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Es war kalt im Zimmer. Regentropfen rannen an den Scheiben hinab. Die Decke war auf der einen Seite weggerutscht, der Nagel hatte nachgegeben, so war ein Stück der kotigen Straße jenseits des Gartens zu sehen, und die Luftbläschen, die auf den Pfützen schwammen. Wie spät? Nach dem Grau des Himmels, nach den Schatten in den Zimmerecken und nach dem Druck in der Brust schätzte er die Uhrzeit. Er hustete lang. Er horchte, wie die Gelenke knackten, als er die Hosen anzog. Er brühte sich Tee auf, sobald der Teekessel und der Papiersack aus dem Zettelkram auf dem Schreibtisch hervorgefischt waren. Das Löffelchen lag auf dem Fensterbrett. Die heiße Flüssigkeit war herb und blaß, und er schlürfte sie laut. Als er Zucker suchte, fand er zwischen den Büchern den Rasierpinsel voll eingetrockneter Seife. Der war seit drei Tagen verschollen gewesen. Oder seit vieren? Mit dem Daumen prüfte er den Bart — die Stoppeln stachen noch wie Borsten, waren noch nicht weich.

Das Gebirge aus Zeitungen, Unterwäsche und Büchern neigte sich bedrohlich, endlich rutschte es mit sprödem Rascheln über die hintere Schreibtischkante hinab und verschwand. Ein Staubwölkchen stieg auf, so daß ihn die Nase nur so juckte. Er nieste langsam, mit Pausen, sog sich voll mit der belebenden Kraft des Niesens. Der Schreibtisch — wann hatte er den zum letzten Mal weggerückt? Eine eklige Arbeit. Vielleicht lieber fortgehen? Es goß.

Er schlurfte zum Schreibtisch, packte die Kante dicht bei der Wand, zog.

Es schütterte und staubte.

Er drückte aus aller Kraft, nur war er besorgt, er könnte das Herz spüren. — Wenn es sich rührt, lasse ich das sein — beschloß er. Eigentlich sollte es sich nicht rühren! Alles, was hinter die Schreibtischwand gefallen war, hörte auf, ihn zu kümmern; nun war das nur eine Kraftprobe, eine Probe der Gesundheit. „Ich bin noch ganz schön bei Kräften“ — überlegte er mit Genugtuung, als er beobachtete, wie die dunkle Spalte zwischen Schreibtisch und Wand sich verbreiterte. Etwas, was sich dort verkeilt hatte, rutschte tiefer und rollte dann klirrend auf die Erde.

* Vielleicht das zweite Löffelchen, oder nein, eher der Kamm? — fragte er sich neugierig. Bloß daß der Kamm kein so blechernes Geräusch ergeben hätte. Vielleicht die Zuckerzange?

Die Dunkelheit zwischen dem rissigen Verputz und der schwarzen Schreibtischleiste klaffte schon handbreit. Er wußte aus Erfahrung: nun kam das Schwierigste, denn gleich mußte das Tischbein in einer großen Fußbodenspalte steckenbleiben. Schon passiert. Eingeschnappt. Einige Augenblicke lang kämpfte er mit der toten Last.

* Mit der Axt, mit der Axt an dieses Aas! — dachte er voll süßer Hingabe an den aufsteigenden Zorn, der ihn verjüngte. Er zerrte, obwohl er wußte: das war fruchtlos. Den Schreibtisch mußte man neigen und dann anheben, sobald man ihn ins Schaukeln gebracht hatte; denn an der Wandseite war ein Bein kürzer und pflegte herauszufallen. „Besser, es fällt nicht“ — warnte die Vernunft. „Du wirst wieder von unten alles mit Büchern abstützen müssen, im Schweiße deines Angesichts die Nägel geradehämmern, das Tischbein mit dem Hammer hineinklopfen…“ Aber er haßte diesen hartnäckigen Klotz schon gar zu sehr, den er so viele Jahre lang mit Papieren gefüttert hatte.

„Rindvieh!“ — mit Ächzen brach dieses Wort aus ihm heraus; er konnte die Anstrengungen nicht mehr abstufen; erhitzt, den Geruch von Staub und Schweiß in der Nase, mit straff gespanntem Rücken kämpfte er gegen die leblose Last an, wackelte daran, und wie gewöhnlich in solchen Momenten, hatte er die schöne Empfindung, allein die erweckte Wut müsse das schwarze Trumm hochheben und wegstoßen, ohne die mindeste Anstrengung!

Das Tischbein hüpfte aus der Rille und rammte ihm die Zehen, er erstickte ein Schmerzstöhnen, zur Wut gesellte sich Rachsucht, mit dem Rücken lehnte er sich gegen die Wand, mit Händen und Knien schob er. Die schwarze Kluft wuchs, schon hätte er sich hineinzwängen können, aber er schob verbissen weiter, ein erster Lichtstrahl suchte die Trümmerstätte heim, die hinter dem Schreibtisch zum Vorschein kam, während dieser wie in Agonie knirschte und dann stillstand.

