VIII Des Kapitäns Entscheidung

Der Aufenthalt der Sparrow in New York war die enttäuschendste und langweiligste Zeit, an die sich Bolitho erinnern konnte. Er hatte gehofft, mit einigen Wochen für Reparaturarbeiten und Auffüllen der Vorräte davonzukommen. Statt dessen aber mußte er mit wachsender Ungeduld warten und zusehen, wie alle anderen Schiffe vor ihm klar gemacht wurden. Jedenfalls kam es ihm so vor.

Als sich die Zeit in den zweiten Wartemonat hineinschleppte, war er bereit, eher zu verhandeln als zu fordern, ja, die ihm zustehende Unterstützung von den Hafenbehörden eher zu erbitten als zu erwarten. Und den Gerüchten nach, die er da und dort aufschnappte, waren alle kleineren Schiffe in derselben Lage.

Die Arbeiten an Bord schritten ständig voran, schon glich die Sparrow einem erprobten Veteran. Die Segel wurden sorgfältig geflickt und keineswegs großzügig erneuert. Anscheinend wußte niemand, wann Nachschub aus England eintreffen würde, und was bereits in New York lagerte, wurde eifersüchtig bewacht, oder, wie Bolitho befürchtete, fir entsprechende Trinkgelder gehortet. Die zerbrochene Großbramstenge war aus dem Wasser gefischt und repariert worden. Von Deck aus schien sie so gut wie neuwertig zu sein. Ob sie aber einem wirklichen Sturm widerstehen oder wie sie sich bei der Jagd auf einen Blockadebrecher bewähren würde, beschäftigte oft Bolithos Gedanken. Dazu kamen noch der ständige Strom fälliger Berichte, die Ersatzteil- und Lebensmittellisten, die endlos mit den Leuten der Ausrüstungsdepots besprochen werden mußten. Schließlich fing er an zu glauben, daß weder er noch sein Schiff jemals diesen Hafen wieder verlassen würden.

Der Stolz und die Erregung, eine französische Fregatte auf Grund gejagt und die geretteten Soldaten sicher an Land abgesetzt zu haben, waren düsterer Niedergeschlagenheit gewichen. Tag um Tag ertrug die Schiffsbesatzung die Arbeit in glühender Hitze, obwohl sie wußte, daß sie keine Möglichkeit hatte, an Land zu gehen, es sei denn unter strenger Aufsicht und nur in dienstlichen Angelegenheiten. Bolitho wußte, daß die Gründe für diese Vorschrift bis zu einem gewissen Grade gesund und vernünftig waren. Jedes Schiff, das einlief oder ausreiste, war unterbemannt, und es war bekannt, daß skrupellose Kapitäne darauf aus waren, Seeleute anderer Schiffe zu stehlen, wann immer sich eine Gelegenheit bot.

Auch Bolitho fehlten, seitdem er das Kommando übernommen hatte, fünfzehn Mann, die entweder gefallen oder so schwer verletzt waren, daß sie für weiteren Dienst nicht mehr in Frage kamen.

Und die Neuigkeiten waren wenig ermutigend. Überall auf dem Festland befanden sich die britischen Truppen in Schwierigkeiten. Im Juni wurde eine ganze Armee durch die Angriffe General Washingtons in der Schlacht von Monmouth zum Rückzug gezwungen, und den Berichten nach, die bis zu den ankernden Schiffen durchsickerten, war keine Besserung der Lage zu erhoffen.

Hinzu kam eine weitere Sorge für die Flotte. Der erste Hurrikan der Saison war über die See gefegt. Wie eine Sichel durch das Korn war er von der Karibischen See heraufgezogen und hatte auf seinem Weg etliche Schiffe zerstört, andere so zugerichtet, daß sie nun, da sie so dringend gebraucht wurden, nicht einsatzbereit waren. Bolitho konnte die Sorgen des Admirals gut verstehen, denn die ganze Strategie an der amerikanischen Küste hing von der Wachsamkeit der Patrouillen und der einsam kreuzenden Fregatten ab. Sie waren seine Augen und die Verlängerung seines Willens.

Nur für eines war Bolitho sehr dankbar. Sein Schiff war unter der Wasserlinie nicht so schwer beschädigt worden, wie er zuerst befürchtet hatte. Garby, der Schiffszimmermann, hatte recht, als er sagte, die Korvette sei wie eine kleine Festung.

Bei seinen regelmäßigen Inspektionsgängen unter Deck hatte er den Stolz des Zimmermanns verstehen gelernt, denn die Sparrow war als Kriegsschiff gebaut worden. Sie war nicht, wie viele andere Einheiten, von der Handelsmarine, die geringere Ansprüche stellte, sondern durch die Kriegsflotte angekauft worden. Die kräftigen Spanten der Korvette waren in ihren Krümmungen gewachsen und nicht mit der Säge ausgeschnitten worden, so daß der Rumpf die ganze zusätzliche Sicherheit natürlicher Stärke besaß. Abgesehen von einigen zerfaserten Einschußlöchern unter dem Achterdeck, welche die Werkzeuge und Hilfe der New Yorker Werften erforderten, konnte sein Schiff segeln und kämpfen wie zuvor. Dies machte die Verzögerung im Hafen um so unerträglicher.

Bolitho hatte den Konteradmiral Christie an Bord des Flaggschiffs besuchen dürfen, hatte aber dabei nicht viel darüber erfahren, wann sein Schiff wieder auslaufen könne. Ironisch hatte der Admiral bemerkt:»Wenn Sie mit General Blundell weniger Scherereien gehabt hätten, stünden die Dinge vielleicht anders.»

Als Bolitho versucht hatte, mehr aus ihm herauszubringen, hatte er ärgerlich geantwortet:»Ich weiß, der General war im Unrecht, als er sich so verhielt, wie er es tat. Ganz New York weiß das inzwischen. Vielleicht wird er sogar zur Rechenschaft gezogen werden, wenn er nach England zurückkehrt. Da ich aber seinen Einfluß in gewissen Kreisen kenne, muß ich das bezweifeln. Es ist Ihre Sache, Bolitho, daß Sie ihn gedemütigt haben. Sie haben recht gehandelt, und ich habe bereits einen Bericht abgefaßt, der mein Vertrauen in Sie bezeugt. Aber man macht sich mit dem rechten Weg nicht immer beliebt.»

