Bolitho betrat seine Kajüte. Mit Überraschung sah er Foley am Tisch sitzen und eine Karte studieren. Er war vollständig angekleidet, und in seine Züge war fast wieder alle Farbe zurückgekehrt. Nachdem sie Sandy Hook verlassen hatten, hatte er die meiste Zeit auf einer Sitzbank gelegen. Mit halb geschlossenen Augen hatte sein Gesicht einer Wachsmaske geglichen, und er schien unfähig gewesen zu sein, sich in die Koje zu legen.
Er blickte auf und schnitt eine Grimasse.»Es i st ruhiger geworden. «Bolitho nickte.»Wir laufen in die Bay ein. Kap May liegt fünf Meilen steuerbord querab.»
«Ah ja!«Foley schaute einige Sekunden lang in die Karte. Seine Finger trommelten einen kleinen Wirbel neben Bolithos Eintragungen und Bestecksrechnungen.
«Wie ist Ihre Meinung, Kapitän?»
Bolitho betrachtete den gesenkten Kopf des Obersten. Zum ersten Mal hatte er ihn um seine Ansichten bei diesem Unternehmen gefragt. Unter vollen Segeln hatte die Sparrow ihrem Namen alle Ehre gemacht. Bei dieser rauschenden Fahrt südwärts hatte Bolitho all seine Befürchtungen zur Seite schieben, ja, vergessen können. Voll Freude hatte er die Lebendigkeit und die geschmeidigen Bewegungen der Korvette genossen. Als sie dann unter Land segelten, um eine genaue Positionspeilung zu nehmen, war pfeifend und jammernd eine Sturmbö mit solcher Gewalt über sie hergefallen, daß sie alle Mann an Deck rufen mußten, um die Segel zu reffen. Eine Enttäuschung, nachdem sie so ohne Schwierigkeiten gesegelt waren, wobei sogar die Royals gesetzt werden konnten. Sie hatten — wie Bolitho vorausberechnet hatte — einen Tag nach dem Ankerlichten die Delaware-Bucht bei Kap May angelaufen, doch nun trieb sie die ablandige Bö weit auf die See hinaus. Einen ganzen weiteren Tag mußten sie gegen Sturm und Regen stampfend und stoßend aufkreuzen. Nur der Ausguck im Topp hatte das hinter tief jagenden Wolken verborgene Land ab und zu sehen können.
«Der Wind hat wieder zurückgedreht, Sir«, antwortete Bolitho.»Südwest, abflauend.»
Er lauschte auf das Ächzen des Ruders, und er dachte an Tyrell und Buckle, die dort draußen beim Ruderrad ihre Wache bezogen hatten. Gleichzeitig tauchte in seinen Gedanken wie auf einer Seekarte die riesige Bay auf, die sie nun unter dicht gerefften Marssegeln zum zweiten Mal anliefen.
Tyrell war ein Turm der Stärke. Er schien sich an diese Gewässer zu erinnern, als ob jede Sandbank und jede Strömung in seinem Gehirn eingeprägt wären.
Foley blickte mit grimmigem Gesicht auf.
«Es hat schon zu lange gedauert. Ich muß wissen, wenn Sie glauben, daß wir vorankommen. «Er legte einen Finger auf die Karte.»Hier genau nördlich der Stelle, an der wir uns — wie Sie sagen — jetzt befinden, da ist eine kleine Bucht. Es dürften etwa noch sechs Meilen sein.»
Er sprach sehr schnell. Bolitho spürte deutlich seine Erregung.
«Westlich des Maurice River?«Bolitho lehnte sich über den Tisch. Er dachte an die Stellung der Rahen, an den immer schwächer werdenden Wind.»Es wird etwa vier Stunden dauern, wenn der Wind weiter abflaut, noch länger!»
Er trat zurück und zerrte an seiner Halsbinde. Bei dicht geschlossenen Luken, um ja keinen Lichtschimmer nach außen dringen zu lassen, war es in der Kajüte so heiß wie in einem Backofen. An Deck, wo er sich die meiste Zeit während der Fahrt aufgehalten hatte, fühlte er weder Müdigkeit noch Abspannung. Nun aber machten sich die langen, anstrengenden Stunden bemerkbar, ja, er vermochte sogar Foley wegen seiner Seekrankheit zu bedauern.
Draußen war es jetzt stockfinster. Als das Schiff hinter die schützende Landenge geschlüpft war, hatte er dieselbe Aufregung gespürt wie ein Mann, der in eine unbeleuchtete Höhle eindringt.
«Wie lange werden Ihre Scouts brauchen?»
«Vielleicht sechs Stunden. «Foley streckte seine Arme aus und gähnte. Er entspannte sich ein wenig.
Bolitho kam zu einem Entschluß.»In diesem Fall werden wir ankern und bis morgen nacht warten müssen, bevor wir die Bucht verlassen können. Möglicherweise sind feindliche Schiffe in der Nähe, und in diesem eng begrenzten Gewässer kann ich mich nicht auf ein Gefecht einlassen. Besonders, wenn es Ihren Scouts nicht gelingt, unsre vermißten Soldaten zu finden, und wir noch einen Tag länger brauchen.»
«Die Führung des Schiffes ist Ihre Angelegenheit, ja?«Foley betrachtete ihn gelassen.
«Die Tide steht günstig, und wenn wir noch länger warten, könnte der Wind uns ganz im Stich lassen.»
Er nickte.»Ich bin bereit.»
Foley stand auf und rieb seinen Magen.
«Gut. Bei Gott, mir scheint, ich habe meinen Appetit wieder.»
«Es tut mir leid, Sir«, Bolitho lächelte,»aber das Kombüsenfeuer ist gelöscht worden. Es sei denn, Sie möchten ein Stück Pökelfleisch aus dem Faß?»
Foley betrachtete ihn ziemlich kläglich.»Sie haben eine Neigung zur Grausamkeit. Ein Blick auf dieses miserable Zeug würde mich schwach wie eine kranke Ratte machen.»
«Die Ratten in einem Schiff des Königs sind anderer Natur. «Bolitho verließ die Kajüte.
Auf Deck mußte er einige Sekunden warten, bis er weiter als bis zur Reling sehen konnte. Unten auf dem Geschützdeck konnte er gerade noch die Seeleute der Backbordwache ausmachen, die sich nur schwach von den dunkleren Umrissen der Geschütze abhoben. Er ging ein paar Schritte zurück und hielt seine Hand über das abgeblendete Kompaßlicht.
«Genau Nord, Sir«, sagte Buckle.»Voll und bei.»
«Gut. «Er winkte Tyrell heran.»Ich möchte unsre beiden besten Lotsen am Bug haben.»