Er selbst aber ließ sich auf einen Haufen umgeworfener Bände sinken; wann sie im Lauf der Plackerei auf die Erde gepoltert waren, wußte er nicht. Er saß darauf eine Weile, und der Schweiß erkaltete ihm auf der Stirn. Er hatte sich doch auf etwas Bestimmtes besinnen wollen… aha, darauf, daß sich das Herz nicht gerührt hatte. Das war gut.

Die Höhle, die sich hinter dem Schreibtisch ins dichte Dunkel grub, war nicht sichtbar, bis auf ihre Ausmündung, worin es von weichem, flaumleichtem, aufstiebendem Lurch wimmelte. „Lurch“ — so hießen die mausgrauen Knäuel, die Bäuschchen aus spinnwebfeinem Schmutz, die unter alten Schränken wuchern, sich in den Innereien der Sofas vermehren, verfilzt, samtig, durchsättigt von Staub.

Ohne Eile schickte er sich an, den Inhalt des eroberten Winkels zu untersuchen. — Was kann dort stecken? Er selbst fühlte sich wohl, obzwar er sich nicht erinnerte, warum er den Schreibtisch weggerückt hatte. Schmutzwäsche und Zeitungen lagen jetzt mitten im Zimmer; beim Schreibtischverschieben mußte er sie durch einen besinnungslosen Fußtritt dort hinüberbugsiert haben. Aus dem Sitzen verlagerte er sich nun auf alle viere, schob langsam den Kopf ins Halbdunkel vor, schirmte mit dem Körper das letzte bißchen Licht ab, sah überhaupt nichts mehr, sog Staub in die Nasenlöcher ein und nieste nochmals los, aber diesmal mit Erbitterung.

Dann zog er sich zurück, schneuzte sich lang, beschloß, den Schreibtisch so weit wegzurücken wie noch nie, tastete also die Rückwand ab, die warnend knackte, zielte dann, bückte sich und schob — und unvermutet leicht fuhr der Schreibtisch fast bis zur Mitte des Zimmers und warf dabei den Nachttisch um. Der Teekessel fiel herunter, und der Tee rann aus. Er aber versetzte dem Kessel einen Tritt. Kehrte dann zurück in die Mitte der offengelegten Schatzkammer. Bei jeder kleinsten Bewegung erhoben sich üppige Staubwolken von den kaum sichtbaren Parkettbrettchen, auf denen irgendwelche undeutliche Gebilde herumlagen. Er holte die Lampe, stellte sie neben sich auf den Waschtisch, schloß sie an den Stecker an und wandte sich um. Wo der Schreibtisch die Wand verdeckt hatte, war sie ganz mit Spinnwebstreifen bewachsen, die dunkle, stellenweise schnurdicke Geflechte bildeten. Aus einer vergilbten Zeitung drehte er sich einen Wedel zurecht und begann damit alles, was ihm unterkam, auf einen Haufen zu schaufeln, arbeitete mit angehaltenem Atem, in Staubschwaden, tief gebückt, und fand einen Ring von der Gardine, einen Haken, ein Stück eines Gürtels, eine Schnalle, verknittertes, aber ungebrauchtes Briefpapier, eine Streichholzschachtel und eine angeschmolzene Stange Siegellack; nun verblieb nur noch dicht an der Wand die Ecke zwischen den Fußbodenleisten, sie schien mit graustichigem Pelzhaar bedeckt, mit verfilzten Abfällen; unruhig stipste er das mit der Pantoffelspitze — und erschrak fast bis zur Verzückung: aus dem Loch im Pantoffel ragte ihm die große Zehe heraus, und gegen diese Zehe prallte etwas Kleines, Elastisches, er begann das zu suchen, aber er fand nichts.

* Es war nur Einbildung — dachte er.

Er schob einen Stuhl zum Schreibtisch, nicht den einen, dem ein Bein fehlte — den rückte er lieber nicht von der Stelle, sondern den zweiten, auf dem die Waschschüssel stand. Die stieß er hinunter, daß sie gellend klapperte; er lächelte, setzte sich und begann, die hinter dem Schreibtisch gefundenen Sachen zu untersuchen.

Vorsichtig blies er das graue Staubpulver weg. Das Messingringlein glänzte wie golden, er versuchte, es an den Finger zu stecken — zu groß. Den rostigen, gebogenen Haken, an dessen Spitze ein Mörtelklumpen haftete, hielt er sich dicht vor die Nase. Der Haken hatte die Ausdruckskraft eines Gegenstandes, der viel mitgemacht hat; oben war er abgeplattet, sichtlich hatte sich einst leidenschaftliche Wut daran ausgetobt; in den Hiebkerben an den Seiten waren winzige Eisenspäne ausgefranst, nun schon rostzerfressen und bei festerer Berührung zerbröckelnd. Die knollig abgestumpfte Spitze war sichtlich im Mauerwerk auf einen harten Gegner getroffen; so samt der Wurzel aus ihrer Höhlung gerissen, erinnerte sie den Betrachter an einen Zahn, und fürsorglich berührte er den einsam aus dem Zahnfleisch ragenden Stummel, wie um durch diese Bewegung dem Haken Mitgefühl kundzutun.

