Bolitho öffnete seine Augen und starrte auf die Schale dampfenden Kaffees, die Stockdale ihm über die Kojenkante reichte. Mühsam setzte er sich auf. Seine Gedanken versuchten mit den außergewöhnlichen Umständen zurechtzukommen. Draußen begann es bereits zu dämmern. Er befand sich in der kleinen Kajüte Tyrells, die durch eine Stellwand vom Meßraum abgetrennt war, und als er die Tasse an seine Lippen hielt, konnte er sich noch immer nicht erinnern, wie er hierher gekommen war.
Stockdale wisperte heiser:»Sie haben eine gute Stunde lang geschlafen, Sir. Ich wecke Sie nur sehr ungern auf. «Er zuckte schwerfällig die Achseln.»Aber Ihr letzter Befehl war, alle Männer vor Dämmerung zu wecken.»
Bolithos wirre Gedanken klärten sich plötzlich. Er spürte jetzt die ungleichmäßige Bewegung um sich, das Ächzen von Stagen und Wanten.
«Der Wind, wie ist er?«Er warf seine Beine über die Kojenkante und versuchte, ein Gefühl der Unsauberkeit und Zerschlagenheit zu überwinden.
«Legt zu, Sir. «Stockdales Stimme klang unglücklich.»Aus West.»
«Verdammt. «Bolitho hielt die Tasse noch in der Hand, als er sich aus der Kajüte stürzte. Beinahe wäre er über eine Reihe schlafender Soldaten gestolpert. Obwohl er sich so rasch wie möglich ein Bild von der Lage machen mußte, blieb er einen Augenblick bewegungslos stehen und starrte sie an. Er erinnerte sich an die langen Nachtstunden, an den Strom kranker und verwundeter Soldaten, den seine Seeleute an Bord geleitet hatten. Einige würden den nächsten Tag nicht mehr erleben, andere, von Fieber oder der Qual faulender Wunden gepeinigt, waren zu Skeletten abgemagert.
Immer noch fühlte er in sich jenen kalten Zorn und die Scham, als es ihm bewußt geworden war, daß die meisten dieser Männer auf den Maultieren hätten transportiert werden können, anstatt in der Nacht Schritt für Schritt hinter ihren Kameraden hertaumeln zu müssen. Dieser General!
Er stieg über die erschöpften Menschen zum Achterdeck hinauf. Tyrell kam sofort auf ihn zu.
«Sie wissen schon über den Wind Bescheid, Sir?»
Bolitho nickte und ging zu den Wanten. Die Bucht lag im blassen Morgenlicht wie aufgerauhter Stahl. Kleine Wellen schlugen gegen den Schiffsrumpf und schoben sanft, doch stetig, so daß die Ankertrossen straff gespannt waren.
Buckle erschien an seiner Seite. Sein Gesicht war grau vor Müdigkeit.»Wir können nicht einmal den kleinsten Fetzen Segel setzen, Sir. Wir haben die Küste genau in Lee. «Bolitho starrte über die Backbordseite zu dem dunklen Landstreifen, der sich in der Dämmerung immer deutlicher abzeichnete, dann zu dem Vorsprung, um den der Fluß und das tiefe Fahrwasser herumströmten.
«Wir werden bleiben müssen, wo wir sind, und können nur hoffen, daß der Franzmann das gleiche im Sinn hat«, meinte Graves. Aber seine Stimme war voller Zweifel.
Bolitho schüttelte den Kopf. Leise sprach er seine Gedanken aus.»Der Franzose wird denken, daß wir hier sind, auch wenn er unsre Stärke nicht genau kennt. In jedem Fall wird er bald Anker lichten und in offenes Wasser auslaufen. Wenn er uns im Vorbeisegeln sieht, wird er ohne Zögern seine Breitseiten auf uns abfeuern.»
Er spähte zu den Rahen hinauf, wo einige Toppsgasten die letzten Reste der Laubtarnung über Bord warfen. Über ihren Köpfen deutete die Spitze des Standers auf das Ufer zu, und die Bucht enthüllte im fahlen Licht wieder ihre Formen. Bolitho sah die vielen Fußstapfen, die kleinen Erdhügel, wo einige Soldaten, die Rettung bereits vor Augen, gestorben waren und begraben lagen. Rettung! Er rieb sich das Kinn und versuchte, folgerichtig zu denken.
Waren sie erst draußen in der Delaware Bay, konnten sie Segel setzen und zur Ausfahrt in die offene See hinauskreuzen. Anderseits lag der Franzose günstiger zur Windrichtung. Er konnte, wenn er wollte, sogar ankern und die Sparrow, die hilflos in der kleinen Bucht lag, zu einem Wrack zusammenschießen. Wenn sie sank, würden ihre Masten über die Wasseroberfläche ragen. Eine grausige Vorstellung!
Bolitho kam zu einem Entschluß.»Mr. Tyrell, lassen Sie den Warpanker ausbrechen und alle Boote an Bord hieven.»
Er blickte auf die Laschings mit den langen Riemen.»Wir werden sehen, was wir heute damit ausrichten können.»
Sobald das Schiff vom Warpanker frei war, schwoite es achteraus auf die Küste zu. Die Strömung wirbelte um seinen Bug, als ob es schon in Fahrt wäre Auf dem Geschützdeck drängten sich viele Männer, und Bolitho wußte, daß unter Deck jeder freie Platz von erschöpften Soldaten belegt war. Er sah, wie die Gig über das Schanzkleid gehievt und dann sauber auf ihre Bettung zwischen den Kuttern gesetzt wurde. Die Seeleute arbeiteten ungewöhnlich schweigsam und blickten gelegentlich zu ihm herauf, als ob sie seine Pläne erraten wollten. Im wachsenden Tageslicht konnte er bereits die Gesichter erkennen, und er stellte fest, daß er nun die meisten Männer mit ihren Namen kannte. Die Zuverlässigen und die Faulen, die Unzufriedenen und jene, deren Pflichtbewußtsein zwischen verschiedenen Graden hin- und herpendelte. Er erinnerte sich an jenen Tag, da ihm alle fremd waren und Graves die Abwesenheit Tyrells entschuldigte. Es schien ihm schon eine Ewigkeit seitdem vergangen zu sein.