«Sind schon dort, Sir. «Tyrell zuckte die Achseln.»Das einzige, was wir tun können.»
«Wenn wir uns der Küste nähern, werden wir die Gig zu Wasser lassen. «Bolitho erkannte die mächtige Statur Stockdales vor den Wanten.»Sie werden die Gig mit Lot und Leine übernehmen. Die Gewässer in dieser Gegend sind so seicht und trügerisch, daß Sie immer vor dem Schiff herrudern müssen. Und immer die Tiefe aussingen! Verstanden?»
Stockdale war eigensinnig.»Ich sollte vielleicht hierbleiben, Sir. Nur für den Fall.»
«Ihr Platz ist da, wo ich sage, Stockdale. «Er milderte seinen Ton.»Tun Sie, was ich sage, und nehmen Sie eine abgeblendete Lampe mit. Vielleicht müssen Sie uns signalisieren. «Er blickte Tyrell an.»In diesem Fall lassen wir den Warpanker fallen und beten zu Gott.»
Hoch über Deck flappten die schlaffen Segel, und Bolitho wußte, daß der Wind immer mehr abflaute. Der Luftzug strich feucht über sein Gesicht. Er schüttelte den Alptraum, die Sparrow könnte auflaufen, von sich ab. Er war an seine Befehle gebunden. Nein, alle seine Leute waren an ihn gebunden!
«Mr. Tyrell, wenn wir unseren Bestimmungsort erreicht haben, dann lassen Sie bitte den Steuerbordkutter zu Wasser. Mr. Heyward wird unsere Passagiere an Land bringen und zurückkehren, wenn alles in Ordnung ist.»
«Die letzten paar Meter werden sie wohl durchs Wasser waten müssen«, meinte Tyrell.»Es ist sehr seicht dort oben.»
«Sie haben also die Stelle schon erraten?»
Der Leutnant grinste. Seine Zähne schimmerten weiß in der Dunkelheit.»Es gibt hier keinen anderen Platz, der für solche Geschichten sonst noch in Frage käme, Sir. «Von vorn kam ein hohltönender Schrei des Lotsen.»Bei Marke fünf!«Es klang wie die Stimme eines verlorenen Geistes.
Tyrell murmelte:»Bringen Sie das Schiff einen Strich höher an den Wind, Mr. Buckle. «Sein Handballen schabte über sein Kinn.»Wir müssen ziemlich abgetrieben sein.»
Bolitho schwieg. Jeder tat, was er konnte. Gott sei Dank, daß die Sparrow so wenig Tiefgang hatte! Sonst.
«Marke sechs!»
«Ganz ordentlich«, grunzte Tyrell.»Ich hab' mal erlebt, daß die Tideströmung hier einen Schoner herumwarf wie ein Stück Strandgut.»
«Na, danke schön. «Bolitho sah ein fahles Aufspritzen am Bug, als das Senkblei wieder ausgeworfen wurde.»Das ist schon ein recht schwacher Trost.»
«Marke fünf!»
«Trau keinem Soldaten, wenn er eine solche Stelle aussucht. «Tyrell beugte sich über den Kompaß.»Weiter draußen im Westen, im Hauptkanal des Delaware ist es ausreichend tief für uns, selbst bei Ebbe.»
«Ein Viertel weniger als fünf!»
«Hölle und Teufel«, wisperte Buckle. Stiefel scharrten auf den Planken. Foley tastete sich heran und fragte lebhaft:»Wie schaut's aus, Kapitän?»
«Bei Marke drei!»
«Ist es denn unbedingt notwendig, daß der Kerl dort vorn solch einen Lärm macht?«Foley starrte die Männer beim Ruderrad an. Ruhig und gedehnt knurrte Tyrell:»Entweder das, oder wir reißen uns den Kiel heraus.»
Bolitho fügte leise hinzu:»Ein Mann von Ihrer Größe, Sir, könnte gerade noch zwischen Kiel und Grund hindurchgehen, wenn er Lust dazu hätte.»
Foley sprach eine ganze Minute lang kein Wort mehr. Dann überraschte er Bolitho.
«Es tut mir leid, ich war ein Narr, so zu reden.»
«Marke vier!»
Buckle atmete langsam aus.»Besser.»
Bolitho fühlte, daß Tyrell seinen Arm berührte.»Wenn wir den Kurs so halten, Sir, können wir ziemlich sorglos ankern. Vorausgesetzt freilich, daß wir genug Platz haben, vor Anker zu schwoien. Der Grund ist hier ziemlich sicher, und wir könnten ohne größere Gefahr eine leichte Grundberührung riskieren.»
«Kapitän!«Foleys Stimme war wieder wie früher, scharf und unduldsam.»Ist Tyrell ein Amerikaner?»
«Ja, ein Ansiedler, Sir. Wie eine ganze Anzahl meiner Leute.»
«Verdammt!»
«Er ist aber auch ein Offizier des Königs, Sir. Ich hoffe, Sie vergessen das nicht.»
Foleys weiße Hosen verschwanden im Niedergang.
«Er denkt wohl, ich lasse das Schiff auf Grund laufen, nur um ihn zu ärgern. «Bitterkeit lag in Tyrells Stimme.
«Lassen Sie's gut sein, Tyrell«, Bolitho starrte ins schwarze Wasser hinunter, wo tanzende phosphoreszierende Funken leuchteten und verschwanden. Wie magische, treibende Pflanzen sprühten sie im Kielwasser und in der Bugwelle, erloschen, blitzten anderswo wieder auf.
«Ich beneide ihn nicht um seinen Auftrag.»
Zu seiner Überraschung stellte er fest, daß er es ernst meinte.
Irgendwo dort im Dunkeln lag das gewaltige Land. Hügel und Flüsse, Wald und Gestrüpp, das einem achtlosen Menschen ein Auge auskratzen konnte. Man erzählte sich viele Geschichten von Angriffen und Hinterhalten in diesem Gebiet. Selbst wenn man zugab, daß die Berichte etwas übertrieben wurden, waren sie immer noch schlimm genug, selbst einem erfahrenen Kämpfer eine Gänsehaut den Rücken hinunter zu jagen. Da waren Indianer, die in der Armee Washingtons als Scouts dienten, die sich lautlos wie Füchse bewegten und mit der Wildheit eines Tigers zuschlugen. Eine Welt huschender Schatten und fremder Geräusche, von Schreien, die einen schläfrigen Wachtposten mit kaltem Angstschweiß hochfahren ließen — wenn er Glück hatte. Wenn nicht, würden ihn seine Kameraden als toten, geplünderten Mann auffinden.
«Tiefe acht!»
Tyrell wanderte ruhelos auf und ab.
«Wir können den Kanal jetzt verlassen. Ich schlage vor, Kurs Nordost zu steuern.»
