwach, daß Indiana erschrak. Delanos Gesicht glühte. Die Wunde auf seiner Wange hatte sich entzündet und verströmte einen schrecklichen Geruch.»Es sieht so aus, als … würden Sie mich nicht lange überleben, Dr. Jones.«

Indiana wußte nicht, was er darauf antworten sollte, daher schwieg er. Nach einer Weile fragte Delano:»Sind wir allein?«

«Natürlich«, sagte Indiana.»Warum?«

«Schauen Sie nach«, bat Delano.»Es ist … wichtig. Bitte.«

Indiana stand gehorsam auf, ging zur Tür und warf einen Blick nach rechts und links, ehe er zu Delano zurückkehrte.

«Es ist niemand da.«

«Gut«, flüsterte Delano. Er hob die Hand und tastete blind nach Indianas Arm. Indiana ergriff seine bandagierten Finger, und obwohl er wußte, welche Pein die Berührung Delano bereiten mußte, zog dieser die Hand nicht zurück, sondern hielt Indiana im Gegenteil nur noch fester. Wie ein Ertrinkender, der sich verzweifelt an einen letzten Halt klammert. Indiana schauderte, als er spürte, wie heiß Delanos Haut unter den Verbänden war.

«Hören Sie mir zu, Dr. Jones«, flüsterte Delano.»Es gibt noch eine Chance, aber Sie … Sie dürfen mit keinem der anderen darüber sprechen, versprechen Sie mir das.«

«Selbstverständlich«, sagte Indiana, aber das genügte Delano nicht.

«Nicht so«, sagte er.»Versprechen Sie es mir wirklich. Es ist wichtig.«

«Ich verspreche es«, sagte Indiana. Er meinte es ernst.

«Sie müssen diese Waffe zerstören«, murmelte Delano.

«Sie … darf nicht in die Hände des Militärs fallen. Auf keiner Seite, Jones. Schwören Sie mir, daß Sie es … verhindern.«

«Ich bin nicht einmal sicher, daß es eine Waffe ist«, antworte te Indiana zögernd.

«Ganz egal, was es ist, zerstören Sie es, Jones. «Delano richtete sich auf, packte Indiana mit beiden Händen bei den Jackenaufschlägen und starrte ihn aus weit aufgerissenen, leeren Augen an.»Versprechen Sie es!«

Es wäre leicht gewesen, ja zu sagen, und wahrscheinlich auch barmherzig. Aber Indiana wußte, daß Delano spüren würde, wenn er ihn belog. Und er wollte es auch nicht. Delano hatte ein Anrecht auf die Wahrheit.

«Ich werde es versuchen«, sagte er.

Delano entspannte sich. Seine Augen fielen zu. Er sank zurück, aber er war noch wach.»Versprechen Sie, daß dieses Ding … weder Ihren noch meinen Leuten in die Hände fällt, und ich sage Ihnen, wie Sie und die anderen hier herauskom men«, flüsterte er.»Es gibt … noch eine Chance. Vielleicht.«

Indiana zögerte lange, ehe er antwortete. Die Worte klangen aus Delanos Mund seltsam. Und trotzdem glaubte er ihm. Delano war ein deutscher Soldat, noch dazu ein SS-Offizier, Angehöriger einer Truppe, die dafür bekannt war, ihre Mitglie der nicht unbedingt nach Kriterien wie Menschlichkeit und Nächstenliebe auszuwählen. Vielleicht hatte er erst am eigenen Leib spüren müssen, was es hieß, zu leiden und zu sterben, ehe er begriff, was das Wort Krieg wirklich bedeutete.

Und er selbst? Indiana war hin und her gerissen. Er konnte Delano belügen und dann dafür sorgen, daß der Zorn Make Makes in die Hände seiner eigenen Leute fiel. Mit einer Waffe wie dieser wäre es vermutlich nur noch eine Frage von Wo chen, bis die Nazis besiegt wären. Der Alptraum, der seit Jahren die halbe Welt verwüstete und sich anschickte, auch noch die andere Hälfte in Brand zu setzen, würde ein Ende finden.

Aber dann sah er auf Delanos verbrannten Körper hinunter, und ganz plötzlich wußte er, warum Delano ihn gebeten hatte, die unbekannte Waffe zu suchen und zu zerstören. Es gab Dinge, die man Menschen nicht antun durfte, niemals und aus keinem Grund. Das rote Licht gehörte dazu.

«Ich verspreche es«, sagte er feierlich.

«Welches Datum haben wir?«fragte Delano.

Indiana rechnete einen Moment lang im Kopf nach, dann sagte er es ihm.

«Dann haben Sie vielleicht eine Chance, Jones«, flüsterte Delano.»Mit ein bißchen Glück wird Franklin in ein oder zwei Tagen mit der HENDERSON hier eintreffen.«

«Franklin?«

«Haben Sie vergessen, daß ich offiziell zu seinem Team gehöre?«fragte Delano.»Wir haben alle nur denkbaren Möglichkeiten vorauszusehen versucht, auch die, daß wir die Insel finden und — «, er lachte,»— in deutsche Gefangenschaft geraten.«

«Franklin weiß nicht einmal, daß es diese Insel gibt. Ge schweige denn, wo sie ist.«

«Sie enttäuschen mich, Jones«, sagte Delano.»Haben Sie so wenig Vertrauen in die Fähigkeiten Ihrer eigenen Leute? Die HENDERSON wird vor dieser Insel erscheinen, Jones, früher oder später. Beten Sie, daß sie nicht zu spät kommt. Sie müssen sie warnen. Der Plan sieht vor, daß Franklin achtundvierzig Stunden abwartet. «Seine Stimme wurde immer leiser, aber er sprach auch immer schneller, als spüre er, daß er nur noch wenig Zeit hatte, weniger als er brauchte, um zu sagen, was nötig war. Indiana beugte sich vor und brachte sein Ohr dicht an Delanos Lippen, um ihn überhaupt noch verstehen zu können.

«Nach Ablauf dieser Frist schickt er einen Landungstrupp, Jones. Bewaffnete Männer. Viele Männer. Sie … sie werden sterben wie meine Soldaten. Sie müssen sie warnen. Ein … Signal. Geben Sie … das Signal. Dreimal kurz, viermal lang, einmal kurz. Dann … wissen sie, daß sie … erwartet werden und sind … vorsichtig. Drei, vier … eins. Das … Signal, Jones!«

Und damit starb er.