Er warf die übrigen gefundenen Sachen in die Schublade, drehte den Lampenschirm schräg, neigte sich über den Schreibtisch und schaute hinunter auf den Fußboden. Im gelben Lampenlicht starrte schwarz der abscheuliche Zottelpelz der Wand, und von den Schreibtischbrettern weg zogen sich schläfrig flatternde, funkelnde, zerrissene Spinnwebfäden. Auf dem Parkett in der Mitte lag, von Staub verschüttet, ein Umschlag von einem alten Brief, die Adressenseite mit der Marke nach oben; darunter aber steckte etwas, was den Rand leicht anhob. Etwas Kleines. Wie eine Nuß.

* Eine Maus! — Kaum hatte er das gedacht, und der Ekel würgte ihn schon an der Gurgel. Mit angehaltenem Atem, und ohne hinzuschauen, begann er den bronzenen Briefbeschwerer heranzuziehen, der schwer war wie ein Stück Eisen. Das Herz erstarrte in der Erwartung, es könnte zu spät sein, jeden Moment könnte eine grauenvolle Flucht als widerwärtiger grauer Spritzer unter dem Kuvert hervorstieben. Doch nichts geschah. Das Kuvert ruhte weiterhin leicht angehoben, die Lampe beleuchtete es, und nur die Spinnweben zitterten unablässig von eigenem regelmäßigem Leben. Er neigte sich noch weiter vor; schon platt auf dem Schreibtisch liegend, ließ er mit Schwung die Bronze fallen. Sie schlug weich auf das Kuvert auf, so, als drückte sie einen elastischen Gegenstand nieder, dann schwankte sie und platschte dumpf in einer grauen Staubwolke aufs Parkett.

Nun übermannte ihn die reinste Raserei von Ekel und Verzweiflung; ohne Besinnung, ohne Berechnung begann er alles auf das Kuvert hinabzuwerfen, was sich in Reichweite vorfand: die dicken Bände der Deutschen Geschichte, die Wörterbücher, eine leere, mit silbrigem Blech überzogene Tabakpackung — bis unter den träge flatternden Spinnwebfäden ein wirrer Stapel entstanden war. Doch auf dem Grund dieses Stapels erahnte er immer noch auf unfaßliche Weise aus den Aufprallgeräuschen diese unbezwingliche, lebendige, sich verteidigende Elastizität.

Beunruhigt bis zum Paroxysmus (denn instinktiv fühlte er: wenn er das nicht erschlüge, müßte sich dies rächen), schleppte er, vor Anstrengung stöhnend, die breite gußeiserne Aschenlade herbei, stieß mit dem Fuß den Bücherstapel weg und schleuderte sie mit übermenschlichem Kraftaufwand auf das aufgebauschte Eckchen Papier.

Da fühlte er, wie ihm etwas wie von ungefähr über die Beine schnalzte, die gleiche lebendige, warme Berührung, wie vorhin, und mit einem verstörten Schrei, der ihm die Kehle zersprengte, stürzte er blindlings zur Tür.

In der Diele war es weit heller als im Zimmer. Er hielt sich krampfhaft an der Klinke fest. Kämpfte gegen das Schwindelgefühl an. Maß mit den Blicken die aufgeklinkte Tür. Sammelte seine Kräfte für die Rückkehr in die Wohnung. Da erschien das schwarze Pünktchen.

Er bemerkte es erst, als er darauftrat. Es war kleiner als ein Stecknadelkopf; wie ein Körnchen sah es aus, als trüge ein träger Lufthauch dicht über dem Fußboden ein Krümelchen Staub oder Ruß mit sich fort. Die Fußsohle berührte die Bretter nicht; sie rutschte ab, oder eigentlich rollte sie ab, schien auf ein unsichtbares, federndes Bällchen zu treffen, das gleich zur Seite sprang. Er verlor das Gleichgewicht, hopste verzweifelt und fiel gegen die Tür. Stieß sich schmerzhaft den Ellbogen an. Rappelte sich auf. Schluchzte vor Aufregung.

„Ist ja nichts, mein Lieber, ist ja gut“ — brummte er, als er von den Knien aufstand. Er zischte, versuchte das Bein zu regen — es war noch ganz. Er stand nun vor der Schwelle, mit verzweifelten Blicken überflog er die Umgebung. Und dicht über dem Fußboden, vor dem Hintergrund der aufgeklinkten Gartentür mit dem gleichmäßigen Regenrieseln dahinter, da gewahrte er auf einmal ein schwarzes Pünktchen. In der Ecke zwischen der Haustürschwelle und einer Ritze in den Brettern zitterte es sacht und kam allmählich zur Ruhe. Er bückte sich danach immer tiefer und stand schließlich da, wie mittendurch geknickt. Er schaute und schaute auf das schwarze Pünktchen, das ihm aus der Nähe ein wenig länglich vorkam.

* Eine Spinne auf so dünnen Beinchen, daß ich sie nicht sehen kann — folgerte er. Der Gedanke, was für fadenartige Beine das Geschöpf haben mußte, erfüllte ihn mit flauer Ungewißheit. Er förderte das Schnupftuch aus der Hosentasche zutage und hielt reglos inne. Er faltete es auf der flachen Hand zu einer Falle zusammen und zog unschlüssig die Hand zurück. Endlich senkte er das Tuch mit lose herabhängenden Zipfeln und näherte es der schwarzen Spinne. — Sie wird erschrecken und davonlaufen — dachte er. — Dann ist Ruhe.

