IV Die große Verantwortung

Sogar auf zwei Meilen Entfernung sah Bolitho, wie die Fregatte von einem heftigen Beben geschüttelt wurde, als die Breitseite über sie hinfegte. Der Pirat mußte hoch gezielt haben, denn als der Rauch davonwehte, waren die Verheerungen, die der plötzliche Überfall hinterlassen hatte, deutlich zu sehen. Die Großroyalstenge war über Bord gegangen, und wie nach einem Sturm waren die meisten Segel durchlöchert und zu Fetzen zerschlissen.

Bolitho riß sich von den Wanten los, die er krampfhaft umklammert hatte. Seine Leute standen zu bewegungslosen Figurengruppen erstarrt. Die Männer waren so betroffen, daß sie weder denken noch sich rühren konnten.

«Mr. Tyrell«, brüllte er,»lassen Sie auf allen Decks klar zum Gefecht trommeln!«Dann packte er Bethune am Arm und schrie in sein verwirrtes Gesicht.»Flagge heißen!»

Ein Schiffsjunge griff nach seiner Trommel. Die Schlegel wirbelten:»Klar Schiff zum Gefecht.»

In die Männer auf dem Geschützdeck und auf der Back, von wo sie dem leichten Sieg der Miranda hatten zusehen wollen, kam wieder Leben. Alle rannten auf ihre Gefechtsstationen. Aber da gab es nicht mehr die automatischen Bewegungen von Seeleuten beim Drill. Und nirgendwo herrschte das grimmige Schweigen kampferprobter Männer, die sich zu einem neuen Gefecht bereit machten. Die Besatzung war zu verwirrt, um sich sinnvoll zu verhalten. Einige prallten aufeinander, andere standen an falschen Geschützen. Manche tappten mit fremden Ausrüstungsstücken herum, bis sie ein Unteroffizier mit Fußtritten wegjagte.

Bolitho blickte Buckle an, der sich bemühte, in all dem Durcheinander seine Stimme ruhig zu halten.

«Die unteren Segel aufgeien, Bramsegel setzen! Es werden ohnehin genug Funken fliegen! Nicht notwendig, daß auch die Segel um unsre Ohren herum abbrennen.»

Polternd und klappernd wurden unter dem Achterdeck Trennwände niedergerissen. Mit trampelnden Füßen schleppten die Matrosen Pulver für die Kanonen aus den Magazinen herbei.

Bolitho zwang sich, die heransegelnden Schiffe in Ruhe zu beobachten. Er wußte, daß es viel zu lange dauerte, bis die Sparrow kampfbereit war. Wie nahe der Feind schon war! Wieder dröhnte Geschützfeuer. Rauch wölkte in dicken Schwaden zwischen den Schiffen, und er konnte nicht ausmachen, was sich dort abspielte.

Als der Qualm davontrieb, sah Bolitho die Rahen der Miranda herumschwingen. Er hielt den Atem an. Die Fregatte hatte eine Wende eingeleitet, um zu dem Kaperschiff parallel zu segeln.

Im wehenden Pulverdampf brüllten wieder die Kanonen. Wie orangefarbene Zungen blitzten ihre Mündungsfeuer über die aufgewühlte See. Manche der Geschosse peitschten über das Wasser davon. Gischtfontänen bezeichneten ihren Weg von Welle zu Welle, bis sie plötzlich hinter einer großen Woge verschwanden.

Das Wendemanöver der Miranda war quälend langsam. Ihre blatternarbigen Segel flappten schwach, als sie sich endlich vor den Wind legte. Wahrscheinlich wollte ihr Kapitän das stärkere Freibeuterschiff Seite an Seite bekämpfen, oder aber er versuchte, hinter seinem Heck vorbeizuscheren und ihn mit einer Breitseite zu bestreichen.

Bolitho hörte jemand aufstöhnen, als der Franzose wieder in den Qualm hineinfeuerte. Schuß auf Schuß schmetterte in die hinter Rauchschwaden verborgene Flanke der Miranda. Fast konnte man über die schäumenden Kronen der Wellen hinweg die Einschläge spüren.

Der Augenblick, über die Fregatte herzufallen, während sie über Stag ging, war hervorragend abgepaßt. Offensichtlich benützte der Feind Kettenkugeln, denn als die Breitseite in die Miranda hineinkrachte, sah Bolitho, wie ihr Fock- und Großmast taumelten und dann unter den Treffern aufzuckend seitwärts in den Rauch hinunterkippten. Von einem schnittigen, herrlichen Schiff war die Fregatte zu einem verkrüppelten Wrack zusammengeschossen, bevor sie auf neuen Kurs gehen konnte. Ihr Buggeschütz feuerte blindlings in Richtung des Feindes, und von ihrem Besanmast wehte immer noch das Scharlachrot der Flagge.

«Schiff ist klar zum Gefecht«, brüllte Tyrell mit wilder Stimme. Bolitho sah ihn an.»Lassen Sie bitte laden und ausrennen.»

Der Leutnant blickte ihm ins Gesicht. Seine Augen blitzten hell in der Sonne.»Wollen Sie's etwa mit beiden aufnehmen, Sir?«»Wenn nötig, ja.»

Bolitho wandte sich um, als wieder Schüsse über die immer geringer werdende Entfernung hallten. Er sah, wie die Brigg sich von den beiden größeren Schiffen löste. Ihre Großstenge neigte sich in einem bedrohlichen Winkel. Die ersten Kugeln der Miranda hatten dort ihr Ziel gefunden. Unter seinen Schuhen zitterten die Decksplanken, als die Stückpforten sich öffneten und die achtzehn Kanonen ihre Mäuler quietschend und rumpelnd ins Sonnenlicht reckten. Halbnackte Seeleute rutschten auf dem sandbestreuten Deck aus, während sie versuchten, den Takt der Kommandos einzuhalten, die ihre Geschützführer ihnen zubrüllten. Bolitho starrte über sein Schiff hin. In seinen Gedanken stieg Verzweiflung auf. Ein paar Augenblicke später würde alles zu Ende sein. Sein Schiff, seine geliebte Sparrow, würde das Schicksal der Fregatte teilen.