Es war ganz undramatisch. Kein Aufbäumen, keine Agonie — er hörte einfach auf zu atmen, das war alles, und Indiana streckte behutsam die Hand aus und schloß seine Augen.

Länger als eine Stunde saß Indiana neben dem toten Soldaten, ohne sich zu rühren, ohne ein Wort zu sagen, ohne zu reagieren, wenn einer der anderen hereinkam und ihn ansprach. Dann wußte er, was er tun konnte.

Am darauffolgenden Morgen ließ Sandstein ihn wieder zu sich kommen. Wie er Delano (Delano? Er wußte nicht einmal seinen wirklichen Namen, und dieser Gedanke erfüllte ihn mit einem absurden Gefühl von Schuld) versprochen hatte, hatte er keinem der anderen etwas von ihrer letzten Unterhaltung erzählt, sondern sich am Abend mit scheinbarer Begeisterung daran beteiligt, einen Fluchtplan nach dem anderen zu ersinnen und als aussichtslos wieder zu verwerfen. Gleichzeitig und nur für sich selbst war er jedoch damit beschäftigt gewesen, einen noch viel aussichtsloseren Plan zu entwickeln; eine Idee, die so verrückt war, daß sie im Grunde nur in einer Katastrophe enden konnte.

Aber vielleicht würde sie ja gerade deshalb funktionieren.

Sandstein erwartete ihn nicht in ihrer» Bibliothek«, sondern in dem barbarischen Thronsaal, in dem er ihr das erste Mal begegnet war. Eine Anzahl ihrer Krieger umringte sie, gewalti ge, breitschultrige Gestalten, die die kleinwüchsige Lady fast um das Doppelte überragten, einige sogar, obwohl sie vor ihr knieten. Indiana konnte nicht genau erkennen, was sie taten, aber es schien sich um eine Art Zeremonie zu handeln, denn er hörte einen monotonen, an- und abschwellenden Singsang, dessen Rhythmus etwas ungemein Beunruhigendes und Düsteres hatte. Das flackernde rote Licht einer Fackel verlieh der Szenerie zusätzlich etwas gleichermaßen Unwirkliches wie Alptraumhaftes. Sandstein trug auch jetzt wieder einen prachtvollen Mantel aus Federn, der ihre Gestalt von Kopf bis Fuß verhüllte, aber er war nicht bunt, sondern von blutroter Farbe. Indianas Schritte wurden unwillkürlich langsamer, als er sich der Gruppe näherte. Hätten es seine Bewacher zugelassen, wäre er stehengeblieben.

Als Sandstein seine Anwesenheit bemerkte, hielt sie in ihrem Singsang inne, und auch die Polynesier verstummten nach und nach. Etwas von der unheimlichen Atmosphäre der Szene schien zu verschwinden, als die düsteren Töne verstummten.

Etwas, nicht alles.

«Fräulein Adele!«sagte Indiana mit erzwungener Fröhlich keit.»Schön, Sie — «

Ein Blitzen in Sandsteins Augen hielt ihn ab, weiterzuspre chen. Sandstein starrte ihn durchdringend an, und erst jetzt wurde Indiana klar, daß der Ursprung des flackernden roten Lichtes gar keine Fackel war.

Es war der rote Kristall. Er lag in einer flachen, steinernen Schale, die Sandstein in beiden Händen hielt, und wieder fiel Indiana auf, wie sehr sein Flackern dem Schlagen eines Herzens ähnelte.

Adele Sandsteins Herzens.

An ihrem mageren, faltigen Hals pulsierte eine Ader. Und sie pochte im gleichen Rhythmus, in dem das rote Licht heller und dunkler wurde. War sie es, die diesem Stein seinen Takt aufzwang — oder waren es die dunklen, mystischen Mächte des Kristalls, die längst Gewalt über die Person erlangt hatten, die einmal Adele Sandstein gewesen war?

Indiana fürchtete sich fast vor der Antwort auf diese Frage, aber dann blickte er noch einmal in ihre Augen, und er wußte im selben Moment, daß er nicht mehr Adele Sandstein gegenü berstand, sondern der Mi-Pao-Lo, der düsteren, unsterblichen Göttin der Vogelmenschen. In diesem Punkt hatte die Prophe zeiung gelogen. Sie hatte nicht erst über das Meer kommen müssen. Sie war all die Jahrhunderte über hier gewesen. Alles, worauf sie gewartet hatte, war ein Körper, dessen sie sich bedienen konnte.

Einer plötzlichen Eingebung folgend, senkte er das Haupt und sagte in demütigem Ton:»Sie haben mich rufen lassen, Mi-Pao-Lo.«

Vielleicht hatte er ein wenig zu dick aufgetragen, denn als er wieder aufsah, wirkte Sandstein keineswegs zufrieden, sondern eher mißtrauisch. Sekundenlang starrte sie ihn schweigend an, dann scheuchte sie die vor ihr knienden Langohren mit einer unwilligen Geste davon und kam auf ihn zu. Sie starrte ihn weiter an, und obwohl Indiana sie weit überragte und sie den Kopf in den Nacken legen mußte, um ihm in die Augen sehen zu können, war er es, der sich nach Sekunden plötzlich klein und vollkommen hilflos fühlte. Er hatte das Gefühl, von einer körperlichen Last befreit zu werden, als sich ihr Anblick endlich wieder von ihm löste.

«Sie hatten Zeit, über unser Gespräch nachzudenken«, sagte sie.»Können Sie die Aufgabe lösen?«

Indiana überlegte sich seine Worte sehr gründlich. Sandstein war vielleicht verrückt, aber sie war deswegen nicht dumm.

«Ich werde es versuchen«, sagte er.»Die Zeit ist nicht sehr lang, aber ich glaube, ich habe eine gute Chance.«

«Das will ich hoffen, Jones«, sagte Sandstein (Sandstein? Nein: die Mi-Pao-Lo) ernst.»Um Ihret- und all der anderen Narren dort draußen willen.«

Indiana fragte sich, wen sie damit wohl gemeint haben moch te — Jonas und die anderen Gefangenen oder den gesamten Rest der Welt —, aber Sandstein fuhr bereits fort:»Sie können gleich mit der Arbeit beginnen, Jones. Doch zuvor möchte ich, daß Sie etwas sehen.«

Sie drehte sich mit einem Ruck um und ging zur anderen Seite des Raumes, und Indiana wurde von den Langohren hinter ihr hergestoßen, obgleich er ihr auch freiwillig gefolgt wäre. Er hatte schon lange aufgehört, sich über das Verhalten der Vogelmenschen zu wundern. Ganty hatte ihm erklärt, daß sie ein stolzes, unnahbares Volk wären, aber die Legenden der Osterinsel und das, was Indiana selbst erlebte, behaupteten etwas anderes. Sie verachteten jeden, der nicht zu ihnen gehörte. Wahrscheinlich waren er und die anderen Gefangenen in ihren Augen nicht einmal Menschen, sondern nur aufrecht gehende, sprechende Tiere.