Das schwarze Pünktchen huschte nicht fort. Die Tuchzipfel erreichten es nicht, fingerbreit darüber bogen sie sich um, als stießen sie auf ein sinnlich nicht wahrnehmbares Hindernis. Er fuchtelte mit dem Endchen Stoff, es faltete und warf sich kraftlos, schließlich wurde er dreister (vor der eigenen Tatkraft verschlug es ihm den Atem), und mit dem Schlüssel, den er schnell aus der Tasche zog, stach er auf das schwarze Pünktchen ein.

Er fühlte, wie seiner Hand der gleiche elastische Widerstand wie vorher begegnete, der Schlüssel krümmte sich ihm zwischen den Fingern, und das schwarze Pünktchen schoß dicht vor ihm in die Höhe, hüpfte nervös in senkrechten, erlöschenden, immer niedrigeren Sätzen und erstarrte schließlich wieder in der Ecke zwischen Schwelle und Fußbodenbrett. Er fand nicht Zeit, richtig zu erschrecken, so schnell spielte sich das ab.

Langsam, mit eingekniffenen Augenlidern, wie vor einer Pfanne mit hochbrutzelndem Speck, bedeckte er das schwarze Pünktchen mit dem flach ausgebreiteten Schnupftuch. Es senkte sich leicht und bauchte sich aus, als liege darunter ein Pingpongbällchen. Er hob die Zipfel, brachte sie einander listig näher und schlang plötzlich alle ineinander, — die kugelige Form war gefangen. Er stupste sie zuerst mit dem Schlüssel, dann mit dem Finger. Sie war wirklich elastisch, unter Druck federte sie, aber je fester sie zusammengepreßt wurde, um so merklicher wuchs ihre Gegenwehr. Die Sache war leicht, das Tuch wog nicht mehr als ein leeres, zumindest war der Unterschied für ihn nicht spürbar. Er richtete sich auf den eingeschlafenen Beinen auf, stützte sich mit der freien Hand an der Wand ab und hinkte ins Zimmer.

Das Herz schlug ihm heftig, als er das verknotete Tuch unter die Lampe auf die Schreibtischplatte legte, die er vorher von allem Gerümpel gereinigt hatte. Er machte Licht und suchte die Brille; nach einigem Nachdenken scheute er keine Mühe, und schon in der zweiten durchstöberten Schublade fand er die Lupe, ein tassengroßes Vergrößerungsglas in brünierter schwarzer Fassung mit Holzgriff. Er zog sich den Stuhl heran, die aufgeschlagenen und wirr herumliegenden Bände aus dem Durchgang zur Seite schiebend, und begann vorsichtig, das Schnupftuch aufzuknüpfen. Nochmals unterbrach er sein Tun, stand auf, fand in dem Gerümpel beim Fenster die Käseglocke, die trotz dieses Sprungs auf der einen Seite als Ganzes noch dichthielt, und stülpte sie über das Tuch, nur die Zipfel ließ er herausragen, er zog daran, und es entfaltete sich langsam, ganz voll Flecken und Rotzspuren. Er sah nichts. Er rückte mit dem Kopf immer näher, bis die Nase ans kalte Glas der Glocke stieß. Er schauderte bei dieser unvermuteten Berührung.

Das schwarze Pünktchen zeigte sich erst unter der Lupe. Vergrößert sah es wie ein winziges Getreidekorn aus. Es hatte eine hellere graustichige Ausbauchung am einen Ende, und am anderen zwei ganz feine, selbst durch die Lupe kaum wahrnehmbare grüne Tupfen. Er war nicht sicher, ob ihnen nicht das dicke Glas der Käseglocke, worin sich das Licht brach, diese Tönung verlieh. Er zog sacht an den Zipfeln und förderte das ganze Tuch unter der Käseglocke zutage. Dies dauerte wohl eine Minute. Und dann verfiel er auf eine bestimmte Idee. Er verschob die Glocke längs der Tischplatte. bis die gläserne Umrandung über die Schreibtischkante vorstand, und hielt mittels eines langen Drahtstücks ein vorbereitetes Streichholz hinein, nachdem er es im letzten Augenblick an der Schachtel gerieben hatte.

Ein Weilchen sah die Sache so aus, als wollte das Streichholz erlöschen; dann, als es stärker aufflammte, vermochte er es nicht in die richtige Richtung zu manövrieren; endlich gelang auch dies. Die gelbliche Flamme näherte sich dem schwarzen Pünktchen, das zwei Zentimeter über der Tischfläche schwebte, und begann plötzlich unruhig zu flackern. Er brachte die Flamme noch ein klein wenig näher, und sie krümmte sich, als schmiegte sie sich um eine unsichtbare Rundung, verblieb kurze Zeit so, sprühte ein letztes bläuliches Fünkchen und erlosch; nur das verkohlte Holz glomm noch eine Weile.

