Von den Drachen der Wahrscheinlichkeit

Trurl und Klapaucius waren Schüler des großen Kerebron Emtadrat, der siebenundvierzig Jahre in der Neantischen Hochschule die allgemeine Drachentheorie gelehrt hatte. Bekanntlich gibt es keine Drachen. Einem simplen Verstand mag diese primitive Feststellung vielleicht genügen, nicht aber der Wissenschaft, denn die Neantische Hochschule befaßt sich überhaupt nicht mit dem, was existiert; die Banalität der Existenz ist längst erwiesen, als daß man auch nur ein Wort darüber verlieren sollte. So entdeckte der geniale Kerebron, der mit exakten Methoden dem Problem zu Leibe ging, drei Arten von Drachen: Nulldrachen, imaginäre und negative Drachen. Es existieren, wie gesagt, alle nicht, aber jede Gattung auf eine besondere und grundverschiedene Weise. Die imaginären und die Nulldrachen, Einbilder und Nuller von Fachleuten genannt, existieren auf eine viel weniger interessante Weise nicht als die negativen Drachen. In der Drakologie war seit langem ein Paradoxon bekannt, das darin bestand, daß, wenn zwei negative Drachen herborisiert wurden (eine Aktion, die in der Drachenalgebra etwa der Multiplikation in der üblichen Arithmetik entspricht), als Resultat ein Minidrachen in der Menge 0,6 entsteht. Die Welt der Spezialisten zerfiel nun in zwei Lager, von denen eins behauptete, es handele sich um einen Teil eines Drachen, vom Kopfe an gerechnet, das andere, es sei ein Teil, aber vom Schwanze aus betrachtet. Trurls und Klapaucius' großes Verdienst bestand darin, die Falschheit dieser beiden Ansichten zu beweisen. Sie wandten zum erstenmal die Wahrscheinlichkeitsrechnung auf diesem Gebiet an und schufen damit die probabilistische Drakologie, aus der hervorgeht, daß ein Drachen thermodynamisch nur im statistischen Sinne unmöglich sei, ähnlich wie Elfen, Waldschratte, Heinzelmännchen, Gnomen, Hexen und anderes. Von der allgemeinen Formel der Unwahrscheinlichkeit zählten beide Theoretiker die Koeffizienten der Gnomisierung, Elfisierung u. ä. auf. Aus der gleichen Formel geht hervor, daß man etwa sechzehn Quintoquadrillionen Heptillionen Jahre auf eine spontane Manifestation eines durchschnittlichen Drachens warten müsse. Gewiß wäre dieses Problem eine mathematische Rarität geblieben, hätte nicht Trurl die allseits bekannte Erfindergabe besessen und beschlossen, diesem Problem empirisch auf den Grund zu gehen. Und da es sich um unwahrscheinliche Erscheinungen handelte, erfand er einen Wahrscheinlichkeitsverstärker und erprobte ihn zuerst bei sich im Keller, dann auf einem besonderen, von der Akademie gestifteten drakogenetischen Polygon, dem sogenannten Drakolygon. Die in der allgemeinen Unwahrscheinlichkeitstheorie Unbewanderten fragen sich bis auf den heutigen Tag, warum Trurl eigentlich einen Drachen und nicht eine Elfe oder ein Heinzelmännchen probabilisiert habe, und sie tun das aus Ignoranz, denn sie wissen nicht, daß ein Drachen ganz einfach viel wahrscheinlicher ist als ein Heinzelmännchen; vielleicht beabsichtigte Trurl in seinen Versuchen mit Verstärkern auch noch weiterzugehen, doch bereits der erste brachte ihm eine schwere Kontusion ein, denn der sich realisierende Drache schlug mit dem Bein aus. Zum Glück konnte Klapaucius, der bei der Inbetriebnahme zugegen war, die Wahrscheinlichkeit herabmindern, und der Drachen verschwand. Viele Gelehrte wiederholten dann die Versuche mit dem Drakotron, da es ihnen aber an Routine und Kaltblütigkeit gebrach, gelangte eine beträchtliche Menge der Drachensaat, nachdem sie sie übel zugerichtet hatte, in Freiheit. Erst dann erwies es sich, daß die ekelhaften Ungeheuer ganz anders existieren, nämlich als Schränke, Kommoden oder Tische; die Drachen zeichnen sich vor allem durch eine im allgemeinen recht beträchtliche Wahrscheinlichkeit aus, wenn sie erst einmal entstanden sind. Wenn man nämlich auf einen solchen Drachen eine Jagd veranstaltet, obendrein eine Treibjagd, stößt die Schar der Jäger mit schußbereiten Waffen nur auf ausgebrannte, ganz und gar stinkende Erde, denn der Drache flüchtet, wenn er sieht, daß es schlecht um ihn steht, aus dem realen Raum in den konfigurativen. Als äußerst stures und schmutziges Tier macht er das natürlich rein instinktiv. Primitiv denkende Personen, die nicht begreifen können, wie das vor sich geht, verlangen mitunter jähzornig, man möge ihnen doch diesen konfigurativen Raum zeigen; sie wissen nämlich nicht, daß sich die Elektronen, deren Existenz ja niemand, der hell im Kopfe ist, verneinen wird, ebenfalls nur im konfigurativen Raum bewegen und ihr Schicksal von den Wellen der Wahrscheinlichkeit abhängt. Übrigens fällt es einemEigensinnigen leichter, der Nichtexistenz von Elektronen als der von Drachen zuzustimmen, denn die Elektronen schlagen, zumindest wenn sie einzeln sind, nicht mit den Beinen aus.

Ein Kollege Trurls, Kyber Harboriseus, verquantete als erster einen Drachen, bestimmte eine Einheit, Drakon genannt, mit der man bekanntlich die Zähler der Drachen kalibriert, und fixierte sogar die Windung ihres Schwanzes, was er fast mit dem Leben bezahlt hätte. Was gingen jedoch diese Errungenschaften die von den Drachen geplagten breiten Massen an, unter denen diese durch Trampeln, allgemeine Zudringlichkeit, Gebrüll und Flammen großen Schaden anrichteten und hie und da sogar Abgaben in Form von Mädchen erzwangen? Was ging die Unglücklichen an, daß Trurls Drachen als indeterministische, also nichtlokale Drachen sich zwar gemäß der Theorie, aber jedem Anstand hohnsprechend, verhielten und daß diese Theorie sogar die Biegungen ihrer Schwänze voraussah, die Dörfer und Saaten vernichteten? Es war also nicht verwunderlich, daß die Allgemeinheit den spektakulären Erfolg Trurls verurteilte, statt ihn richtig einzuschätzen, und eine Gruppe ganz besonderer Ignoranten auf dem Gebiet der Wissenschaft recht schmerzhaft den hervorragenden Wissenschaftler verprügelte. Er jedoch wurde mit seinem Freund Klapaucius nicht müde weiterzuforschen. Daraus ging hervor, daß ein Drache in dem Grade existiere, der von seiner Laune und vom Zustand der allgemeinen Sättigung abhängt, ebenso, daß die einzige verläßliche Liquidationsmethode die Reduktion der Wahrscheinlichkeit auf Null oder gar auf negative Werte sei. Es ist daher begreiflich, daß diese Forschungen viel Mühe und Zeit verschlangen, derweil sich die Drachen, die sich in Freiheit befanden, immer mehr ausbreiteten und zahlreiche Planeten und Monde verwüsteten. Schlimmer noch, sie vermehrten sich sogar. Das gab Klapaucius die Gelegenheit, eine glänzende Arbeit zu veröffentlichen, nämlich „Die kovarianten Übergänge von Drachen zu Schlangen oder der spezifische Fall des Übergangs von physisch verbotenen zu polizeilich verbotenen Zuständen“. Diese Arbeit machte in der wissenschaftlichen Welt viel Furore, wo es noch um den berühmten Polizeidrachen laut war, mit dessen Hilfe tapfere Konstrukteure das Unglück ihrer unvergessenen Kollegen an dem bösen König Greulich rächten. Aber was für Verwicklungen entstanden, als bekannt wurde, daß ein Konstrukteur, ein gewisser Basilius, genannt der Emerdwaner, in der ganzen Milchstraße herumreiste und allein durch seine Gegenwart dort das Auftreten von Drachen verursachte, wo man sie früher nie zu Gesicht bekommen hatte. Wenn die allgemeine Verzweiflung und die nationale Katastrophe den Höhepunkt erreichten, erschien er bei dem Herrscher des jeweiligen Landes, um die Vernichtung der Monstren in Angriff zu nehmen, nachdem er zuvor das Honorar dafür in langen Verhandlungen bis zur Unmöglichkeit hochgeschraubt hatte. In der Regel gelang ihm auch die Vertilgung, obschon niemand wußte, wie er das zuwege brachte, denn er handelte einsam und im geheimen. Er verbürgte sich übrigens nur für eine statistische Garantie des Erfolges seiner Drakolyse, und als ihm ein Monarch Gleiches mit Gleichem vergalt und ihn mit Dukaten bezahlte, die auch nur statistisch gut waren, fluchte er furchteinflößend.