Sandstein nahm nicht auf dem gewaltigen Thronsessel Platz, wie er erwartet hatte, sondern steuerte auf eine der schwarzen Kopfstatuen zu, die einen doppelten Ring um das Zentrum der Höhle bildeten. Die Figur war etwas kleiner als die anderen, trotzdem aber noch immer ein Koloß von mehr als drei Metern Höhe, der mindestens zehn Tonnen wiegen mußte. Und es gab noch zwei weitere Punkte, in denen sich diese von den übrigen Statuen unterschied: statt aus schwarzem Fels bestanden ihre Augen aus einem roten Kristall, der zu Tausenden von winzi gen, schimmernden Facetten geschliffen war. Und sie bewegte sich.

Im allerersten Moment hatte Indiana den ebenso absurden wie erschreckenden Eindruck, daß der steinerne Koloß sich tatsächlich aus eigener Kraft bewegte. Aber natürlich stimmte das nicht. In Wahrheit stand er auf einer hölzernen Plattform, die über ein einfaches, aber höchst wirkungsvolles System von Rollen und Hebeln von einem halben Dutzend Polynesier gelenkt und sichtlich ohne allzu große Anstrengung von der Stelle bewegt werden konnte. Es war die Figur, die er unten am Strand gesehen hatte.

«Kommen Sie, Dr. Jones!«Sandstein zeigte mit einer befeh lenden Geste auf ihre linke Seite, und Indiana beeilte sich, der Aufforderung Folge zu leisten, ehe einer seiner Bewacher dem Befehl mit einem Stoß Nachdruck verleihen würde, so daß er den Weg womöglich auf dem Gesicht über die Lava schlitternd zurücklegen mußte.

«Was haben Sie vor?«fragte er nervös.

Sandstein lächelte kalt, beantwortete seine Frage aber nicht, sondern gab den Langohren abermals einen Wink. Die Krieger bildeten rasch und lautlos einen großen, weit auseinandergezo genen Halbkreis, der zum Eingang des Raumes hin offen war.

Einen Augenblick später schwang das Tor auf, und zwei weitere Langohren betraten die Halle.

Anders als alle, die Indiana bisher gesehen hatte, trugen sie weder Federmantel noch Lendenschurz, sondern waren vollkommen nackt, dafür aber über und über mit blutroten Strichen und Linien bemalt.

Und sie hatten Angst.

Ihre Gesichter waren keine reglosen Masken, wie die der anderen Vogelmenschen, sondern von einem Entsetzen verzerrt, das Indiana schaudern ließ. Was immer diese beiden Männer fürchteten, es war schlimmer als der Tod.

«Diese beiden haben mich enttäuscht«, sagte Sandstein.»Sie haben Make-Make enttäuscht und damit ihr Recht verwirkt, in die Heimat zurückzukehren. Sie sind unwürdig, unter uns zu leben!«

Sie hatte den roten Kristall aus der Schale genommen und hielt ihn nun in beiden Händen. Rotes Licht sickerte wie Blut zwischen ihren Fingern hindurch.

Indiana ahnte, was folgen würde, aber plötzlich ging alles viel zu schnell, als daß ihm auch nur Zeit für einen erschrockenen Ruf geblieben wäre. Die Augen der Statue leuchteten auf, und im selben Augenblick begann der Kristall in Sandsteins Händen zu glühen wie eine winzige feuerrote Sonne. Eine Woge grellen, blutfarbenen Lichtes schoß auf die beiden Langohren zu und hüllte sie ein, Licht von unvorstellbarer Intensität und einer unglaublich bösartigen Farbe.

Indiana schloß die Augen, aber es nutzte nichts; das Licht war so intensiv, daß es mühelos durch seine Lider drang und ihm jedes entsetzliche Detail der Szene zeigte. Die Polynesier begannen zu schreien und sich zu winden, und das Licht wurde immer noch heller und heller, bis es ihr Fleisch und ihre Muskeln durchscheinend werden ließ, so daß er das Skelett darunter erkennen konnte. Sie brachen zusammen, doch zuvor begann sich ihr Fleisch einfach aufzulösen, als würde es von dem roten Licht wie von einer leuchtenden Säure verzehrt. Was auf dem Boden aufschlug, das waren nur mehr geschwärzte, ausgeglühte Knochen, die zu Staub und zahllosen winzigen Splittern zerbarsten.

Indiana wollte sich abwenden, aber seine Bewacher ließen es nicht zu, sondern zwangen ihn, Sandstein anzusehen.

Der Anblick ihres Gesichtes entsetzte ihn fast ebensosehr wie der Tod der beiden Polynesier. Es war eine Grimasse, in die er blickte, das verzerrte Antlitz eines Dämons, in dessen Augen Wahnsinn oder vielleicht etwas noch viel Schlimmeres leuchtete.

«Ich hoffe, Sie haben gut hingesehen, Dr. Jones«, sagte sie.

«Das ist die Strafe, die Make-Make für alle bereithält, die ihn enttäuschen. Bedenken Sie das, wenn Sie mit Ihrer Arbeit beginnen!«

Sie senkte die Hände. Das rote Pulsieren des Kristalls ließ nach und sank binnen weniger Augenblicke zu einem Glimmen herab, das nach dem grausamen Licht zuvor kaum noch zu sehen war.

Und im selben Moment ging auch mit Sandstein eine fast unheimliche Veränderung vor sich.

Indiana konnte sehen, wie alle Kraft aus ihrem Körper wich.

Ihr Gesicht erschlaffte, und das Feuer des Dämons in ihren Augen erlosch ebenso wie das Glühen des Kristalls. Sie schwankte, machte aber eine schwache, abweisende Bewe gung, als einer der Polynesier sie stützen wollte.