Er atmete auf, schob die Glocke wiederum unter den Lampenschirm und starrte lange Zeit reglos auf das schwarze Pünktchen, das sich im Inneren der Glocke um ein geringes bewegte.

„Ein unsichtbares Kugerl“ — murmelte er. „Ein unsichtbares Kugerl.“

Er war fast glücklich, ohne es zu wissen. Die nächste Stunde verbrachte er damit, eine Untertasse voll Tinte unter die Käseglocke zu bringen. Ein ganzes System von Stäbchen und Drähten erwies sich als unerläßlich, um das untersuchte Gebilde im Bereich des Schüsselchens zu halten. An der Oberfläche der Tintenpfütze entstand an einer Stelle eine kaum merkliche Vertiefung, dort, wo offensichtlich die untere Wölbung der Kugel auftrat. Sonst geschah nichts. Alle Versuche, sie mit Tinte zu bemalen, schlugen fehl. Zu Mittag spürte er lästiges Saugen im Magen, er aß also die restliche Hafersuppe und die letzten zerbröckelten Kekse, die sich im Leinensäckchen fanden. Dazu trank er Tee. Wieder beim Schreibtisch angelangt, konnte er das schwarze Pünktchen nicht sofort wiederfinden und empfand heftige Angst. Er vergaß alle Vorsicht, hob die Glocke und tastete fieberhaft mit ausgebreiteten Armen die Schreibtischplatte ab wie ein Blinder. Auf einmal schmiegte sich ihm die kugelige Form ruhig zwischen die Finger. Fest schloß er die Hand, und so blieb er sitzen, beruhigt, voll Dankbarkeit, und murmelte leise vor sich hin. Seine Hand wurde warm von der unsichtbaren Kugel. Er spürte die Wärme, die ihr entströmte, er spielte immer kühner mit der gewichtslosen Form, rollte sie von einer Hand in die andere, und dann blieb sein Blick an etwas haften, was im Staub beim Ofen glitzerte — denn dort ergoß sich der Müll aus dem umgeworfenen Eimer. Es handelte sich um ein zerknülltes Blatt Stanniol von einer Tafel Schokolade.

Sofort machte er sich daran, die Kugel in die Folie zu wickeln. Das ging unverhofft leicht. Er beließ nur an zwei entgegengesetzten Punkten kleine, mit einer Stecknadel hergestellte Öffnungen, so daß er gegen das Licht nachprüfen konnte, ob sein winziger schwarzer Gefangener in der Mitte wirklich noch bei ihm sei.

Als er endlich aus dem Haus gehen mußte, um sich etwas zu essen zu kaufen, schloß er die Kugel unter der Käseglocke ein, und um schon ganz gewiß zu sein, beschwerte er sie noch und umbaute sie von allen Seiten mit Büchern.

Von nun an folgten herrliche Tage. Dann und wann versuchte er allerlei Experimente mit der Kugel, aber meist lag er im Bett und las seine Lieblingsstellen in alten Büchern. Unter der Decke zusammengeringelt, speicherte er die Wärme, so gut er konnte, streckte die Hand nur hervor, um umzublättern, und solchermaßen vertieft in die genauen Berichte über den Tod der Gefährten Amundsens im Eis oder in die düsteren Bekenntnisse Nobiles über Fälle von Kannibalismus nach der Katastrophe seiner polnahen Expedition, blickte er bisweilen zu der Käseglocke hinüber, worin die Kugel ruhig unter dem Glas glitzerte und ab und zu ein wenig die Stellung änderte, sich sacht von einer Glaswand zur anderen verlagerte, wie von einer unsichtbaren Kraft angestoßen.

Er hatte keine Lust, sich zu Mittag etwas Warmes einzukaufen oder zu kochen, also stopfte er sich mit Keksen voll, und wenn er ein wenig Holz hatte, röstete er sich Kartoffeln in der Aschenlade; abends tauchte er die Kugel in Wasser oder versuchte sie mit spitzen Gegenständen zu stechen; er schnitt daran sein Rasiermesser schartig, im übrigen ohne sichtbares Resultat. Und all dies dauerte so lang, bis an dieser Ruhe langsam etwas faul wurde. Er plante etwas Großes: den alten Schraubstock im Keller wollte er herauszerren, die Kugel in die Klemme nehmen und zusammendrücken, bis er an das schwarze Pünktchen in der Mitte gelangte; aber dies war mit so großen Beschwerlichkeiten verbunden (er hätte weiß Gott wie lang in altem Gerümpel und Eisenzeug wühlen müssen, und obendrein war er nicht sicher, ob er den Schraubstock würde schleppen können, den er vor drei Jahren hinuntergetragen hatte), so daß diese Idee im Reiche der Pläne verblieb.

Einmal erhitzte er die Kugel lang über dem Feuer, mit dem Ergebnis, daß er die Bodenfläche eines noch recht guten Kochgeschirrs durchbrannte. Das Stanniol dunkelte nach und vergloste, aber die Kugel selbst trug keinerlei Schäden davon. Er wurde allmählich ungeduldig, allerlei starke Mittel kamen ihm in den Sinn, denn er empfand immer festere Gewißheit, die Kugel sei unzerstörbar, und diese ihre Widerstandsfähigkeit stärkte seine Befriedigung. Eines Tages jedoch bemerkte er etwas, was ihm eigentlich schon weit früher hätte auffallen müssen.