Trurl und Klapaucius begegneten sich zu jener Zeit an einem heiteren Nachmittag, und es kam zwischen ihnen zu dem folgenden Gespräch: „Hast du schon von diesem Basilius gehört?“ fragte Trurl.

„Ja, das habe ich.“

„Und was ist deine Meinung?“

„Die Geschichte gefällt mir nicht.“

„Mir auch nicht. Was denkst du darüber?“

„Ich glaube, daß er einen Verstärker anwendet.“

„Für die Wahrscheinlichkeit?“

„Ja, oder auch räsonierende Systeme.“

„Oder einen Drachengenerator.“

„Du meinst das Drakotron?“

„Ja.“

„Tatsächlich, das wäre gut möglich.“

„Aber weißt du“, rief Trurl, „es wäre auch eine Niedertracht. Das würde ja bedeuten, daß er diese Drachen sozusagen mitführt, aber nur im potenziellen Zustand, mit einer Wahrscheinlichkeit, die Null nahekommt.“

„Und was meinst du, annulliert er sie dann mit einem nihilisierenden Retrokreator, oder verringert er nur zeitweilig die Wahrscheinlichkeit, um sich in der Zwischenzeit mit dem Gold aus dem Staube zu machen?“

„Schwer zu sagen. Wenn er nur entprobabilisierte, dann wäre das eine noch größere Schurkerei, denn früher oder später müssen Null-Fluktuationen zur Aktivierung der Drakomatrize führen, und dann fängt die ganze Geschichte von neuem an.“

„Gewiß, aber er ist dann mit dem Geld schon weg…“, murmelte Klapaucius.

„Meinst du nicht, daß man in dieser Angelegenheit eigentlich an das Hauptamt für Drachenregulierung schreiben sollte?“

„O nein, das nicht. Schließlich tut er das vielleicht gar nicht. Wir besitzen diese Gewißheit nicht. Auch keine Beweise. Aber statistische Fluktuationen treten auch ohne Verstärker auf; früher hat es weder Matrizen noch Verstärker gegeben, und Drachen waren manchmal aufgetaucht. Einfach rein zufällig.“

„Scheint so…“, versetzte Trurl, „aber… sie tauchen erst dann auf, wenn er auf dem jeweiligen Planeten angekommen ist!“

„Gewiß. Doch es schickt sich eben nicht, zu schreiben; immerhin ist er ein Fachkollege. Wir könnten höchstens selbst gewisse Schritte unternehmen.“

„Das können wir.“

„Also gut, auch ich bin dieser Meinung. Aber was tun?“

Hier vertieften sich beide berühmten Drakologen in eine Fachdiskussion, von der ein uneingeweihter Zuhörer nicht ein Wort begriffen hätte, weil er nur rätselhafte Wörter vernommen hätte, wie zum Beispiel „Drachenzähler“, „ungeschwänzte Transformation“, „schwache drakonale Reaktionen“, „Diffraktion und Diffusion von Drachen“, „harter Drache“, „weicher Drache“, „draco probabilisticus“, „labiles Basiliskenspektrum“, „Drache im Zustand der Erregung“, „Annihilation zweier Drachen mit entgegengesetztem Amok im Kraftfeld allgemeiner Kopflosigkeit“ usw.

Ergebnis dieser durchdringenden Analyse der Erscheinung war eine Expedition, auf die sich beide Konstrukteure sehr sorgfältig vorbereiteten, ohne zu versäumen, ihr Schiff mit einer Menge komplizierter Apparaturen vollzuladen.

Insonderheit nahmen sie einen Diffusator sowie einen Mörser mit, der mit Antiköpfen schoß. Während der Reise, als sie nacheinander auf Enzien, Penzien und Coerulea landeten, wurde ihnen klar, daß sie außerstande sein würden, den gesamten von der Plage heimgesuchten Bereich durchzukämmen, selbst wenn sie sich für diesen Zweck in Stücke reißen würden. Einfacher war es natürlich, wenn sie sich trennten, und nach der Arbeitsbesprechung begab sich denn auch jeder in seine Richtung. Klapaucius arbeitete lange auf Prestopondien, wo ihn Kaiser Ruhmreich Ampetricius engagiert hatte, welcher auch bereit war, ihm seine Tochter zur Frau zu geben, nur um die Monstren loszuwerden. Drachen von maximaler Wahrscheinlichkeit drangen sogar bis in die Straßen der hauptstädtischen Burg vor, und von virtuellen wimmelte es geradezu allenthalben. Ein virtueller Drache „existiert“ zwar nicht, würde ein naiver Durchschnittsmensch sagen, d.h. er kann in keiner Weise wahrgenommen werden, wie er auch nichts unternimmt, was seine Offenbarung hervorriefe, jedoch die von Kyber-Trurl-Klapaucius-Minog angestellte Berechnung, namentlich die Drako-Wellen-Gleichung, läßt deutlich erkennen, daß ein Drache aus dem konfigurativen Raum leichter in den realen Raum hinüberzuwechseln vermag als ein Kind aus dem Haus in die Schule. So konnte man also in der Wohnung, im Keller oder auf dem Dachboden jeden Augenblick bei allgemeinem Anstieg der Wahrscheinlichkeit einem Drachen begegnen, ja sogar einem Superdrachen.

Anstatt Drachen nachzujagen, was auch nicht viel eingebracht hätte, ging Klapaucius als echter Theoretiker methodisch an die Sache heran — stellte auf Plätzen und Squares, in Dörfern und Städten probabilistische Drakoreduktoren auf, und in kurzer Zeit waren die Ungeheuer eine große Seltenheit. Nachdem Klapaucius die Gebühren, das Ehrendiplom und die Wanderfahne kassiert hatte, startete er, um sich mit seinem Freund zu treffen. Unterwegs beobachtete er einen Planeten, von dem ihm jemand verzweifelt zuwinkte. In der Annahme, es könne Trurl sein, dem etwas Schlimmes widerfahren sei, landete Klapaucius. Jedoch die Zeichen stammten von den Bewohnern Trufloforas, den Untertanen des Königs Grellius. Sie huldigten zahlreichen Vorurteilen und dem primitiven Glauben, und ihre Religion, die drakonistische Pneumatologie hieß, besagte, daß die Drachen als Strafe für Sünden erschienen und Seelen besäßen, die jedoch unsauber seien. Als er merkte, daß es zumindest unvernünftig wäre, sich mit den königlichen Drakologen auf Diskussionen einzulassen, denn die von ihnen benutzten Methoden beschränkten sich auf eine Beweihräucherung der heimgesuchten Stellen und auf die Verteilung von Reliquien, zog Klapaucius vor, das Terrain selbst zu sondieren. Den Planeten bewohnte augenblicklich nur ein Monstrum, aber eins von der scheußlichen Gattung der Jechiden. Er bot dem König seine Dienste an; aber der antwortete ihm nicht gleich frei heraus, da er sich ganz offensichtlich unter dem Einfluß der unsinnigen Doktrin befand, die die Ursachen der Entstehung von Drachen in eine metazeitliche Welt übertrug. Beim Studium der lokalen Zeitungen erfuhr Klapaucius, daß die Jechide, die auf dem Planeten grassiere, von den einen als Einzelexemplar, von den anderen hingegen als Pluralität aufgefaßt werde und imstande sei, sich an vielen Stellen zugleich einzufinden. Das gab ihm zu denken, obwohl er sich überhaupt nicht wunderte, die Lokalisierung der abscheulichen Wesen unterliegt sogenannten Drakoanomalien, und manche Exemplare, zumal die Zerstreuten, pflegten im Raum „verwischt“ zu sein, was ein gewöhnlicher Effekt einer isospinalen Verstärkung des Quantenmoments ist. Wie eine Hand, die aus dem Wasser taucht, über der Wasseroberfläche fünf scheinbar miteinander gänzlich unzusammenhängende Finger zeigt und auf diese Weise aus dem konfigurativen Raum in den realen übergeht, wirken die Drachen pluralistisch, obwohl sie nur singulär sind. Gegen Ende einer der Audienzen fragte Klapaucius den König, ob nicht vielleicht schon Trurl auf seinem Planeten gewesen sei; und er beschrieb genau seinen Freund. Wie groß war seine Überraschung, als er vernahm, daß sein Kollege tatsächlich unlängst im Grelliusschen Reiche geweilt habe und es sogar übernommen hatte, die Jechide zu beseitigen, er habe eine Anzahlung genommen und sich in die nahe gelegenen Berge begeben, wo das Drachenweib besonders häufig beobachtet worden war; er sei darauf am nächsten Tage zurückgekehrt und habe das Gesamthonorar verlangt, und zum Beweis seines Triumphes habe er vierundzwanzig Drachenzähne gezeigt. Es kam jedoch zu gewissen Mißverständnissen, und die Auszahlung wurde bis zur Aufhellung der Angelegenheit gestoppt. Trurl soll darauf sehr erregt gewesen sein und sich in einer Weise mehrfach und laut über den herrschenden Monarchen ausgedrückt haben, die unverkennbar einer Majestätsbeleidigung geglichen habe, daraufhin habe er sich in unbekannter Richtung entfernt. Von diesem Tage an sei es um ihn still worden, die Jechide jedoch sei zurückgekehrt, als wäre nichts geschehen, und verwüstete noch ärger Dörfer und Burgen zu allgemeinem Kummer.