Für den Feind war alles so lächerlich einfach gewesen. Zu oft war es schon geschehen, daß beim Anblick eines hilflosen Kauffahrers, der von einem gutbewaffneten Piraten angefallen wurde, nicht der geringste Verdacht entstanden war. Kein Wunder, daß die Segel der Brigg in diesem sorgfältig gespielten Manöver keinerlei Treffer aufwiesen. Wie mußten die beiden feindlichen Kapitäne gelacht haben, als die Miranda aus dem Verband ausscherte, um ihren eigenen Mörder zu verteidigen.

Er hörte Stockdale mächtig schnaufen, dann fühlte er, wie sich der Degengürtel um seine Hüften spannte.

«Bei Gott, Sir, schlechte Chancen«, zischte sein Bootsführer.

«Wahrschau an Deck!«Beim Anblick des Unheils war der Ausguck vergessen worden.»Miranda macht klar zum Entern!«Der Ausguck brüllte ein brüchiges Hurra.»Sie geht zum Nahkampf über!»

Bolitho rannte zur Reling. Die Fregatte war hinter den wuchtigeren Umrissen des Feindes fast versteckt, aber aus der Stellung ihres Besanmastes konnte er sehen, daß sie tatsächlich auf ihren Angreifer zutaumelte. Wieder wirbelte der Rauch einer Geschützsalve zwischen den Schiffen auf, und der letzte Mast der Miranda verschwand in einem Wirrwarr von Tauwerk und zerfetztem Segeltuch. Aber Bolitho sah auch die plötzliche Bewegung hinter dem Schanzkleid des Kaperschiffes, das Gewimmel von Menschen um ihren Fockmast. Dann konnte er ausmachen, wie sich der Bug der zerfetzten Fregatte an das Vorschiff des Feindes heranschob. Schwaches Musketenfeuer drang über das Wasser her, und er konnte das sprichwörtliche Blitzen von Stahl stehen, als die beiden Schiffe im nächsten Augenblick zusammenrammten und das Handgemenge begann.

Er packte Tyrells Arm.»Die Miranda hat für uns Zeit gewonnen!«Er bemerkte kein Verstehen, nur Unglauben in den Augen des Leutnants.»Wenn sie eine Weile aushält, können wir an die Brigg rangehen.»

Er beschattete seine Augen gegen den Sonnenglanz und beobachtete, wie die Brigg auf die beiden Transportschiffe losstürmte.

«Sie wird vor dem Bug der Golden Vleece vorbeisegeln und sie mit ihren Geschützen bestreichen.»

Laut brüllte er seine Gedanken hinaus.»Wir werden sofort über Stag gehen, zwischen den Transportern durchsegeln und die Ehrung erwidern!»

Tyrell biß sich auf die Lippen.»Aber wir könnten dabei mit dem Feind kollidieren, Sir!»

Bolitho packte ihn bei den Schultern, drehte ihn herum und deutete zu den ineinander verbissenen Schiffen hinüber.

«Mann, wollen Sie, daß diese Burschen dort für nichts sterben?»

Er stieß ihn zur Reling.»Und jetzt klar zum Wenden, sobald ich den Befehl gebe!»

Die Brigg lag nun etwa eine Meile entfernt, genau vor dem schnittigen Klüverbaum der Sparrow. An Bord des ersten Transportschiffes wirbelte der Rauch eines Schusses auf, doch war kein Treffer auszumachen.

«Signalisieren Sie den Transportern, auf Station zu bleiben, Mr. Bethune!«Er wiederholte den Befehl, um den Fähnrich aus seiner Erstarrung herauszureißen.»Vorwärts!»

Wenn einer der beiden Transporterkapitäne jetzt den Kopf verlor, würde alles schiefgehen. Mit Leichtigkeit könnte der Feind sie dann erledigen oder aufbringen. Auch jetzt noch war nicht viel zu hoffen. Von der ersten schrecklichen Überraschung bis zu diesem Augenblick waren tatsächlich nur wenige Minuten vergangen.

Bolitho stützte sich auf die Reling. Seine Augen schweiften über die geduckten Kanoniere, über die beiden Rudergänger an ihrem ungeschützten Ruderrad und zu Buckle hin, der mit grimmigem Gesicht nach oben in die Segel starrte.

Dann fiel sein Blick auf Raven, den neuen Steuermannsmaat, der ihn schuldbewußt und unglücklich anstarrte.»Sie konnten das nicht wissen«, sagte Bolitho.»Das Kaperschiff war früher tatsächlich ein Indienfahrer.»

Raven schüttelte den Kopf. Er war so sehr mit seinem Mißgeschick, den Feind nicht erkannt zu haben, beschäftigt, daß er das immer wieder aufflammende Geschützfeuer gar nicht zu bemerken schien.»Ich hätte es sehen sollen, Sir, aber ich sah nur, was ich zu sehen erwartete, und es tut mir mächtig leid, weil Sie mir eine Chance gegeben haben vorwärtszukommen.»

Bolitho lächelte. Es kostete ihn solche Anstrengung, daß er meinte, die Lippen müßten ihm reißen.

«Und heute werde ich Ihnen noch mal eine Chance geben, Mr. Raven. «Er trat zurück. Die Hände hielt er hinter seinem Rücken verschränkt, der Degen schlug leicht gegen seine Hüfte.

Buckle schürzte seine Lippen zu einem lautlosen Pfeifen.»So ein gelassener Bursche, der Tod schleicht sich durch die Ankerklüse an Deck, und er spaziert auf und ab wie zum Vergnügen.»

Mit starrem Lächeln schritt Bolitho das Achterdeck ab. Über dem Kanonenfeuer wartete er mit angespanntem Gehör auf die Meldung, daß die Brigg den ersten Transporter erreicht hatte. Wenn der feindliche Kapitän Bolithos Plan durchschaute, war alles sinnlos. Dann müßte die Sparrow entweder aus dem Gefecht fliehen und die wichtigen Neuigkeiten dem Admiral überbringen oder bleiben und sich zum Todeskampf mit dem verkappten Indienfahrer rüsten. Dann und wann feuerten immer noch einige Kanonen der Miranda. Ihre Geschützmündungen berührten fast das feindliche Schiff. Zwischen den Decks der Fregatte mußte es wie in einem Schlachthof aussehen. In Bolithos Gedanken breitete sich Verzweiflung aus.

«Die Brigg passiert den Bug des Transporters«, brüllte Tyrell in diesem Augenblick.