Das Stanniol (ein neues Blatt, denn das alte war im Lauf der mannigfaltigen Experimente in Fetzen zerrissen) zerplatzte an mehreren Stellen zugleich, und in den Durchblicken zeigte sich das Innere. Die Kugel wuchs! Er erbebte ganz und gar, als er dies endlich begriff. Er hielt sie unter die Lupe, betrachtete lang das entblößte Innere, untersuchte es durch die doppelten Gläser, die er aus der untersten Schreibtischlade hatte ausgraben müssen, und war zuletzt sicher, daß er sich nicht getäuscht hatte.

Die Kugel wuchs nicht nur, sie änderte auch ihre Form. Sie war nicht mehr vollkommen rund, zwei sanfte Ausbauchungen schienen daran auf, etwas wie Pole, und das schwarze Pünktchen verlängerte sich so, daß sich dies nun sogar mit freiem Auge erkennen ließ. Hinter dem gekerbten Köpfchen, bei dem grünlichen Tupfenpaar, enchien eine schwach glitzernde Linie. Sie sproß langsam weiter, diese Bewegung war schwerer wahrzunehmen, als das Weiterrücken des Stundenzeigers einer Uhr, aber als die Nacht um war, konnte der Beobachter außer Zweifel feststellen, daß das Phänomen vorangeschritten war. Die Kugel war schon länglich, wie ein Ei mit zwei gleich dicken Enden. Das schwarze Pünktchen in der Mitte war deutlich angeschwollen.

In der nächsten Nacht weckte ihn ein kurzer, aber gewaltiger Klang, so, als wäre bei großer Kälte plötzlich eine massive Glasplatte zersprungen. Er klang ihm noch in den Ohren, als er aufsprang und barfuß zum Schreibtisch lief. Dort blendete ihn das Licht, er stand da, hielt die Hand vor die Augen und wartete verzweifelt, bis er etwas sah. Die Käseglocke war ganz. Scheinbar hatte sich darunter nichts geändert. Er suchte mit den Blicken das langgezogene schwarze Fädchen und fand es nicht. Als er es entdeckte, erstarb alles in ihm: so sehr war es geschrumpft. Er hob erschrocken die Glocke; und an den Handrücken schmiegte sich ihm etwas an. Tief gebückt näherte er das Gesicht der leeren Tischplatte, und schließlich sah er alles: Es waren zwei — beide erhitzt, als hätte man sie soeben aus heißem Wasser herausgenommen. In jeder saß ein winzig kleiner Kern, ein mattschwarzes Pünktchen. Ihn aber überkam unerklärliche Seligkeit, Ergriffenheit. Er zitterte nicht vor Kälte, sondern vor Erregung. Er legte beide auf die Hand, sie waren warm wie Kücken, er behauchte sie, ganz sacht, um die fast schwerelosen Körper nicht auf den Fußboden hinabzublasen, dann wickelte er jede Kugel sorgfältig in ein Blatt Stanniol und deckte die Käseglocke über beide. Lang stand er davor und suchte inbrünstig zu ergründen, was er noch für sie tun könnte, endlich kehrte er ins Bett zurück, mit heftig klopfendem Herzen, ein wenig bekümmert über die eigene Machtlosigkeit, aber ruhig und fast bis zu Tränen gerührt.

„Meine Kleinen…“— murmelte er und sank in süßen kraftspendenden Schlaf.

Nach einem Monat konnte die Käseglocke die Kugeln nicht mehr fassen. Nach einem weiteren Monat verlor er die Übersicht, er konnte sie nicht mehr zählen. Kaum hatten die schwarzen Kerne die üblichen Ausmaße erreicht, da begannen den Kugeln schon die Pole zu schwellen. Nur einmal gelang es ihm, im Augenblick der Teilung wach zu sein, die immer nachts erfolgte. Der Klang, der unter der Käseglocke hervordrang, betäubte ihn für lange Minuten, aber in noch größere Verblüffung versetzte ihn ein Aufblitzen, das einen Moment lang das ganze Zimmer aus der Dunkelheit auftauchen ließ, wie im Strahl eines winzigen Blitzes. Von alldem, was vorging, verstand der Beobachter nichts, aber durch das Bett hindurch spürte er, daß einen Moment lang der Fußboden erbebte, und durch Mark und Bein drang das Bewußtsein, daß dieses wuchernde Kleinzeug etwas unendlich Gewaltiges sei. Ein ähnliches Gefühl kam auf, wie angesichts eines überwältigenden Naturereignisses, so, als öffnete sich für eine Sekunde der Abgrund eines Wasserfalls, oder als ließe sich ein Erdbeben spüren; in diesem klirrenden momentanen Schnappen, dessen Echo die Hauswände noch einzusaugen schienen, hatte sich einen Sekundenbruchteil lang eine Kraft aufgetan und wieder verschlossen, die mit nichts zu vergleichen war. Die Angst währte nur kurz — am Morgen hielt er sie für ein Traumgespinst. In der nächsten Nacht suchte er im Dunkeln zu wachen. Und zugleich mit der Welle der Erschütterung und dem dunklen Klang gewahrte er nun erstmals genau die zickzackförmige Strahlung, die das aufgequollene Ei entzweischnitt und so jäh verschwand, daß er nachher nicht wußte, ob er sich nicht etwa bloß getäuscht hatte.