Die Geschichte erschien Klapaucius recht verworren, aber es fiel schwer, die Worte, die aus dem königlichen Munde kamen, anzuzweifeln, so nahm er denn einen Rucksack voll der stärksten drakoziden Mittel und ging einsam in die Berge, deren verschneiter Kamm sich majestätisch über dem östlichen Horizont erhob.

Recht bald entdeckte er auf den Felsen die ersten Spuren des Monstrums, und selbst wenn er sie nicht bemerkt hätte, hätte er den charakteristischen stickigen Geruch der Schwefelausdünstungen wahrgenommen. Unverdrossen ging er weiter, jeden Augenblick bereit, zur Waffe zu greifen, die er sich über die Schulter gehängt hatte, und schaute ununterbrochen auf den Drachenzähler mit dem Pfeil. Eine Zeitlang stand er auf Null, dann begann er beunruhigend zu oszillieren, bis er allmählich, einen unsichtbaren Widerstand überwindend, in die Nähe der Eins rückte. Jetzt konnte Klapaucius nicht mehr daran zweifeln, daß sich die Jechide in der Nähe befand. Ihn wunderte es maßlos, denn es wollte ihm nicht in den Kopf, daß sein erprobter Kumpan und ein berühmter Theoretiker, wie Trurl es war, in seinen Berechnungen einen Bock schießen und somit das Drachenweib nicht vernichten konnte. Es fiel auch schwer, daran zu glauben, daß er, ohne sein Ziel erreicht zu haben, an den königlichen Hof zurückgekehrt sei und Belohnung für etwas verlangt habe, was er nicht gemacht hatte.

Bald begegnete er unterwegs einer Kolonne Einheimischer, die ganz augenscheinlich maßlos verängstigt waren, denn sie warfen besorgt Blicke nach allen Seiten und waren bemüht, dicht beieinander zu bleiben. Gebeugt unter der Last, die sie auf Rücken und auf dem Kopf trugen, stapften sie im Gänsemarsch den Hang hinauf, Klapaucius grüßte sie, hielt den Zug an und fragte den Wegführer, was sie denn täten.

„O Herr!“ erwiderte ihm jener, ein königlicher Beamter niederen Ranges. „Wir bringen dem Drachen den Tribut.“

„Den Tribut? Ach so! Und was ist das für ein Tribut?“

„Er besteht aus dem, was der Drachen verlangt: aus Gold, Edelsteinen, ausländischen Parfüms und einer Menge anderer Sachen, die von höchstem Wert sind.“

Hier kannte Klapaucius' Verblüffung keine Grenzen mehr, denn Drachen fordern nie einen solchen Tribut, und ganz bestimmt nicht aromatische Düfte, die gar nicht imstande wären, ihren natürlichen Gestank zu überwinden, auch kein Bargeld, mit dem sie überhaupt nichts anzufangen wüßten.

„Und Jungfrauen verlangt der Drachen nicht, mein Bester?“ fragte er noch.

„Nein, Herr. Früher tat er das. Vergangenes Jahr habe ich sie ihm mandel— und dutzendweise, je nachdem, wie sein Appetit war, zugeführt. Seit der Zeit jedoch, als bei uns ein Fremder erschien, das heißt ein Ausländer, Herr, und mutterseelenallein mit Schachteln und Apparaten durch die Berge schweifte…“

Hier unterbrach der brave Mann seine Rede zögernd und betrachtete besorgt Gerätschaften und Waffen des Klapaucius, hauptsächlich aber das große Zifferblatt des Drachenzählers, der die ganze Zeit leise getickt hatte und seinen roten Pfeil auf dem weißen Blatt zucken ließ.

„Bei ihm war alles genauso wie bei Hochwohlgeboren!“ sagte er mit einer etwas zitternden Stimme. „Die gleiche Ausrüstung und überhaupt…“

„Ein Gelegenheitskauf auf dem Markt“, sagte Klapaucius, in dem Bemühen, sein Mißtrauen einzuschläfern. „Aber sagt mir, meine Teuersten, wißt ihr vielleicht, was mit diesem Fremdling geschehen ist?“

„Was aus dem da geworden ist? Nun, wissen tun wir es nicht mehr, Herr. Das heißt, es war so: Einmal, es wird wohl zwei Wochen her sein — stimmt, was, Gevatter Barbaron? Zwei Wochen, mehr nicht?“

„Freilich, Ihr sagt die Wahrheit, die reine Wahrheit, warum nicht? Zwei Wochen werden es sein oder auch vier. Vielleicht auch sechs.“

„Also! Er kam, betrat unser Haus, stärkte sich, ich will nichts sagen: Er hat gezahlt, wie es sich gehört, hat sich bedankt, es läßt sich wirklich nichts sagen, o nein, er hat sich umgeschaut, hat die Dielen beklopft, hat sich nach den Preisen vom vergangenen Jahr erkundigt, hat die Apparate auseinandergenommen, hat von den Zifferblättern etwas emsig abgeschrieben, daß ihm die Hände dabei flatterten, aber sorgfältig, eins nach dem anderen, in ein kleines rotes Buch, das er im Latz hatte, dann nahm er das — wie heißt es doch, Gevatter? Das Temper… ich krieg's nicht…“

„Das Thermometer, Schulze!“

„Freilich, na klar! Er nahm also das Thermometer und meinte, das wäre gegen die Drachen, und er steckte es hierhin und dorthin, schrieb wieder in seinem Heft, steckte die Apparate in den Sack, hievte den Sack auf den Rücken, verabschiedete sich und ging. Weiter wurde er nicht mehr gesehen. Doch da war noch etwas. In der gleichen Nacht gab es einen Knall und eine Explosion, jedoch in weiter Ferne. Als wäre es hinter dem Mydragower Berg gewesen — das heißt neben der Spitze, mit dem Sperber obenauf, dieser nämlich ist dem Grellius seiner, er heißt so nach unserem wohlgeborenen König, der andere, der von der anderen Seite, der so mehr angelehnt ist, wie eine Hinterbacke an die andere, heißt Pakusta, weil einmal ein…“

„Berge sind nicht so wichtig“, sagte Klapaucius, „Ihr also, es hätte in der Nacht einen Knall gegeben. Was war dann?“

„Dann — gar nichts. Als es knallte, zitterte das Haus, daß ich von der Pritsche herunterfiel. Aber ich bin es gewohnt, wenn sich die Drachin nämlich manchmal den Hintern am Haus reibt, dann wird man noch ganz anders durchgeschüttelt; und was der Bruder von Barbaron ist, den hat es in den Wäschekessel geworfen, weil die gerade wuschen, als die Drachin Lust bekam, sich an der Ecke zu kratzen…“

„Doch zur Sache!“ rief Klapaucius. „Es gab einen Knall — Ihr seid auf den Fußboden gefallen — und was weiter?“

„Ich sage doch — gar nichts. Hätte es etwas gegeben, dann könnte man was sagen, aber wenn nichts war, dann gibt es nichts, worüber es sich lohnte, den Mund fußlig zu reden. Nicht Gevatter Barbaron?“

„Klar, so ist die Sache.“

Klapaucius entfernte sich, hierauf zog die Trägerkolonne weiter zum Berg, gebeugt unter der Last, denn der Drachentribut war schwer. Klapaucius vermutete, daß sie ihn in der vom Drachen bestimmten Höhle niederlegen würden, doch er wollte nicht nach den Einzelheiten fragen, denn er schwitzte am ganzen Leibe von diesem Gespräch mit dem Schultheiß und seinem Gevatter. Übrigens hatte er zuvor noch gehört, wie einer der Einheimischen zum anderen sagte, daß der Drache „einen solchen Ort gewählt habe, wo er es nicht weit und auch wir es nicht weit haben — “.