«Die Boote sind festgezurrt, Sir«, meldete Tyrell.
Bolitho lehnte sich über die Reling. Das Holz war feucht und klamm, aber in ein paar Stunden würde es heiß wie ein Schürhaken sein — falls es noch über Wasser war.
«Leute, ihr alle wißt von dieser Fregatte«, begann Bolitho.»Sie liegt dort flußaufwärts und läßt sich eine Menge Zeit, wie es die Franzosen am frühen Morgen gewöhnt sind.»
Er machte eine kleine Pause und bemerkte, daß sich einige ältere Leute zunickten und über seinen matten Scherz grinsten.
«Ihr könnt auch leicht sehen, daß wir die Segel nicht setzen können, ohne auf die Küste getrieben zu werden. Aber wenn Soldaten den weiten Weg über Land bis zu uns marschieren können, dann meine ich, bringen wir es auch fertig, sie nach Hause zu fahren. Was meint ihr dazu?»
Einen endlos langen Augenblick sprach und bewegte sich niemand, und er fühlte, wie Verzweiflung in ihm aufstieg. Warum auch sollten sie sich einsetzen? Nach seiner abweisenden Haltung nach dem Gefecht mit der Brigg mochten sie seine Worte nur wieder als eine neue Abfuhr betrachten.
Überraschenderweise war es der Bootsmann, der als erster das Schweigen brach. Er sprang auf das Backbordschanzkleid und brüllte mit einem Gesicht, das grotesk wie eine erhitzte Kanonenkugel glühte:»Auf was wartet ihr noch, meine Lieblinge? Ein Hurra für den Käptn und ein Hurra für die Sparrow!»
Das Hurragebrüll breitete sich über das Deck und bis zu den Toppsgasten auf den Rahen aus. Es pflanzte sich fort zu den verwirrten Soldaten unter Deck, die auf jedem Fußbreit in den überfüllten Räumen zusammengepfercht lagen.
Tilby grölte weiter:»Und zum Teufel mit diesen Scheißfranzosen!«Er schnitt bereits die Laschen vom nächstbesten Riemen, stieß die Männer an die Arbeit, jagte andere das Schanzkleid entlang, um die Pforten zu öffnen. Als sich Bolitho umdrehte, sah er das breite Grinsen Tyrells und Buckle, der über das ganze Gesicht strahlte, als ob sie bereits auf hoher See unter vollen Segeln dahinrauschten. Sogar Graves lächelte.
«Klar bei Ankerspill«, sagte Bolitho. Er wünschte, daß sie jetzt mit ihrem Hurragebrüll aufhörten, daß Tyrell seinen Befehl weitergeben würde und ihn seinen Gedanken überließ.»Lassen Sie bitte die Riemen auslegen.»
Tyrell rief die Befehle aufs Geschützdeck hinunter. Die Rudergänger bezogen Posten am Ruderrad, das Ankerspill fing an, sich langsam zu drehen. Dann wandte er sich an Bolitho:»Die Kerls werden Sie nicht im Stich lassen, jetzt da sie gesehen haben, was Sie für diese armen Rotröcke getan haben. Jetzt nicht, niemals, Käptn!»
Bolitho brachte es nicht fertig, ihn anzusehen. Statt dessen starrte er an der Backbordseite über die schwankende Reihe der Riemen hin, die über dem wirbelnden Wasser in der Schwebe gehalten wurden wie die Ruder einer alten Galeere. Es würde einer gewaltigen Kraftanstrengung bedürfen, die Sparrow in die Bay hinauszurudern. Bei diesem Gegenwind und mit der toten Last all ihrer Kanonen und ihrer zusätzlichen Passagiere könnte es vielleicht gar unmöglich sein.
«Riemen bei!»
Die Riemen schwangen vorsichtig nach vorn. Die Seeleute hielten die Rundhölzer fest gepackt und suchten mit ihren nackten Zehen Halt auf dem Deck.
«Anker frei!«Graves rannte zwischen den Seeleuten nach achtern und schrie:»Schiff treibt ab, Sir!»
«Ruder an!«Tilby warf sein ganzes Gewicht auf den letzten Riemen. Seine vorspringenden Muskeln zeigten seine ungeheure Kraftanstrengung.
«Hievt! Vorwärts Kerls! Hievt! Und noch einmal!»
Im Takt hoben und senkten sich die Riemen, schlugen und peitschten das Wasser, um die Abtrift zur Küste aufzuhalten. Und dann, qualvoll langsam, kam die Sparrow unter Kontrolle und nahm Fahrt auf.
«Mr. Buckle, übernehmen Sie das Ruder!«schrie Bolitho. Dann wandte er sich an Tyrell:»Alle Offiziere, alle Mann an die Riemen! Alle!»
Als der Anker verkattet war, führte auch Graves seine Abteilung an die Riemen. Andere glitten an den Backstagen aus dem Rigg oder kamen von ihren Stationen gerannt, um den Ruderern zu helfen.
Bolitho versuchte, nicht nach der Landzunge zu sehen, die sich im Morgenlicht jetzt grün und braun färbte.
Die Peilung stand, und die Korvette kam kaum voran. Doch schon schnappten die Männer nach Luft. Nur Buckle und Bolitho selbst halfen nicht an den Riemen. Der Wind war zu stark, die Strömung zu stetig.