Nicht einmal an den Schnee dieses Winters erinnerte er sich, so selten ging er aus, nur den kleinen Kaufladen hinter der Straßenbiegung mußte er doch manchmal aufsuchen. Im beginnenden Vorfrühling wimmelte das Zimmer von Kugeln, die er gar nicht alle einkleiden konnte: woher hätte er so viel Stanniol nehmen sollen? Überall trieben sie sich herum, mit den Füßen stupste er sie fortwährend, lautlos fielen sie vom Bücherregal, gerade auf den Fächern dort waren sie am besten zu sehen, durch das lange Liegen waren sie mit einer zarten Staubschicht überzuckert, die als feine matte Haut die Rundungen nachzeichnete.

Die stets neuen Abenteuer (er fischte Kugeln aus der Hafersuppe, aus der Milch, im Zuckersäckchen fand er welche, unsichtbar rollten sie aus den Gefäßen, wurden mit der Suppe gekocht), dieser Überfluß, der ihn umgab, begann ihn mit neuen Einfällen und mit leichter Unruhe zu erfüllen.

Der so unbändig anwachsende Schwarm kümmerte sich wenig um ihn. Er zitterte: irgendeine könnte in die Diele entwischen, und dann weiter, in den Garten, auf die Straße, wo Kinder sie finden könnten. Also stellte er ein ausreichend engmaschiges Drahtgitter vor die Schwelle, und mit der Zeit wurde das Ausgehen zu einer ganzen komplizierten Zeremonie: er durchstöberte der Reihe nach alle Taschen, schaute in den Hosenumschlägen nach, klopfte alles sicherheitshalber noch ein paarmal aus, öffnete und schloß die Tür nur langsam, damit die entstehende Zugluft nicht unversehens eine Kugel entführte, und je mehr es davon gab, um so stärker komplizierte sich alles.

Nur eine echte und große Unannehmlichkeit litt er durch dieses Zusammenleben voll vielfältiger Emotionen: es waren schon so viele Kugeln, daß sie sich fast unausgesetzt vermehrten, und der gewaltige klirrende Klang erscholl manchmal fünf— oder sechsmal in einer Stunde. Er weckte ihn nachts, daher begann er den Schlaf bei Tag nachzuholen, wenn Stille herrschte. Manchmal erfaßte ihn undeutliche Unruhe angesichts dieser Welle unerschütterlicher regelmäßiger Fortpflanzung, das Gehen wurde immer schwieriger, auf Schritt und Tritt entwichen unter den Sohlen hervor die unsichtbaren federnden Bällchen, verstreuten sich nach allen Seiten, und er erkannte, er werde demnächst in ihnen waten müssen wie in tiefem Wasser. Wovon sie lebten, wovon sie sich ernährten, — darüber dachte er nicht nach.

Trotz des kalten Vorfrühlings mit häufigen Frost— und Schneeschauern heizte er längst nicht mehr. Das Kugelgewimmel spendete seine gleichmäßige Wärme der Umgebung. Noch nie war es im Zimmer so warm, so heimelig gewesen wie jetzt, da der Staub von spaßigen Sprungspuren und Wälzspuren wimmelte, als hätten da vor kurzem junge Kätzchen gespielt.

Je mehr Kugeln da waren, um so leichter gaben sie ihre Gebräuche zu erkennen. Man hätte meinen können, daß sie einander nicht mochten oder jedenfalls allzu nahe Nachbarschaft von ihresgleichen nicht duldeten. Denn bei jeder Annäherung verblieb zwischen ihnen eine dünne Luftschicht, die sich selbst bei beträchtlicher Kraftanwendung nicht wegdrücken ließ. Das sah er am besten, wenn er zwei in Stanniol gewickelte einander näherte. Mit der Zeit begann er die Überfülle wegzuräumen: er warf sie in die Blechwanne, und dort lagen sie nun unter einem Staubfilm wie ein Haufen von grobkörnigem Froschlaich, nur dann und wann erschütterte sie Bewegung von innen her, wenn sich eines der durchsichtigen Eier in zwei Nachkommen teilte.

Man muß gestehen, er hatte oftmals die merkwürdigsten Anwandlungen; so kämpfte er zum Beispiel lang mit sich selbst, solches Gelüst verspürte er, eines seiner Pflegekinder zu verschlucken! Zuletzt nahm er eine unsichtbare Kugel in den Mund, und dabei ließ er es bewenden. Er drehte sie sacht mit der Zunge und fühlte auf Gaumen und Zahnfleisch die federnde Rundung, die ein klein wenig Wärme ausstrahlte. Am Tag nach diesem Ereignis entdeckte er auf der Zunge einen oberflächlichen Bluterguß, doch brachte er die beiden Tatsachen nicht in Verbindung. Es kam aber immer öfter vor, daß er mit den Kugeln zusammen schlief und dann nicht begriff, wieso die Bezüge von Polster und Decke zu zerfallen begannen, die doch bisher so gut gedient hatten. Als wären sie plötzlich mürbe geworden! Zuletzt riß das Bettlaken schlechtweg in Fetzen, es hatte mehr Löcher als Leinwand an sich, er aber begriff noch immer nichts.