Eine besondere Nachricht aber hing über Bolitho wie eine dunkle Wolke. Sie schien ihn zu quälen, während er Tag um Tag versuchte, sein Schiff seeklar zu machen. Eine einlaufende Brigg hatte Neuigkeiten von dem KaperschiffBonaventure gebracht. Es hatte einigen Versorgungs- und Kriegsschiffen Gefechte geliefert, zwei Prisen genommen und eine Korvette, ein Geleitschiff, versenkt. Genau, wie er es geahnt hatte. Aber das Schlimmste für ihn war, daß der Freibeuter an die Stelle des damaligen Seegefechtes zurückgekehrt war und die zerschossene Fregatte Miranda gefunden hatte.

Eine Handvoll Überlebender war in einem kleinen treibenden Boot entdeckt worden. Einige waren verwundet oder vor Durst halb irr, die anderen niedergeschlagen und wie betäubt, da sie doch so viel gearbeitet hatten, um ihr Schiff zu retten.

Immer und immer wieder zergrübelte sich Bolitho sein Gehirn, prüfte sein Verhalten und fragte sich, was er damals sonst noch hätte tun können. Er hatte seine Befehle ausgeführt. Lieber hätte er der Fregatte geholfen. Aber er hatte der Pflicht den Vorrang eingeräumt. Und so hatte er das beschädigte Schiff wie ein hilfloses Tier dem Tiger ausgeliefert.

In seinem Herzen wußte er, daß er keine andere Entscheidung hatte treffen können. Er wußte auch, daß er anders gehandelt hätte, wäre er sich nicht darüber im klaren gewesen, wie notwendig die beiden Transportschiffe gebraucht wurden. Als er dies dem Kapitän der Brigg eingestanden hatte, schüttelte der den Kopf.

«Dann läge jetzt auch Ihre Sparrow auf dem Grund des Meeres. Die Bonaventure ist allem außer einem Linienschiff gewachsen.»

Bolitho ging nur in dienstlichen Angelegenheiten, zu Besorgungen und Zahlungen an die Werftleute an Land. Er hielt es für unfair, von seinen Vorrechten Gebrauch zu machen, wenn seine Leute auf ihrem Schiff, dessen Größe jeden Tag zu schrumpfen schien, eingesperrt waren. Auch widerten ihn die Dinge, die er in New York zu sehen bekam, an. Es gab allerlei langweilige militärische Vorbereitungen dort. Artillerie wurde gedrillt. Zum Vergnügen von Tagdieben und schreienden Kindern rückten bespannte Geschütze vor. Fußsoldaten rannten und schwitzten in der brütenden Hitze, ja, verschiedentlich hatte er sogar Kavallerie gesehen.

Aber seine eigentliche Abneigung saß viel tiefer. Die Auswirkungen der immer schlechteren Nachrichten reichten nur bis zu einer bestimmten Grenze. In den großen Häusern verging kaum eine Nacht ohne Empfänge oder Bälle. Stabsoffiziere und reiche Kaufleute, Damen in großer Robe und blitzenden Juwelen — es war kaum zu glauben, daß in der Nähe so blutige Kampfhandlungen stattfanden. Bolitho wußte aber auch, daß ein Teil seines Abscheus auf seiner eigenen Ungeschicklichkeit, in solchen Kreisen aufzutreten, beruhte. In seiner Heimatstadt Falmouth war seine Familie stets geachtet worden, aber eher als Seefahrer denn als ansässige Einwohner. Schon mit zwölf Jahren war er in die Marine eingetreten, doch seine Erziehung hatte eher der Navigation gegolten und dem Umgang mit Tauwerk, Schäkel und Augbolzen als der Kunst, Konversation zu machen.

Es schien ihm unmöglich, sich unter die perückentragenden Dandies zu mischen, wie er sie nun bei seinen Landgängen in New York sah. Auch die Frauen waren ihm fremd, unerreichbar. Im Gegensatz zu den ausgesprochen ländlichen Frauen in Cornwall oder zu den Frauen und Töchtern seiner Offizierskameraden schienen sie eine eigenartige Macht auszustrahlen. In ihnen steckte eine gewisse Kühnheit und belustigte Geringschätzung, die ihn reizte und verwirrte, wann immer er mit ihrer parfümierten, privilegierten Welt zu tun hatte.

So oft wie möglich hatte er Tyrell erlaubt, an Land zu gehen, aber die Veränderung, die in seinem Leutnant vor sich ging, überraschte ihn. Er konnte an ihm weder Freude noch Erleichterung entdecken, obwohl er doch mit Landsleuten sprechen und Gegenden aufsuchen konnte, die er so oft mit dem Schoner seines Vaters angelaufen hatte. Er zog sich immer mehr zurück, ja, er vermied es augenscheinlich, von Bord zu gehen, wenn ihn sein Dienst nicht dazu zwang. Bolitho wußte, daß er über den Verbleib seiner Familie nachgeforscht hatte. Auch glaubte er, daß Tyrell ihm in einer guten Stunde erzählen würde, ob alles so stand, wie er gehofft hatte.

Und dann endlich, fast auf den Tag genau drei Monate nachdem sie zugesehen hatten, wie die französische Fregatte auf das Riff rannte, war die Sparrow wieder seeklar. Mit argwöhnischen Blicken beobachteten die Seeleute den letzten Werftarbeiter, ob er nicht mehr von Bord mitnahm, als er gebracht hatte, dann wurde er an Land gerudert. Nachdem die letzten Wasserleichter und Werftbarken von der Korvette abgelegt hatten, schrieb Bolitho seinen Bericht an den Admiral. Es kümmerte ihn wenig, wie seine nächsten Befehle lauten würden. Ob es sich wieder um einen besonderen Auftrag handelte, ob er Depeschen befördern oder einfach zu Colquhouns Flottille zurückkehren sollte, war ihm gleichgültig. Er wollte nur endlich wieder auf See sein, unabhängig von geschniegelten Flaggoffizieren und umständlichen Schreibereien.

Als Tyrell die Kapitänskajüte betrat und meldete, daß alle Werftarbeiter von Bord seien, fragte Bolitho:»Wollen Sie heute abend mit mir essen? Vielleicht werden wir in den nächsten Wochen keine Gelegenheit mehr dazu haben.»