«Schön, befehlen Sie klar bei Brassen und gehen Sie über Stag.»
Und so ging es weiter, Stunde um Stunde. Die Lotleinen glitten durch die Hände der Seeleute am Bug, die gerefften Marssegel wurden getrimmt und wieder getrimmt, um den leisesten Hauch des ersterbenden Windes wie eine Kostbarkeit aufzufangen. Dann und wann eilte Tyrell nach vorn, um den Talg in einem der Lotbleie abzutasten, etwas davon zwischen seinen Fingern zu zerreiben oder wie ein Jagdhund daran zu riechen.
Bolitho wußte, daß er ohne Tyrells unheimliche Kenntnis des Grundes, ohne sein Selbstvertrauen, in diesen seichten Gewässern den rechten Kurs zu spüren, schon längst geankert hätte, um auf die Morgendämmerung zu warten.
Einige Male kam und ging Foley. Aber er sagte nichts mehr über Tyrell. Er rief die kanadischen Kundschafter zusammen und sprach einige Minuten lang mit ihrem Sergeanten. Eine Weile später betrat er wieder das Achterdeck.
«Gute Männer, hätte ich ein Regiment von ihnen, könnte ich halb Amerika zurückerobern.»
Bolitho ließ ihn reden, ohne zu unterbrechen. Es milderte die Anspannung des Wartens, und hinter dem reservierten Hochmut, den Foley wie einen Schild trug, vermochte er allmählich den Kern des Mannes zu entdecken.
«Ich habe schon in vielen Gebieten gegen die Amerikaner gekämpft, Kapitän. Sie lernen schnell und verstehen ihre Kenntnisse gut anzuwenden. «Mit plötzlicher Bitterkeit fügte er hinzu:»Kein Wunder, sie haben einen harten Kern englischer Deserteure und Glücksritter. Ich dagegen mußte mich mit soldatischem Abschaum zufriedengeben. In einem der Gefechte sprachen die meisten meiner Leute kaum ein Wort englisch. Stellen Sie sich vor, Kapitän, sie steckten in der Uniform des Königs, aber ihre Zungen redeten in allen möglichen deutschen Mundarten.»
«Ich wußte nicht, daß es so viele englische Deserteure gibt, Sir!»
«Nun, einige waren schon vor der Rebellion hier stationiert. Sie hatten ihre Familien bei sich und haben in diesem Land Wurzeln gefaßt. Andere hoffen auf späteren reichen Gewinn, Land vielleicht, irgendeine verlassene Farm. «Wieder diese Bitterkeit in der Stimme.»Aber was auch immer ihre Überzeugung sein mag, sie kämpfen unglaublich hart. Denn wenn sie erwischt und als Deserteure überführt werden, müssen sie diese Welt mit einer Schlinge um den Hals verlassen, und die Raben werden ihre Eingeweide fressen.»
Tyrells Gestalt tauchte undeutlich in der Finsternis auf. Seine Stimme klang gedämpft.»Die Gig ist klar zum Fieren. Meiner Ansicht nach muß die Bucht jetzt backbord voraus liegen.»
Die Spannung ließ einen Augenblick lang nach, als bei leise geflüsterten Befehlen die Fäuste der Seeleute zupackten und die Gig über die Reling ausschwenkten und wegfierten.
Fähnrich Heyward stand neben Bolitho, als das Beiboot davon-gerudert wurde.
«Passen Sie gut auf, Mr. Heyward, wenn Sie mit dem Kutter an Land gehen. Behalten Sie Ihren kühlen Verstand und denken Sie nicht an Heldentaten.»
Er nahm ihn am Arm und spürte, daß die Nerven des Fähnrichs gespannt waren wie die Feder am Hahn einer Pistole.»Ich möchte, daß Sie die Sparrow als Leutnant und mit heilen Knochen verlassen.»
Heyward nickte.»Danke, Sir!»
Graves stieg flink die Leiter herauf.»Kutter gefiert und klar. «Er blickte zum Fähnrich hin.»Schicken Sie mich, Sir. Er ist solch einer Sache nicht gewachsen.»
Bolitho versuchte Graves' Gesichtsausdruck zu erkennen, aber es war zu dunkel. Vielleicht machte er sich wirklich Sorgen um den Fähnrich. Oder aber er betrachtete die Aussicht auf dieses Unternehmen als seine erste Chance zu rascher Beförderung. In beiden Fällen hatte Bolitho Verständnis für Graves.
Aber er antwortete:»Als ich so alt war wie er, war ich schon bestallter Leutnant. Es war damals nicht leicht für mich, und es wird auch für ihn nicht leicht sein, bis er erkannt hat, daß alles von seiner Autorität abhängt.»
«Signal von der Gig, Sir«, sagte Bethune rasch.»Drei Blitze!»
«Wahrscheinlich hat sich die Wassertiefe geändert«, stieß Tyrell nervös hervor. Dann wurde er wieder ruhig.»Ich schlage vor, jetzt zu ankern, Sir.»
«Schön. «Bolitho sah die schwarzen Umrisse der Gig backbord voraus auftauchen.»Besanmarssegel back brassen. Klar zum Wenden. Wir werden Anker fallen lassen und dann den Warpanker im zweiten Kutter ausbringen. Schneller dort vorn! Wir kommen der Gig zu nahe.»
Füße tappten eilig über die Planken, und irgendwo hoch oben über Deck schrie ein Mann vor Schmerz und Schreck auf, als er fast von der Rah gestürzt wäre. Das Besanmarssegel schlug und flappte trotz des geringen Winddruckes, und der Lärm schien Bolitho laut genug, um Tote aufzuwecken. Auf dem finsteren Deck rannten die Leute an die Brassen und Fallen. Jeder Mann kannte seine Handgriffe so genau, daß die Manöver kaum länger dauerten als am hellichten Tag. Das Ankertau rauschte aus der Klüse. Schwankend wie betrunken taumelte die Korvette, bis sich das Tau straffte. Das Wasser unter dem Kiel quirlte im lebendigen Schimmer phosphoreszierender Funken. Beide Kutter wurden bereits weggefiert. Ihre Mannschaften sprangen hinterdrein, griffen eilig stolpernd und stoßend nach den Riemen.
All dieses geschah in wenigen Minuten. Dann trat wieder Ruhe ein. Die Segel waren aufgetucht, der Schiffsrumpf zerrte sanft an beiden Ankern, und vorsichtig umkreisten die Kutter die Sparrow, wie Raubvögel einen gefesselten Wal.
Foley stand an den Wanten.»Setzen Sie meine Scouts jetzt an Land, Kapitän. Sie haben Ihren Teil getan.»