Tyrells Stimme klang wie eine Trompete.»Hievt! Hievt! Und noch einmal, Leute!«Aber es war umsonst.
Mit matter Stimme rief Buckle:»Wir werden wieder ankern müssen, Sir. Wir schaffen's nicht.»
Schon verloren einige Seeleute ihren Halt und fielen fast aus der Reihe der Ruderer. Da ertönte plötzlich über dem Quietschen und Platschen der Riemen eine starke, durchdringende Stimme:»Hierher, schnell! Verteilt euch unter die Seeleute!»
Bolitho starrte ungläubig. Foley sprang an Deck und hinter ihm folgten in Zweierreihen — einige hinkend, andere mit verbundenen Augen — die Reste seiner Kompanie.
Foley blickte zu Bolitho hinauf.»Die Einundfünfziger haben es nie versäumt, die Marine auszustechen, Kapitän!»
Er stützte einen Mann, der hinter ihm hertastete.»Kürzlich haben Sie von Wundern gesprochen. Aber manchmal brauchen auch diese eine kleine Hilfe.»
Er wandte sich ab und packte neben einem Bootsmannsmaat das Ende eines Riemens.
Bolithos Hände umklammerten die Reling. Er versuchte sein Gesicht zu verbergen, aber er konnte seine Augen nicht von den vereinten Anstrengungen der Männer losreißen.
«Ich kann jetzt steuern, Sir«, rief Buckle heiser.»Das Ruder spricht an.»
Leise sagte Bolitho:»Der Oberst hat mir gesagt, er könne mit den richtigen Männern den halben Kontinent erobern. Mit diesen Leuten da könnte er die Welt gewinnen.»
Als er über das Schanzkleid schaute, sah er, daß die Landzunge langsam an der Steuerbordseite vorbeizog, und als Buckle sehr vorsichtig Ruder legte, wies der Klüverbaum allmählich ins freie Fahrwasser hinaus.
Da und dort fiel ein Mann erschöpft und ausgepumpt von den Riemen, doch der Schlag geriet kaum ins Stocken.
Als sich die Sonnenscheibe schließlich über die fernen Hügel erhob, war die Sparrow draußen in der Bay.
«Toppsgasten aufentern! Klar zum Segelsetzen!»
Der Klüver knatterte und flappte zornig, spannte sich dann zu einem straffen Bogen, und als die langen Riemen durch die Pforten eingeholt wurden, neigte sich das Deck in leichtem, doch befriedigendem Winkel.
«Gehen Sie auf Steuerbordbug, Mr. Buckle. So hoch an den Wind, wie Sie können. Wir brauchen möglichst viel Leeraum, um an Kap May vorbeizuschlüpfen.»
Tyrell kam aufs Achterdeck und stellte sich neben den Kompaß. Seine Augen beobachteten gespannt die Küstenlinie. Er sah sonderbar zufrieden aus.
Er bemerkte, wie Bolitho ihn beobachtete.»Es war ein gutes Gefühl, wieder einmal an Land gewesen zu sein. In England würden Sie das gleiche empfinden.»
Bolitho nickte ernst. Vielleicht war Tyrell doch in Versuchung geraten. Aber er war zurückgekommen, und das allein zählte.
«Sie haben gute Arbeit geleistet, Mr. Tyrell, alle taten, was sie konnten!»
Tyrell grinste träge.»Wenn Sie mir die Freiheit verzeihen wollen, Sir, Sie selbst sind auch kein huflahmer Gaul.»
«Wahrschau an Deck! Segel steuerbord querab!»
Bolitho blickte Buckle an.»Der Franzmann ist schneller hinter uns her, als ich dachte. Lassen Sie bitte die Royals setzen!«Er ging über das schräg geneigte Deck zur Reling und beschattete seine Augen.»Wir werden ihm schon etwas bieten für sein Geld.»
Tyrell grinste immer noch.»Sie meinen wohl für des Generals Geld?»
Bolitho schaute an seinen schmutzigen Hosen hinunter.»Ich gehe jetzt und laß mich rasieren. «Auch in ihm steckte immer noch die fröhliche Stimmung.»Für den Fall, daß wir heute morgen noch Besuch bekommen, eh?»
Buckle sah ihn gehen.»Den kann aber auch nichts aus der Ruhe bringen!»
Tyrell spähte mit kritischem Blick zu den Toppsgasten hinauf. Er erinnerte sich an Bolithos Gesicht, als die verwundeten Soldaten an Deck getaumelt waren, um den Seeleuten an den Riemen zu helfen. In diesen wenigen Minuten hatte er hinter die zerbrechliche Gelassenheit geblickt und hinter der äußeren Hülle des Kommandanten den wirklichen Menschen entdeckt. Er murmelte vor sich hin:»Sie sollten dessen nicht so sicher sein, Mr. Buckle. Er fühlt alles genauso wie jeder Mann an Bord.»
Bolitho schob das Teleskop zusammen und lehnte sich gegen ein Belegnagelbrett.
«Ändern Sie Kurs um zwei Strich, Mr. Buckle. Steuern Sie genau Ost.»
Vom Sichten der Fregatte bis zu dem Augenblick, da sie Kap May gefährlich nahe umrundet hatten, waren zwei Stunden vergangen. Der äußerste Sporn dieser elenden Landzunge lag kaum zwei Kabellängen entfernt in Lee, als sie in die freie See hinausbrausten. Sie waren so dicht unter der Küste gesegelt, daß sie den Rauch eines Feuers an Land und das Blitzen eines verborgenen Fensters oder eines Fernglases in der Sonne gesehen hatten.