Er schritt fürbaß auf dem Weg dahin, den er nach den Messungen des Drakoindikators wählte, welches Gerät er sich um den Hals gehängt hatte, auch den Zähler vergaß er nicht, doch der ununterbrochen Null und acht Zehntel Drachen an.

„Das muß ein sehr diskreter Drache sein, weiß der Teufel!“ dachte Klapaucius, während er so marschierte, und alle Augenblicke blieb er stehen, denn die Strahlen der Sonne brannten entsetzlich, und in der Luft war eine Hitze, daß es über den erhitzten Felsen nur so zitterte, ringsum war nicht ein ein einziges Blättchen Vegetation zu sehen, nur rissiger trockener Schlamm in den Felsspalten und glühende Geröllhaufen, die sich bis zu den majestätischen Gipfeln erstreckten.

Eine Stunde verging, die Sonne neigte sich bereits auf die andere Seite des Himmels, und er schritt noch immer über Kiesfelder, über Felsspalten, bis er sich schließlich im Land der engen Hohlwege und Spalten voller Finsternis befand. Der rote Pfeil kroch bis zur Neun unter der Eins und erstarrte zitternd.

Klapaucius legte den Rucksack auf den Felsen und war gerade dabei, den Entdrakonisator herauszunehmen, als der Zeiger lebhaft zu schwanken begann. Er packte also den Wahrscheinlichkeitsreduktor und musterte scharfen Auges die Umgebung. Er befand sich auf einem Felsrücken und konnte in die Tiefe des Hohlwegs hineinschauen, in dem sich etwas bewegte.

„Potzblitz, da ist sie!“ durchfuhr es ihn. Die Jechide war nämlich weiblichen Geschlechts.

Ihm kam der Gedanke, daß sie sich vielleicht aus diesem Grunde keine Jungfrauen wünsche. Früher jedoch hatte sie sie gern genommen. „Merkwürdig, sehr merkwürdig, aber jetzt ist Treffgenauigkeit die Hauptsache, dann wird alles noch gut!“ überlegte er und langte für alle Fälle noch einmal in den Rucksack nach dem Drakodestruktor, dessen Kolben die Drachen ins Nichtsein befördert hatten. Er beugte sich hinter einem Felsen vor. Auf dem Grunde des engen Talkessels kroch eine Drachin riesigen Ausmaßes in einem trockenen Flußbett, dunkelgrau, mit eingefallenen Flanken, als hätte sie großen Hunger gelitten. Chaotische Gedanken jagten einander in Klapaucius Hirn. Konnte er sie annihilieren, indem er das Vorzeichen der Drachenmatrix von positiv in negativ änderte, wodurch die statistische Wahrscheinlichkeit des Nichtdrachens Oberhand über den Drachen bekommen hätte? Doch wie riskant war es, zog man in Betracht, daß schon eine winzige Oszillation eine Änderung verursachen konnte, deren Folgen katastrophal wären, denn schon manchem war in solcher Bestrahlung an Stelle eines Nichtdrachens ein Nichtlachen der Lohn, und wie soll auch von einem einzigen oder auch von zwei Buchstaben soviel abhängen! Übrigens würde eine totale Deprobabilisierung eine Untersuchung der Natur der Jechide unmöglich machen. So zögerte er und sah in Gedanken schon das reizvolle Bild der gewaltigen Drachenhaut in seinem Arbeitszimmer, zwischen dem Fenster und dem Bücherschrank; doch es war jetzt nicht die Zeit, sich Träumereien hinzugeben, obwohl sich ihm nun eine weitere Möglichkeit aufdrängte, als er niederkniete: dieses Exemplar mit so eigenartigem Geschmack an einen Drachenzoo abzutreten! Er hatte sogar noch Zeit für den Gedanken, was für eine wissenschafte Arbeit er, gestützt auf ein gut erhaltenes Exemplar, nebenbei schreiben könnte, er nahm also die Flinte mit dem Reduktor aus der rechten Hand in die linke, packte mit der rechten die mit dem Antikopf geladene Donnerbüchse, zielte sorgfältig und drückte ab.

Es krachte mordsmäßig. Ein perlgraues Rauchwölkchen ringelte sich um den Lauf und um Klapaucius, so daß er das Ungeheuer für einen Moment aus den Augen verlor. Aber gleich verzog sich der Rauch wieder.

Die alten Mären berichten eine Unmenge unwahrer Dinge über die Drachen. So heißt es zum Beispiel darin, die Drachen besäßen sieben Köpfe. So ist es nie. Ein Drache kann nur einen Kopf haben, denn zwei würden sogleich zu heftigen Streitigkeiten und Zänkereien führen; deshalb auch sind die Vielköpfer, wie die Gelehrten sie nennen, infolge innerer Zwistigkeiten ausgestorben. Von Natur aus hartnäckig und stumpfsinnig, vertragen diese Monstren nicht den geringsten Widerspruch, also führen zwei Köpfe an einem Körper zum schnellen Tode, denn jeder verweigert, um dem anderen zuwiderzuhandeln, die Nahrungsaufnahme und hält böswilligerweise sogar den Atem an — mit sattsam bekanntem Erfolg. Ebendieses Phänomen hatte sich Euphorius Rührselig, der Erfinder der Antikopfbüchse, zunutze gemacht. Man schießt dem Drachen ein kleines handliches Elektronenköpfchen in den Leib, und es kommt im Nu zu Hader und Skandalen, und als Folge davon bleibt der Drache wie gelähmt, völlig erstarrt, einen Tag, eine Woche, manchmal einen Monat auf einer Stelle; es kommt vor, daß ihn die Erschöpfung erst nach einem Jahr bezwingt. In dieser Zeit kann man mit ihm anstellen, wozu es einem gerade gelüstet.

Jedoch der Drache, den Klapaucius angeschossen hatte, verhielt sich zumindest sonderbar. Er stellte sich zwar auf die Hinterbeine mit einem Gebrüll, von dem Steinlawinen über die Hänge rollten, er schlug auch mit dem Schwanz gegen die Felsen, bis der Geruch der entfachten Funken den ganzen Talkessel ausgefüllt hatte, dann kratzte er sich aber am Ohr, räusperte sich und ging weiter, als wäre nichts gewesen, er beschleunigte lediglich ein wenig seine Gangart, so daß er nun trabte. Klapaucius traute seinen Augen nicht, er jagte ihm über den Felsgrat nach und verkürzte sich so den Weg zum Ausgang des ausgetrockneten Flußbetts, denn nun schwebten ihm nicht nur eine kleine wissenschaftliche Arbeit vor oder ein, zwei Artikel im „Drachenalmanach“, sondern zumindest eine Monographie auf Kreidepapier mit einem Abbild des Drachen und dem des Autors!

An der Biegung kauerte er sich hinter dem Felsen nieder, legte den Unwahrscheinlichkeitswerfer an, zielte und betätigte die Depossibilitatoren. Der Kolben zitterte ihm in der Hand, die erwärmte Waffe umgab sich mit einem Schleier, den Drachen umringte ein Halo, wie den Mond, wenn sich schlechtes Wetter ankündigt, doch er löste sich nicht auf! Erneut machte Klapaucius den Drachen ganz und gar unwahrscheinlich; die Intensität der Impossibilität wuchs dermaßen an, daß ein vorbeifliegender Schmetterling mit dem Morsealphabet das zweite „Dschungelbuch“ zu senden begann, und inmitten der Felsumrisse tauchten Schatten von Wahrsagerinnen, Hexen und Wurzelweibchen auf, und das vernehmliche Echo galoppierender Hufe kündete an, daß irgendwo Zentauren hinter dem Drachen einherjagten, die die horrende Spannung des Werfers aus der Unmöglichkeit beschworen hatte. Der Drache jedoch tat, als wäre nichts geschehen, kauerte sich schwerfällig hin, gähnte und begann vergnügt die hängende Wamme mit den Hinterpranken zu kratzen.

Die glühende Waffe brannte bereits Klapaucius' Finger, der verzweifelt auf den Abzugshahn drückte, denn er hatte bisher noch nie derartiges erlebt — die kleineren Steine in der Nähe erhoben sich langsam in die Lüfte, der Staub aber, den der sich kratzende Drache unter seinem Hinterteil emporwühlte, ordnete sich, anstatt in völligem Chaos niederzugehen, in der Luft in die gut lesbare Aufschrift Doktor, stehe ihnen zu Diensten. Es war dunkel geworden, denn aus dem Tag wurde Nacht, und ein paar Kalkfelsen brachen zu einem Spaziergang auf, unterhielten sich leise über dies und jenes, mit einem Wort, es geschahen wahre Wunder, das scheußliche Vieh jedoch, das kaum dreißig Schritt von Klapaucius entfernt ruhte, dachte nicht im geringsten daran, zu verschwinden.