Dann ging er hinüber zum Schanzkleid an der Backbordseite, wo der Kutter Heywards angehakt hatte und die Scouts sich bereits außenbords angeklammert hatten wie hilflose Bündel.
Bolitho fragte leise:»Wie sieht die Bucht aus, Mr. Tyrell? Können Sie mir die Lage erklären?»
Der Leutnant fuhr mit den Fingern durch sein dichtes Haar.»Sie ist gut verborgen, wenn ein fremdes Schiff nicht allzu nahe herankommt. Das Land ist dicht bewaldet, und wenn ich mich recht erinnere, münden dort zwe i Flüsse.»
Er spähte hinüber.
«Der Kutter muß schon fast dort sein. Wenn wir jetzt schießen hören, dann wissen wir, daß wir in Schwierigkeilen geraten sind. «Er zwang sich zu einem Grinsen.»Immerhin, wir brauchen keinen verdammten Wind, um hier auszulaufen. Wir können die Riemen auslegen und die Korvette in Sicherheit pullen.»
Bolitho nickte. Mit jedem anderen Schiff wäre dieses Unternehmen reiner Wahnsinn gewesen. So dicht unter Land und bei so geringen Chancen, in das freie Fahrwasser der Delaware Bay hinauszukreuzen, würde es wahrscheinlich zum Teufel gehen.
Nach einer Weile fuhr er fort:»Veranlassen Sie, daß Tilby die Riemen einfetten läßt, während wir hier warten. Falls wir verschwinden müssen, dann ist es besser, möglichst wenig Lärm zu machen.»
Tyrell ging mit langen Schritten und vorgebeugtem Oberkörper davon, um den Bootsmann zu suchen.
Foley kam zurück.»Ich denke, ich werde ein bißchen schlafen«, meinte er.»Wir können nun nichts anderes tun als warten.»
Bolitho sah ihn weggehen. Herr Oberst, dachte er, Sie werden nicht schlafen. Jetzt tragen Sie die Verantwortung.
«Der Kutter kommt zurück, Sir, alles in Ordnung«, zischelte Bethune aufgeregt.
Bolitho lächelte.»Geben Sie den Befehl weiter, daß die Leute während der Nacht unter Deck bleiben sollen. Die Freiwache kann schlafen. Gehen Sie dann den Koch suchen. Er soll sich anstrengen, irgendwas Eßbares zu richten, ohne das Kombüsenfeuer anzuzünden.»
Der Fähnrich rannte davon, und Graves meinte säuerlich:»Der frißt alles, auch wenn er in der Dunkelheit die Maden nicht sehen kann.»
Bolitho setzte sich neben die Niedergangsluke und knöpfte sein Hemd auf.
Er war ein wenig eingenickt, als er einen schweren Körper neben sich an Deck springen hörte. Stockdale war zurückgekehrt und wartete in seiner Nähe. Nur für den Fall, wie er zu sagen pflegte.
Im nächsten Augenblick fiel Bolitho in tiefen, traumlosen Schlaf.
«Wo, zum Teufel, sind sie nur?»
Tyrell hob ein Fernglas über das Schanzkleid und führte es langsam in einem Halbkreis die Küstenlinie entlang.
Es war später Vormittag, und die Sparrow, die vor zwei Ankern still lag, lud sich mit Hitze auf wie ein Brennofen. Während der Nacht waren alle Wolken abgezogen, und der Wind war eingeschlafen. Unter klarem Himmel, im flimmernden Sonnenlicht brach den Männern bei der geringsten Bewegung der Schweiß aus.
Bolitho zerrte sich das Hemd von der Hüfte. Seitdem er bei Tagesanbruch aufgewacht war, hatte er das Deck nicht verlassen. Wie Tyrell war auch er in Sorge, weil das Unternehmen noch keine Ergebnisse zeigte. Wie anders war alles im hellen Tageslicht! In der ersten Morgendämmerung hatte er beobachtet, wie sich das Land aus den Schatten löste, die rundrückigen Hügel und die dichtbelaubten Wälder. Der sichelförmige Küstenstreifen war von dichten Bäumen und Büschen beschattet, die fast bis ans Wasser reichten. Alles ruhte harmlos und still, vielleicht zu still.
Er ging zur anderen Seite des Achterdecks hinüber und wich sofort von der Reling zurück, als die Sonne wie Feuer auf seine Schultern brannte. Kein Windhauch kräuselte die blitzende Wasserfläche. Nur die kreisenden Bewegungen der Strömung zeigten, daß er nicht über einen riesigen See hin blickte. Die Bucht maß zwanzig Meilen in der Breite und ebenso viele vom Landvorsprung als Ausgang zum Meer bis zu der Stelle im Norden, wo der Delawarefluß in das weite Becken einmündete. Jenseits einer schmalen Landzunge, welche die kleine Ankerbucht abschirmte und die Sparrow vor jedem vorbeifahrenden Schiff verbarg, wand sich der Fluß in seinem ständig wechselnden Strombett an die siebzig Meilen bis zu den Außenbezirken Philadelphias hinauf.
Bolitho blickte auf das Geschützdeck hinunter. Die wachfreien Seeleute hatten in den Speigatten vor der erbarmungslosen Sonne Schutz gesucht, nur da und dort sah man ihre ausgestreckten Beine herausragen. Die Rahen und Wanten waren gleich nach Tagesanbruch mit Ästen und Blättern getarnt worden. Sie verwischten die Umrisse des Schiffes und konnten mögliche Beobachter täuschen.
Zwischen der Sparrow und der Krümmung des Ufers pullte ein Kutter quälend langsam auf und ab. Fähnrich Bethune hockte auf der Achterbank und beobachtete die Küste. Dummerweise hatte er sich bis zum Gürtel ausgezogen. Er würde es dann später trotz seiner gebräunten Haut zu büßen haben.
Als Bolitho in den Schatten der Hängemattennetze zurückkehrte, folgte ihm Tyrell.
«Ich würde gern an Land gehen, Sir.»
Er wartete, bis Bolitho ihn ansah.»Ich könnte eine Handvoll Leute mitnehmen. Würde gern nachsehen und herausfinden, was los ist. «Er öffnete sein verschwitztes Hemd und holte tief Luft.»Besser, als wie blödes Schlachtvieh auf den Schlächter zu warten.»
«Ich weiß nicht recht. «Bolitho beschattete seine Augen, als ein paar Uferbäume in plötzlicher Bewegung aufschimmerten. Ein großer Vogel strich über die Bucht hinaus. Wieder herrschte Stille.
Tyrell blieb hartnäckig.»Schauen Sie, Sir, ich nehme an, daß die Befehle geheim sind, aber das ganze Schiff weiß, warum wir hier warten. Diese Scouts plauderten frei heraus, sobald sie einen Schluck Rum im Bauch hatten.»