Es war Bolitho recht schwergefallen, still in einem Meßraumstuhl zu sitzen, während Stockdale ihn rasierte und ein sauberes Hemd herauslegte.
Nun endlich stand er wieder an Deck, beobachtete die Seeleute, die an die Brassen eilten, sah, wie sich das Bugspriet vor dem straff gespannten Rigg hob und senkte. Er fragte sich, warum er sich gezwungen hatte, so viel Zeit unter Deck zu vergeuden. War es Stolz oder Selbstgefälligkeit oder das Bedürfnis, sich wenigstens für ein paar Minuten zu entspannen? Oder fühlte er die Notwendigkeit, auf seine Männer solch einen ruhigen Eindruck zu machen, daß er an seine Bequemlichkeit denken konnte?
Als die Korvette nun immer mehr abfallen konnte, bis die Brise genau von achtern einfiel, fühlte er, wie sich jede Spiere, jede Planke der Bewegung anpaßte. Er sah, wie die Großrah sich über dem Achterdeck wie ein riesiger Bogen spannte. Die Toppsgasten, die mit gespreizten Beinen in den Fußpferden standen, kümmerten sich nicht um das Vibrieren der Takelage. Sie dachten nicht an Vorsicht, obwohl doch jeder falsche Tritt augenblicklichen Tod bedeutete oder auch die furchtbare Qual, zusehen zu müssen, wie das Schiff davonpflügte und den Gestürzten in der weiten Wüste des Meeres allein ertrinken ließ.
«Kurs liegt an, Sir, genau Ost!»
Bolitho warf einen Blick auf den Kompaß und prüfte sorgfältig den Trimm der Segel. Jeder Zoll des Tuchs war voll gespannt, die Wölbungen so rund und straff, daß sie zu bersten schienen.
Er winkte mit dem Fernglas.»Noch einen Pull an der Backbordbrasse der Fock, Mr. Tyrell. Lassen Sie dann belegen!»
Während die Männer herbeiliefen, um den Befehl auszuführen, blickte er wieder zurück. Schon als sie noch aus der Bucht herauskreuzten, hatte der Feind aufgeholt. Die Sparrow hatte viel Zeit verloren, um sich von der Landspitze freizusegeln. Bolitho legte sein Fernglas auf der Reling auf. Ihr Verfolger stob und stampfte über die sprühenden Wellenkämme. Die Fregatte war in fliegenden Gischt gehüllt, und die See wusch bis zu ihren Geschützpforten hinauf, während sie auf Steuerbordbug dahinraste und ihren schlanken Rumpf und die Pyramiden ihrer vollen Segel zeigte. Sobald sie die offene See erreicht hatte, setzte sie die Royals und hielt nun auf tieferes Wasser zu, bevor sie die Jagd wieder aufnahm.
Tyrell kam nach achtern und schüttelte die Salzwasserspritzer von seinen Armen und aus seinem Gesicht.
«Wir liegen genau vorm Wind, im Augenblick können wir nichts weiter tun.»
Bolitho antwortete nicht. Vom Achterdeck aus blickte er über die unregelmäßigen Reihen verwundeter Soldaten hin. Andere, die weniger schwer verletzt waren, halfen beim Verbinden der Wunden und schleppten Essen herbei. Zwei Assistenten Dalkeiths stiegen an Deck, warfen ein Bündel über Bord und verschwanden wieder in einem Niedergang, ohne sich umzusehen. Bolitho sah das Bündel im Schaum des Kielwassers davontreiben. Sein Magen zog sich schmerzhaft zusammen. Es hatte wie durchblutete Verbände ausgesehen, doch war es wohl ein amputiertes Glied irgendeines glücklosen Soldaten gewesen. Seit die Korvette Anker gelichtet hatte, war Dalkeith nicht aus seinem behelfsmäßigen Schiffslazarett aufgetaucht. In fast völliger Dunkelheit arbeitete er mit Tupfern und Säge, während das Schiff stampfte und rollte.
Durch das Brausen des Windes gellte Graves' Stimme:»Der Franzose hat geschiftet, Sir!»
Die Fregatte lag nun ungefähr acht Kabellängen steuerbord querab, mehr war es bestimmt nicht. Sie segelte parallel zur Sparrow. Ihre Royals waren Vierkant gebrasst und zerrten in ihren Lieken wie bleiche Brustpanzer.
«Sie holt auf, Mr. Tyrell«, sagte Bolitho,»zwar nicht sehr schnell, aber doch genug, um uns in Verlegenheit zu bringen.»
Tyrell stützte sich auf die Reling. Seine Augen waren nach vorn gerichtet, ohne sich um den Feind zu kümmern.
«Soll ich klar Schiff zum Gefecht befehlen, Sir?»
Bolitho schüttelte seinen Kopf.»Wir können nicht. Jeder freie Platz im Schiff ist von Soldaten belegt. Auf dem Geschützdeck ist kaum Platz für den Rückstoß eines Zwölfpfünders. «Er dachte an die großen Zweiunddreißigpfünder, die zu beiden Seiten des Bugs aufgestellt waren.
Da der Feind von achtern auflief, waren sie nutzlos und nur eine zusätzliche Belastung für das Schiff. Wäre der Feind in ihrem Schußbereich gefahren, so hätten sie ihn wenigstens vorübergehend in Schach halten können, so lange, bis ein Schiff des Küstengeschwaders zu Hilfe gekommen wäre.
Tyrell schaute ihn besorgt an.»Sie haben die Wahl, Sir. Entweder Sie fahren jetzt an der Küste entlang und riskieren, daß der Wind Sie vollkommen im Stich läßt, oder Sie ändern in etwa einer Stunde den Kurs seewärts.»