«Gehen Sie jetzt, Dr. Jones«, sagte sie leise. Ihre Stimme klang sehr müde.»Beginnen Sie mit Ihrer Arbeit. Wir haben nicht mehr viel Zeit.«

Während der nächsten drei Tage lernte Indiana Adele Sand stein ein halbes Dutzend Mal als sie selbst, aber auch beinahe ebensooft als Mi-Pao-Lo kennen. Der Unterschied wurde immer krasser. Aus dem reizbaren, mißtrauischen alten Weib, in das der Geist Mi-Pao-Los sie verwandelte, wurde eine unberechenbare Furie, die ihn grundlos anschrie und vor der sich selbst die Polynesier zu fürchten begannen, und im gleichen Maße wurde Adele Sandstein schwächer und stiller, als sauge der böse Geist ihr wirkliches Selbst allmählich aus, wenn sie von ihm besessen war.

Es war der Kristall, der diese furchtbare Veränderung bewirk te. Indiana traf die Mi-Pao-Lo niemals ohne den roten Feuer kristall an und Adele Sandstein niemals mit ihm. Aber er wagte nicht, sie in den seltener werdenden Stunden, in denen sie sie selbst war, darauf anzusprechen. Er hatte rasch herausgefun den, daß sich Sandstein nicht an das erinnerte, was sie tat oder sagte, wenn sie Mi-Pao-Lo war, und wenn, dann nur schemen haft und verschwommen. Aber er hatte keine Garantie, daß es umgekehrt ebenso war.

Und außerdem blieb ihm auch gar keine Zeit, sich lange mit einem der beiden Wesen zu unterhalten, die um die Vorherr schaft über Adele Sandsteins Körper stritten.

Er hatte darum gebeten, daß ihm verschiedene Dinge aus dem Wrack der Fregatte geholt würden, und Sandstein erfüllte ihm diesen Wunsch. Schon am Abend des ersten Tages hatte er den Raum, in dem sich die Inschrift befand, in ein heilloses Chaos verwandelt. Papiere, Bücher, Tabellen und Notizzettel bedeck ten jeden Quadratzentimeter des Bodens, dazu Rechenschieber, der auseinandergebaute Sextant des Schiffes und buchstäblich Hunderte von Blättern, die er mit endlosen Zahlen- und Buchstabenkolonnen vollgekritzelt hatte, dazu noch einige andere technische Gerätschaften aus dem Schiff, die er ausein andergebaut und zu neuen (und völlig sinnlosen) Apparaturen kombiniert hatte. Es war ein wirklich beeindruckender An blick.

Der allerdings auch keinem anderen Zweck diente, als diesen Eindruck zu erwecken. Nichts von alledem, was Indiana in diesen drei Tagen tat, hatte irgendeinen Sinn, außer dem, Sandstein und vor allem der Mi-Pao-Lo den Eindruck zu vermitteln, daß er wie ein Besessener arbeitete, um die In-schrift an der Wand zu entziffern.

Indiana ging trotz allem sehr behutsam zu Werke, und wenn schon für nichts anderes, so hätte er doch am Ende dieser drei Tage zumindest für seine schauspielerische Leistung eine Auszeichnung verdient. Mehr als einmal machte er bewußt den Eindruck, der Verzweiflung nahe zu sein und aufgeben zu wollen, auch wenn er damit jedesmal einen Wutausbruch der Mi-Pao-Lo provozierte. Er spielte den Zögernden. Gab sich unentschlossen. Himmelhoch jauchzend, wenn er scheinbar einen Durchbruch erzielt hatte, und im nächsten Moment wie am Boden zerstört, als ob er seinen Irrtum einsähe. Das erste Mal, daß er vorgab, zumindest zu glauben, er hätte die Bedeu tung einiger Schriftzeichen entziffert, war am Mittag des zweiten Tages.

Als er schließlich tat, als könne er nach und nach erste Infor mationen preisgeben, war er noch vorsichtiger. Er zögerte häufig, beging absichtlich Irrtümer und nahm Anweisungen, auf denen er kurz zuvor mit Vehemenz bestanden hatte, wieder zurück. Mi-Pao-Los Krieger errichteten auf Indianas Anwei sung hin ein zwölf Meter hohes Holzgerüst auf dem Krater rand, das zwar ganz hübsch aussah, aber nicht die mindeste Funktion erfüllte. Sie brauchten zehn Stunden dazu, und als sie fertig waren, erklärte Indiana, daß er sich geirrt hätte und sie die Konstruktion in nur anderthalb Metern Größe benötigten; dafür aber zwölfmal.

Mi-Pao-Lo starrte ihn nur wortlos an, als er seinen» Irrtum «eingestand. Ihrem Blick nach zu urteilen, war sie damit beschäftigt, sich ein paar originelle Todesarten für ihn auszu denken, aber sie ließ kein Wort der Kritik hören, sondern befahl den Langohren, alles zu tun, was er verlangte. Indiana bedauerte fast, ihnen nicht aufgetragen zu haben, zwölfhundert der kleinen Holzgestelle zu bauen; oder eine Nachbildung des Eiffelturms im Maßstab 1: 1.

Aber trotz allem fing er an, unter all dem Unsinn, den er die Polynesier vollführen ließ, wirklich wichtige Anweisungen zu verbergen. Er tat es vorsichtig, fast beiläufig, eine Bemerkung hier, ein Wort da, und am Schluß hatte er ein solches Gespinst von Lügen, Halbwahrheiten und völlig unsinnigen Tätigkeiten aufgebaut, daß er selbst kaum mehr durchblickte. Er konnte nur beten, daß die Polynesier all diesen Unsinn tatsächlich für den Willen ihres Gottes hielten und getreulich ausführten.

Am Abend des dritten Tages kam Sandstein noch einmal zu ihm. Sie trug ein prachtvolles Gewand aus Federn, buntem Stoff und Lederschnüren, und dazu einen barbarischen Schmuck aus vielfarbigen Korallen und Kristallen, der alles in allem einen Zentner wiegen mußte und sie zu einem mühsamen Schlurfen zwang. Unter all der barbarischen Pracht war Adele Sandstein kaum noch zu sehen. Zumindest war sie in diesem Moment sie selbst, wie Indiana nach einem einzigen Blick in ihr Gesicht erkannte. Sie wirkte unendlich müde und alt. In den acht Tagen, die Indiana sie nun kannte, schien sie um minde stens ebenso viele Jahre gealtert zu sein, und in ihren Augen stand ein Ausdruck unendlich tiefer Verzweiflung.

«Haben Sie es geschafft, Dr. Jones?«fragte sie müde.