Klapaucius ließ den Werfer fahren und griff in den Brustlatz, holte eine Antidrachengranate hervor und schleuderte sie, seine Seele der Matrix allspinoraler Umwandlungen anvertrauend, nach vorn. Es donnerte, mit den Felsbrocken flog auch der Schwanz des Drachen in die Luft, welch letzterer mit unverfälscht menschlicher Stimme „Hilfe“ rief und davonstiebte, geradewegs auf Klapaucius zu. Dieser sprang, als er den unausweichlichen Tod nahen sah, aus seinem Versteck hervor und hielt die kurze Antimateriearmbrust fest klammert. Er holte aus, doch erneut ließ sich ein Schreien vernehmen: „Hör auf! Hör auf! Schlag mich nicht tot!“

„Was, ein redender Drache?“ überlegte Klapaucius.

„Das kann nicht sein, ich muß wahnsinnig geworden sein…“ Jedoch er fragte: „Wer spricht? Bist du's, Drache?“

„Was für ein Drache? Ich bin's!“

Und tatsächlich tauchte Trurl aus der zerfließenden Staubwolke empor; er faßte den Hals des Drachen an, hantierte daran, und der Riese fiel sacht auf die Knie und erstarb mit lang anhaltendem Klirren.

„Was soll diese Maskerade? Was hat das zu bedeuten? Woher der Drache? Was hast du in ihm gemacht?“ Klapaucius' Fragen prasselten auf Trurl nieder, der seine vollgestaubte Kleidung säuberte und sich seines Freundes zu erwehren versuchte.

„Aber woher, wie denn, wo, was. Laß mich doch zu Wort kommen! Ich habe einen Drachen vernichtet, der König verweigerte mir aber den Lohn dafür…“

„Weshalb?“

„Sicherlich aus Geiz, ich weiß es nicht. Er wälzte das auf die Bürokratie ab, es müsse erst das Gutachtenprotokoll einer Kommission vorliegen, mit Messungen und mit einer Sektion, der Thronbetriebsrat müsse zusammentreten, dies und das, der Hauptschatzmeister habe geäußert, man könne sich nicht einigen, wie die Auszahlung vorzunehmen sei, denn sie falle weder in den Bereich des Lohnfonds noch in den des Allgemeinfonds, mit einem Wort, obwohl ich ihn bat und drängte, obwohl ich zur Kasse und zum König ging, beim Thronrat antichambrierte, es wollte mich niemand anhören; und als sie mir schließlich empfahlen, meinen Lebenslauf mit Paßbildern einzureichen — da ging ich eben, doch der Drache befand bereits in einem nicht mehr umkehrbaren Zustand. Ich zog ihm die Haut ab, schnitt einige Armvoll Haselnußruten, dann fand sich noch ein alter Telegraphenmast, und mehr war nicht nötig, ich stopfte ihn aus, na, und dann — dann spielte ich eben etwas vor…“

„Unmöglich! Solltest du zu einer so schändlichen Methode Zuflucht genommen haben? Du? Warum, um Himmels willen, wenn sie dich nicht bezahlten? Ich begreife überhaupt nichts mehr.“

„Ach, dumm bist du!“ Trurl zuckte herablassend mit den Schultern. „Sie zollen mir ja unablässig Tribut! Ich habe schon mehr erhalten, als ich verlangen durfte.“

„So ist das!!!“ Eine Erleuchtung kam über Klapaucius. Aber gleich fügte er hinzu: „Es ist ungehörig, durch Zwang…“

„Wieso ungehörig? Habe ich denn etwas Böses getan? Ich bin in den Bergen herumspaziert, und abends habe ich etwas geheult. Ich war schrecklich echauffiert…“, fügte er hinzu und setzte sich neben Klapaucius.

„Wodurch eigentlich? Vom Heulen?“

„Nein, wieso das? Kannst du wirklich nicht eins und eins zusammenzählen? Was denn für Heulen? Jede Nacht bin ich gezwungen, Säcke mit Gold aus der verabredeten Höhle nach oben zu schaffen, schau nur dorthin!“ Er deutete mit der Hand auf einen entfernten Bergrücken. „Dort habe ich mir einen kleinen Startplatz vorbereitet. Wenn du solche Zwanzigpudlasten von früh bis spät schleppen müßtest, würdest du schon sehen! Dieser Drache ist ja gar kein Drache, allein die Haut wiegt an die drei Tonnen, ich muß sie schleppen, muß brüllen, muß stampfen — das am Tag, und nachts diese Plackerei. Ich freue mich, daß du gekommen bist. Ich hatte es wirklich schon satt…“

„Aber warum eigentlich ist dieser Drache — das heißt diese scheußliche Larve — nicht verschwunden, als ich die Wahrscheinlichkeit bis auf Wunder herabminderte?“ wollte Klapaucius wissen.

Trurl räusperte sich, als wenn er verwirrt wäre.

„Das ist meiner Umsicht zu verdanken“, erläuterte er. „Schließlich hätte hier irgend so ein dummer Jäger auftauchen können, meinetwegen der Basilius, also habe ich unter der Haut antiprobabilistische Schirme angebracht. Und jetzt komm, da sind noch ein paar Säcke Platin übriggeblieben — es ist das schwerste von allem, ich wollte es nicht allein tragen. Es trifft sich wunderbar, du wirst mir helfen…“


Die Falle des Gargancjan

Als der Kosmos noch nicht so reguliert wie heute war und die Sterne ordentlich aufgestellt standen, so daß man sie leicht zählen konnte, von links nach rechts oder von oben nach unten, wobei die größeren und blaueren besonders gruppiert, die kleineren und gelblich schimmernden als Körper zweiter Kategorie in die Winkel und Ecken gestopft waren und man noch keine Spur von Staub, Schutt oder anderem Nebelfleckenschmutz fand, herrschte in jenen guten alten Zeiten die Sitte, daß Konstrukteure, die ein Diplom der Perpetualen Omnipotenz mit Auszeichnung besaßen, zuweilen auf Reisen gingen, um fernen Stämmen mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. So geschah es denn, daß sich Trurl und Klapaucius, die die Sterne so zu schaffen oder zu löschen verstanden, wie wenn jemand Nüsse knackt, im Einklang mit obiger Tradition auf Reisen begaben. Als die Größe des zurückgelegten Abgrunds in ihnen bereits die letzte Erinnerung an den heimatlichen Himmel verwischt hatte, erblickten sie vor sich einen Planeten, der weder zu klein noch zu groß, sondern gerade richtig war und nur einen Kontinent besaß. Durch dessen Mitte verlief eine rote Linie, und alles, was sich auf der einen Seite befand, war gelb, und auf der anderen Seite rosa. Sie begriffen also, daß sie zwei benachbarte Staaten vor sich hatten, und beschlossen, sich vor der Landung zu beraten.

„Da es hier zwei Staaten gibt“, sagte Trurl, „wird es nur recht sein, wenn du dich in den einen begibst und ich in den anden ziehe. Dann ist keiner geschädigt.“

„In Ordnung“, erwiderte Klapaucius, „aber was ist, wenn sie kriegerische Mittel von uns verlangen? Das kommt vor.“

„In der Tat, sie können Waffen, ja selbst Wunderwaffen verlangen“, pflichtete Trurl ihm bei. „Legen wir fest, daß wir es entschieden ablehnen.“

„Und wenn sie gewaltsam darauf dringen?“ entgegenete Klapaucius. „Auch das kommt vor.“

„Wir wollen es prüfen“, sagte Trurl und schaltete sein Radio ein, aus dem sogleich muntere Marschmusik drang.

„Ich habe eine Idee“, sagte Klapaucius und schaltete das Radio aus. „Wir können das Rezept des Garcancjan verwenden. Was meinst du?“

„Ach, das Rezept des Gargacjan!“ rief Trurl. „Ich habe noch nie gehört, daß es jemand angewandt hätte. Aber machen wir den Anfang. Warum nicht?“

„Jeder von uns ist bereit, es anzuwenden“, erläuterte Klapaucius, „aber wir müssen es unbedingt beide tun, sonst wird alles schlecht enden.“

„Ach, eine Kleinigkeit“, meinte Trurl. Er holte eine goldene Schachtel aus der Tasche und öffnete sie. Darin lagen zwei weiße Kügelchen auf Samt.