Ein gezwungenes Lächeln erschien auf Bolithos Zügen.»Das hab' ich mir denken können.»
«Ja, es heißt, daß wir einen Haufen Soldaten, der unterwegs verloren wurde, aufnehmen und retten sollen. «Er zog eine Grimasse.»Kann mir das schon vorstellen. Das hier ist kein Kasernenhof.»
Bolitho betrachtete Tyrells strenges Profil und erwog seinen Vorschlag. Von den Goldbarren hatte er nichts erwähnt. Sie waren also ein Geheimnis, das Foley nicht einmal seinen eigenen Leuten mitgeteilt hatte. Das war gut so. Einige Männer könnten versucht sein, eher hinter diesem Gold herzujagen, als sich um die Bergung der Vermißten zu kümmern.
«Nun gut. Suchen Sie sich ein paar Leute zusammen und nehmen Sie die Gig. Sie werden auch Waffen und Proviant brauchen, sonst.»
Tyrell lächelte.»Sonst wäre es zu schlimm für uns, wenn die Sparrow ohne uns davonsegelte, eh?»
«Es ist ein Risiko. Wollen Sie sich's nicht lieber noch mal überlegen?»
Der Leutnant schüttelte den Kopf.»Ich werde sofort losziehen.»
«Ich muß das im Logbuch berichten«, sagte Bolitho.
«Nicht notwendig, Sir. Wenn ich zu Schaden komme, bleibt die Sache am besten unerwähnt. «Er lächelte traurig.»Ich möchte nicht, daß Sie sich meinetwegen vor dem Seegericht verantworten müssen.»
«Trotzdem werde ich den Bericht machen. «Bolitho zwang sich zu einem Lächeln.»Also fahren Sie schon.»
Die Gig war kaum eine Kabellänge entfernt, als Foley mit verzerrtem Gesicht an Deck stürzte.
«Wo fährt er hin?«Er packte die Wanten und starrte hinter dem kleinen Boot her, dessen Umrisse im wehenden Dunst verschwammen.»Haben Sie ihm die Erlaubnis erteilt?»
«Gewiß.»
«Dann sind Sie ein größerer Narr, als ich dachte!«In seiner Sorge verlor Foley die Selbstbeherrschung.»Wie konnten Sie es nur wagen, das auf sich zu nehmen?»
«Oberst Foley, ich zweifle nicht, daß Sie ein ausgezeichneter Feldoffizier sind. Sie sind erfahren genug, um zu wissen, daß die vermißten Soldaten entweder tot oder gefangen sein müssen, wenn Ihre Scouts keinen Kontakt mit ihnen aufnehmen können. «Er behielt seinen ruhigen Ton bei.»Sie müssen ebenso zur Kenntnis nehmen, daß ich nicht die Absicht habe, Schiff und Besatzung aufs Spiel zu setzen, um einem Plan zu folgen, der bereits gescheitert ist.»
Foley öffnete seinen Mund und schloß ihn wieder.
«Ich habe meine Befehle«, sagte er matt.»Der General muß gerettet werden.»
«Und das Gold. «Bolitho konnte seine Bitterkeit nicht verbergen.»Das gewiß doch auch, oder?»
Foley rieb sich die Augen. In seinem Gesicht zeigte sich plötzlich die Überanstrengung.»Man müßte ein Regiment zur Verfügung haben, um dieses Gebiet abzusuchen. Und sogar dann noch. «Seine Stimme verlor sich in undeutlichem Gemurmel.
Bolitho nahm ein Fernglas und versuchte den flimmernden Sonnenglast zu durchdringen. Von der Gig war nichts mehr zu sehen.
«Mr. Tyrell hat mein volles Vertrauen. Vielleicht wird er etwas entdecken.»
Foley blickte über das Deck hin.»Hoffentlich, Kapitän. Sonst werden Sie Ihr Schiff verlieren, und damit würden all Ihre Sorgen ein Ende haben.»
Graves erschien auf der Leiter, sah sie beisammen stehen und verschwand wieder. Bolitho runzelte die Stirn. So war er es gewesen, der dem Oberst von Tyrells Unternehmen berichtet hatte.
«Dieser General, wer ist es, Sir?»
Foley riß sich von seinen düster brütenden Gedanken los.»Sir James Blundell. Er kam auf einer Inspektionsreise hier heraus. «Er lachte kurz auf.»Damals, als er in New York ankam, gab es weniger zu inspizieren, als er erwartet hatte. In Pennsylvania besaß er ein großes Vermögen, genug, um tausend Schiffe wie dieses zu kaufen.»
Bolitho wandte sich ab. Er hatte noch nie von diesem Mann gehört, aber das war mehr, als er wissen wollte. Bolitho wußte nun genug. Offensichtlich war Blundell von dem plötzlichen militärischen Rückzug überrascht worden, als er seinen persönlichen Besitz in Sicherheit bringen wollte. Schlimmer, er hatte seine Tätigkeit als inspizierender General für seine eigenen Angelegenheiten ausgenützt und eine Kompanie verzweifelt benötigter Soldaten in Gefahr gebracht.
Foley blickte ihm einige Sekunden lang in die Augen.»Die Männer bei ihm sind meine Leute — alles, was von einem ganzen Bataillon übriggeblieben ist. Sie sehen nun, warum ich dies hier unternehmen muß.»
Bolitho antwortete leise:»Wenn Sie mir das gleich gesagt hätten, Oberst, wäre es für uns beide besser gewesen.»
Foley schien nicht zugehört zu haben.»Sie waren die besten Soldaten, die ich hier befehligt habe, und in einem Dutzend Gefechten haben wir zusammengestanden. Bei Gott, in einer Schlachtlinie gibt es niemand, der die englischen Fußtruppen schlagen kann. Sogar ein kleines Karree dieser Leute wird der Elite der französischen Kavallerie standhalten.»
Er deutete zu den waldigen Hügeln hinüber.»Aber hier draußen sind sie wie verlorene Kinder. Sie können nicht gegen Männer antreten, die ihr ganzes Leben in den Prärien und Wäldern zugebracht haben, die Tage erlebt haben, da eine einzige Musketenkugel über Leben oder Verhungern entschied.»
Bolitho wußte nicht, wie er die Frage aussprechen sollte. Schließlich sagte er langsam:»Aber Sie waren nicht bei Ihren Soldaten, als das alles geschah?»
«Nein. «Foley blickte zwei Möwen nach, die schreiend um die Royal Rahen kreisten.»Ich war mit einem Geleitzug nach New York geschickt worden. Er bestand hauptsächlich aus unwichtigen Ausrüstungsstücken und Soldatenweibern.»