Tyrell blickte ihn düster an.»Mit Vergnügen, Sir. «Seine Stimme klang matt und erschöpft.

Bolitho starrte durch die geöffneten Heckfenster auf die vor Anker liegenden Schiffe und die fahlen Häuser im Hintergrund.»Sie können Ihre Sorgen mit mir teilen, wenn Sie wollen, Mr. Tyrell. «Er hatte mehr gesagt, als er beabsichtigte, aber die Verzweiflung in den Augen des Leutnants hatte ihn alle Vorsicht vergessen lassen.

Tyrell beobachtete ihn vom Fenster aus. Seine Augen lagen im Schatten.»Ich habe Nachrichten erhalten. Mein Vater hat seine Schoner verloren, aber das war zu erwarten. Die eine oder die andere Seite hat sie beschlagnahmt. Es ist gleichgültig. Außerdem besaß mein Vater eine kleine Farm. Er sagte immer, sie sähe seinem Hof in England sehr ähnlich.»

Bolitho wandte sich langsam ab.»Ist auch die Farm verloren?«Tyrell zuckte die Achseln.»Der Krieg hat vor einigen Monaten dieses Gebiet erreicht. «Seine Stimme klang tonlos wie aus weiter Ferne.»Wir hatten einen Nachbarn, Luke Mason. Er und ich, wir wuchsen zusammen auf. Wie Brüder. Als der Aufstand anfing, war Luke im Norden und verkaufte Rinder. Und ich war auf See. Luke war immer ein bißchen ungezügelt, und ich glaube, daß ihn all das Durcheinander mitgerissen hat. Jedenfalls, er meldete sich, um gegen die Briten zu kämpfen. Aber für seine Kompanie ging die Sache schlecht aus. Sie wurde im Kampf aufgerieben. Luke entschloß sich, nach Hause zu gehen. Ich glaube, er hatte genug vom Krieg.»

Bolitho biß sich die Lippen.»Er ging zu Ihrem Vater?»

«Aye. Das Unglück war, daß mein Vater offensichtlich die englischen Soldaten mit Remonten und Futter versorgte. Aber er mochte Luke sehr gern. Er gehörte fast zu unsrer Familie. «Der Leutnant seufzte.»Der Oberst des Standorts hörte davon durch irgendeinen verdammten Spitzel. Er ließ meinen Vater an einen Baum hängen und das Haus vollständig niederbrennen.»

Bolitho konnte sich nicht zurückhalten.»Mein Gott, das tut mir sehr leid.»

Tyrell schien nicht zu hören.»Dann griffen die Amerikaner an, und die Rotröcke zogen sich zurück. «Er schaute zu den Decksbalken hinauf und fügte hitzig hinzu:»Aber Luke war in Sicherheit. Er konnte aus dem brennenden Haus entkommen. Und wissen Sie, was? Der amerikanische Oberst hängte Luke als Deserteur auf!«Er sank auf einen Stuhl und stützte sich gegen den Tisch.»Wo, zur Hölle, wo nur ist der gottverdammte Sinn in all dem?»

«Und Ihre Mutter?»

Er beobachtete Tyrells gesenkten Kopf. Die Qual schien ihn zu zerbrechen.

«Sie ist vor zwei Jahren gestorben, so ist ihr all das erspart geblieben. Jetzt bin nur ich noch übrig — und meine Schwester Jane. «Er blickte auf. Seine Augen warfen das Sonnenlicht wie Funken zurück.»Nachdem Käptn Ransome genug von ihr hatte, ist sie verschwunden — Gott allein weiß, wo sie jetzt ist.»

In dem plötzlichen Schweigen überlegte Bolitho, wie ihm wohl zumute wäre, wenn er so furchtbare Nachrichten erhalten hätte wie Tyrell. Soweit seine Erinnerung zurückreichte, war ihm gelehrt worden, mit der ständigen Möglichkeit des Todes zu rechnen und ihr nicht aus dem Wege zu gehen. Fast alle seine Vorfahren waren auf irgendeine Weise auf See umgekommen. Das Seemannsdasein war gefährlich. Wenn man von dem brutalen Ende im Kanonenfeuer und einem Degenstoß des Feindes absah, gab es immer noch zahllose Fallen für den Unachtsamen. Wie oft starben Seefahrer durch einen Sturz aus der Takelage, durch Ertrinken oder am Fieber. Sein Bruder Hugh war Leutnant in der Kanalflotte gewesen, als er ihn zum letzten Mal gesehen hatte. Vielleicht kommandierte er jetzt ein Schiff gegen die Franzosen, vielleicht lag er aber auch schon mit seinen Männern viele Faden tief auf dem Grund des Meeres. Aber die Wurzeln würden weiterleben. Das Haus in Falmouth, sein Vater, seine verheirateten Schwestern. Wie verzweifelt wäre er, wenn er wie Tyrell wüßte, daß all das zerbrochen und ausgemerzt wäre, wenn seine Familie ausgelöscht wäre in einem Land, wo Bruder gegen Bruder kämpfte und die Männer sich beim Kämpfen und Sterben in der gleichen Sprache verfluchten. Nun war für Tyrell und für viele andere Amerikaner nichts mehr geblieben. Nicht einmal ein Vaterland.

Es klopfte, und Graves betrat die Kajüte. Er hielt ihm einen Leinenumschlag hin.»Das ist soeben vom Wachboot übergeben worden, Sir.»

Bolitho ging wieder zum Fenster und öffnete den Umschlag mit einem Messer. Er hoffte, daß Graves Tyrells elende Verfassung nicht bemerken würde, daß die kurze Zeit, die er zum Lesen brauchte, dem Leutnant genügte, sich wieder zu fassen.

Die Order war sehr kurz.

Bolitho sagte rasch:»Wir haben Befehl, morgen mit der ersten Morgendämmerung Anker zu lichten. Wir werden wichtige Depeschen für den Admiral in Antigua mit uns führen.»

In seinen Gedanken zogen all die vielen Seemeilen vorbei, die lange Reise nach English Harbour und zu Colquhoun zurück.

«Mir macht es nichts aus, Sir«, sagte Graves.»Diesmal können wir auf etwas stolz sein.»

Bolitho forschte in seinen Zügen. Was für ein phantasieloser Mensch er doch war.

«Eine Empfehlung an den Steuermann. Sagen Sie ihm, er soll sofort alle Vorbereitungen treffen.»