„Nimm die eine, die andere bleibt bei mir“, sagte er. „Jeden Abend siehst du dir dein Kügelchen an. Wird es rosa, so bedeutet es, daß ich nach Vorschrift gehandelt habe. Du tust dann das gleiche.“

„Abgemacht“, sagte Klapaucius und versteckte das Kügelchen. Sie landeten darauf, umarmten einander und schieden in entgegengesetzter Richtung.

Der Staat, in den Trurl gelangt, wurde von König Unheuer regiert. Der war ein Militarist von alters her und dabei ein wahrhaft kosmischer Geizhals. Um das Staatssäckel zu entlasten, schaffte er alle Strafen mit Ausnahme der höchsten ab. Seine Lieblingsbeschäftigung war die Liquidierung überflüssiger Ämter, und seitdem er das Amt des Henkers abgeschafft hatte, mußte sich jeder Verurteilte selbst enthaupten oder, wenn ihm die große königliche Gnade zuteil wurde, mit Hilfe der nächsten Verwandten. Von den Künsten unterstützte er nur die, die keine Ausgaben erforderten, so zum Beispiel Chorrezitationen, das Schauspiel und die militärische Gymnastik. Überhaupt schätzte er die Kriegskunst über alle Maßen, da ein gewonnener Krieg beträchtliche Einnahmen erbringt; andererseits kann man sich aber für den Krieg nur im Frieden ordentlich vorbereiten, und so unterstützte der König ihn, aber mit Maßen. Unheuers größte Reform war die Verstaatlichung des Hochverrats. Das Nachbarland schickte ihm Spione; der Monarch schuf also das Amt des Staatsverräters, der durch Vermittlung untergeordneter Beamter für reichliches Entgelt Staatsgeheimnisse an die feindlichen Agenten weitergab; die Agenten kauften lieber veraltete, denn die waren billiger, und sie mußten sich für ihre Ausgaben vor dem eigenen Finanzwesen ausweisen.

Unheuers Untertanen standen früh auf, kleideten sich bescheiden und gingen spät zur Ruh, denn sie arbeiteten viel. Sie fertigten Körbe für Schanzen an und Faschinen, aber auch Waffen und Denunziationen. Damit der Staat nicht durch das Übermaß dieser letzteren auseinanderfiel, denn zu Zeiten des Hundertäugigen Sehrlimus vor mehreren hundert Jahren war eine solche Krise eingetreten, hatte der, welcher zu viele Denunziationen machte, eine besondere Luxussteuer zu zahlen. So hielten sie sich auf einem vernünftigen Stand. Nachdem Trurl an den Hof Unheuers vorgedrungen war, trug er ihm seine Dienste an, und der König, wie nicht zu schwer zu erraten war, verlangte von ihm mächtige Kriegswaffen. Trurl ersuchte um drei Tage Bedenkzeit, und als er in das für ihn bestimmte, bescheidene Quartier gelangte, sah er sich das Kügelchen in der goldenen Schachtel an. Es war weiß, als er es betrachtete, begann es sich langsam rot zu verfärben. „Sieh an“, sagte er sich, „es ist an der Zeit, Gargancjan zu befolgen!“ Und er setzte sich sogleich an seine geheimen Notizen.

Klapaucius hielt sich unterdessen in dem anderen Staat auf, in dem der mächtige König Mägerle herrschte. Dort sah alles anders aus als in der Unheurei. Auch dieser Monarch lechzte nach Feldzügen, auch er gab Geld für Rüstungen aus, doch tat er es in aufgeklärter Weise, denn er war ein Herrscher von maßloser Freigebigkeit, und seine Kunstempfindlichkeit war ohnegleichen. Jener König liebte Uniformen und goldene Schnüre, Borten und Quasten, Achselbänder, Portieren mit Klingeln, Panzerschiffe und Epauletten. Er war wirklich sehr empfindlich: Jedesmal, wenn er ein neues Panzerschiff vom Stapel laufen ließ, zitterte er am ganzen Leibe. Freigebig warf er mit Mitteln für die Schlachtenmalerei um sich, wobei er aus patriotischen Gründen nach Anzahl der erlegten Feinde honorierte, daher türmten sich auf den Panoramen, von den es im Königreich nur so wimmelte, die Berge der feindlichen Leichen bis zum Himmel. Im Alltag paarte er den Absolutismus mit Aufklärung und Strenge mit Großmut. An jedem Jahrestag seiner Thronbesteigung führte er Reformen ein. Einmal befahl er alle Guillotinen mit Maiengrün zu schmücken, ein andermal — sie zu schmieren, damit sie nicht quietschten, dann wieder, die Henkerschwerter zu vergolden, ohne zu vergessen, sie aus humanitären Gründen zu schärfen. Er hatte eine freigebige Natur, doch schätzte er Verschwendung nicht, daher ließ er durch einen besonderen Erlaß alle Pfähle, Pflöcke, Schrauben, Klubs und Fesseln normen. Die Exekutionen der Unorthodoxen, die übrigens selten waren, wurden mit Pomp und viel Aufwand begangen, in Reih und Glied, mit seelischer Tröstung, salbungsvoll, inmitten marschierender Karrees mit Borten und Pompons. Dieser aufgeklärte Monarch hatte auch eine Theorie vom allgemeinen Glück. Es ist ja bekannt, daß der Mensch nicht deshalb lacht, weil er lustig ist, sondern eben lustig ist, weil er lacht. Wenn alle sagen, es sei herrlich, bessert sich gleich die Stimmung. Mägerles Untertanen waren also verpflichtet, natürlich zum eigenen Nutzen und Frommen, laut zu wiederholen, daß sie sich geradezu außerordentlich wohl fühlten, und die alte unklare Begrüßungsformel „Guten Tag“ ließ der König in die vorteilhaftere „Wiegut!“ umändern, wobei Kindern bis zum vierzehnten Lebensjahr gestattet war, „HU-ha“ zu sagen, und Greisen „Gutwie!“

Mägerle freute sich, als er sah, wie der Geist im Volke gerann, wenn er durch die Straßen mit einer Karosse in Form eines Panzerschiffes fuhr, er sah die „Vivat!“ rufenden Mengen und grüßte huldvoll mit Gesten der Monarchenhand, sie indes jubelten um die Wette „Hu — ha!“, „Gutwie!“ und „Zauberhaft!“. Er war übrigens von demokratischer Veranlagung. Er liebte es maßlos, sich mit alten Veteranen in kurze martialische Gespräche einzulassen, die Brot aus so manchem Ofen gegessen hatten, er lechzte nach kriegerischen Erzählungen, die in Biwaks zum besten gegeben wurden, und es kam vor, daß er, wenn er einen fremden Würdenträger in Audienz empfing, sich unvermittelt mit dem Streitkolben aufs Knie schlug und rief: „Der Sieg ist unser!“ oder: „Man vernagele mir dieses Panzerschiff!“ oder: „Daß mich die Kugeln treffen!“ Nichts vergötterte er nämlich mehr, schätzte nichts so sehr wie Stärke, Mut und Selbständigkeit, Piroggen in Branntwein mit Schießpulver, Zwieback und Munitionskisten sowie Kartätschen. Wenn er also traurig war, ließ er Regimenter an sich vorbeidefilieren, die sangen: „Die gewindegeschnittene Armee“, „Zum alten Eisen werfen wir des Lebens Schmelz“, „Es hallt die Mutter, morgen ist alles in Butter“ oder auch das alte Kronlied „Pack ich den Meißel mit Verschluß, ich auf Bajonette stürzen muß“. Und er ordnete an, daß bei seinem Tode die alte Garde an seinem Grab sein Lieblingslied singen sollte: „Alter Robot, hast zu rosten“.

Klapaucius gelangte nicht auf Anhieb an den Hof des großen Monarchen. In der ersten Ortschaft, in die er kam, klopfte er an verschiedene Türen, aber niemand machte ihm auf. Schließlich erblickte er auf einer gänzlich unbelebten Straße ein kleines Kind, das an ihn herantrat und ihn mit einem dünnen Stimmchen fragte: „Wollen Sie kaufen? Ich verkaufe billig.“

„Vielleicht kaufe ich, aber was?“ fragte Klapaucius verwundert.

„Ein kleines Staatsgeheimnis“, erwiderte das Kind und zeigte unter dem Hemdsaum einen schmalen Streifen vom Mobilmachungsplan. Klapaucius wunderte sich noch mehr und sagte: „Nein, mein Kindchen, das brauche ich nicht. Weißt du nicht, wo hier der Schultheiß wohnt?“

„Und wossu brauchen Sie einen Ssultheiß?“ fragte das Kind lispelnd.