Mit harten Augen schaute er Bolitho ins Gesicht.»Und der Nichte des Generals, ich sollte nicht vergessen, sie zu erwähnen. «Schnell sprach er dann weiter:»Selbst auf sicheren Pfaden spürten uns die feindlichen Flankier nach, und es verging kein Tag, ohne daß ein paar arme Teufel von ihren langen Musketen abgeknallt wurden. Bei Gott, ich glaube, manche von ihnen können auf fünfzig Schritt einer Fliege das Auge herausschießen!»
Das Deck bewegte sich leise, und als Bolitho nach oben schaute, sah er den Stander im Masttopp leicht auswehen und dann wieder leblos zusammenfallen. Aber immerhin, es war der erste Hauch einer Brise.
«Ich schlage vor, Herr Oberst, daß Sie sich ein wenig ausruhen, solange Sie noch Zeit dazu haben. Ich werde Ihnen berichten, wenn ich irgend etwas höre.»
Foley antwortete düster:»Wenn Ihr Mr. Tyrell zurückkommt. «Aber im selben Atemzug fügte er hinzu:»Das eben war ungerecht von mir. All das hat mich aus dem Gleichgewicht gebracht, ich bin nicht mehr ich selbst.»
Bolitho blickte ihm nach, wie er im Niedergang verschwand. Dann setzte er sich auf einen Poller. Wenn nicht bald etwas geschah, mußte Foley neue Entscheidungen treffen. Wenn Tyrell nicht zurückkehrte und das ganze Unternehmen scheiterte, konnte er nach seiner Rückkehr nach Sandy Hook nicht mehr viel von seiner Zukunft erhoffen. Den ganzen Nachmittag über bis in den Abend hinein lag die Sparrow wie festgenagelt in greller Sonnenglut. Die Decks waren so heiß, daß man mit dem Fuß im aufgeweichten Teer der Nähte hängenblieb, und die Geschützrohre waren erhitzt wie nach einem vielstündigen Gefecht. Die Wachen wechselten, Posten zogen auf und wurden abgelöst. Nichts war zu hören oder zu sehen.
Der erste rosige Abendschimmer hatte sich über der Bucht niedergelassen, und die Hügel schimmerten in tiefem Purpur, als Foley wieder an Deck erschien.
«Es bleibt uns nichts mehr zu tun«, sagte er niedergeschlagen.
Bolitho biß sich die Lippen. Tyrell war nicht zurückgekehrt. Vielleicht war er schon in Richtung Süden über Land unterwegs. Oder er führte gar amerikanische Kundschafter in diese Bucht. Er schüttelte sich wie ein Hund. Seine Müdigkeit, seine Enttäuschung zerrten an seinen Widerstandskräften, an seinem Vertrauen.
Fähnrich Heyward stand am Steuerbordschanzkleid. Wie im Halbschlaf lehnte er an den Planken. Plötzlich fuhr er hoch.
«Die Gig, Sir«, rief er mit heiserer Stimme.»Sie kommt von der Landzunge her!»
Bolitho rannte zu ihm hin. Es war ihm gleichgültig, ob Tyrell etwas entdeckt hatte oder nicht. Er war zurückgekommen, das war mehr als genug.
Als die Gig längsseits kam, sah er die Ruderer wie Marionetten in den Duchten hängen. Ihre Gesichter und Arme sahen wie rohes Fleisch aus. Tyrell kletterte mit verdreckten Füßen und Beinen auf das Achterdeck. Seine Kleider waren zerrissen.
Schwerfällig begann er seinen Bericht:»Ihre Scouts konnten die vorausgeschickten Männer nicht finden, Oberst. Aber wir haben sie entdeckt.»
Er nahm eine Wasserkanne und schluckte in tiefen Zügen.»Sie sind alle tot. Flußaufwärts in einem ausgebrannten Fort.»
Foley starrte auf die düsteren Bäume hinter der Bucht.»So sind also meine Leute immer noch auf der Suche.»
Tyrell beachtete ihn nicht.»Wir pullten die Gig den Flußarm hinauf. Stießen zufällig auf dieses alte Fort. Aber leider ist das noch nicht alles.»
Bolitho wartete. Er konnte ihm die Anstrengungen und die Qual über das Gesehene deutlich ansehen.
Langsam fuhr Tyrell fort:»Gerade ein Stückchen den Kanal hinauf liegt groß und breit eine verdammte Fregatte!«Foley warf sich herum.»Amerikanisch?»
«Nein, Oberst, nicht amerikanisch. «Er blickte Bolitho ernst an.»Ihrem Schnitt nach ein Franzmann. Keine Flagge. Also wohl ein Kaperschiff.»
Bolitho zwang seine rasenden Gedanken zur Ruhe. Hätten sie sich unter Tyrells ortskundiger Führung nicht so heimlich in die Bucht geschlichen, wären sie der Fregatte vor die Kanonen gelaufen, oder sie wären vor Anker liegend angegriffen worden.
Tyrell redete weiter:»Es sieht also so aus, als ob Ihr General in Gefangenschaft geraten ist, Oberst. Hat nicht viel Zweck, hier so lange zu warten, bis es uns genauso geht, eh?»
«Konnten Sie ausmachen, was sie taten?»
Bolitho versuchte sich den großen Fluß vorzustellen, der um die Landzunge herumströmte. Die Fregatte ankerte in der Gewißheit, daß sie jeden Angreifer aus jeder Richtung abwehren konnte.
Tyrell zuckte die Achseln.»Am Strand waren Spuren zu sehen. Ich nehme an, daß sie mit Booten ans Land gerudert sind, um Frischwasser aufzunehmen. Aber kein Zeichen von Gefangenen.»
«So müssen wir also vermuten, daß die gesuchten Soldaten immer noch vermißt sind. «Bolitho blickte den Oberst an.»Ich glaube, daß die Fregatte Anker lichten wird, sobald der Wind einfällt. Sie wird es kaum wagen, bei Nacht auszulaufen. Wir sind also bis zur Morgendämmerung sicher, danach. «Er kam nicht mehr dazu, seinen Satz zu Ende zu sprechen.
«Kutter signalisiert, Sir«, rief Heyward.
Alles wandte sich um und starrte zur dunklen Küste hinüber. Mit weit ausholenden Riemen hielt der Kutter auf das Land zu. Am Ufer stand eine einzelne Gestalt, die mit ihrer Muskete Bethune zuwinkte. Es war einer von Foleys Scouts.
«Ich muß sofort an Land«, schnappte Foley. Er rannte auf die Schanzkleidpforte zu.»Sie haben den General gefunden!«Bolitho eilte hinter ihm her und kletterte, gefolgt von Stockdale, in die Gig.