Er stemmte die Hüfte gegen die Reling, als die Sparrow stark rollte. Der Gischt stob über die Decks und prasselte gegen die untersten Segel wie Bleischrot.
«Es verläuft hier ein langer Rücken von Sandbänken von Nord nach Süd. Sie können auf der äußeren oder inneren Seite entlang segeln. Aber in einer Stunde müssen Sie sich entscheiden.»
Bolitho nickte. Selbst die mangelhafte Kenntnis des Seegebietes, die er aus seinen Karten entnommen hatte, bewies, daß Tyrell nur zu recht hatte. Die Untiefen erstreckten sich wie ungleichmäßige Buckel auf etwa zwanzig Meilen quer über seine Kursrichtung. Würde er über Stag gehen, um die Sandbänke zu meiden, bedeutete dies Zeitverlust, und da der Feind schon so nahe kam, war es zu gefährlich.
Tyrell rieb sein Kinn.»Wir könnten abwarten, was der Franzose zu tun gedenkt. Aber für uns wäre es dann zu spät. «Hilflos zuckte er die Achseln.»Es tut mir leid, Sir. Ich bin auch keine große Hilfe für Sie.»
Bolitho starrte an ihm vorbei zum Land hinüber. Die Küste fiel, sich nach Nordost wendend, zurück. Die Entfernung, etwa zehn oder fünfzehn Meilen, war im hellen Sonnenglanz und tieftreibenden Seedunst schwer abzuschätzen.
«Sie haben schon sehr viel geholfen.»
Er kehrte zum Kompaß zurück und bemerkte, daß Buckle ihn grimmig anblickte. Das Gelächter, die plötzliche Entspannung, als sie von Land freikamen, waren vorbei. Aus dem Gerücht von einem irgendwo liegenden Schiff war eine wirkliche, tödliche Bedrohung durch die Reihe feindlicher Geschützpforten geworden.
«Wahrschau an Deck! Segel steuerbord voraus!»
Aufgeregt zischte Graves:»Das Geschwader, bei Gott, jetzt wird es besser!»
Ein paar Augenblicke später:»Deck! Es ist ein Lugger, Sir. Läuft ab!»
Bolitho verschränkte die Hände hinter seinem Rücken. Irgendein furchtsamer Kauffahrer. Kein Zweifel! Bliebe er in Sicht, würde er innerhalb einer Stunde Zeuge eines ungleichen, einseitigen Kampfes sein.
«Der Franzose hat seinen Kurs etwas geändert!»
Buckle spähte durch sein Teleskop achteraus.
«Er braßt seine Rahen an.»
Bolitho zählte die Sekunden und wartete. Die Fregatte war aus ihrem ursprünglichen Kurs gelaufen. In jagender Geschwindigkeit drehte sie ganz leicht vom Parallelkurs ab. Bolithos Körper spannte sich, als er den Puff braunen Rauches sah, der sofort im achterlichen Wind davontrieb.
Das schwere Geschoß klatschte etwa eine Kabellänge zu kurz in die See. Eine Wasserfontäne stob auf wie von einem blasenden Wal.
Bolitho wollte das Freudengebrüll seiner Leute nicht hören. Was immer sie glauben mochten, es war ein einwandfreier Schuß. Die Fregatte hatte mit einem schweren Geschütz, das etwa seinen eigenen Buggeschützen gleichen mochte, fast zwei Meilen weit geschossen.
Foley tauchte an seiner Seite auf.»Ich habe den Abschuß gehört. «Er beschattete seine Augen und spähte über das Schanzkleid.»Er will Sie entnerven.»
Bolitho lächelte ernst.»Oh, er will noch viel mehr, Oberst.»
Er hörte schwere Schritte auf dem Achterdeck und entdeckte Dalkeith, der mit trüben Augen in die Sonne blinzelte und mit einem großen Taschentuch sich den Schweiß aus dem Gesicht wischte. Der Arzt hatte seine schwere Schürze abgelegt, aber Beine und Schuhe waren voll dunkler, noch feuchter Flecken.
Mit ein paar kurzen Worten gab er Bolitho seinen Bericht.»Das wärs für den Augenblick, Sir. Zehn Mann sind gestorben, aber ich fürchte, daß ihnen noch einige folgen werden.»
Voll Bewunderung sagte Foley:»Danke, Mr. Dalkeith, besser, als ich zu hoffen wagte.»
Alle drehten sich um, als wieder ein dumpfer Knall über die weißen Wogenkämme hallte. Der Einschlag lag näher und auf gleicher Höhe mit der Steuerbordseite.
Dalkeith zuckte die Achseln.»Auf festem Boden hätte ich vielleicht mehr retten können, Oberst.»
Er wandte sich ab und ging zur Reling. Seine Schultern waren wie unter einer großen Last gebeugt, und die Perücke saß ihm schief auf dem Kopf.
«Ein guter Chirurg«, sagte Bolitho.»Gewöhnlich heuern nur Taugenichtse oder Trunkenbolde an. Er ist keines von beiden.»
Foley betrachtete die Fregatte durch ein Fernglas.»Vielleicht hat ihn eine Frau auf die See getrieben. «Er duckte sich unwillkürlich, als der Feind feuerte und die Kugel hoch über ihre Köpfe wimmerte, bevor sie auf der anderen Seite eine Fontäne aus Gischt aufwarf.
«Er hat sich jetzt auf uns eingeschossen, Mr. Tyrell. Lassen Sie die Flagge setzen.»
Bolitho sah, wie die scharlachrote Flagge sich an der Gaffel entfaltete.
«Mr. Dalkeith, Ihre Gehilfen sollen die Verwundeten auf die Backbordseite tragen. «Er schnitt den unausgesprochenen Protest des Arztes ab.»Besser jetzt als später, wenn wir wirklich in Schwierigkeiten sind.»