Indiana ließ seinen Blick einige Sekunden lang über die komplizierten Linien und Strichmuster auf der Wand gleiten, die ihm jetzt so wenig sagten wie im allerersten Moment. Eine kurze Zeit hatte er tatsächlich versucht, sie zu entziffern, aber er hatte nicht den kleinsten Ansatzpunkt gefunden. Es gab einfach kein System in diesem Durcheinander. Indiana war mittlerweile nicht einmal mehr sicher, daß es sich überhaupt um eine Schrift handelte.

Trotzdem nickte er mit gewichtigem Gesicht.»Ich glaube ja«, sagte er.»Es war schwer, aber ich denke, ich habe es ge schafft.«

«Ich hoffe es, Dr. Jones«, flüsterte Sandstein. Ihre Stimme klang so müde, wie ihr Gesicht aussah, aber Indiana entging trotzdem nicht die Furcht, die darin mitschwang.»Ich weiß nicht, was geschehen wird, wenn das Zeremoniell mißlingt, aber es wird etwas Furchtbares sein.«

Indiana sah sie ernst an.»Wissen Sie denn überhaupt, was geschieht, wenn es gelingt?«fragte Indiana leise.

Aus der Furcht in Sandsteins Augen wurde für einen Moment Panik. Aber sie kämpfte sie nieder und zwang sich sogar zu einem Lächeln.»Kommen Sie, Dr. Jones. In ein paar Stunden wissen wir die Antwort auf all Ihre Fragen.«

«Jetzt?«Indiana war trotz allem überrascht. Er hatte damit gerechnet, daß man ihn zu den anderen zurückbrachte, um sie dann gemeinsam abzuholen — falls sie überhaupt an dem Fest teilnahmen. Sandstein hatte bisher keine entsprechende Bemerkung gemacht.

«Es gibt keinen Grund, zu warten«, sagte Sandstein.»Alles steht bereit, alle Vorbereitungen sind abgeschlossen, und die Feuer brennen. «Sie schien noch mehr sagen zu wollen, aber dann sah sie Indiana nur ein paar Sekunden lang schweigend an und deutete schließlich auf die Tür. Doch als er sich herumdre hen und auf die beiden Langohren zugehen wollte, die dort auf ihn warteten, rief sie ihn noch einmal zurück.

«Dr. Jones?«

Indiana blieb stehen und sah sie an.

«Versprechen Sie mir etwas«, bat Sandstein. Ihre Stimme war ganz leise, aber es war etwas darin, das Indiana einen eisigen Schauer über den Rücken laufen ließ. Er sagte noch immer nichts, aber sein Schweigen war Sandstein offensichtlich Antwort genug, denn sie fuhr nach ein paar Sekunden im gleichen, fast flüsternden Tonfall fort:»Wenn … dieses Ding vollends Gewalt über mich erlangen sollte, Dr. Jones, dann müssen Sie mich töten.«

Sie ging mit raschen Schritten an ihm vorbei und aus dem Raum, so schnell, daß er nicht einmal Gelegenheit für eine Antwort fand, und Indiana blickte ihr verstört und zutiefst betroffen nach, bis sie zusammen mit ihrer Leibwache verschwunden war. Es war nicht das letzte Mal, daß er diesen Körper sah. Aber das letzte Mal, daß er Adele Sandstein gehörte.

Die Sonne war bereits untergegangen, als ihn die beiden Vogelmenschen, die zu seiner Bewachung zurückgeblieben waren, wieder ins Freie führten. Trotzdem war es im Inneren des Vulkankraters nicht dunkel geworden. Am Himmel stand ein perfekt gerundeter Vollmond, dessen Licht von keiner Wolke beeinträchtigt wurde. Aus dem Kraterinneren drang das düsterrote Licht der Lava herauf, und von seinen Rändern herab beantwortete ein hellerer, roter Schein die Glut: das Flackern Hunderter lodernder Feuer, die die Langohren auf dem Kraterrand entzündet hatten. Die Polynesier selbst hatten auf seiner Innenseite Aufstellung genommen, so daß sich ihre Gestalten als tiefenlose, schwarze Gestalten vor dem Feuer schein abhoben. Indiana erschrak leicht, als er sah, wie viele es waren. Er hatte bisher angenommen, daß es sich um einen Stamm von vielleicht fünfzig oder hundert Kriegern handelte, eher weniger, nach dem Gemetzel am Strand — aber es waren Hunderte, wenn nicht mehr als tausend hünenhafte Krieger, die um den Krater herum Aufstellung genommen hatten, jeder einzelne ein Riese, und jeder einzelne in einen schreiend bunten, prachtvollen Federmantel gehüllt und in voller Be waffnung. Wie sie so dastanden, erinnerten sie tatsächlich an einen Schwarm gewaltiger Vögel, der sich auf dem Kraterrand niedergelassen hatte, und plötzlich mußte Indiana wieder an das denken, was Sandstein über diesen Abend gesagt hatte: Sie werden fliegen.

Er versuchte sich dagegen zu wehren, aber für einen Moment hatte er die absurde Vorstellung, daß sich all diese riesigen, unheimlichen Krieger gleich in die Luft erheben würden, um mit mächtigen Flügelschlägen über dem Krater zu kreisen.

Natürlich war schon der bloße Gedanke Unsinn. Aber seit sie dieses vergessene Eiland am Ende der Welt betreten hatten, hatte er schon viele Dinge gesehen und erlebt, die er einen Tag vorher noch als» unmöglich «bezeichnet hätte.

Erst als der Bastkorb mit Indiana und seinen beiden Bewa chern schon weit über den Krater hinausgeschwungen war, fiel ihm auf, daß ihr Ziel diesmal nicht der gegenüberliegende Eingang war. Vielmehr stiegen sie in steilem Winkel in die Höhe und näherten sich einem rechteckigen Plateau, das dicht unterhalb des Gipfels aus der Felsenwand herausgemeißelt worden war. Zwei fünf Meter hohe Kopfstatuen standen wie steinerne Wächter an den Eckpunkten des schmalen, überhän genden Stückes, und eine dritte, etwas kleinere, mit rotglühen den Kristallaugen, erwartete ihn etwa zehn Meter dahinter. Sandstein stand, in einen blutroten Federmantel gehüllt und eine lodernde winzige Sonne in beiden Händen haltend, im Schatten dieser Figur und blickte ihm entgegen. Ein gutes Dutzend besonders großer und wild aussehender Vogelmen schen flankierte sie. Von den anderen Gefangenen war nichts zu sehen.

Indiana sprang aus dem Korb, noch ehe der den Boden ganz berührt hatte, und ging auf sie zu. Aber seine Schritte wurden langsamer, je näher er ihr kam, und schließlich blieb er ganz stehen. Die Frau im Schatten der riesigen Figur war nicht mehr Adele Sandstein. Aus ihren Augen starrte ihm der Dämon entgegen.