Heftige Explosionen hallten über die See. Bolitho wußte, daß die Brigg nun ihre Steuerbordbatterie abfeuerte, während sie vor dem Bug des Transportschiffes vorbeirauschte. Bevor sie hinter der plumpen Masse der Golden Vleece verschwand, sah Bolitho die amerikanische Flagge übermütig von ihrer Gaffel wehen und auf ihrem niedrigen Deck die Musketen der Scharfschützen aufblitzen.

«Jetzt!«Bolithos Stimme zerschnitt gellend die Luft.»Ree!»

Das Ruder drehte sich ächzend. Auf den dichtbesetzten Decks warfen sich die Seeleute an die Brassen, und der ganze Schiffsrumpf zitterte unter der Erschütterung. Blöcke kreischten, und die mächtigen Rahen schwangen knarrend mit solcher Geschwindigkeit herum, daß Bolitho fühlte, wie das ganze Schiffsgefüge sich bebend auflehnte. Aber nichts kam von oben. Das Rigg hielt stand, und als sich die Sparrow in der Wende stark überlegte, hoben sich die killenden Segel und füllten sich im Schub des Windes.

Bolitho hob beide Hände an den Mund.»Mr. Graves! Zuerst die Backbordgeschütze! Sie werden den Zweiunddreißigpfünder selbst richten!»

Graves nickte. Dann verschwand er unter der Back und rannte an das Buggeschütz.

Wie schnell die Sparrow segelte, obwohl ihre unteren Segel wegen der Feuergefahr während des Gefechtes aufgegeit waren. Die Großstenge schien sich nach vorn zu biegen, der Stander im Topp zuckte waagrecht im Wind und deutete über den Bug voraus, als ob er den Weg weisen wollte.

Schon kreuzte der Klüverbaum hinter dem Heck des führenden Transporters durch, und an Steuerbord sah Bolitho das zweite Frachtschiff, die Bear, die ihren Kurs leicht änderte, als ob sie eine Kollision mit der Korvette fürchtete, die schäumend ihren Weg kreuzte. Jenseits der Golden Vleece krachten wieder Schüsse, und der Rauch, der längs ihrem Rumpf aufquoll, zeigte deutlich, wo die Brigg vorbeizog.

Vom Bug her gellte ein Schrei:»Das ist sie, backbord voraus!»

Das unerwartete Auftauchen der Sparrow zwischen den beiden Transportern schien den Kapitän der Brigg völlig überrascht zu haben. Der Amerikaner segelte auf Steuerbordbug mit einer Kabellänge Abstand an der Seite der Golden Vleece entlang.

«Wir werden vorm Bug der Brigg passieren und sie gleichzeitig mit der Backbordbatterie bestreichen«, schrie Bolitho. Er bemerkte, daß ihn einige der Leute mit angespannten und verwirrten Gesichtern von ihren Stationen bei den Geschützen anstarrten. Er zog seinen Degen und hob ihn hoch über den Kopf.»Haltet euch gut, Männer! Jede Kugel ein Treffer!»

Die Brigg war nun kaum eine Kabellänge entfernt. Der Bugspriet zeigte im rechten Winkel auf die Gallionsfigur der Sparrow. Der Abstand schrumpfte mit fürchterlicher Geschwindigkeit zusammen, und Bolitho wußte, wenn er sich verschätzt hatte oder wenn der Wind in diesem Augenblick abflaute, dann würde der Feind wie ein Rammbock in die Flanke der Korvette krachen und ihre Planken weit aufreißen.

Der große Zweiunddreißigpfünder im Bug brach den Bann. Das Bersten der Explosion übertrug sich mit heftigem Beben der Decksplanken bis zu den Füßen Bolithos hin. Er sah, wie drüben auf der Brigg Wanten brachen und helle Holzsplitter durch die Luft wirbelten, als die Kugel in die festgezurrten Boote schmetterte. Dann folgte Schuß um Schuß der vollen Breitseite. Graves tobte wie ein Teufel im rauchverschleierten Sonnenlicht, schwang seinen Säbel und brüllte einer Geschützbedienung nach der anderen seine Befehle zu.

In wahnsinniger Hast versuchte der feindliche Kapitän sein Schiff zu wenden, um dem rasenden Angriff der Sparrow zu begegnen. Aber die Brigg konnte ihre Artillerie nicht zum Einsatz bringen. Teile des Riggs und die meisten Vorderwanten hingen wie schwarzer Seetang über ihr Deck. Sie taumelte wie betrunken im wohlgezielten Geschoßhagel.

Endlich brachte der Feind mit hartgelegtem Ruder sein Schiff wieder unter Kontrolle, und die zerfetzten Segel fingen wieder etwas Wind ein. Da und dort krachte ein Schuß, aber in ihrer Eile und Aufregung schossen die Amerikaner auf gut Glück in den wirbelnden Rauch.

«Laden und ausrennen«, brüllte Tyrell in das Getöse.»Schneller!»

Bolitho beugte sich zum Geschützdeck hinunter.»Nicht auf eine Breitseite warten«, schrie er.»Jeder Geschützführer soll feuern, sobald er geladen hat!«Er wußte, daß diese Geschützbedienungen nicht in der Lage waren, eine gemeinsame Salve abzufeuern, wenn sie erst einmal unter dem Beschuß des Gegners lagen.

«Auswischen, Sie Trottel!«Krächzend zerrte Graves einen verwirrten Mann wieder an sein Geschütz.»Sind Sie blödsinnig?»

Er stieß den unglücklichen Kanonier zu seinem Geschützführer.»Ich werde Sie in Eisen legen lassen, wenn Sie. «Das Ende der Drohung erstickte im tobenden Lärm.

Die Brigg hatte langsam den Kurs geändert und lag nun schräg zum Achterschiff der Sparrow auf der Backbordseite. Rauchfahnen trieben über Bolitho hin. Er fühlte Musketenkugeln in die Planken klatschen und hörte ein irrsinniges Winseln, als ein Geschoß nur wenige Fuß neben ihm von einem Geschütz abprallte.

Verzweifelt wisperte Stockdale:»Bewegen Sie sich, Sir! Die Hunde werden Sie sonst abknallen.»

Bolitho starrte ihn an. Er wußte, daß sein Gesicht zu einem wilden Grinsen verzerrt war. Immer wieder verblüffte es ihn, wie leicht man Zurückhaltung und Vernunft verlor, sobald ein Gefecht begonnen hatte. Später vielleicht… Er schüttelte sich. Wenn sie mit dem größeren Schiff aneinandergerieten, dann würde es kein Später geben.