Als Graves gegangen war, fügte Bolitho hinzu:»Vielleicht wollen Sie das Abendessen mit mir doch lieber etwas aufschieben?»

Tyrell stand auf. Seine Finger berührten die Tischplatte, als ob er sein eigenes Gleichgewicht prüfen wollte.

«Nein, Sir, ich würde gerne kommen. «Er schaute sich in der Kajüte um.»Hier habe ich Jane zum letzten Mal gesehen. Es hilft mir jetzt ein bißchen.»

Bolitho sah ihn hinausgehen und hörte, wie eine Kabinentür zugeworfen wurde. Dann setzte er sich mit einem Seufzer an den Tisch und begann seine Eintragungen ins Logbuch zu machen.

Schon seit sieben sorglosen Tagen stampfte der Bugspriet der Sparrow südwärts. Die Korvette nützte alle Vorteile eines stetigen Windes, der sich in Richtung und Stärke kaum änderte, voll aus. Die Brise schien allen Überdruß und die brütende Hoffnungslosigkeit, unter der die meisten Männer der Besatzung in New York gelitten hatten, weggeweht zu haben. Die geblähten Segel unter wolkenlosem Himmel strahlten ein Gefühl neuer Freiheit aus. Sogar die Erinnerung an den letzten Kampf, an die Gesichter jener Kameraden, die gefallen waren oder nun als Krüppel auf die Heimreise warteten, war ein Teil der Vergangenheit geworden, wie alte Narben, die eine gewisse Zeit zum Verheilen brauchen.

Bolitho studierte seine Karten und überprüfte die täglichen Bestecksrechnungen. Er hatte allen Grund, mit den Eigenschaften seines Schiffes zufrieden zu sein. Die Sparrow hatte bereits über tausend Meilen zurückgelegt und schien wie ihr Kapitän von dem Wunsch getrieben zu sein, das Festland so weit als möglich hinter sich zu lassen. Bisher war auf der Reise noch kein einziges Segel gesichtet worden, und die letzten Möwen waren vor zwei Tagen davongeflogen. Die Routine an Bord eines so kleinen Kriegsschiffes war regelmäßig und sehr sorgfältig geplant, so daß die Umstände so erträglich wie möglich gehalten werden konnten. Wenn die Leute nicht hoch über Deck an den Segeln oder im Rigg arbeiteten, verbrachten sie viel Zeit beim Geschützdrill oder mit harmlosen Ringerwettkämpfen und Kämpfen mit Stöcken unter Stockdales kundigem Auge.

Auch auf dem Achterdeck gab es gewöhnlich einigen Zeitvertreib, um die Monotonie des leeren Horizonts zu unterbrechen, und Bolitho lernte seine Offiziere noch besser kennen. Fähnrich Heyward hatte sich als ausgezeichneter Degenfechter erwiesen und verbrachte manch eine Hundewache, indem er Bethune und die Steuermannsmaaten in der Fechtkunst unterwies. Die größte Überraschung allerdings lieferte Dalkeith. Eines Tages war der plumpe Schiffsarzt mit dem schönsten Paar Pistolen, das Bolitho je gesehen hatte, an Deck erschienen. Sie paßten wunderbar zusammen, waren von Dodson in London hergestellt worden und mußten ein kleines Vermögen gekostet haben. Während einer der Schiffsjungen Holzstückchen über Bord warf, wartete Dalkeith an der Reling, bis sie vorbeigetrieben waren. Dann knallte er sie ab, scheinbar ohne überhaupt zu zielen. Solche Zielsicherheit war unter Schiffsärzten höchst selten. Dies und der Wert der Pistolen ließ Bolitho mehr über Dalkeiths Vergangenheit nachdenken.

Gegen Ende des siebten Tages bemerkte Bolitho die ersten Anzeichen einer Wetterverschlechterung. Der Himmel, der bisher klar und blaßblau gestrahlt hatte, bezog sich mit verwischten Wolkenzungen, und das Schiff stampfte immer heftiger in einer hohen Dünung. Das Barometer schwankte unruhig, doch war es eher ein unbestimmtes Gefühl, das ihm verriet, daß ihnen ein rechter Sturm bevorstand. Der Wind hatte auf Nordwest zurückgedreht und wies alle Anzeichen weiterer Verschlechterung auf. Bolitho konnte seine Feuchtigkeit und seine zunehmende Kraft deutlich im Gesicht fühlen.

Buckle nickte.»Vielleicht wieder ein Hurrikan.»

«Kann sein. «Bolitho ging zum Kompaß.»Fallen Sie einen Strich ab. «Dann gesellte er sich zu Tyrell an der Achterdecksreling.»Die Ausläufer eines Sturmes, vielleicht. Jedenfalls werden wir vor Einbruch der Dunkelheit Segel reffen müssen. Möglicherweise auch schon früher.»

Tyrell nickte. Seine Augen beobachteten die bauchigen Segel.»Das Großbramsegel scheint gut zu ziehen. Die Leute haben in der Takelage gute Arbeit geleistet, während wir vor Anker lagen. «Er sah, wie der Stander im Masttopp sich drehte und dann immer deutlicher zum Backbordbug hin auswehte.»Verdammter Wind, sieht aus, als wolle er noch mehr zurückdrehen.»

Buckle grinste mürrisch.»Kurs Süd-Südost, Sir.»

Er fluchte, als das Deck sich stark überlegte und ein heftiger Gischtschauer über das Schanzkleid prasselte.

Bolitho überlegte, was als nächstes zu tun sei. Bis jetzt hatten sie eine schnelle Reise gehabt. Es gab keinen Grund, sich die Segel von den Rahen reißen zu lassen, nur um dem Wind zu trotzen. Er seufzte. Vielleicht würde der Wind bald wieder nachlassen.»Lassen Sie Bramsegel wegnehmen, Mr. Tyrell. Die Bö wird gleich einfallen.»

Er machte Tyrell Platz, der nach seinem Schalltrichter rannte.

Vom rollenden Schiff aus konnte er jetzt sehen, wie der sprichwörtliche Regenvorhang über die unregelmäßige Dünung heranzog und den Horizont mit einem engmaschigen, grauen Eisengespinst auslöschte.