«Kommen Sie, Dr. Jones«, sagte Mi-Pao-Lo lächelnd.»Der große Augenblick ist da. Der Moment, auf den mein Volk seit mehr als tausend Jahren geduldig gewartet hat. «Sie machte eine einladende Geste und signalisierte ihm beinahe gleichzei tig auch, ihr nicht zu nahe zu kommen. Indiana blieb einen guten Meter von ihr entfernt stehen. Nicht zu nahe, um sie zu beunruhigen, aber nahe genug, um sie mit einem entschlosse nen Sprung zu erreichen, sollte es nötig sein.

Sandstein gab ein Zeichen, und irgendwo in der Weite des Kraterrandes begann eine Trommel zu schlagen. Die Feuer brannten höher, und nach einigen Augenblicken löste sich eine Anzahl der Langohren aus dem Kreis, den die Krieger auf dem Kraterwall bildeten.

Indiana mußte sich beherrschen, um sich seine Erregung nicht zu deutlich anmerken zu lassen; um nicht allzu deutlich hinzusehen, obwohl an seiner Neugier wahrscheinlich nicht einmal etwas Verdächtiges gewesen wäre. Die Feuer brannten nicht gleichmäßig, sondern waren nach einem Muster auf dem Kraterrand verteilt, das zufällig schien, es aber sicher ganz und gar nicht war. Die Krieger, die sich aus dem Kreis gelöst hatten, traten nun mit gemessenen Schritten neben die flak-kernden Brände und fachten sie zu höherer Glut an, wozu sie große Konstruktionen benutzten, die auf absurde Weise beinahe an Fliegenklatschen erinnerten. Sie hatten sie auf Indianas Anweisung hin in den letzten beiden Tagen angefer tigt. Die Flammen loderten hell auf, sanken wieder in sich zusammen, loderten wieder auf, sanken erneut zusammen … Es war ein monotoner, langsamer Rhythmus, der etwas Einschläferndes hatte, wenn man zu lange hinsah.

Das Dröhnen der Trommel wurde lauter und schneller, ein hypnotisierender, hämmernder Takt, der nach und nach Indianas Pulsschlag, seinen Atem und selbst seine Gedanken in seinen Rhythmus zwang, und die Polynesier stimmten einen düsteren, an- und abschwellenden Wechselgesang dazu an, zu dem sie rhythmisch die Oberkörper hin und her zu wiegen begannen. Die Feuer flackerten weiter.

«Der große Moment ist da«, flüsterte Sandstein abermals.

«Mein Volk wird wieder den Platz auf dieser Welt einneh men, der ihm gebührt. «Plötzlich wechselte sie sowohl das Thema als auch die Tonlage.

«Sagen Sie, Dr. Jones«, fragte sie beinahe spöttisch,»gehören Sie zu den Männern, die ihr Wort halten?«

Es war keine von den Fragen, auf die man eine Antwort erwartet, und Indiana sagte auch nichts, so daß Sandstein nach einigen Augenblicken fortfuhr.

«Wenn ja — und ich nehme an, daß es so ist —, dann rate ich Ihnen, zum ersten Mal in Ihrem Leben mit diesem Prinzip zu brechen und das Versprechen nicht einzulösen, das Sie dieser törichten alten Frau gegeben haben.«

Indiana war nicht erschrocken — er fühlte sich plötzlich unendlich erleichtert. Die Erinnerungen Sandsteins waren für den Dämon, der sie besessen hielt, kein Geheimnis. Hätte er jedoch auch nur eine Andeutung gemacht, dann wäre alles verloren gewesen.

Hinter ihm erscholl ein lautes Poltern und Rumpeln. Indiana drehte sich halb herum und sah, daß sich in der Felswand ein Tor geöffnet hatte, durch das Jonas und die anderen Gefange nen herausgeführt wurden. Sie waren mit dünnen, aber sehr fest angelegten Hanfschnüren an den Händen und auch aneinander gebunden und wurden von einer Anzahl bewaffne ter Langohren eskortiert, die sie mit groben Stößen vor sich hertrieben.

«Sehen Sie nur, Jones!«sagte Sandstein erregt.»Es beginnt.

Meine Krieger werden sich zu den Sternen emporschwingen, damit sich die Tapfersten der Tapferen beweisen und ihre Stärke an die nächste Generation weitergeben können!«

Indiana stockte im wahrsten Sinne des Wortes der Atem, als sein Blick Sandsteins ausgestrecktem Arm folgte.

Die großen Kräne, die den Langohren normalerweise dazu dienten, sich in direkter Linie von einem Stolleneingang zum anderen zu schwingen, ohne jedesmal den Umweg über den Kraterrand in Kauf nehmen zu müssen, waren jetzt allesamt aufgerichtet und wiesen nach innen. Dutzende von Vogelmen schen, allesamt in prachtvolle Federmäntel gehüllt, waren auf die großen Holzgerüste hinaufgestiegen — und gerade, als Indiana aufsah, stürzte sich der erste Polynesier mit weit ausgebreiteten Armen in die Tiefe!

Nicht nur Nancy Barlowe schrie gellend auf und schlug sich erschrocken die Hand vor den Mund.

Aber der Polynesier stürzte nicht ab.

Zwanzig, dreißig Meter weit fiel er wie ein Stein in die Tiefe, doch dann breitete er plötzlich die Arme aus, und der bunte Federmantel spannte sich zwischen den Armen und dem Körper, so daß es tatsächlich aussah, als hätte der Mann ein Paar gewaltiger Flügel. Aus dem rasenden Sturz wurde ein rasch langsamer werdendes, kreisendes Gleiten, eine abwärts gerichtete Spirale, bis er das Ende des langen, elastischen Seils erreicht hatte, das ihn mit dem hölzernen Gestell auf dem Kraterrand verband. Der Polynesier befand sich jetzt allerhöch stem noch zwanzig Meter über der hellorange glühenden Lava des Kraterinneren. Die Hitze dort unten mußte unerträglich sein, aber die aufsteigende, glühende Luft fing sich jetzt auch unter den Flügeln des Vogelmenschen und ließ ihn weiter seine majestätischen Kreise ziehen, so daß er tatsächlich wie ein bizarrer Riesenvogel aussah, der über einem Meer von Feuer dahinglitt. Indiana fragte sich, wie lange der Polynesier die mörderische Hitze noch aushalten würde.