«Sie schießen nur blindlings drauflos, Stockdale. «Bolitho wies mit seinem Degen über das Achterdeck. Keiner der Offiziere hatte Zeit gehabt, seinen Uniformrock anzuziehen und den Hut aufzusetzen. Wie er selbst trugen alle nur Kniehose und Hemd, und selbst diese waren vom treibenden Pulverdampf geschwärzt.

«Schauen Sie her, wie sollen die da drüben den Käptn herausfinden?»

Ein Seemann an den Besanbrassen stieß einen schrecklichen Schrei aus und wurde, getroffen vom harten Schlag einer Musketenkugel, Bolitho vor die Füße geschleudert. Blut quoll aus seiner Brust, wimmernd wälzte er sich in Todesqualen.

«Kümmern Sie sich um diesen Mann, Mr. Bethune. «Der Fähnrich zögerte. Unter den Sommersprossen war sein Gesicht kreidebleich. Beißend fügte Bolitho hinzu:»Ihre Mutter ist zu Hause, Junge, Sie müssen also allein flennen. Zuerst aber haben Sie jetzt Ihre verdammte Pflicht zu tun!»

Bethune kniete nieder, seine Hosen waren blutbesudelt, aber in seinen Zügen zeigte sich plötzlich Entschlossenheit, als der sterbende Seemann nach seiner Hand griff.

«Der Yankee versucht hinter unserm Heck durchzukreuzen, Sir!«brüllte Buckle.

Bolitho nickte. Etwas anderes blieb dem Feind nicht mehr zu tun übrig. Die meisten seiner Segel waren durch Geschützfeuer zerfetzt. Durch den wahnwitzigen Angriff der Sparrow zwischen den beiden Transportern heraus schon fast geschlagen, mußte der Kapitän der Brigg entweder achtern vorbeikreuzen oder wenden und dabei riskieren, daß sein Heck unter Beschuß geriet.

«Klar zur Wende, Mr. Buckle«, schrie Bolitho.»Gehen Sie auf Backbordbug und folgen Sie der Wende der Brigg. Bug zum Heck!«Er grinste immer noch, aber er spürte, daß seine Lippen vor Anspannung rissig wurden, als seine Leute abermals an die Brassen stürzten. Ihre rußgeschwärzten Körper glänzten in der gleißenden Sonne. Wie düstere Dämonen holten sie, die Augen auf die Rahen gerichtet, die Brassen durch.

«Ree!«Buckle warf sich mit aller Kraft in die Speichen des Ruderrades. Bolitho sah den Bug herumschwingen. Im selben Augenblick brüllten die Kanonen auf. Graves hatte seine frischgeladene Batterie auf den Gegner abgefeuert.

Hinter dichtem Pulverdampf zeichnete sich das erste Transportschiff als dunkle Masse ab. Es lag jetzt etwa zwei Kabellängen entfernt.»Stütz Ruder, Mr. Buckle!«Bolitho hörte eine Kugel über seinen Kopf sausen, und als er aufschaute, bemerkte er mitten im Besansegel ein sauberes Loch.

«Richten Sie Ihren Kurs nach der Golden Vleece, Mr. Buckle. Sie ist jetzt besser als jeder Kompaß.»

Er zuckte zusammen, als sich die Sparrow aufbäumte, einmal, zweimal, dann noch einmal — einige Geschosse waren in ihren Rumpf gefahren. Aber die Brigg war bereits übel dran. Sie trieb mit dem Heck voraus, ihr ganzer Fockmast hing wie ein gefallener Baum über ihrer Seite. In all dem Wirrwarr arbeiteten Männer mit blitzenden Äxten, andere luden die Kanonen und feuerten weiter.

«Kurs liegt an, Sir! Nordwest zu Nord!»

Bolitho hob seinen Degen. Mit zusammengekniffenen Augen starrte er in das Sonnengeglitzer und beobachtete die Brigg, die wie betrunken schwankend ihre über Bord gegangene Takelage hinter sich herschleppte.

«Aufhören!«Der Degen blitzte in der Sonne.»Aufhören, Männer!»

Nicht ein Geschütz feuerte mehr. Nur dort, wo eine Kanone geladen wurde, war noch Bewegung an Deck.

Wieder krachte ein Geschoß in den unteren Teil des Rumpfes, und irgendwo schrie ein Matrose in Schmerzen auf, als ihn die surrenden Holzsplitter zu Boden schmetterten.

Trotz der blendenden Sonne sah Bolitho durch treibenden Qualm die zerfetzten Umrisse des Großmarssegels und das Aufblinken der Kajütenfenster der Brigg, während sie hilflos ihr Heck darbot.

«Feuer!»

Der Wind trieb den Rauch durch die Stückpforten herein über das Deck. Graves rannte von Geschütz zu Geschütz und brüllte mit heiserer Stimme seine Befehle.

Ein Schatten huschte durch den Qualm, und über all dem Getöse hörte Bolitho das splitternde Krachen eines Mastes. Er vermutete, daß das erbarmungslose Feuer der Sparrow den Mast zwischen den Decks abgeschlagen hatte.

Von der Golden Vleece wehte Hurragebrüll herüber, als die Sparrow noch einmal angriff. Im davonwehenden Rauch stand ein Mann auf dem zerfetzten Deck der Brigg und winkte zur Übergabe mit der Flagge. Das Schiff war vollkommen entmastet, und die langsame Breitseite hatte sein Heck ausgehöhlt. Es war zum Wrack zusammengeschossen, und die Besatzung mußte übel zugerichtet sein.

Tyrell starrte zu dem rauchgeschwärzten, zerschlagenen Rumpf hinüber. Seine Augen blitzten hell vor Konzentration. Ihm zur Seite sprang Heyward in der Erregung auf und nieder.

Dann, bevor noch die Besatzung der Sparrow aus ihrer Benommenheit erwachte und das Gefühl des Sieges auskosten konnte, wurde die Luft durch eine ohrenbetäubende Explosion zerrissen. Spieren, Planken, ganze Deckteile, all das wirbelte um einen bösartig rotglühenden Kern herum, und über das Wasser rollte eine Stoßwelle wie von einem kleinen Taifun auf die Korvette zu.