Graves kam nach achtern gerannt.
«Geschütze ausrennen, Sir?»
«Nein. «Er blickte auf, als wieder ein Geschoß über das Deck heulte.»Lassen Sie die Steuerbordbatterie laden, Kartätschen mit doppelter Ladung.»
Er beachtete nicht den verwirrten Gesichtsausdruck des Leutnants und wandte sich an Foley.
«Wenn wir feuern müssen, dann wird es nur diese eine Breitseite sein. Sie sind selbst unter Deck gewesen. Mit dem Schiff, das randvoll mit Kranken beladen ist, können wir uns nicht in einen Nahkampf einlassen.»
Foley schaute weg.»Es tut mir leid, Kapitän.»
Bolitho sah ihn ernst an.»Es soll Ihnen nicht leid tun. In meinen Befehlen steht wenig von Kämpfen geschrieben. Mein Auftrag befaßt sich nur mit Beförderung. «Er lächelte mühsam.»Leider hat ihn der Franzmann nicht gelesen. «Er blickte aufs Geschützdeck hinunter, wo die Verwundeten auf die andere Seite getragen wurden. Inzwischen überwachten Graves und Yule, der Batterieführer, das sorgfältige Laden aller Steuerbordgeschütze.
Schließlich erschien Graves an der Leiter zum Achterdeck und meldete, daß alle Kanonen außer vieren geladen und schußbereit seien. Er brach mit heiserem Keuchen ab, als ein langgezogenes Kreischen die Luft erfüllte. Es klang, als ob plötzlich tausend Teufel aus der See gestiegen seien.
Die Wanten, das ganze Rigg zuckte wild. Männer duckten sich nieder und hielten die Hände über die Köpfe. Zerfetztes Tauwerk und abgerissene Blöcke prasselten auf sie nieder.
Bolitho preßte die Hände hinter seinem Rücken noch fester zusammen, bis der Schmerz ihm half, sich wieder zu beruhigen. Drahtkugeln, wie sie die große Bonaventure verwendet hatte! Sie waren bösartig und gefährlich und bestanden aus Eisenteilen, die miteinander verbunden waren. Mit Leichtigkeit konnten sie Teile des Riggs und Spieren abtrennen. Aber im Gegensatz zu Kettenkugeln, die sonst meist benützt wurden, konnten sie Männer, die nicht durch Reling oder Schanzkleid gedeckt waren, oft grauenhaft zurichten. Offensichtlich beabsichtigte der Franzose, die Sparrow zu entmasten und sie dann ohne allzu große Beschädigungen mitsamt ihrer Last als Prise zu nehmen. Mit dem Gold konnten viele künftige Ausgaben beglichen werden, und die Sparrow würde eine wertvolle Verstärkung für die feindliche Flotte abgeben. All das war früher schon oft geschehen. In der nächsten Stunde würde er es selbst erleiden.
Das Buggeschütz spuckte wieder eine Rauchwolke aus, und das Großsegel der Sparrow platzte in einer sirrenden Explosion auseinander. Durch den Winddruck riß sich das getroffene Segel von selbst in tausend Fetzen, bevor noch das Geschoß ins Wasser geplatscht war.
Bolitho spürte den Unterschied sofort. Die Schiffsbewegungen in den Wellen wurden schwerfälliger, und die Rudergänger mußten mit verstärktem Drehen des Rades hart kämpfen, um das Schiff auf Kurs zu halten.
Schon wieder das dämonische Aufkreischen wirbelnder Eisenteile, das Klatschen und Klappern heruntergerissener Taue und Fallen. Hoch über Deck arbeiteten die Toppsgasten fieberhaft, um das zerrissene Rigg wieder auszubessern, aber inzwischen war die Fregatte viel näher gekommen, und Bolitho sah deutlich, wie ihre drei vordersten Geschütze Feuer und Rauch ausspien. Er wußte, daß der Feind immer mehr aufholte und bald seine ganze Artillerie zum Tragen bringen konnte.
Geschosse winselten und heulten über das Schiff, und eines fetzte durch das Besanbramsegel. Es klang wie ein auf Holz klatschender Peitschenschlag. Schreiend und fluchend versuchten die Seeleute das beschädigte Segel zu bergen, doch der Wind schlitzte es mit einem Knall von oben bis unten auseinander.
Bolithos Hände krampften sich um die Reling. Wenn doch nur ein britisches Segel in Sicht käme oder irgend etwas, das der Fregatte den Mut nehmen würde und sie zwänge, wenigstens für ein paar Augenblicke den Bug zu wechseln.
Er sah, wie eine Kugel über die Wellenkämme daherschlitterte. Die hochstäubenden Federn aus Gischt markierten deutlich ihre Flugbahn. Unter Bolithos Füßen zuckte das Deck, als das Geschoß in die Wasserlinie krachte.
Aus der Tiefe des Schiffsrumpfes erklang gedämpftes Geschrei, und in Bolithos Gedanken tauchten grauenhafte Bilder auf. Er sah die Kranken und Verwundeten, einige, denen soeben erst von Dalkeith ein Glied amputiert worden war und die nun das drohende Kanonengebrüll und die von Schuß zu Schuß sich steigernde Genauigkeit des feindlichen Feuers ertragen mußten.
Bethune kam vom Niedergang her gerannt.
«Herr Kapitän, der General wünscht laufend Meldung…«Er bückte sich, als ein Geschoß durch die Reling schmetterte und zwei Seeleute in einem Durcheinander von zerfetzten Gliedern und sprudelndem Blut über das Deck schleuderte.
Bolitho wandte sich ab. Vor wenigen Minuten erst hatte er mit einem von ihnen gesprochen. Nun war er nur noch ein zerrissenes, blutiges Bündel.