«Unglaublich«, flüsterte Ganty neben ihm. Wie Indiana und alle anderen blickte er in die Tiefe, während sich über ihnen ein zweiter und dritter und dann immer mehr Polynesier dem flammenden Feuersee entgegenstürzten. Hitze und Licht trieben ihm die Tränen in die Augen, aber er sah trotzdem nicht weg, ja, er blinzelte nicht einmal.»Sie … sie fliegen!«

«Sie haben das nicht gewußt?«fragte Indiana.

Ganty schüttelte den Kopf, ohne Indiana anzusehen.»Nein.

Ich … wußte nicht, was ihr Name wirklich bedeutet.«

Immer mehr und mehr Krieger stürzten sich nun auf ihren bunten Riesenschwingen in die Tiefe, wo sie wie ein gewalti ger Schwarm bizarrer, übergroßer Vögel unter ihnen kreisten. Das grelle Licht der Lava, in das Indiana blickte, ließ ihre Umrisse verschwimmen und machte die dünnen elastischen Taue, an denen sie hingen, unsichtbar. Sie begannen immer schneller um- und übereinander zu kreisen, so daß Indiana sich unwillkürlich fragte, wieso sich die Seile nicht ineinander verhedderten oder sie in der Luft zusammenstießen.

Nach einer Weile begann er ein System in dem nur scheinbar willkürlichen Gleiten und Schweben zu erkennen. Die Vogel menschen kreisten nicht planlos herum, sondern folgten ganz bestimmten, komplizierten Bahnen, auf denen sie sich manch mal so nahe kamen, daß sie beinahe zu kollidieren schienen, sich immer wieder auch in jähen Sturzflügen mit angelegten Schwingen in die Tiefe warfen oder aber mit weit ausgebreite ten Flügeln auf der aufsteigenden heißen Luft nach oben ritten.

Was sie beobachteten, war ein Kampf. Er war allerdings nicht echt, sondern ein stilisiertes Ritual von genau festgelegten Bewegungen, Attacken und Paraden, Ausweich- und Angriffs bewegungen. Ein majestätischer Tanz, der bizarr und anmutig, erschreckend und faszinierend zugleich war.

Eine gute halbe Stunde standen sie schweigend da und sahen dem Tanz der Vogelmenschen zu, der vom an- und abschwel lenden Rhythmus der Trommeln untermalt wurde. Manchmal — Gesetzmäßigkeiten folgend, die Indiana nicht zu durchschauen vermochte — schied einer der Vogelmenschen aus dem Tanz aus und wurde nach oben gezogen, woraufhin sofort ein anderer seinen Platz übernahm. Die Zahl der Tänzer blieb so immer gleich.

Indiana hob verstohlen den Blick und sah zum Kraterrand empor. Die Feuer brannten noch immer, und ihr roter Schein zeichnete noch immer das gleiche Muster in den Himmel.

Es war Indiana selten so schwergefallen wie jetzt, Geduld zu beweisen. Natürlich wußte er, daß es viel zu früh war. Selbst wenn die HENDERSON dort draußen war und wenn Franklin sein Signal auffing und darauf reagierte, konnten seine Leute noch nicht hier sein.

«Was haben Sie, Jones?«fragte Ganty neben ihm.

Indiana drehte sich zu ihm um, allerdings erst, nachdem er einen raschen, sichernden Blick zu Sandstein hinübergeworfen hatte. Aber die Mi-Pao-Lo war von dem Geschehen unter ihnen ebenso gebannt wie alle anderen und schenkte weder ihm noch den übrigen Gefangenen auch nur die mindeste Beachtung.

«Sie sehen nervös aus«, fuhr Ganty fort. Er sah kurz zum Kraterrand hinauf und lächelte.»Haben Sie Angst vor dem, was passiert, wenn Make-Make nicht antwortet?«

Indiana schwieg weiter. Er spürte, daß Ganty auf etwas ganz Bestimmtes hinauswollte, und er ahnte sogar, worauf.

Ganty runzelte die Stirn. Als er weitersprach, klang seine Stimme sehr ernst.»Ich habe eine Menge Hochachtung vor Ihnen, Dr. Jones«, sagte er.»Aber Sie können mir trotzdem nicht erzählen, daß es Ihnen gelungen sein soll, in nur drei Tagen diese Schriftzeichen zu entziffern. Was immer sie dort oben tun, sie rufen nicht die Götter an. Aber irgend etwas tun sie. Ich frage mich nur, was das ist.«

Indiana zögerte noch eine letzte Sekunde — und dann sagte er es ihm.

Ganty riß verblüfft die Augen auf.»Wie bitte?«

Erschrocken gab ihm Indiana ein Zeichen, leiser zu sein.

Ganty senkte zwar gehorsam die Stimme wieder zu einem Flüstern, aber er klang genauso verblüfft und ungläubig, als er weitersprach.»Das … das glaube ich nicht! So blöd können sie gar nicht sein!«

Indiana lächelte flüchtig, wurde aber sofort wieder ernst.»Es ist kein Zeichen von Dummheit, auf etwas hereinzufallen, das man nicht kennt, Ganty.«

«Sie sind wahnsinnig, Jones!«murmelte Ganty.»Wenn sie herausfinden, daß Sie sie betrogen haben, dann — «

«— wird auch nichts anderes geschehen als das, was uns ohnehin bevorsteht«, fiel ihm Indiana ins Wort. Er deutete auf Sandstein.»Schauen Sie sie an, Ganty! Glauben Sie wirklich, sie würde auch nur einen von uns lebend hier weglassen?«

Ganty folgte seinem Blick. Er schwieg, aber in seinem Ge sicht arbeitete es. Und selbst Indiana erschrak, als er ebenfalls wieder in Sandsteins Richtung sah.

Ihr Gesicht hatte sich vollends in eine Grimasse verwandelt.

Aus der sanftmütigen, alten Frau war ein Dämon geworden, der kaum mehr menschlich aussah. Indiana begriff, daß sie endgültig zur Mi-Pao-Lo geworden war. Adele Sandstein existierte nicht mehr. Ihr Körper war nur noch eine Hülle, die einem uralten, bösen Etwas als Werkzeug diente.

Und dieses Etwas schien seinen Blick zu spüren, denn es wandte sich plötzlich um und starrte ihn aus lodernden, roten Augen an.»Der Moment ist nahe, Dr. Jones!«murmelte Sandstein.»Nur eines fehlt noch, um die Beschwörung zu vollziehen.«

Indianas Herz begann zu klopfen. Etwas … stimmte nicht.