Als der Rauch verweht war und die umherschwirrenden Fragmente ins Wasser prasselten, war von der Brigg nichts übriggeblieben als angesengtes Treibholz und eine Jolle, die merkwürdigerweise unbeschädigt kieloben abtrieb. Ein fliegender Funke, eine umgekippte Lampe oder irgendein Seemann, der zwischen den zerschmetterten Decks von Wahnsinn verwirrt eine Zündschnur in Brand gesetzt hatte, mochten das vollständige, fürchterliche Ende der Brigg verschuldet haben.

«Lassen Sie das Großsegel wieder setzen, Mr. Tyrell.»

Bolitho strich sich mit dem Handrücken über die ruß- und schweißverklebte Stirn.

«Wir müssen der Miranda helfen.»

Er wartete, bis Tyrell mit heiserer Stimme die verwirrten Seeleute wieder zur Vernunft gebracht hatte. Dann zischte er mit zusammengepreßten Zähnen:»Die Feinde sollen sehen, daß wir unser Leben immer noch sehr teuer verkaufen.»

Nach kurzer Zeit hatte die Korvette die Golden Vleece überholt, und Bolitho sah die verbissen kämpfenden Schiffe in etwa einer Meile Abstand liegen. Im wilden Grimm des Gemetzels waren sie abgetrieben. Durch den Qualm, der ihre Rümpfe einhüllte, konnte er deutlich das Aufblitzen von Musketenfeuer und gelegentliches Aufflammen aus der Mündung einer Drehbasse beobachten.

Mit starker Schlagseite hing die Fregatte fast schon wie ein totes Wrack an ihrem größeren Feind. Auch ohne Fernglas sah Bolitho, daß sich das Handgemenge über die Back ausgebreitet hatte und immer mehr Angreifer mit Entermessern und Säbeln sich ihren Weg über das Deck der Miranda voranhackten.

«Wir werden wenden, Mr. Tyrell. Lassen Sie auf Steuerbordbug gehen, sobald wir etwas Seeraum gewonnen haben, und lassen Sie die andere Batterie zum Einsatz vorbereiten.»

Bolitho biß sich auf die Lippen, um seine jagenden Gedanken zu beruhigen. Ein rascher Blick nach oben zeigte ihm, daß der Stander so sicher und stetig wehte wie zuvor. Der Wind blies gleichmäßig aus Süd-Südwest.

«Lassen Sie Mr. Graves aufs Achterdeck kommen.»

Als der Leutnant sich mit erschöpftem, eingefallenem Gesicht meldete, sagte Bolitho:»Ich möchte, daß das Steuerbord-Buggeschütz den Feind ständig unter Beschuß hält. Sobald wir über Stag gegangen sind, erwarte ich von Ihnen, daß Sie das Feuer auf jenes Schiff dort konzentrieren, gleichgültig, was sich sonst ereignen sollte.»

«Alles klar zur Wende, Sir«, rief Buckle.

Bolitho nickte.»Bitte legen Sie Ruder.»

«Ruder steht in Luv, Sir!»

Tyrell brüllte bereits durch sein Sprachrohr, und auf dem Vorschiff holten die Seeleute wie Teufel an den Schoten des Vorstengestagsegels. Mit killenden Segeln begann die Sparrow in den Wind zu drehen.

«Klar bei Brassen!»

Bolitho packte die Reling. Seine Augen schmerzten, als die Sonnenstrahlen wie Lanzen durch die Wanten zielten.»Durchholen! Mit aller Kraft!»

Alle Rahen ächzten und knarrten gleichzeitig, während sie durch den Wind geholt wurden. Dann bauschten sich die Segel wieder und krängten das Deck nach der anderen Seite. Bolitho beobachtete, wie die beiden kämpfenden Schiffe sehr langsam zwischen den Fockmastwanten vorrückten, als ob sie in einem riesigen Spinnennetz gelungen wären.»Stützen, Mr. Buckle!»

Er ging einige Schritte auf und nieder und bemerkte, daß Tyrell die Männer an den Brassen anfeuerte, die Rahen noch dichter zu holen, daß der tote Seemann vom Achterdeck verschwunden war und daß Ben Garby, der Schiffszimmermann, mit seinen Leuten durch das Achterdeck schlüpfte, um den Schaden dort zu inspizieren. Bolitho sah das alles und noch mehr, doch nicht mit jenem kühlen Abstand wie früher.

«Kurs liegt an, Sir!»

Bolitho nickte. Seine Gedanken beschäftigten sich mit den beiden Schiffen. Mit dicht geholten Segeln hoch am Wind würde die Sparrow dreißig Minuten oder noch länger brauchen, um eingreifen zu können. Die Miranda war von den feindlichen Entermannschaften bereits überrannt. Von Anfang an war ihre Besatzung zahlenmäßig unterlegen gewesen, und in der ersten wilden Breitseite des Gegners mußten viele gute Männer gefallen sein.

«Feuer!»

Als der gedämpfte Schrei vorne erklang, sah Bolitho den Rauchpuff über die Back wehen und fühlte die schwere Erschütterung, als der Zweiunddreißigpfünder in seinen Taljen zurückdonnerte. Er griff nach einem Fernglas und sah das Geschoß nahe dem feindlichen Schiff mit einer hohen Wasserfontäne in die See platschen.

Mit heiserer Stimme murmelte Heyward:»Ziemlich nah.»

Bolitho schaute weg. Der mächtige ehemalige Westindienfahrer war mit etwa vierzig Kanonen bestückt. Wenn er seine Artillerie je zum Einsatz bringen würde, dann könnte er die Sparrow selbst mit einer schlecht gezielten Breitseite erledigen.

Wumm! Wieder löste sich ein Schuß aus dem Buggeschütz, und er beobachtete die Gischtfahnen, die von Woge zu Woge aufsprühten und die Geschoßbahn markierten. Abermals verschwand die Kugel neben dem feindlichen Schiff.

Sie werden uns hören und merken, daß wir kommen. Er versuchte seine Gedanken zu ordnen. Was sollte er nur tun? Den Transportern signalisieren zu fliehen? Nein, sie waren hoffnungslos überladen und viel zu langsam. Es würde nur ihren Todeskampf verlängern.

Über ihm killte der Besan, und Buckle verfluchte das Segel, bevor er die Rudergänger etwas abfallen ließ.

Ohne hinzuschauen, war sich Bolitho bewußt, daß er nicht so hoch am Wind segeln durfte, wenn er der Miranda noch rechtzeitig Hilfe bringen wollte.

