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„Das ist schon der letzte, oder?“ — sagte der Mann in der Regenhaut.

Mit der Schuhspitze stupste er Erdklümpchen vom Wall hinunter auf den Grund des Trichters, worin unter den gebückten Gestalten mit den unförmigen Riesenköpfen die Azetylenflammen knatterten. Nottinsen wandte sich davon ab, um die tränenden Augen abzuwischen.

„Verdammt, ich habe die dunklen Gläser irgendwo verlegt. Der letzte? Hoffentlich. Ich halte mich kaum mehr auf den Beinen. Und Sie?“

Der Mann im glänzenden Mantel, woran feine Wassertröpfchen herabliefen, steckte die Hände in die Taschen.

„Ich bin das gewohnt. Schauen Sie nicht hin“ — fügte der Mann hinzu, als er sah, daß Nottinsen wieder ins Innere des Trichters blickte. Die Erde dampfte und zischte unter den Brennern.

„Wenigstens die Gewißheit sollten wir haben“ — brummte Nottinsen. Er blinzelte. „Wenn es hier so ist — können Sie sich vorstellen, wie es dann dort zugegangen sein muß?“ Mit einer Kopfbewegung deutete er über die Landstraße hinaus, dorthin, wo über den umgestülpten Rändern des Kraters feinste Dampfstreifchen aufstiegen, violett erglühend im Strahl der selbst nicht sichtbaren Flammen.

„Da war er mit Sicherheit schon tot“ — sagte der Mann im Regenmantel, drehte nacheinander beide Taschen nach außen um und schüttelte das Wasser heraus. Der feine Regen fiel immerzu.

„Er fand nicht einmal Zeit, zu erschrecken. Und spürte nichts.“

„Zu erschrecken?“ sagte Nottinsen. Er wollte zum Himmel aufblicken, vergrub aber gleich den Kopf im Kragen, weil es so regnete. „Er?! Da haben Sie ihn nicht gekannt. Nun ja, freilich haben Sie ihn nicht gekannt“ — besann sich Nottinsen. „Er hat daran vier Jahre gearbeitet; in jeder Sekunde dieser vier Jahre hätte das geschehen können.“

„Warum hat man ihm dann erlaubt, das zu tun?“ — der Mann im nassen Mantel schielte mit gesenktem Kopf zu Nottinsen auf.

„Weil die nicht glaubten, daß es ihm gelingen werde“ antwortete Nottinsen finster.

Die bläulichen, ätzend grellen Flammen leckten noch immerzu den Grund des Trichters.

„So?“ sagte der andere Mann. „Ich… hatte das ein wenig im Auge, als das gebaut wurde“ — er blickte zu dem mehrere hundert Meter weit entfernten, schwach rauchenden Krater hinüber. „Muß ein hübsches Sümmchen gekostet haben…“

„Dreißig Millionen“ — räumte Nottinsen ein. Er trat von einem Bein aufs andere. Er hatte die Empfindung, die Schuhe seien durchnäßt. „Und? Was folgt daraus? Die hätten ihm dreihundert oder dreitausend gegeben, wenn sie die Gewißheit gehabt hätten…“

„Das hatte etwas mit Atomen zu tun, nicht wahr?“ sagte der Mann im wasserdichten Mantel.

„Woher wollen Sie das wissen?“

„Hab' ich gehört. Im übrigen habe ich die Säule gesehen.“

„Die Feuersäule von der Explosion?“

„Und im übrigen, warum hätte man das sonst so weit weg gebaut, stimmt's?“

„Das hat er so gewünscht“ — entgegnete Nottinsen. „Deshalb hat er allein gearbeitet — seit vier Monaten, seit es ihm gelungen ist…“ Er schaute den anderen an, senkte den Kopf und setzte fort:

„Das sollte ärger werden als die Atome. Ärger als Atome!“ wiederholte er.