Kurz vor dem Ufer fuhr das Boot im seichten Wasser auf. Bolitho sprang über das Dollbord und watete durch das klare Wasser an Land. Eine Sekunde lang blitzte in seinem Gehirn der Gedanke auf, daß er seit Monaten zum ersten Mal wieder festen Boden unter den Füßen hatte. Er wartete unter einem Baum, während Foley den Scout ausfragte. Sicher würde es den Kanadier verwirren, wenn sie beide vor ihm stünden. Foley schritt auf Bolitho zu. Seine Stiefel knirschten im Sand.
«Sie haben ihn gefunden. «Er wies auf die finstere Mauer des Waldes.»Die erste Abteilung wird in etwa einer Stunde hier sein.»
«Die erste Abteilung?«Bolitho bemerkte die Verzweiflung in Foleys Augen.
«Der General kommt mit meinen Kundschaftern und allen gesunden Männern. «Er seufzte tief auf.»Aber etwa sechzig Kranke und Verwundete folgen in langsamem Marschtempo nach. Sie sind seit Tagen ständig unterwegs. In der vorletzten Nacht gerieten sie in einer Schlucht in einen Hinterhalt. Sie konnten ihre Angreifer zurücktreiben. Der General sagt, es seien Franzosen gewesen. Wahrscheinlich von dieser Fregatte.»
Bolitho versuchte sich vorzustellen, was das alles für die kranken und verletzten Soldaten bedeutete. Sie wußten nicht, wo sie waren, ob sie mit dem Leben davonkamen.
«Die Katze ist jetzt aus dem Sack. Die Fregatte scheint einen Bergungsversuch zu erwarten.»
Foley seufzte.»Ja, ich bin auch Ihrer Meinung. Was werden Sie nun tun?»
Bolitho antwortete nicht sofort. Er winkte Bethune heran, der dem erschöpften Kundschafter seine Wasserflasche reichte.
«Fahren Sie sofort zum Schiff zurück. Sagen Sie Mr. Tyrell, er soll sich bereit halten, die erste Abteilung in einer Stunde an Bord zu nehmen. Ich möchte eine vollzählige Wache mit allen Booten an Land haben. Alles muß reibungslos vor sich gehen, und ich will, daß diese Männer gut untergebracht werden. Selbst, wenn wir unsre Vorräte über Bord werfen müßten.»
Der Fähnrich rannte zum Kutter. Seine Schultern glühten wie eine überreife Frucht.
«Es wäre ein Wunder, wenn wir sie rechtzeitig aufnehmen könnten«, sagte Foley mit ruhiger Stimme.
Bolitho lächelte.»Es geschehen Wunder, Oberst, manchmal. «Er ging zur Gig. Seine Müdigkeit war vergessen. Er bemerkte, daß Foley ihm nicht folgte, sondern noch immer bei dem Scout stand.»Ich gehe landeinwärts«, rief der Oberst ihnen nach.»Ich will zu meinen Leuten oder zu dem Rest, der von ihnen übriggeblieben ist. «Sein scharlachroter Rock verschwand zwischen den Bäumen, und er war verschwunden.
General Sir James Blundell lehnte sich in einen von Bolithos Stühlen zurück und hielt seinem Burschen ein Bein hin.
«Um Himmels willen, ziehen Sie mir diese verdammten Stiefel aus. «Er starrte zur Kajütslampe hinauf und fügte hinzu:»Ich könnte was zum Trinken vertragen. Mir ist staubtrocken zumute!«Er verfluchte seinen Burschen und stieß ihm seinen Stiefel zwischen die Schultern.»Langsam, Sie verdammter Trottel!»
Foley wandte sich ab und blickte Bolitho an, der an der Tür stand. Zorn und Überraschung waren aus seinen Augen zu lesen.
«Könnten Sie für den General irgend etwas herrichten lassen?«Bolitho nickte und sah Fitch hinweghuschen, um Wein zu holen. Alles kam ihm wie ein Alptraum vor.
Als der letzte Schimmer des Tageslichts verschwand, waren die Soldaten, die den General begleiteten, am Ufer erschienen.
Sogar die Seeleute, die Augenblicke zuvor noch Witze gerissen und plaudernd ihre außergewöhnliche Freiheit auf festem Boden genossen hatten, waren still und schweigsam geworden.
Abgerissen und verdreckt hatten sich die Infanteristen wie gehorsame Tiere in Reihen aufgestellt. Ihre roten Röcke waren durch Gewaltmärsche und kurze Ruhepausen im Unterholz arg mitgenommen. Andere Soldaten folgten mit den Packtieren, die so überladen waren, daß es allen wie ein Wunder vorkam, daß sie nicht längst zusammengebrochen waren.
Bolitho war mit Dalkeith am Ufer gewesen und hatte die Versorgung und die ersten Vorbereitungen für diese vielen Leute erläutert. Schweigend hatte er das versteinerte Gesicht Foleys beobachtet, als ein Leutnant auf ihn zutaumelte, um Meldung zu erstatten. Er hatte die Regimentsfahne um die Schultern gebunden, sein Degen baumelte an einem Strick von seinem Handgelenk. Foley brachte kein Wort heraus. Er klopfte dem Leutnant nur leicht auf die Schulter und nickte den stumpfäugigen Soldaten am Waldrand zu. Dann hatte er sich an Bolitho gewandt.
«Um Himmels willen, tun Sie, was möglich ist, für diese armen Teufel. «Als die Seeleute herbeikamen, um den Soldaten in die Boote zu helfen, war die letzte Widerstandskraft der Infanteristen gebrochen. Entlang der schwankenden Linie roter Röcke waren Männer zusammengebrochen wie leblose Körper. Andere starrten die sonnengebräunten Seemänner sprachlos an. Über ihre schmutzigen Gesichter rannen Tränen, und als ob sie Boten des Heils sähen, streckten sie ihnen ihre zerschundenen Hände entgegen.
Bewegt und voll Mitleid hatte Bolitho zugesehen, wie sie durch das seichte Wasser zu den Booten torkelten. Der Leutnant trug die Farben seines Regiments um die Schultern, wie er es wohl schon den ganzen weiten Weg von Philadelphia her getan hatte. Er versuchte, einen Rest von Selbstbeherrschung zu zeigen, aber Verzweiflung und Ungläubigkeit straften seine Haltung Lügen.
Nun in der Kajüte, da Bolitho den General beobachtete, fiel es ihm schwer, die Gegensätze miteinander in Verbindung zu bringen. Blundell war ein rundlicher, doch kraftvoll gebauter Mann. Von etwas Schmutz an seinen Stiefeln abgesehen, sah seine Uniform sauber und wie frisch gebügelt aus. Sein eisengraues Haar war ordentlich gekämmt, und sein wuchtiges, rosiges Gesicht mußte noch am selben Tag rasiert worden sein.