Jemand trat hinter ihm heran. Es war Bethune. Seine Arme hingen schlaff an den Seiten herunter, seine Hosen waren mit großen Blutflecken bedeckt, und die Hände des sterbenden Seemannes hatten dort, wo sie ihren letzten qualvollen Griff auf dieser Welt getan hatten, breite dunkle Blutwischer hinterlassen. Bolitho starrte ihn an.

«Mr. Bethune!«Er sah den jungen Burschen zusammenfahren.»Kommen Sie her!»

Er machte ein paar Schritte zur Reling und wieder zurück. Es war einen Versuch wert. Alles mußte jetzt versucht werden. Wenn sie die Miranda erst erreichten, nachdem sie dem Feind endgültig in die Hände gefallen war, dann würden die Decks der Sparrow bald so rot sein wie die Flagge über seinem Kopf.

Der Fähnrich wartete.»Sir?»

«Geben Sie sofort folgendes Signal.»

Er legte seine Hand auf Bethunes kräftige Schulter. Durch das Hemd konnte er seine Haut spüren. Wie Eis, trotz der Sonne!

«Signal, Sir?«Bethune starrte ihn an, als ob er falsch gehört hätte oder sein Kapitän verrückt geworden sei.

«Jawohl, an Miranda: Segel in Sicht in Nordost!»

Er packte härter zu,»Mann, bewegen Sie sich endlich!»

Bethune rannte davon. Mit schriller Stimme rief er nach seinem Gehilfen, und kaum eine Minute später wehten die bunten Signalflaggen im Wind. Voll Unglauben starrte Tyrell von den Flaggen zu seinem Kapitän, dann begann er langsam zu verstehen.

«Auf der Miranda gibt's kaum noch ein paar arme Teufel, die das sehen könnten«, meinte Buckle.

Tyrell hatte Bolithos Absicht erkannt.»Nein, aber die Freibeuter werden's sehen. Vielleicht glauben sie, daß eine Patrouille vom Geschwader unterwegs ist, um in den Kampf einzugreifen.»

Bolitho wartete, bis Graves das Buggeschütz wieder abgefeuert hatte.»Das ist alles, was wir im Augenblick tun können«, entschied er dann.

Minuten schleppten sich wie Stunden hin. Doch dann, als ein launischer Windstoß über die beiden ineinander verkeilten Schiffe hinfuhr, hielt Bolitho plötzlich den Atem an. Zwischen den dunklen Schiffsrümpfen öffnete sich ein schmaler heller Spalt, dann blinkte freies Wasser auf, wo vorher nur eine einzige schwere, in Rauch gehüllte Masse gelegen hatte. Die Lücke verbreiterte sich. Das Kaperschiff hatte Fock und Klüver gesetzt, um sich vom Gegner zu lösen. Endlich war die Miranda frei.

Die See zwischen den beiden Schiffen war mit Treibgut und zerrissenem Segelzeug bedeckt. Da und dort warf ein Mann verzweifelt die Arme hoch, um sich in den Knäueln treibender Menschen über Wasser zu halten.

Auf dem Geschützdeck der Sparrow erklang ein rauhes Hurra. Seeleute rannten an das Schanzkleid, um den Feind zu beobachten, der immer mehr Segel setzte.

Tyrells Grinsen gefror, als ihn Bolitho anfuhr:»Sehen Sie zu, daß die Leute das Maul halten!»

Er bemerkte, daß er seine Faust immer noch schmerzhaft um den Degengriff gekrampft hatte.

«Schauen Sie dorthin, Mr. Tyrell, kein Grund zum Hurrabrüllen heut.»

Der Leutnant wandte sich um und starrte zu den dunklen Umrissen der Miranda hinüber, zu den quirlenden Rauchwolken, zu den Seeleuten, die die Brände zu löschen versuchten oder zwischen den Trümmern ihres Schiffes herumsuchten. Als sich die Sparrow näher heranschob, konnten alle die dünnen, scharlachroten Fäden sehen, die aus den Speigatten rannen, und die großen, ausgezackten Löcher in allen Teilen des Rumpfes.

«Geben Sie Befehl an Mr. Tilby, die Boote klarzumachen, rufen Sie den Arzt und schicken Sie ihn mit hinüber.»

Kaum hörte Bolitho seine eigene Stimme. Sie klang wie zerbrochen, dumpf, unmenschlich.»Lassen Sie dann die Segel reffen und die Marssegel wegnehmen. Wir werden zunächst leewärts der Miranda bleiben.»

Er überhörte das Getrampel, als Tilbys Leute an die Bootstaljen rannten. Graves kam ausgemergelt nach achtern und wischte sich im Gehen Gesicht und Brust mit einem nassen Lumpen ab. Hoch oben über all dem Getriebe auf Deck zogen die Segel immer noch gut, obwohl sie viele Löcher hatten, die vor Einbruch der Dunkelheit noch geflickt werden mußten. Einige Stagen und Fallen waren gebrochen, und er wußte, daß der Rumpf öfters in der Nähe der Wasserlinie getroffen worden war. Aber die Pumpen schienen ausreichend zu arbeiten. Die Sparrow hatte alles wie ein alter Krieger hingenommen. Dalkeith eilte die Niedergangsleiter herauf. Die schwere Instrumententasche hielt er gegen die Brust gedrückt. Ströme von Schweiß rannen über sein angestrengtes Gesicht.

«Wie viele, Mr. Dalkeith?«Wieder hörte Bolitho seiner Stimme zu, als ob ein Fremder spräche.

Der plumpe Arzt starrte mit stumpfen Augen die Fregatte an.

«Zwei Tote, Sir, fünf durch Splitter verletzt.»

Bolitho versuchte, sich an den Mann zu erinnern, der an seiner Seite gefallen war. Manners, ja, so hatte er geheißen.

«Manners«, sagte er,»und wer war der andere?»

«Yelverton, Sir. Er wurde vorn beim Fockmast von einer Kugel getroffen. «Dalkeith blickte zu Boden.»Hat ihm den Kopf abgerissen.»

Graves war schon halbwegs die Leiter heraufgekommen, fuhr aber zurück, als Bolitho ihn ansprach.»Yelverton, haben Sie das gehört, Mr. Graves? Der einzige Mann, der seine Sinne beisammen hatte, als alle anderen zu blind waren, um die Wahrheit zu erkennen! Der Mann, den Sie unbedingt auspeitschen lassen wollten!»