«Sagen Sie dem General, er soll unter Deck bleiben und…»
Er brach ab, als mit splitterndem Krachen die Großbramstenge überkippte. Das Segel peitschte wild im Gewebe zerrissenen Tauwerks. Die Rah selbst zerbrach in zwei gleiche Teile, bevor sie aufs Deck polterte. Männer rannten in panischer Verwirrung davon. Dann polterte die Lawine aus Holz und Tauen über die Backbordreling und schleppte im wirbelnden Gischt längsseits nach. Ein Mann, es mußte der Ausguck gewesen sein, wurde zur Großmastrah geschleudert. Sogar über all dem Lärm hörte Bolitho seine schrillen Schreie, bevor er überkippte und auf das Geschützdeck aufschlug.
Wieder blitzten die Mündungsfeuer auf. Tilby sprang zwischen seine strauchelnden Leute. Er schwang seine Arme wie Dreschflegel und schob und trieb sie an, damit sie das Schiff mit den Äxten vom zerfetzten Rigg befreiten.
«Wir werden Kurs ändern müssen, Sir«, schrie Tyrell. Er brüllte laut, um sich Gehör zu verschaffen. Mit maskenhaft verzerrten Gesichtern rannten die Männer an ihm vorbei, sie sahen nicht einmal die blutigen Leichen in den Speigatten.
Bolitho starrte ihn an.»Wieviel Wasser steht dort über den Sandbänken?»
Tyrell glaubte, falsch verstanden zu haben.»Zu dieser Stunde? So gut wie nichts!«Er spähte mit wilden Augen zu den Segeln hinauf, als wieder eine Eisenladung heulend durch die Takelage fuhr. Ein Toppsgast hatte den Halt verloren. Zwei seiner Kameraden hielten seine Hände gepackt, während seine Beine hilflos in der Luft strampelten. Schweiß, Angst oder ein sausender Splitter mochten schuld sein, daß ihn die beiden plötzlich fallen ließen. Mit einem kurzen Schrei stürzte der Mann kopfüber scheinbar ganz langsam, bis er neben dem Schiffsrumpf in die See platschte. Bolitho sah ihn mit ausgebreiteten Armen wie ein Schatten am Achterdeck vorbeihuschen. Seine Augen waren verzerrt, so daß man das Weiße sehen konnte. Dann schlossen sich die Wogen über ihm.
«Ich muß es wagen!«brüllte Bolitho laut. Er merkte nicht, daß es in dem wilden Getöse nur wie Gemurmel klang.»Welchen Kurs wir ausfahren, immer kann uns die Fregatte mit ihren Geschützen bestreichen.»
Tyrell nickte heftig.»Sie haben recht. Ich werde einen Mann mit der Lotleine.»
Bolitho packte ihn am Arm.»Nein, wenn Sie das tun oder Segel reffen lassen, dann wird der verfluchte Hund merken, was wir vorhaben. «Er schüttelte ihn heftig.»Sollte ich fallen, müssen Sie versuchen, mit dem Schiff durchzukommen.»
Ein Geschoß krachte hinter ihm in die Reling. Splitter und Holzteile flogen durch die Luft, und Bolitho sah, wie Foley mit einer Hand nach seiner Schulter griff, wo die Epaulette sauber herausgetrennt worden war.
«Heiße Arbeit heute, Kapitän!»
Bolitho starrte ihn an. Er fühlte, daß sein Mund sich zu demselben grausigen Grinsen verspannte. Gleich seinen Gesichtszügen verhielt sich auch das Schiff wie ein unbeherrschbares Ding. Die übriggebliebenen Segel trieben es ständig auf die verborgene Gefahr der Sandbänke zu. Er baute seinen Plan ganz auf Tyrells Kenntnis und auf die Hoffnung, daß der Franzose sich der Gefahr nicht bewußt war oder daß er in blindwütiger Verfolgung nur noch an raschen Sieg zu denken vermochte.
Bolitho brachte es fertig, trotz des ununterbrochenen Geschützfeuers, des Krachens und Splitterns, mit dem die Geschosse ihr Ziel trafen, alle kleinen, aber wichtigen Einzelheiten auf beiden Seiten wahrzunehmen.
Ein schrecklich verwundeter Seemann, dessen Schulter zu blutigem Brei zerschmettert war, lag in den Armen eines Soldaten mit verbundenem Gesicht, der bei einem früheren Gefecht geblendet worden war. Doch seine Hände kümmerten sich nicht um das schreckliche Durcheinander. Beruhigend hielten und beschirmten sie den Seemann und tasteten nach einer Wasserflasche, um seine Schmerzen zu lindern. Und Dalkeith! Er hatte seine Perücke in eine Tasche gestopft und kniete neben einem Verwundeten. Mit seinen blutigen Fingern, die roten Klauen glichen, tastete er die Verletzung ab, während seine Augen bereits auf dem nächsten und übernächsten Opfer ruhten.
Und durch all das schritt Graves hinter den geladenen Geschützen auf und ab. Sein Kinn hatte er gegen die Brust gepreßt. Er unterbrach seine Wanderung nur, um eine Geschützbedienung zu überprüfen oder um über einen Toten oder über niedergebrochene Teile des Riggs hinwegzusteigen.
Vom Bug her erscholl ein verzweifelter Schrei:»Ich kann den Grund sehen!»
Bolitho beugte sich über das Schanzkleid. Im blendenden Licht sprühte der Gischt am Rumpf hoch. Tauwerk und ein zerschmetterter Kutter schleppten längsseits im Wasser. Dann bemerkte er die in der Tiefe vorbeiflitzenden schattenhaften Gebilde, Algen und Felsrippen, von denen sich einige wie aufgescheuchte Ungeheuer gegen den Kiel aufzubäumen schienen.