Nach einer Stunde hatte der Wind weiter zurückgedreht und war zu Sturmstärke angewachsen. See und Himmel vereinigten sich in zerstiebenden Wogenkämmen und strömendem Regen. Es war sinnlos, dagegen ankämpfen zu wollen. Unter jagenden Wolkenwalzen drehte die Sparrow mit niedergepreßten Toppen ab und lenzte vor dem Sturm. Die Toppsgasten kämpften hart, um ein weiteres Reff in die durchnäßten Segel einzustecken. Von Regen und fliegendem Gischt halb geblendet, tasteten sie mit ihren Füßen nach sicherem Stand. Fluchend und brüllend setzten sie all ihre Kraft ein, um die störrischen Segel in ihre Gewalt zu bekommen.

Die Nacht brach vorzeitig herein, und unter dicht gerefften Marssegeln jagte die Korvette durch die Finsternis. Die kleine, begrenzte Welt des Schiffes war von riesigen Wogenkämmen umbrandet, das Leben der Männer war bei jedem Schritt von der See bedroht, die über die Reling hereinbrach und brodelnd wie ein hochgehender Fluß über die Decks rauschte. Selbst wenn die Freiwache zeitweise nach unten geschickt wurde, gab es für die Männer kaum eine Möglichkeit, sich zu erholen. Alles war tropfnaß oder feucht, und der Koch hatte schon lange jeden Gedanken, warmes Essen zu machen, aufgegeben.

Bolitho blieb an Deck. Der heulende, jammernde Wind preßte sein Ölzeug wie ein Leichentuch gegen seinen Körper. Wanten und Tauwerk schrien wie die Saiten der Instrumente in einem irrsinnigen Orchester, und hoch über dem Deck, in Dunkelheit verborgen, knatterten und knallten die Segel. Dann und wann schien der Sturm in kleinen Ruhepausen nachzulassen, doch er hielt nur den Atem an, um aufs neue über das kämpfende Schiff herzufallen. In diesen kurzen Augenblicken konnte Bolitho fühlen, wie die Salzkruste in seinem Gesicht warm wurde. Er hörte das Klanken der Pumpen, die gedämpften Schreie unter Deck und auf der Back, wo unsichtbare Seeleute Laschings festzurrten, beschädigte Taue erneuerten oder sich auch nur vergewissern wollten, ob die Kameraden noch lebten.

Die ganze Nacht lang peitschte der Wind über sie hin und trieb sie mehr und mehr nach Südosten ab.

Stunde um Stunde starrte Bolitho auf den Kompaß, oder er taumelte unter Deck, um den Schiffsort auf der Seekarte einzutragen. Es gab für ihn weder Ruhe noch Erleichterung. Er fühlte sich so zerschlagen und krank, als ob er im Gefecht gestanden hätte oder halb ertrunken aus der See gefischt worden wäre. Trotz seiner Erschöpfung dankte er Gott, daß er nicht versucht hatte, nur unter einem Marssegel beizuliegen und den Sturm abzureiten. Bei dieser Wucht von Wind und See hätte sich die Sparrow niemals halten können. Vielleicht wäre sie backgeworfen und entmastet worden, bevor noch jemand begriffen hätte, wie stark der Sturm tatsächlich war.

Doch in all dem Toben brachte es Bolitho fertig, die Seetauglichkeit der Korvette zu bewundern. Allerdings war das Schiff für jedermann höchst ungemütlich. Ob die Leute mit den schlagenden Segeln kämpften oder ob sie wie Ratten in der Kloake im wirbelnden Bilgenwasser an den Pumpen arbeiteten, die Schiffsbewegungen machten ihr Leben fast unerträglich. Höher, immer höher schraubte sich der Rumpf und krachte dann donnernd hinunter in die nächste Woge. Jede Spiere, jede Planke bebte, als ob sie sich aus dem Schiff losreißen wollten. Lebensmittel, geliebte Souvenirs der Seeleute, Kleidungsstücke, all das brandete in wilder Ausgelassenheit die Decks entlang. Aber nicht ein Geschütz riß sich aus seiner Lasching los, kein Bolzen brach, und nicht ein einziges Luk wurde durch überkommende Seen eingedrückt. Die Sparrow ertrug alles und begegnete jedem Angriff mit der taumelnden Rauflust eines betrunkenen Matrosen. Um die Zeit der ersten grauen Morgendämmerung begann der Seegang nachzulassen, und als die Sonne kraftlos über den Horizont stieg, hatte sich das Meer schon so beruhigt, daß die Stunden der Nacht nur noch wie ein vergangener Alptraum erschienen.

Der Wind war wieder auf Nordwest umgesprungen. Aus salzverkrusteten Augen starrten die Seeleute auf die Flecken blauen Himmels, die zwischen den Wolken auftauchten. Sie wußten, daß sie wieder einmal das Schlimmste überstanden hatten.

Bolitho war sich darüber im klaren, daß seine Leute sich stundenlang nicht mehr rühren konnten, wenn er ihnen jetzt eine Ruhepause gönnte. Er schaute auf das Geschützdeck hinunter und sah ihre übermüdeten Gesichter und zerrissenen Kleider. Die Toppsgasten hatten vom wiederholten Aufentern und vom Kampf mit den starr gewordenen Segeln klauenartig verkrampfte Hände.

«Das Kombüsenfeuer soll angezündet werden«, sagte Bolitho.

«Die Leute müssen sofort etwas Warmes zum Essen bekommen.»

Er schaute auf, als ein Sonnenstrahl die oberen Rahen streifte, so daß sie über der schwindenden Dunkelheit wie ein dreifaches Kruzifix aufleuchteten.»Es wird wohl bald wieder heiß werden, Mr. Tyrell. Lassen Sie über jedem Luk Windsegel aufriggen und die Geschützpforten in Luv öffnen.»

Seine salzverbackenen Lippen verzogen sich zu einem mühseligen Lächeln.

«Ich nehme an, daß Sie heute Ihre üblichen Sorgen um das Aussehen des Schiffes vergessen und den Leuten erlauben, ihre Kleider zum Austrocknen aufzuheißen.»

Graves kam aufs Achterdeck und tippte an seinen Hut.

«Seemann Marsh ist verschwunden. «Er schwankte und fügte bekümmert hinzu:»Vortoppsgast, Sir.»