„Ich habe mit ihm zu reden.“

„Unter vier Augen?“

„Meinetwegen auch unter vier Augen.“

„Dann brauchen Sie einen Agenten? Mein Papa wäre dazu geeignet. Er ist verläßlich und billig.“

„Zeig mir mal deinen Papa“, sagte Klapaucius, als er sah, daß er anders von diesem Gespräch nicht loskommen würde. Das Kindchen führte ihn in eins der Häuser; drinnen, bei brennender Lampe, obwohl es hellichter Tag war, saß die Familie — der greise Opa auf dem Schaukelstuhl, die Großmutter, die einen Strumpf strickte, und ihre zahlreiche reife Nachkommenschaft; und jeder war mit seiner eigenen Arbeit beschäftigt, wie das zu Hause üblich ist. Als sie des Klapaucius ansichtigt wurden, erhoben sie sich und stürzten sich auf ihn; die Strickdrähte erwiesen sich als kleine Fesseln, die Lampe als ein Mikrophon und die Großmutter als der Polizeivorsteher am Orte.

„Offenbar ein Mißverständnis“, dachte Klapaucius, als man ihn nach vorheriger Mißhandlung in die Zelle warf. Geduldig wartete er die ganze Nacht, denn er konnte ja sowieso nichts anderes tun. Das Morgengrauen versilberte die Spinnweben an den Steinwänden und die verrosteten Überreste der einstigen Gefangenen; nach einiger Zeit führte man ihn zum Verhör. Es stellte sich heraus, daß sowohl die Siedlung wie auch die Häuser und das Kind vorgetäuscht waren; auf diese Weise fing man linkerhand feindliche Agenten. Ein Gerichtsprozeß drohte Klapaucius nicht, das Verfahren war nämlich kurz. Für den Versuch einer Kontaktaufnahme mit dem verräterischen Vater stand das Fallbeil dritter Klasse, denn die örtliche Verwaltung hatte in jenem Rechnungsjahr bereits den Fonds für den Ankauf verbraucht, Klapaucius aber wollte seinerseits trotz wiederholter Überredungsversuche kein Staatsgeheimnis erwerben; zusätzlich belastete ihn der Mangel eines ernsthaften Barbetrages. Er blieb stets bei seinem Standpunkt; der ihn verhörende Offizier schenkte jedoch seinen Worten keinen Glauben, übrigens läge, selbst wenn er es gewollt hätte, die Freilassung des Häftlings nicht in seiner Kompetenz. Die Angelegenheit wurde immerhin an eine höhere Instanz verwiesen, und in der Zwischenzeit unterwarf man Klapaucius Folterungen, mehr aus Diensteifer, denn aus wirklicher Notwendigkeit. Nach einer Woche nahm seine Angelegenheit eine günstige Wendung: der Geläuterte wurde in die Hauptstadt geschickt, wo er über die Regeln der höfischen Etikette in Kenntnis gesetzt und sodann der Ehre einer persönlichen Audienz beim König teilhaftig wurde. Er erhielt sogar eine kleine Trompete, weil nämlich jeder Bürger seine Ankunft und seinen Abgang an behördlicher Stelle durch Blasen auf der Trompete verkündete, und der allgemeine Diensteifer war so groß, daß im ganzen Staat der Sonnenaufgang ohne Reveille nichts galt.

Mägerle verlangte tatsächlich von ihm neue Waffen: Klapaucius versprach, dem Monarchen diesen Wunsch zu erfüllen; seine neue Idee, so versicherte er, bedeute eine Umwälzung in der Kriegführung. Welche Armee — fragte er — sei denn unbesiegbar? Eine, die bessere Befehlshaber und diszipliniertere Soldaten habe. Der Kommandant befehlige und der Soldat gehorche; der eine müsse daher klug sein, der andere gehorsam. Die Klugheit des Verstandes jedoch, selbst der eines militärischen, seien natürliche Grenzen gesetzt. Überdies könne ein genialer Befehlshaber auf seinesgleichen stoßen. Er könne auch auf dem Felde der Ehre fallen und seine Abteilung verwaist zurücklassen, wie er auch etwas Schlimmeres anrichten könne, indem er, gewissermaßen von Berufs wegen zum Denken angehalten, sein Augenmerk auf die Macht richte. Sei denn ein Haufe im Kampf verrosteter Stabsoffiziere nicht gefährlich, denen das taktische Denken dermaßen die Schläfen verkleistert habe, daß es sie nach dem Thron gelüste? Hätten denn nicht schon zahlreiche Königreiche darunter gelitten? Wie daraus zu ersehen sei, seien die Kommandeure nur ein notwendiges Übel; es komme darauf an, dieses Übel zu liquidieren. Ferner — die Disziplin der Armee beruhe darauf, daß diese genau die Befehle ausführe. Ideal sei eine, die aus tausend Gedanken und Herzen ein Herz, einen Gedanken und einen Willen mache. Diesem Zweck diene die Militärdisziplin, all der Drill, die Manöver und die Übungen. Als ein unerreichbares Ziel scheine eine solche Armee, die buchstäblich wie ein Mann handelt und selbst Schöpfer wie Ausführender der strategischen Pläne ist. Wer sei also die Verkörperung eines solchen Ideals? Nur das Individuum, man gehorche nämlich niemandem so bereitwillig wie sich selbst, und niemand führe die erteilten Befehle so eifrig aus wie der, der sie sich selbst gibt. Überdies könne ein einzelner Mann niemals auseinanderlaufen, sich selbst den Gehorsam versagen oder gegen sich selbst aufmucken. Es komme also darauf an, daß man diese Bereitwilligkeit zu gehorchen, diese Eigenliebe, wie sie im Individuum verkörpert sei, zur Eigenschaft tausendköpfiger Kolonnen mache. Wie dies zu bewerkstelligen sei? Hier nun begann Klapaucius dem gierig lauschenden König die Ideen Gargancjans zu erläutern, die einfach waren, wie alles, was genial ist.

Jedem Rekruten wird — so führte er aus — vorn ein Stecker und hinten eine Steckdose angeschraubt. Auf das Kommando „Anschließen!“ springen die Stecker in die Steckdosen, und dort, wo sich zuvor eine Bande Zivilisten befunden hatte, steht nun eine Abteilung vollkommenen Heeres. Wenn die jeweiligen Gemüter, die bislang von außerdienstlichen Dummheiten abgelenkt waren, in eine wortwörtliche Einheit militärischen Geistes zusammenfließen, ergebe sich nicht nur automatisch eine Disziplin, die sich darin äußert, daß die gesamte Armee stets ein und dasselbe tut, denn sie ist ein Geist in einer Million von Leibern, sondern es trete zugleich auch die Klugheit auf den Plan. Diese Klugheit aber stehe im direktem Verhältnis zur Kampfstärke. Der Zug besitzt die Psyche eines Unteroffiziers; die Kompanie ist so klug wie ein Hauptmann, das Bataillon wie ein Diplomoberst, und eine Division, selbst die der Reserve, ist soviel wert wie alle Strategen zusammengenommen. Auf diese Weise könne man zu Formationen gelangen, die von geradzu erschreckender Genialität seien. Die erteilten Befehle können sie unmöglich verweigern, denn wer höre nicht auf sich selbst? Durch diese Methode werde den Extravaganzen und Eigenmächtigkeiten der Individuen, der Abhängigkeit von den zufälligen Befähigungen der Befehlshaber, ihrer gegenseitigen Mißgunst, ihren Rivalitäten und Konflikten ein Ende gesetzt; die einmal verbundenen Truppenteile dürfe man nicht mehr trennen, denn das hätte nur Wirrwarr zur Folge. „Eine Armee ohne Führer ist sich selbst Führer — das ist meine Idee!“ beendete Klapaucius seine Rede, die einen großen Eindruck auf den König gemacht hatte.

„Geh er in sein Quartier“, sagte der Monarch schließlich, „ich werde mich unterdessen mit meinem Generalstab beraten…“

„Oh, tun Sie das nicht, Majestät!“ rief Klapaucius listig und täuschte große Verlegenheit vor. „Genau das hatte Kaiser Turbuleo getan und sein Stab verwarf den Plan um seine eigenen Stellungen nicht zu verlieren, woraufhin Turbuleos Nachbar, König Emalius, das Kaiserreich mit seiner organisierten Armee überfiel und es in Schutt und Asche legte, obwohl seine Truppen achtmal schwächer waren!“

Nach diesen Worten begab er sich in das für ihn bestimmte Appartment und sah sich das Kügelchen an, das rot wie eine Rübe war; hieraus folgerte er, daß Trurl beim König Unheuer im gleichen Sinne handelte. Bald auch befahl ihm der König, einen Zug Infanterie nach seinen Vorstellungen umzubilden; verband sich jene kleine Abteilung im Geiste, wurde eine Einheit und schrie: „Lauf und morde!“ Sie rollte den Hügel hinunter, fiel über drei Schwadronen königlicher Kürassiere her, die bis zu den Zähnen bewaffnet waren und von sechs Dozenten der Akademie des Generalstabs angeführt wurden, und rieb sie restlos auf. Das betrübte die Groß— und Feldmarschälle, die Generale und Admirale. Der König ließ sie sogleich pensionieren, und da er von der umwälzenden Neuerung vollends überzeugt war, befahl er Klapaucius, die ganze Armee umzuorganisieren.