„Was kann noch ärger sein als der Weltuntergang?“

„Man kann eine Atombombe abwerfen und aufhören“ — sagte Nottinsen. „Aber eine Whisteria… Eine würde genügen! Das hielte dann niemand mehr auf! He, ihr dort!“ rief er und beugte sich über den Trichter. „Nicht so schnell!!! Beeilt euch nicht so! Die Flamme nicht wegrücken! Jeder Zoll muß ordentlich ausgeglüht werden!“

„Es geht mich ja nichts an“ — sagte der andere. „Aber… wenn das so etwas ist — was hilft dann ein bißchen Feuer?“

„Sie wissen, was das hätte werden sollen?“ — fragte Nottinsen langsam.

„Ich verstehe nichts davon. Aldershot sagte, ich solle Ihnen helfen, mit der hiesigen Mannschaft. Und daß das… daß der dort an irgendwelchen Atombakterien gearbeitet hat, oder so etwas Ähnliches.“

„Ein Atombakterium?“ Nottinsen begann zu lachen, aber er hörte sofort wieder auf. Räusperte sich und sagte: „Whisteria Cosmolytica — er hat das so benannt. Eine Mikrobe, die Materie vernichtet und aus diesem Prozeß die Lebensenergie bezieht.“

„Wo hat er das hergenommen?“

„Eine Abgeleitete aus gesteuerten Mutationen. Das heißt, er ist von existierenden Bakterien ausgegangen und hat sie allmählich der Einwirkung immer größerer Strahlungsdosen ausgesetzt. Bis er zur Whisteria gelangte. Sie existiert in zwei Zuständen. Als Dauerspore, unschädlich wie Mehl. Man kann mit ihr die Straßen bestreuen. Aber wenn sie zum Leben erwacht und anfängt, sich zu vermehren… dann wäre es aus.“

„Ja. Aldershot hat es mir gesagt“ — bemerkte der andere.

„Was?“

„Daß sich das vermehren sollte und alles verschlingen. Mauern, Menschen, Eisen.“

„Das ist wahr.“

„Und daß sich das nicht mehr aufhalten ließe.“

„Ja.“

„Was soll so eine Waffe wert sein?“

„Daher ließ sie sich ja auch vorläufig nicht anwenden. Whister arbeitete daran, diesen Prozeß anzuhalten, ihn umkehrbar zu machen, verstehen Sie?“

Der Mann schaute zuerst auf Nottinsen, dann in die Gegend; vom ersten Abenddämmern umflort, in der Ferne kleiner und kleiner, reihten sich in konzentrischen Fronten die von Erdwällen gerahmten Trichter, woraus da und dort noch immer Dampfstreifen aufstiegen, und er antwortete nichts.

„Hoffen wir, daß keine davongekommen ist“ — sagte Nottinsen. „Ich nehme nicht an, daß er etwas so Irrwitziges getan hätte, ohne die Gewißheit zu haben, er könne das rückgängig…“ Er sprach zu sich selbst, ohne den Begleiter anzusehen.

„Waren das viele?“ — erkundigte sich dieser.

„Dauersporen? Wie man's nimmt. In sechs Eprouvetten waren sie, in einer feuerfesten Kasse.“

„Dort bei ihm in diesem Arbeitszimmer im zweiten Stock?“ — fragte der Mann.

„Ja. Dort ist jetzt ein Trichter, worin zwei Häuser Platz fänden“ — sagte Nottinsen und schüttelte sich. Er schaute hinunter auf die flimmernden Flammen und setzte fort:

„Außer den Trichtern wird das ganze Gelände ausgebrannt werden müssen. Morgen früh kommt Aldershot an. Er hat mir versprochen, Militär aufzubieten; unsere Leute kommen allein nicht zu Rande.“

„Was braucht sie, um — anzufangen?“ — fragte der Mann. Nottinsen sah ihn eine Weile an, wie ohne zu verstehen.