Bolithos Augen schweiften über den Horizont. Der Mann mußte während der Nacht über Bord geschleudert worden sein, und sie hatten nicht einmal einen Schrei gehört. Aber das war ohnehin gleichgültig, sie hätten ja doch nichts unternehmen können, um ihn zu retten.

«Danke, Mr. Graves. Tragen Sie es bitte ins Logbuch ein.»

Er beobachtete immer noch die See, über die sich die Nacht vor dem ersten Goldschimmer des Morgens wie ein Mörder zurückzog. Der Seemann war irgendwo dort draußen, er war tot, und kaum jemand dachte an ihn. Seine Kameraden vielleicht und ein paar Angehörige daheim, die er vor langer Zeit verlassen hatte.

Er schüttelte sich und wandte sich an den Steuermann.»Mr. Buckle, ich hoffe, daß wir heute unseren Schiffsort bestimmen können. Irgendwo südwestlich der Bermudas wahrscheinlich. «Er lächelte freundlich über Buckles düsteres Aussehen.»Aber ich weiß nicht, ob fünfzig oder fünfhundert Meilen.»

Bolitho wartete noch eine Stunde, dann ließ er das Schiff wenden. Der Klüverbaum zeigte nun auf den südlichen Horizont zu. Deck und Aufbauten dampften im frühen Sonnenlicht, als ob sie schwelten. Dann nickte er Tyrell zu.»Ich gehe jetzt frühstücken.»

Er schnüffelte nach dem fettigen Aroma aus dem Kombüsenrohr.»Schon dieser Geruch allein macht mich hungrig.»

Er schloß die Kajütentür hinter sich. Während Stockdale mit frischem Kaffee und einer Zinnplatte voll geröstetem Speck um den Tisch tappte, konnte sich Bolitho endlich entspannen und Wert und Kosten der nächtlichen Arbeit abwägen. Er hatte seit seiner Kommandierung auf die Sparrow den ersten Sturm überstanden. Ein Mann war ertrunken, aber alle anderen hatten überlebt. Und sein Schiff schlingerte und stampfte wieder wie früher, als ob sich nichts Besonderes ereignet hätte.

Stockdale stellte einen Teller mit altbackenem Brot und einen Topf voll gelber Butter auf den Tisch. Es war das letzte Brot, das sie noch in New York an Bord genommen hatten, die Butter kam sicher ranzig aus dem Faß. Aber als sich Bolitho in seinem Stuhl zurücklehnte, fühlte er sich wie ein König, und das ärmliche Frühstück kam ihm vor wie eine Festtafel.

Er schaute sich behaglich in der Kajüte um. In so kurzer Zeit hatte er viele Gefahren überstanden. Er hatte mehr Glück gehabt, als er verlangen konnte.

«Wo steckt Fitch?»

Stockdale zeigte seine Zähne.»Er trocknet Ihr Bettzeug, Sir. «Er sprach nur selten, wenn Bolitho aß oder nachdachte. Schon längst hatte er alle besonderen Gewohnheiten seines Kapitäns erkannt.»Weiberarbeit«, fügte er noch hinzu.

Bolithos Lachen klang durch das geöffnete Skylight an Deck, wo Tyrell die Wache hatte und Buckle neben dem Kompaßhaus auf seiner Schiefertafel kritzelte.

Buckle schüttelte den Kopf.»Was habe ich Ihnen gesagt? Er macht sich um nichts Sorgen.»

«Wahrschau an Deck!«Tyrell starrte nach oben zum Masttopp, von wo der Ruf kam.

«Segel in Sicht! Steuerbord querab!»

Füße klapperten auf der Niedergangsleiter, und Bolitho erschien neben ihm. Seine Kiefer bearbeiteten noch ein Stück Butterbrot.

«Ich hab' so ein seltsames Gefühl heute morgen. «Er sah einen Steuermannsmaat beim Großmast stehen und rief ihn an:»Mr. Raven, hinauf mit Ihnen!»

Mit erhobener Hand hielt er den Mann an, als er zu den Wanten rannte.»Erinnern Sie sich an Ihre Lektion ebenso wie ich?»

Auch Graves, halb rasiert und nackt bis zur Hüfte, war an Deck gesprungen. Bolitho blickte auf die wartenden Seeleute hinunter, betrachtete jeden einzelnen, um seine Ungeduld zu verbergen. Sie hatten sich in irgendeiner Weise verändert. Sie waren zäher geworden, vielleicht hatten sie mehr Selbstvertrauen gewonnen. Sie sahen aus wie sonnverbrannte Piraten und wurden durch ihren Beruf — er zögerte —, vielleicht durch ihre Treue zusammengehalten.

«Wahrschau an Deck!«Wieder das quälende Warten. Und dann schrie Raven hinunter:»Die Bonaventure, ich bin ganz sicher!»

Unter den Seeleuten erhob sich ein böses Knurren. Einer schrie auf:»Die verdammte Bonaventure ist es? Mit diesem Hund werden wir heute abrechnen, was?»

Einige andere brüllten beifällig, und sogar Bethune schrie aufgeregt:»Hurra, Leute!»

Bolitho wandte sich wieder seinen Männern zu. Sein Herz war plötzlich schwer, der vielversprechende Morgen vergällt und verdorben.»Lassen Sie die Bramsegel setzen, Mr. Tyrell. Auch die Royals, wenn der Wind so freundlich bleibt.»

Er sah Tyrells bekümmerte, ja sogar traurige Augen und sagte kurz angebunden:»Wir haben unsre Order. Depeschen für unseren Admiral.«Ärgerlich deutete er über die See hin.»Wollen Sie sich mit ihr herumschießen?«Er wandte sich ab und fügte heftig hinzu:»Bei Gott, nichts wäre mir lieber, als wenn sie uns angreifen würde.»

Tyrell griff nach seinem Sprachrohr und schrie:»Alle Mann an Deck, alle Mann klar zum Segel setzen!»

Er warf einen kurzen Blick auf Bolitho, der über das Schanzkleid hinausstarrte. Das Kaperschiff war nur vom Masttopp aus zu sehen. Aber wie gebannt schaute der Kapitän dorthin, wo es sein mußte, so, als ob er jedes einzelne Geschütz sähe, jede gähnende Kanonenmündung, genau wie an jenem Tag, an dem die Bonaventure den Widerstand der Miranda zur Seite gefegt hatte wie einen Abfallhaufen.