Er wandte sich ab.»Nun, in Zukunft wird er Ihnen keine Schwierigkeiten mehr machen, und wir ihm auch nicht.»

Mit halbblinden Augen sah er Stockdale am Fuß des Besanmastes warten.»Lassen Sie die Gig wegfieren. Ich werde Kapitän Selby aufsuchen und sehen, was getan werden muß.»

«Aye, Sir!»

Im Wegeilen schaute Stockdale zu ihm zurück. Niemals zuvor hatte er seinen Kapitän so geschlagen und bewegt gesehen. Und zum ersten Mal wußte er nicht, wie er ihm helfen konnte.

Bolitho betrat seine Kajüte, schnallte den Degen ab und warf ihn auf die Sitzbank unter dem Fenster. Fitch und ein junger Seemann bemühten sich, die Einrichtungsstücke wieder an ihren alten Platz zu stellen. Ein anderer wischte die Rußflecken von der niedrigen Kajütendecke. Während eines Gefechtes blieben selbst die Wohnräume eines Kapitäns nicht verschont. Durch hastiges Wegreißen von Zwischenwänden war die Kajüte zu einer Verlängerung des Geschützdecks geworden. Zu beiden Seiten standen kurze, gedrungene Zwölfpfünder, die jetzt hinter Chintzvorhängen diskret verborgen wurden. Bolitho starrte die Kanonen an. Seine Augen waren trüb vor Müdigkeit.»Ein Hauch von Weiblichkeit!«Dann wandte er sich heftig nach Tyrell und Graves um, die ihm nach seiner Rückkehr von derMiranda in die Kajüte gefolgt waren.

In seinen Gedanken schwirrten so viele Fragen und Vermutungen, sein Gehirn war vom Anblick und von den Geräuschen an Bord der Fregatte so zerschlagen, daß er einige Augenblicke lang überhaupt nicht sprechen konnte.

Über der Kajütsdecke dröhnten Hämmer, Sägen raspelten. Die Besatzung arbeitete immer noch, um die Schäden auszubessern. Nachdem er eine Stunde an Bord der Miranda zugebracht hatte, überraschten ihn nun hier auf der Sparrow die Zielsicherheit und Ordnung, mit der seine eigene Besatzung sich an die Arbeit gemacht hatte. Die Szenerie, die er soeben verlassen hatte, stand in schrecklichem Gegensatz zu der Hingabe, mit der seine Leute alles, was im Gefecht zerstört worden war, wieder instand setzten.

Der Segelmacher hatte mit seinen Maaten die zerfetzten Segel von den Rahen genommen und neue angeschlagen. Mit Segelhandschuhen und blitzenden Nadeln hockten sie nun an Deck und flickten das zerschlissene Tuch. Garby, der Schiffszimmermann, hatte ihn an der Schanzkleidpforte erwartet und gemeldet, daß die Artillerie der Brigg keinen allzu großen Schaden angerichtet hatte. Seine Leute waren schon dabei, die zwei Einschüsse unter der Wasserlinie zuzupfropfen. Andere Beschädigungen sollten noch vor Sonnenuntergang repariert werden. Garby hatte rasch und berufsmäßig sachlich gesprochen. Wie alle Männer an Bord wehrte auch er sich dagegen, an das Schicksal der Miranda zu denken, das auch sie so leicht hätte treffen können.

Graves brach als erster das Schweigen in der Kajüte.

«Geschütze sind festgezurrt, Sir. Keine Schäden an Taljen und Pforten.»

Unter dem starren Blick Bolithos senkte er die Augen.»Besser als wir hoffen konnten, Sir.»

Langsam fragte Tyrell.»Wie sieht es aus, drüben, Sir?»

Bolitho ließ sich in einen Stuhl fallen und streckte seine Beine vor sich hin. Seine Hosen waren vom Pulverqualm geschwärzt. Wie es dort aussah? Wieder tauchten vor seinen Augen die Bilder voll Tod und Grauen auf, die wenigen, unverletzten Leute, die sogar jetzt noch versuchten, das Wrack in Ordnung zu bringen. Rußflecken und große, allmählich eintrocknende Blutlachen, zerfetzte Menschen unter herabgestürzten Spieren und zerborstenen Planken verknäuelt. Es war ein Wunder, daß die Miranda sich noch über Wasser halten konnte.

«Sie hoffen dort, morgen ein Notrigg auftakeln zu können«, antwortete Bolitho.»Vorausgesetzt, daß der Wind nicht zulegt und die Pumpen nicht verstopfen, werden sie etwas Fahrt machen können. «Er rieb seine Augen mit den Knöcheln. Die Erschöpfung zwängte ihn wie ein Schraubstock ein.

«Einige der Verwundeten werden sofort auf die Transportschiffe gebracht werden. Sie finden dort bessere Bedingungen zur Genesung.»

Wieder versuchte er, die Qual von seinen Gedanken abzuschütteln. Dort lagen Männer, die von Holzsplittern so entsetzlich verstümmelt waren, daß sie schon längst hätten tot sein müssen. Auf dem Achterdeck waren die blutigen Verluste so hoch gewesen, daß jetzt Fähnriche, ja sogar einfache Seeleute für die Arbeiten verantwortlich waren. Als er an Bord geklettert war, hatte er den Ersten Leutnant der Fregatte angetroffen, der die Wiederaufrichtung der Besanstenge überwachte. Der Mann trug einen Arm in der Schlinge, und seine Stirn sah aus, als ob sie mit einem glühenden Eisen offengelegt worden wäre.

Graves atmete langsam aus.»Gegen solch schlechte Chancen haben sie sich gut gehalten.»

«Ja.»

Bolitho wollte seine Offiziere gern aus der Kajüte draußen haben, die Tür verriegeln und sich seine Unsicherheit nicht anmerken lassen.

«Ich habe eine Losung auf dem Schiff ausgegeben, Sir«, sagte Tyrell.»Ich glaube, unsere Leute wissen, wie zufrieden Sie.»

Bolithos Stimme ließ ihn zurückfahren.»Zufrieden?«Er taumelte hoch.»Wenn Sie glauben, Grund zur Selbstzufriedenheit zu haben, Mr. Tyrell, dann behalten Sie das gefälligst für sich.»

Er schritt zu den Fenstern und wieder zurück.»Ich habe es selbst gesehen. In unseren Leuten steckt kein Siegesrausch. Sie sind erleichtert, nichts anderes als erleichtert. Sie sind dankbar, daß ihnen ein ähnliches Gemetzel erspart blieb, sie sind allzu eifrig bemüht, ihre eigenen Unzulänglichkeiten zu übersehen.»