Wenn das Schiff nun auf Grund rannte, dann würden ihm die Masten fortgerissen werden. Knirschend und berstend würde es in die See sinken.
Er wandte sich um und suchte den Feind. Wie nahe er schon war! Weniger als drei Kabellängen querab! Seine ganze Batterie hatte er ausgerannt, um den ungleichen Kampf mit einer vollen Breitseite zu beenden.
Mit heiserer Stimme murmelte Buckle:»Beim allmächtigen Gott, der Franzose hat einen sicheren Kanal gefunden. «Seine Stimme klang wie zerbrochen.»Die Hunde haben uns erledigt.»
Bolitho schaute Tyrell an.»Lassen Sie die Bramsegel wegnehmen. «Er konnte die Verzweiflung in der Stimme nicht mehr verbergen.
«Sie hatten keine andere Wahl, Sir..»
Er brach plötzlich ab, als Buckle und Fähnrich Heyward gleichzeitig aufschrien.
«Er ist aufgefahren!»
Bolitho sprang zwischen sie und starrte wie irr und voll Unglauben auf das feindliche Schiff.
Es hatte gerade auf den anderen Bug gehen wollen. Entweder hatte sein Kapitän die furchtbare Gefahr bemerkt, oder er wollte die Korvette jetzt mit der ersten vollen Breitseite bestreichen. In diesem Augenblick war die Fregatte mit großer Geschwindigkeit auf die Klippen gerannt.
Über die See her konnten sie das berstende Krachen und das fürchterliche Gerumpel hören, als der Rumpf am Grund aufschlug. Dann warf sich das Schiff zur Seite, und gleichzeitig kam in einem mächtigen Vorhang aufschäumenden Gischtes sein Fockmast, verheddert mit den Groß- und Besanstengen von oben.
Bolitho mußte mehrmals rufen, um das Hurra- und Freudengebrüll seiner Leute zum Schweigen zu bringen. Ihnen selbst drohte doch dieselbe Gefahr!
«Ändern Sie den Kurs fünf Strich steuerbord!»
Er wischte sich den Schweiß aus den Augen und blickte auf den Kompaß. Seine Gedanken waren vom Krachen der Spieren und Ächzen der Planken wie benommen.
«Steuern Sie Süd-Südost!»
Nur unter der zerrissenen Fock und den Marssegeln schwenkte die Sparrow träge ein, als ob auch sie ohne Vernunft und Verstand wäre. Das Tauwerk ächzte, Blöcke klapperten, und im Bemühen, den Befehlen zu gehorchen, kletterten die Männer wie verwirrte Tiere über die Trümmer.
Bolitho hob seine Hände an den Mund.
«Mr. Graves, Geschütze ausrennen!»
Die Pforten öffneten sich knarrend, und die Kanonen wurden auf ihren Rollen ins blitzende Sonnenlicht geschoben. Auf dem neuen Kurs legte sich die Korvette etwas über. Die Kanonen rumpelten schnell über die Decksplanken.
«Geschütze ausgerannt!«meldete Graves und blickte zu Bolitho hinauf.
Mit zusammengekniffenen Augen hob Bolitho die Hand. Er zwang sich, das feindliche Schiff als Ziel zu betrachten und nicht als ein vor kurzem noch lebendiges Geschöpf, das sich nun in Todesqualen wand.
«Geschütze richten, Mr. Graves. Volle Erhöhung!»
Er peilte die entmastete Fregatte, die hinter dem Steuerbordbug der Sparrow zurückfiel. Der aufgewühlte Sand rings um das Wrack zeigte die Gewalt, mit der es aufgerammt war.
Seine Hand zuckte nach unten.»Feuer!»
Der Schiffsrumpf bebte und bockte, als Geschütz nach Geschütz seine doppelte Ladung über die Wellenkämme spie und in den hilflosen Feind schmetterte. Die Fregatte beantwortete das Feuer aus einigen Drehbassen. Als ihr aber die ersten schweren Geschosse zusammen mit den Kartätschen in die Flanken und über das Deck fuhren, schwiegen auch diese.
Bolitho hob wieder die Hand.»Feuer einstellen! Geschütze sichern!«Dann wandte er sich an Buckle:»Wir gehen sofort über Stag. Kurs Nordost zu Nord!«Er blickte zum rauchenden Wrack zurück.»Es wird dort liegen bleiben, bis jemand kommt. Freund oder Feind, es macht keinen Unterschied mehr.»
Tyrell sah ihn ernst an.»Aye, Aye, Sir!«Er schien noch auf irgend etwas zu warten.
Bolitho ging zur Reling und blickte auf die Leute hinunter. Sie zurrten die Kanonen fest, begannen die Schäden zu flicken und das durcheinandergebrachte Rigg zu klarieren. Überall wurde gearbeitet, um die Sparrow für die nächste Herausforderung bereitzumachen. Es gab kein Freudengebrüll. Alles ging sehr still vonstatten. Nur ein paar Seeleute grinsten, als sie Freunde noch lebend antrafen. Hier ein Nicken, dort ein Schulterklopfen. All dies erzählte Bolitho mehr, als Worte es vermocht hätten.
«Die Männer haben eine Menge gelernt, Mr. Tyrell.»
Er sah Dalkeith aufs Achterdeck heraufsteigen und nahm all seinen Mut zusammen, um die Liste der Toten und Sterbenden in Empfang zu nehmen.
«Von diesem Tag an werden sie zu allem bereit sein. «Er übergab seinen Degen an Stockdale. Obwohl er sich nicht erinnern konnte, ihn bemerkt zu haben, hatte er sich doch die ganze Zeit über in seiner Nähe gehalten.»Bereit, wie ich es will.»