Graves trat auf Tyrell zu. Seine Augen ruhten auf den Seeleuten, die von den Befehlen noch immer verwirrt schienen.

«Es ist nicht leicht, vor einem Feind davonzulaufen«, sagte Tyrell.

Graves zuckte die Achseln.»Und wie steht es mit Ihnen? Ich dachte, Sie sollten mit diesem Ausgang zufrieden sein!«Er fuhr vor dem kalten Blick Tyrells zurück, fügte aber geschmeidig hinzu:»Für Sie wäre es doch wohl schwer, gegen einen Amerikaner zu kämpfen, oder?«Dann eilte er die Leiter hinunter zu seinen Leuten beim Fockmast.

Tyrells Augen verfolgten ihn.»Bastard!«Er sprach nur zu sich selbst und war von seiner eigenen Ruhe überrascht.»Bastard!»

Als er sich abwandte, sah er, daß Bolitho das Deck verlassen hatte.

Buckle deutete mit dem Daumen auf das Skylight.»Jetzt lacht er nicht mehr, Mr. Tyrell. «Seine Stimme klang grimmig.»Ich möchte sein Kommando nicht haben, nicht für alle Huren in Ply-mouth.»

Tyrell tippte an das Halbstundenglas und sagte nichts.

Wie anders ist er als Kapitän Ransome, dachte der Leutnant. Er würde weder Hoffnungen noch Befürchtungen mit jemand von ihnen geteilt haben. Und dieselben Seeleute, die nun bereits an den Wanten aufenterten, wären keineswegs überrascht gewesen, wenn er eine ähnliche Entscheidung wie Bolitho gefällt hätte. Aber sie glaubten, Bolitho könnte sie überallhin und gegen alle Chancen führen. Deshalb waren sie nun von seiner Entscheidung so verwirrt. Die plötzliche Erkenntnis bekümmerte Tyrell. Teilweise, weil Bolitho nicht verstand, vor allem aber, weil er derjenige war, der Bolitho hätte klarmachen sollen, wie fest sie alle zu ihm standen.

Ransome hatte sie immer benützt, aber nie geführt. Statt ein Beispiel zu geben, hatte er Regeln aufgestellt. Er dagegen. Tyrell blickte auf das Skylight, das jetzt geschlossen war, und in Gedanken hörte er wieder eine Mädchenstimme.

Graves kam nach achtern und tippte an seinen Hut. Angesichts der vielen beobachtenden Augen blieb sein Ton formell.

«Erlauben Sie, daß ich die Freiwache unter Deck entlasse, Sir?»

«Aye, nur zu, Mr. Graves. «Ihre Blicke kreuzten sich, dann wandte sich Tyrell ab.

Er schritt zur Reling und starrte zu den sorgfältig getrimmten Segeln, zu den sonnenverbrannten Toppsgasten auf den Rahen hinauf.

Der Freibeuter konnte sie jetzt unmöglich fangen, selbst wenn er sich noch so sehr anstrengte. Ein anderes Schiff vielleicht, einen Kauffahrer oder einen ahnungslosen Händler von den Bahamas, aber niemals die Sparrow.

Er sah den Bootsführer des Kapitäns bei den Wanten stehen.»Wie geht es ihm, Stockdale?»

Stockdale schaute ihn prüfend an, wie ein Wachhund einen möglichen Eindringling. Dann entspannte er sich ein wenig. Seine großen Hände hingen lose an beiden Seiten herunter.

«Er kommt sich vor wie an die Kette gelegt, Sir.»

Zornig blickte er auf das blaue Wasser hinaus.»Aber wir haben schon Schlimmeres erlebt, sehr viel Schlimmeres.»

Tyrell nickte. Aus Stockdales Augen war deutlich zu lesen, daß er die Wahrheit sprach.»Er hat in Ihnen einen guten Freund, Stockdale?»

Der Bootsführer wandte sein zerhauenes Gesicht ab.»Aye, ich habe ihn Dinge tun sehen, bei denen die meisten dieser Burschen hier zu ihren Müttern laufen und beten würden.»

Tyrell schwieg und rührte sich nicht. Er beobachtete das Profil des Mannes, in dessen Gehirn Erinnerungen auftauchten, Ereignisse, die so lebensnah waren, als ob sie erst gestern geschehen wären.

Stockdale sprach mit seiner wispernden Stimme:»Ich habe ihn wie ein Kind getragen. Ich habe ihn so außer sich vor Zorn gesehen, daß sich kein Totschläger in seine Nähe getraut hätte. Ein anderes Mal habe ich zugeschaut, wie er einen alten Mann in seinen Armen hielt, bis er starb, obwohl man für den armen Teufel wirklich nichts mehr tun konnte. «Er drehte sich um. Seine Augen blitzten erregt.»Mir fallen die rechten Worte nicht ein, sonst würden mir alle Leute zuhören wollen.»

Tyrell streckte eine Hand aus und berührte seinen muskulösen Arm.»Sie irren sich, Sie haben die rechten Worte gefunden. Danke, daß Sie mir etwas erzählt haben.»

Stockdale grunzte und ging schwerfällig zum Niedergang. Nie zuvor hatte er so gesprochen, aber irgendwie traute er Tyrell. Er war wie Bolitho ein Mann, nicht nur ein Offizier. Das genügte ihm.

Den ganzen Tag über rauschte die Sparrow in gischtsprühender Freiheit dem leeren Horizont entgegen. Die Wachen wechselten, Geschützübungen fanden statt, und ein Mann wurde ausgepeitscht, weil er nach einem Wortwechsel sein Messer gegen einen Kameraden gezückt hatte. Aber es gab keine Wettkämpfe an Deck, und als Heyward mit seinem Degen erschien, um eine neue Übungsreihe zu beginnen, fand er keine Teilnehmer. Auch Dalkeith kam nicht aus seinem Lazarett herauf, um ein paar Pistolenschüsse abzufeuern.

Bolitho blieb allein mit seinen Gedanken in der Kajüte. Er fragte sich, warum sein Befehl über den Kurs der Sparrow so schwer zu ertragen war. Kommando, Führerschaft, Befehlsgewalt waren nur leere Worte. Sie erklärten nicht seine wirklichen Gefühle, noch konnten sie böse Ahnungen wegwischen.