Bis jetzt hatte er für Bolitho kaum mehr als einen nachlässigen Blick übrig gehabt und sich damit begnügt, seine Ansprüche durch Foley ausrichten zu lassen.
Er versuchte den Wein auf der Zunge und schnitt eine Grimasse.»Ich nehme an, daß man auf einem so kleinen Schiff nicht allzuviel erwarten kann, was?»
Foley blickte Bolitho an. Sein verzweifelter Gesichtsausdruck verriet fast physischen Schmerz.
An Deck und tief im Rumpf drinnen wimmelte es auf dem Schiff voll Leben. Stiefel trampelten, rauhe Befehle erklangen, und über den Booten knarrten und quietschten die Taljen.
«Sie hätten die Männer zur Arbeit einteilen sollen, Foley. Es ist widersinnig, sie wie Gutsherren herumlungern zu lassen.»
«Meine Leute können mit dem Laden allein fertig werden, Sir«, meinte Bolitho.
«Hm. «Der General schien ihn zum erstenmal zu bemerken.»Schön, vergewissern Sie sich, daß jedes Maultier genau überprüft wird. Irgendeinem blödsinnigen oder habgierigen Trottel könnte es einfallen, etwas aus den Lasten zu stehlen. In diesen Packtaschen steckt eine Riesensumme. Bedenken Sie das alles, bevor Sie mir melden, daß Sie klar zum Absegeln sind.»
Graves erschien in der Tür.»Alle Soldaten an Bord, Sir. Einigen geht es ziemlich schlecht.»
Bolitho riß seine Augen von dem General los, auf dessen Lippen einige Weintropfen glänzten.
«Der Koch soll die Kombüsenfeuer anzünden, Mr. Graves. Die französische Fregatte wird es selbst dann, wenn Wind aufkommt, nicht wagen, in der Dunkelheit Anker zu lichten. Ich möchte, daß diese Leute etwas Warmes zu essen bekommen. Während sie warten, sollen sie auch etwas Rum haben. Sagen Sie Mr. Lock, er soll alles bereitstellen.»
Er dachte an die taumelnden Männer, an die zusammengesunkenen Rotröcke am Ufer. Und dies war die Abteilung der» gesunden «Leute!
Foley fragte ruhig:»Wann werden Sie Anker lichten, Kapitän?»
Bolitho fiel die Qual in seinen Augen auf und das Zögern, mit dem er die Frage widerwillig hindehnte.
«Wie mir mitgeteilt wurde, stehen Tide und Strömung eine Stunde nach der Morgendämmerung günstig für uns.»
Der General machte mit dem erhobenen Weinglas eine plötzliche Bewegung, so daß der Bursche den Wein aus der Karaffe über die Planken goß.
«Zum Teufel, von was reden Sie eigentlich?«Er rappelte sich im Stuhl hoch.»Sie können sofort segeln. Ich hörte, wie Ihre Leute sagten, die Zeit sei jetzt ebensogut zum Auslaufen.»
Bolitho blickte ihm kalt ins Gesicht.»Das ist nur teilweise richtig, Sir. Aber wenn ich zu warten habe, bis die Verwundeten und Kranken die Bucht erreichen, so muß ich mich auf die nächste Tide einstellen. «Seine Stimme wurde härter.»Ich habe meinen Ersten Leutnant mit vierzig Mann losgeschickt, um ihnen auf dem Marsch hierher zu helfen. Ich bete zu Gott, daß wir ihnen noch mehr Leiden ersparen können.»
Der General kam wankend auf seine Füße, seine Augen blitzten zornig.»Foley, sagen Sie diesem jungen Emporkömmling folgendes: Weiter oben im Fahrwasser liegt ein feindliches Schiff, und es darf keine Zeit vertan werden. Ich habe in den letzten paar Tagen genug mitgemacht, und ich befehle Ihnen, daß Sie…»
Bolitho fiel ihm ins Wort:»Meine Befehle, Sir, lauten, daß ich bei diesem Unternehmen das Kommando über den Transport habe. Diese Befehle machen keinen Unterschied zwischen Goldbarren und Menschen.»
Der Zorn rumorte ihm im Magen wie Brandy.»Das bezieht sich auch auf die Leute, die zu schwach und krank sind, um für sich selbst zu sorgen. Ist es nicht so, Oberst?»
Foley starrte ihn an. Seine Augen lagen im Schatten. Als er zu sprechen anfing, war seine Stimme verändert, heiser.
«Es ist wahr, Kapitän. Sie haben das Kommando. «Er fuhr herum und wandte sich gegen seinen erstaunten Vorgesetzten.»Wir, Sir James, sind ebenso Fracht.»
Bolitho drehte sich um und verließ die Kajüte. An Deck schien ihm die Luft reiner zu sein, und er blieb an der Reling über einen Zwölfpfünder gelehnt einige Minuten regungslos stehen.
Unten auf dem Geschützdeck bewegten sich überall Leute, und von der Kombüse wehte der Geruch geschmorten Fleisches herüber. Sogar Lock mußte wohl von dem Anblick der abgerissenen, erschöpften Soldaten so überwältigt sein, daß er den Koch nicht zurückhalten mochte.
Bolitho hörte Foleys Stiefel neben sich, aber er wandte sich nicht um.
«Vielen Dank, Kapitän, von mir und meinen Männern. Und von jenen, die ihr Leben Ihrer Menschlichkeit verdanken — und Ihrem Mut. «Als Bolitho sich umdrehte, hielt er ihm seine Hand hin.»Wegen dieser Haltung können Sie Ihre ganze Laufbahn aufs Spiel setzen. Sie wissen das sehr gut.»
Bolitho zuckte die Achseln.»Lieber das, als mit einer üblen Erinnerung leben.»
Irgendwo im Finstern erscholl ein Ruf, und ein Kutter wurde auf die Küste zugerudert.
«Ich konnte diese Männer nicht zurücklassen. «Er schritt zu den Wanten.»Wenn notwendig, werde ich eher das Gold über Bord werfen lassen.»
«Ja, Kapitän, ich glaube Ihnen.»
Aber Foley hatte in die leere Finsternis gesprochen. Als er die Reling erreichte, sah er die Gig schon unterwegs zum Ufer. Und Bolitho saß neben Stockdale an der Pinne. Der Oberst spähte aufs Geschützdeck hinunter. Wo würden all die Leute untergebracht werden? Er hörte das Quietschen der Riemen, als das erste Boot von der Küste ablegte. Eines schien ihm sicher. Bolitho würde irgendwo Platz schaffen und wenn es ihn seinen Rang kosten sollte.