Plötzlich hatte er das sichere Gefühl, irgend etwas übersehen, etwas Wichtiges vergessen zu haben.

«Ein Leben«, fuhr Sandstein fort.»Die Götter verlangen Blut, wenn sie uns ihr Gehör schenken sollen. «Sie lachte spöttisch, leise und unendlich böse.»Nun, Dr. Jones — wer soll es sein?«

Indiana verstand nicht gleich.»Wie bitte?«

Sandstein lachte noch einmal und lauter und deutete mit vagen, flatternden Bewegungen auf Indiana und die anderen.

«Ohne Ihre Hilfe wäre dieser Moment nicht möglich gewe sen, Dr. Jones«, sagte sie.»Deshalb bin ich in gnädiger Stimmung.

Ich überlasse es Ihnen, das Opfer zu bestimmen.«

Ein einziger Schauer überlief Indiana.»Was soll ich?«fragte er noch einmal, obwohl er im Grunde sehr genau wußte, was Sandsteins Worte bedeuteten. Aber es war eine solche Unge heuerlichkeit, daß er sich einfach weigerte, es zu glauben.

Das Lächeln in Sandsteins Augen erlosch.»Stellen Sie sich nicht dumm!«sagte sie ärgerlich.»Sie wissen sehr gut, wovon ich rede, auch wenn Sie so unaufmerksam waren, ausgerechnet diesen Teil der Inschrift nicht zu übersetzen. Make-Make verlangt Blut. Wenn Sie nicht bereit sind, das Opfer zu bestimmen, so werde ich es tun.«

Sie blickte ein paar Sekunden nachdenklich von einem zum anderen und deutete dann auf Ganty.»Sie!«

Ganty fuhr entsetzt zusammen. Er wich einen Schritt zurück, aber die Stricke, die ihn mit den anderen verbanden, stoppten seine Bewegung.

«Warum ausgerechnet er?«fragte Indiana.

Sandstein lachte.»Warum nicht? Oh, ich weiß, was Sie für Mr. Ganty empfinden, Dr. Jones. Aber sehen Sie es einmal so: Mr. Ganty hat die Hälfte seines Lebens damit zugebracht, mein Volk zu beschützen. Nun wird er es dafür opfern, es in die Freiheit zurückzuführen. Gibt es denn etwas Schöneres, als für genau das zu sterben, wofür man gelebt hat?«

«Sie sind ja wahnsinnig«, murmelte Indiana.

Und sprang vor.

Die Bewegung war so schnell, daß sie ihn beinahe selbst überraschte. Die beiden Langohren, die rechts und links von Sandstein standen, versuchten noch zu reagieren, aber sie kamen viel zu spät. Indiana prallte gegen Sandstein, entriß ihr den Kristall, schleuderte sie zu Boden und sprang im selben Augenblick wieder zurück. Drohend hob er den lodernden roten Stein in die Höhe.

Die Polynesier erstarrten. Eine Mischung aus Fassungslosig keit und Entsetzen breitete sich auf ihren Zügen aus, aber keiner der Krieger wagte es, auch nur einen Schritt in seine Richtung zu tun.

Indiana hob den Kristall mit ausgestreckten Armen weiter in die Höhe, bis er direkt vor seinem Gesicht leuchtete und flammte. Das grelle, blutfarbene Licht — und vor allem das Wissen um das, was dieser Stein zu tun vermochte — hatten ihn verzehrende Hitze und Glut erwarten lassen, aber was er fühlte, war das genaue Gegenteil. Der Kristall war kalt. Seine Finger und seine Hände wurden gefühllos und steif, und die Kälte kroch rasend schnell weiter in seinen Arm empor.

Aber es war nicht nur Kälte.

Der Woge aus eisiger Taubheit folgte etwas anderes, Schlimmeres. Etwas Dunkles und Uraltes, das seit undenkli chen Zeiten im Inneren des Kristalls gelauert hatte, etwas, das so alt war wie diese Welt, vielleicht älter, und unvorstellbar böse. Aber er spürte auch die Verlockung, die ihm innewohnte, und die unvorstellbare Macht, die ihm zur Verfügung stehen würde, wenn er sich ihr hingab.

Wie durch einen roten Schleier hindurch sah er, daß Sand stein wieder aufstand und einen Schritt auf ihn zutrat.»Worauf warten Sie, Dr. Jones?«fragte Sandstein noch einmal.» Sie können es tun! Töten Sie mich! Töten Sie alle hier! Es liegt jetzt allein in Ihrer Macht. Sie können uns alle vernichten und Ihr Leben und das Ihrer Freunde und ihre Freiheit retten! Es ist ganz leicht. Sie müssen es nur wollen!«

Indiana wußte, daß sie die Wahrheit sagte. Ein einziger Gedanke, der bloße Wunsch, und der Kristall würde das rote Feuer, das Delano und seine Männer umgebracht hatte, gegen Sandstein und ihre Krieger schleudern.

Aber er wußte auch, daß er dann verloren war.

Das Ungeheuer war nicht die alte Frau vor ihm.

Es war der Kristall. Es war das böse, pochende Herz der Feuerkugel, die er in seinen Händen hielt. Sandstein war nur ein Werkzeug, und wenn er sich der unvorstellbaren Macht des Kristalls auch nur ein einziges Mal bediente, dann würde er werden wie sie, eine Marionette, die nicht einmal mehr wirklich lebte.

«Tun Sie es, Jones!«sagte Sandstein.»Retten Sie Ihr Leben!«

Indiana begann zu zittern. Stöhnend taumelte er einen unsi cheren Schritt auf sie zu, blieb wieder stehen — und ließ die Arme sinken.

Ohne jede Hast nahm Sandstein ihm den Kristall aus den Händen. Sein Pulsieren wurde wieder langsamer, als er sich dem ruhigeren Schlagen ihres Herzens anpaßte. Indiana atmete hörbar auf. Er hatte den Teufel in Händen gehalten, und für einen Moment war er ganz nahe daran gewesen, ihm seine Seele zu verkaufen. Er begann zu schwanken und wäre gestürzt, hätte ihn einer der Langohren nicht auf einen Wink der Mi-Pao-Lo hin aufgefangen.

«Sehen Sie, Jones?«sagte Sandstein lächelnd.»Jetzt haben Sie doch noch selbst die Wahl getroffen. «Sie machte eine befehlende Geste.»Bereitet ihn vor. Und die anderen auch!«

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