Wie der Konteradmiral es gesagt hatte, war der rechte Weg nicht immer beliebt oder am leichtesten zu gehen.

Als die Glocke die erste Hundewache ausläutete, hörte er wieder einen Schrei aus dem Masttopp.

«Wahrschau an Deck! Segel in Lee voraus!»

Bolitho zwang sich, am Tisch sitzen zu bleiben, bis Fähnrich Bethune nach unten kam und berichtete, daß sich das Segel kaum von der Stelle rührte. Das Schiff schien beigedreht zu liegen.

Auch jetzt noch zögerte er, bevor er an Deck erschien. Gab es eine neue Enttäuschung? Oder wieder die Notwendigkeit, einem Gefecht auszuweichen? Nur die Zeit und die Entfernung würden ihm Aufschluß geben können.

Graves hatte die Wache.»Wäre es eine unsrer Fregatten, Sir, könnten wir dann nicht umkehren und die Bonaventure angreifen?»

Heyward fügte hinzu:»Vielleicht könnten wir sie dann als Prise nehmen?»

Bolitho sah sie kalt an.»Und wenn es eine französische Fregatte ist, was dann?»

Er bemerkte, wie sie unter seinem Blick erstarrten.»Ich schlage vor, daß Sie Ihre Gedanken bei sich behalten.»

Aber das einsame Segel gehörte weder zu einem Freibeuter noch zu einem patrouillierenden Kriegsschiff. Als die Sparrow auf sie zuhielt, beobachtete Bolitho das fremde Schiff durch sein Glas. Er sah die Lücke in seinem Rigg, wo die Großstenge heruntergebrochen war wie ein Ast vom Baum. Die riesigen Schrammen an seinen Flanken bewiesen, wie hart Wind und See ihm zugesetzt hatten.

Buckle sagte leise:»Bei Gott, es muß den vollen Sturm abbekommen haben. Ich glaube, es ist ziemlich übel dran.»

Tyrell, der zur Großstengenrah hinaufgeklettert war, glitt an einer Backstage herunter auf Deck und berichtete.»Das Schiff kenne ich. Es ist die Royal Anne, ein Westindienfahrer.»

Buckle stimmte zu:»Aye, Sie haben recht. Sie setzte drei Tage vor uns Segel in Sandy Hook. Soll nach Bristol bestimmt sein, wie ich hörte.»

«Heißen Sie die Flagge.»

Bolitho schwenkte sein Glas langsam über die Decks des Schiffes. Er bemerkte die winzigen Figuren, die dort in Gruppen umherstanden, das zerbrochene Schanzkleid, wo eine riesige See wie ein stürzender Felsen an Bord gedonnert war. Ein trauriger Anblick! Spieren fehlten, Segel hingen in Fetzen. Der Kauffahrer mußte den ganzen Sturm ausgeritten haben, an dessen Rand sie in der Nacht entlanggesegelt waren.

«Das Schiff ist in meinem Buch verzeichnet, Sir«, meldete Bethune.»Es steht unter dem Befehl des Oberkommandierenden.»

Aber Bolitho hörte kaum hin. Er sah, wie die Leute dort auf dem Oberdeck zur Sparrow herüberstarrten. Da und dort winkte ein Mann. Vielleicht stieß er ein Freudengeschrei aus, weil er eine eigene Flagge sah.

Bolitho straffte sich.»Es sind Frauen an Bord. «Er senkte sein Glas und blickte Tyrell fragend an.»Sie fährt unter besonderem Befehl?»

Tyrell nickte langsam.»Indienfahrer segeln gelegentlich unter Charter der Regierung, Sir. «Er schaute weg.»Die Royal Anne bringt wahrscheinlich Zivilisten von New York nach England, weg vom Kriegsschauplatz.»

Bolitho hob wieder sein Fernglas. Seine Gedanken beschäftigten sich mit Tyrells Worten.

«Wir werden nahe heranfahren und ihr Leeschutz geben. Lassen Sie den Steuerbordkutter klar machen. Der Arzt wird mich hinüber begleiten. «Er blickte Bethune an.»Signalisieren Sie das. Wenn es nicht verstanden wird, dann rufen Sie, sobald wir nahe genug sind.»

Er verließ die Reling, als die Flaggen an der Leine hochsausten.

Tyrell folgte ihm und sagte ernst:»Sie kann der Bonaventure unmöglich entkommen, Sir. Selbst dann nicht, wenn sie unbeschädigt wäre.»

Bolitho schaute ihm ins Gesicht.»Ich weiß.»

Trotz seiner jagenden Gedanken versuchte er, ruhig zu erscheinen. Mußte er umkehren und das große Kaperschiff angreifen? Die Tatsachen hatten sich nicht geändert. Die Sparrow würde von der Bonaventure immer noch mit Leichtigkeit zusammengeschossen und versenkt werden. Die Royal Anne war so beschädigt, daß der Aufschub, den er durch die Aufopferung seines Schiffes und seiner Besatzung erreichen konnte, die Lage nicht wesentlich ändern würde. Sollte er wieder ausreißen? Aber der Gedanke, den Indienfahrer hilflos dem Feind zu überlassen, war zu grausam, um in Erwägung gezogen zu werden.

Aber er mußte ihn erwägen. Es war seine Entscheidung, ganz allein sein Entschluß.

«Die Royal Anne wartet auf uns, Sir. Sollen wir die Fahrt aus unserm Schiff nehmen?«rief Buckle.

«Recht so.»

Bolitho ging langsam am Schanzkleid entlang.»Lassen Sie die Royals und die Bramsegel bergen, Mr. Tyrell. Wir werden sofort beidrehen. «Er sah Stockdale mit seinem Rock und Degen auf ihn zueilen. In fünf Stunden würde es dunkel sein. Wenn sie irgend etwas unternehmen wollten, so mußten sie sich beeilen. Und sie mußten viel Glück haben!

Er schlüpfte in seinen Rock.»Mr. Tyrell, Sie kommen mit mir.»

Während das Boot über das Schanzkleid geliert wurde, blickte er zurück, fast so, als erwarte er, dort ein Segel schimmern zu sehen.

«Kutter liegt längsseits, Sir!»

Er nickte und schritt zum Schanzkleid.»Sehen wir, was wir tun können.»

Und ohne irgend jemanden anzuschauen, folgte er Tyrell in den Kutter.

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