«Aber das ist doch etwas ungerecht, Sir«, wandte Tyrell ein.

«Glauben Sie?«Er sank am Tisch nieder. Sein Zorn erschöpfte sich.»Raven hat den Maßstab gesetzt. Er sah, was er zu sehen erwartete, genau wie Kapitän Selby auf der Miranda. Und genau wie Sie, Mr. Tyrell, glaubten unsre Leute, daß ein Gefecht nichts anderes als eine Fortsetzung des Drills sei, ein paar Säbelhiebe, ein paar Flüche, und alles wäre schon in bester Ordnung. Vielleicht waren wir in der Vergangenheit zu siegreich und wurden nun von dieser neuen Art der Kriegführung überrumpelt.»

Wieder entstand Schweigen in der Kajüte. Das beharrliche Hämmern irgendwo tief im Bauch des Schiffes wurde für Bolitho plötzlich beängstigend.

«Was werden wir jetzt tun, Sir?«fragte Graves mit belegter Stimme.

Bolitho blickte ihn ernst an.»Kapitän Selby ist tot, ist in der ersten Breitseite gefallen.»

Wieder schritt er zu den Kajütfenstern und schaute zu der treibenden Fregatte hinüber. In seinen Gedanken tauchte wieder der verwundete Erste Leutnant vor ihm auf, der Mann, der sein Schiff irgendwie längsseits des Gegners gebracht hatte. Das war das Äußerste, was er trotz der verheerenden Verluste und trotz der schweren Beschädigungen noch hatte tun können. Nun versuchte er, ohne andere Offiziere, unterstützt von einigen Bootsmanns- maaten, das fast Unmögliche, die Fregatte wieder notdürftig flottzumachen. Er mußte sein Schiff, so schnell es ging, in Sicherheit bringen, bevor es die See oder der Feind endgültig vernichteten.

Im schrecklichen Chaos der Kajüte Kapitän Selbys hatte er den Safe geöffnet und ohne Zögern die Depeschen an Bolitho übergeben. Jetzt, da er wieder in seiner Kajüte auf der Sparrow war, schien ihm diese Entwicklung der Ereignisse unglaubhaft. Er war der jüngste Kapitän von allen, und dann, fast im Handumdrehen, mußte er die volle Verantwortung für alle auf seinen Schultern tragen. Colquhoun und Maulby waren unerreichbar. Selby war tot. Er hatte seine Leiche gesehen. Auf dem zersplitterten Achterdeck war sie unter einem umgestürzten Neunpfünder eingeklemmt. Eine Hand hatte sich um den Degengriff gekrampft wie um einen nutzlosen Talisman.

Tyrells Stimme brachte ihn wieder in seine Kajüte zurück.

«Dann haben Sie also jetzt den Oberbefehl, Sir?»

Die Leutnants blickten ihn aufmerksam an. In ihren Gesichtern standen Zweifel und Besorgnis.

Bolitho nickte langsam.»Wir werden vor Einbruch der Dunkelheit mit dem Geleitzug weitersegeln. Vorher werden wir die Verwundeten auf die Transporter bringen und der Fregatte helfen, so gut wir können. «Er versuchte, nicht an die endlosen Probleme zu denken, die auf ihn einstürmten.

«Wenn wir, wie befohlen, Kontakt mit dem Geschwader aufgenommen haben, werden wir mit den Depeschen zum Hauptquartier weiterfahren.»

Seine Augen schweiften in der Kajüte umher. Alles erschien ihm plötzlich kleiner, seine Korvette verwundbarer.

«Und die Miranda, Sir?«Tyrells Stimme klang gedämpft.

Bolitho antwortete mit gleichgültiger und kühler Stimme. Er wußte, daß seine Leute alles Vertrauen in ihn verlieren würden, wenn er ihnen auch nur für einen Augenblick seine wahren Gefühle zeigte.

«Die Männer auf der Miranda werden tun, was sie tun müssen.

Wir können nicht bei ihnen bleiben, und sie würden das auch gar nicht wünschen.»

Gischt prasselte gegen die dicken Fensterscheiben. Der Wind frischte bereits leicht auf.

Tyrell leckte über seine Lippen. Seine Augen starrten wie abwesend auf die entmastete Fregatte.

«Das ist alles«, fügte Bolitho hinzu.»Achten Sie darauf, daß alle Leute bis zur letzten Minute arbeiten.»

Wortlos verließen die Leutnants in ihren schmutzigen Hosen und Hemden die Kajüte.

Bolitho blickte Fitch an.»Sie können auch gehen. Ich möchte nachdenken.»

Nachdem Fitch und seine Helfer gegangen waren, stützte er seinen Kopf in die Hände und ließ seinen Körper entspannt in den unbehaglichen Schiffsbewegungen mitschwingen.

Wahrscheinlich hielt Tyrell ihn für herzlos, weil er das andere Schiff hilflos und ohne Begleitung zurückließ.

Bolitho kämpfte gegen seine Müdigkeit und Erschöpfung an und stand auf. Er wußte, daß ihn ihre Ansichten nicht kümmern durften. Sie standen im Krieg, den sie schon zu lange wie Zuschauer betrachtet hatten. Wenn sie lernen mußten, dann war es besser, das sofort zu tun. Dann erinnerte er sich wieder an den Leutnant auf der Miranda, an die Bitterkeit in seiner Stimme, als er das Gefecht beschrieb. Er konnte zu dem, was Bolitho bereits geahnt und gewußt hatte, kaum etwas hinzufügen. Nur eines war neu für ihn, der Name des großen Kaperschiffes. Bonaventure. Niemals würde er diesen Namen vergessen.

Es klopfte an die Tür. Lock trat ein. Mit düsterem Gesicht begann er eine Liste jener Vorräte herunterzulesen, die in dem kurzen Kampf mit der Brigg verlorengegangen waren.

Bolitho blickte ihn an und sagte mit ruhiger Stimme:»Nun, machen Sie mir eine komplette Aufstellung, Mr. Lock. Wir werden dann später darüber reden.»

Es war sinnlos, an das zu denken, was vorüber war. Er stand nun ganz allein, und nur die Zukunft und der ferne Horizont hatten wirklich noch Bedeutung für ihn.

Загрузка...