In der Tat begannen die Büchsenmacher— und Elektrobetriebe Tag und Nacht waggonweise Stecker herzustellen, die in allen Kasernen vorschriftsmäßig eingeschraubt wurden. Klapaucius machte Inspektionsreisen von Garnison zu Garnison und erhielt eine Menge Orden vom König; Trurl, der in ähnlicher Weise in der Unheurei tätig war, mußte sich wegen der bekannten Sparsamkeit jenes Monarchen mit dem lebenslänglichen Titel des Großen Vaterlandsverräters begnügen. Beide Staaten bereiteten sich somit auf Kriegshandlungen vor. Im Eifer der Mobilmachung wurden sowohl konventionelle als auch nukleare Waffen vorbereitet. Von früh bis spät putzte man Kanonen und Atome, damit sie laut Vorschrift blitzten. Die Konstrukteure, die eigentlich nichts mehr zu tun hatten, gingen daran ihre Sachen heimlich zu packen, um sich zu gegebener Zeit an der verabredeten Stelle am Raumschiff zu treffen, das im Wald bereitstand.

Unterdessen geschahen verschiedene Wunder in den Kasernen, vor allem in denen, wo die Infanterie stationiert war. Die Kompanien brauchten nicht mehr gedrillt zu werden und brauchten nicht mehr abzuzählen, um ihre Kampfstärke zu ermitteln, ähnlich wie derjenige nicht das linke Bein mit dem rechten verwechselt, der beide hat, und nicht zu zählen braucht, um zu wissen, daß es ihn einmal gibt. Es war eine Freude zuzuschauen, wie solche neuen Abteilungen marschierten, wie sie „Links um“ und „Stillgestanden“ exerzierten; nach den Übungen jedoch begannen sich die Kompanien mit Redensarten zu bewerfen, so hallte es denn aus den offenen Fenstern der Kasernenbaracken um die Wette über den Begriff der köhärenten Wahrheit, über analytische und synthetische A-priori-Urteile oder über das Sein als solches, denn so weit war die kollektive Vernunft bereits gediehen. Man erarbeitete sich auch die philosophischen Grundlagen, bis schließlich ein Pionierbataillon zum absoluten Solipsismus gelangte und verkündete, nichts außer ihm existiere real. Da nun hieraus zu folgern war, daß es weder einen Monarchen noch einen Feind gebe, mußte dieses Bataillon in aller Stille auseinandergeschaltet und auf andere Abteilungen verteilt werden, die auf den Positionen des epistemologischen Realismus standen. Angeblich ging zu der gleichen Zeit in der Unheurei die Sechste Luftlandedivision von den Landeübungen zu mystischen Übungen über und versank derart in der Kontemplanon, daß sie fast in einem Bach ertrunken wäre; es ist nicht genau bekannt, wie sich das in Wirklichkeit zugetragen hat, jedenfalls wurde damals gerade der Krieg erklärt, und die eisenklirrenden Regimenter rückten von beiden Seiten langsam an die Staatsgrenze heran.

Das Gesetz des Meisters Gargancjan wirkte mit unerbittlicher Konsequenz. Als sich Formationen mit Formationen verbanden, wuchs proportional dazu auch die ästhetische Empfindlichkeit, die auf der Stufe der verstärkten Division ihr Maximum erreichte, deshalb auch kamen Kolonnen von dieser Stärke leicht im Verfolg des ersten besten Schmetterlings auf Abwege, und als das Sehrlimussche motorisierte Korps an die feindliche Festung, die im Sturm genommen werden mußte, heranrückte, erwies sich der nachts angefertigte Angriffsplan als ein glänzendes Porträt dieser Festung, zudem war er im abstraktionistischen Geiste gemalt, der den militärischen Traditionen gänzlich widersprach. Auf der Stufe der Artilleriekorps trat hauptsächlich die schwierigste philosophische Problematik zutage; zugleich ließen diese großen Einheiten aus Zerstreutheit, wie sie nun einmal genialen Personen eignet, unterwegs die Waffen und das schwere Kriegsgepäck liegen, oder sie vergaßen gänzlich, daß sie in den Krieg zogen. Was nun die ganzen Armeen betraf, so wurde ihr Geist von mannigfachen Komplexen beherrscht, und so mußte jeder einer besonderen motorisierten psychoanalytischen Brigade angeschlossen werden, die während des Marsches die entsprechenden Eingriffe vornahm.

Beide Armeen hatten mittlerweile unter stetem Gedröhn und Gerassel der Pauken die Ausgangsstellungen eingenommen. Sechs Infanteriesturmregimenter, die sich mit einer Haubitzenbrigade und einem Ersatzbataillon vereinigt hatten, dichteten, nachdem man ihnen einen Exekutionspeloton anschloß, das „Sonett von dem Geheimnis des Seins“, und das während des Nachtmarsches zu den Stellungen. Zu beiden Seiten entstand eine gewisse Verwirrung; das achtzigste Marlabardsche Korps rief, die Definition des Begriffs „Feind“ solle unbedingt präzisiert werden, da sie bisher von logischen Widersprüchen belastet und womöglich gar sinnlos zu sein scheine.

Die Fallschirmjägerabteilungen versuchten, die umliegenden Dörfer zu algorithmisieren, die Formationen stießen aufeinander, also schickten beide Könige die Flügeladjutanten und Sonderkuriere aus, damit sie Ordnung in die Reihen brachten. Aber kaum war einer herangesprengt und hatte mit seinem Pferd eine Volte gezogen und sich dem jeweiligen Korps geschlossen, um zu erfahren, woher diese Unordnung komme, gab er im Nu seinen Geist im Korpsgeist auf. So blieben die Könige ohne Adjutanten. Das Bewußtsein erwies sich als eine schreckliche Falle, in die man hineingeraten, unmöglich aber herauskommen kann. Vor den Augen Unheuers sprengte sein Vetter, der Großherzog Derboullion, um der Truppe Mut einzuflößen, zu den Linien, kaum aber hatte er sich zwischengeschaltet, hauchte er seinen Geist aus und war überhaupt nicht mehr vorhanden.

Als Mägerle sah, daß es schlecht stand, obwohl er nicht wußte, warum das so war, winkte er die zwölf Leibtrompeter heran. Auch Unheuer winkte, der auf dem Kommandeurshügel stand; die Bläser legten das Erz an die Lippen, und von beiden Seiten ertönten die Trompeten zum Angriff. Auf dieses langhallende Zeichen hin verband sich jede der Armeen endgültig. Das drohende Eisengeschirr der sich schließenden Kontakte wurde vom Winde auf das künftige Schlachtfeld getragen, und anstelle der tausendfachen Bombardiere und Kanoniere, Richtschützen und Ladeschützen, Gardisten und Artilleristen, Pioniere, Gendarmen und Marineinfantristen entstanden zwei gigantische Geister, die mit einer Million Augen über die große Ebene hinweg, die unter weißen Wolken lag, einander ansahen, und es trat ein Augenblick völliger Stille ein. Auf beiden Seiten war es nämlich zu der berühmten Kulmination des Bewußtseins gekommen, die der große Gargancjan mit mathematischer Genauigkeit vorausgesehen hatte. Oberhalb einer bestimmten Grenze verwandelt sich nämlich das Militärische als lokaler Zustand in das Zivile, und zwar deshalb, weil der Kosmos als solcher absolut zivil ist, und die Geister beider Heere hatten eben bereits eine kosmische Dimension erreicht! Obschon also von außen der Stahl, die Panzer, Kartätschen und tödlichen Stichwaffen glänzten, wogte innen ein doppelter Ozean abgeklärter Heiterkeit, allumfassenden Wohlwollens und vollkommener Vernunft. Auf den Hügeln stehend, mit dem in der Sonne funkelnden Stahl, unter unausgesetztem Trommelwirbel, lächelten beide Armeen einander an. Trurl und Klapaucius traten gerade an Deck ihres Schiffes, da geschah es, was sie erstrebt hatten: Vor den Augen der vor Scham und Wut schwarz gewordenen Könige räusperten sich beide Heere, faßten einander unter und gingen spazieren, Blumen pflückend unter den dahineilenden Wolken auf dem Felde der nicht stattgehabten Schlacht.

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