„Um sich zu aktivieren? Dunkelheit. In der Panzerkasse brannte Licht, da waren eigene Batterien von Akkumulatoren, für den Fall, daß der Strom ausfiele. Achtzehn Lampen, voneinander unabhängig, jede mit eigenem Stromkreis.“

„Dunkelheit? Sonst nichts?“

„Dunkelheit und — einen bestimmten Schimmelpilz. Die Anwesenheit dieses Schimmels war auch nötig. Er lieferte irgendwelche organische Katalysatoren. In dem Bericht an die Unterkommission hat Whister das nicht genau angegeben; die Papiere und alles hatte er unten, in seinem Zimmer.“

„Offensichtlich war er darauf nicht gefaßt“ — sagte der Mann.

„Vielleicht war er eben gefaßt darauf“ — brummte Nottinsen undeutlich.

„Denken Sie, daß das Licht ausging? Aber wo kam der Schimmel her?“ — sagte der Mann.

„Nein, nicht doch!“ — Nottinsen machte große Augen. „Das waren nicht sie. Das… sie… sie vermehren sich völlig unexplosiv. Ruhig. Ich nehme an, er hat mit diesem großen unterirdischen Paratron gearbeitet; es handelte sich darum, eine Methode zu finden, um ihre Entwicklung zu stoppen, und dies dann in Bereitschaft zu haben, für den Fall…“

„Eines Krieges?“

„Ja.“

„Und was hat er dort gearbeitet?“

„Das wissen wir nicht. Das hatte etwas mit Antimaterie zu tun. Denn die Whisteria… sie vernichtet die Materie. Synthese von Antiprotonen, Einkapselung in ein Kraftfeld, Teilung — so sieht der Lebenszyklus der Whisteria aus.“

Beide schauten eine Weile schweigend auf die Leute, die unter ihnen arbeiteten.

Nacheinander erloschen die Flammen auf dem Trichtergrund. In der blaugrauen Dämmerung kletterten die Leute herauf, die biegsamen Kabelschläuche nachschleifend, riesig, in Asbestmasken, woran der Regen herunterfloß.

„Gehen wir“ — ließ sich Nottinsen hören. „Ihre Leute sind auf der Landstraße?“

„Ja. Sie können beruhigt sein. Niemand kann durchfahren.“

Es regnete immer feiner, manchmal schien es so, als schlügen sich auf Gesichtern und Kleidern nur Tropfen vom Nebel nieder. Die beiden gingen durchs Feld, sie wichen zerschmetterten, verkrümmten und angebrannten Baumtrümmern aus, die im hohen Gras lagen.

„Bis hierher hat es das getragen“ — der Mann, der neben Nottinsen ging, wandte sich um und blickte zurück. Aber da war nichts zu sehen als der graue, immer schneller nachdunkelnde Nebel.

„Morgen um diese Zeit haben wir es hinter uns“ — sagte Nottinsen.

Sie erreichten schon die Landstraße.

„Und… der Wind kann das nicht weitergetragen haben?“

Nottinsen blickte den Begleiter an und sagte: „Ich denke, nein. Aller Wahrscheinlichkeit nach muß allein der Explosionsdruck alle zu Staub zermahlen haben. Denn das, was hier liegt“ — er schaute auf das Feld — „das sind Überreste der Bäume, die dreihundert Meter vom Gebäude entfernt standen. Von den Mauern, von den Apparaten und sogar von den Fundamenten ist nichts geblieben — kein Krümelchen. Wir haben doch alles durch die Maschengitter gesiebt, Sie waren ja dabei.“

„Ja“ — sagte der Mann im Mantel und sah Nottinsen nicht an.

„Na, eben. Was wir tun, das tun wir nur auf alle Fälle, um schon völlig gewiß zu sein.“

„Eine Waffe sollte das werden, oder?“ — sagte der andere. „Wie hieß sie gleich? Wie haben Sie gesagt?“

„Whisteria Cosmolytica.“ Nottinsen fror immer mehr, vergeblich versuchte er, den durchnäßten, durchweichten Mantelkragen aufzustellen. „Aber im Ministerium hatte sie einen Tarnnamen. Die lieben dort solche Tarnnamen, wissen Sie. 'Dunkelheit und Schimmel'. „

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