Einmal weckte ihn in der Nacht ein brennender Schmerz am Bein. Bei Licht sah er dann ein paar rötliche Flecken auf der Haut der Wade. Er entdeckte immer mehr, sie sahen aus wie verquollene Brandwunden. Die unsichtbaren Kugeln hüpften überall auf dem Bettzeug umher, als er sich wieder zurechtlegte, um weiterzuschlafen. Und dieses Bild stimmte ihn argwöhnisch, — die Kerne der Kugeln flirrten wie Flöhe.

„Was denn, zum Teufel, tut ihr den Papi beißen?!“ flüsterte er vorwurfsvoll. Er blickte im Zimmer umher.

Der matte Widerschein der verstaubten Kugeln drang von überallher zu ihm: sie bedeckten den ganzen Schreibtisch, lagen auf dem Fußboden, in den Regalen, im Kochgeschirr, in den Töpfen, — selbst in der Tasse in einem Restchen Tee flimmerte etwas Verdächtiges. Unfaßbare Angst ließ ihm das Herz in Sekundenschnelle loshämmern. Mit schlotternden Händen klopfte er die Decke und Deckenkappe aus, schwenkte das ausgebreitete Kissen mit hoch erhobenen Händen, warf alle Kugeln auf den Fußboden, besah nochmals fürsorglich die fladenhaften Rötungen an den Waden, wickelte sich in die Decke und löschte das Licht. Das Zimmer hallte alle paar Minuten von jenem Klang: er ähnelte einem metallischen Fanfarenton, den ein plötzlich zuschnappender Deckel unterbricht.

* Ist das denn möglich? Ist das möglich? — dachte indessen er. „Ich schmeiß euch hinaus! Allesamt jag' ich euch fort auf die Straße! Marsch!“ — verkündete er plötzlich flüsternd, denn die Stimme drang nicht durch die ausgedörrte Kehle. Maßloser Kummer würgte ihn, preßte ihm Tränen aus den Augen.

„Undankbare Biester!“ — flüsterte er und lehnte sich an die Wand, und so, halb sitzend, halb liegend, schlief er ein.

Am Morgen erwachte er wie zerschlagen, mit dem Gefühl einer Niederlage, eines Unglücks. Mit den trüben Augen, mit all seinem Gedächtnis suchte er verzweifelt, was er denn gestern so Besonderes verloren habe. Auf einmal kam er zu sich, kroch aus dem Bett stellte die Lampe auf den Stuhl und machte sich an die methodische Untersuchung des Fußbodens.

Es ließ sich nicht bezweifeln: deutliche Nagespuren zeigten sich darauf, so, als hätte jemand feine zerstiebende Tröpfchen einer unsichtbaren Säure darübergesprüht. Ähnliche Spuren, wenn auch in geringerer Zahl, sichtete er auf dem Schreibtisch. Besonders stark beschädigt waren die Stapel von alten Zeitungen und Wochenmagazinen: fast überall waren die obersten Blätter durchlöchert wie ein Sieb. Auch das Email an der Innenseite der Töpfe war mit seichten Ätzspuren übersät. Lang sah er entgeistert das Zimmer an, dann begann er die Kugeln einzusammeln. Im Flur trug er sie zur Wanne, aber als diese schon weit bis über den Rand gefüllt war, schienen im Zimmer ebenso viele wie vorher zu liegen. Sie rollten an den Wänden entlang, er spürte die beunruhigende Wärme, wenn sich an seine Beine die Kugeln schmiegten. Sie waren überall. Matte Haufen in den Regalen, auf dem Tisch, in den Glasgefäßen, in den Winkeln — ganze Berge!

Er schlich benebelt und bekümmert umher, den ganzen Tag verlor er damit, sie von Ecke zu Ecke zu fegen, zuletzt füllte er sie teilweise in eine alte leere Kommode und atmete auf. In der Nacht schien die Kanonade heftiger als gewöhnlich zu klingen: der Holzvorbau der Kommode wirkte als großer Resonanzkasten, der dumpfe unheimliche Töne von sich gab, als schlügen die unsichtbaren Gefangenen von innen mit Glocken gegen die Wände. Tags darauf begannen die Kugeln über das Schutzgitter an der Tür hinwegzurieseln. Er trug Matratze, Decke und Kissen auf den Schreibtisch hinüber, bettete sich dort auf und saß dann mit untergeschlagenen Beinen auf dieser Lagerstatt. — Sofort hätte ich den Schraubstock holen müssen! — fiel ihm ein. — Was jetzt? Bei Nacht in den Fluß schütten?

Er entschied, dies werde das beste sein, aber laut wagte er diese Drohung nicht auszusprechen. Niemand sonst sollte die Kugeln haben, er aber wollte ein paar Stück behalten, mehr nicht. Trotz allem hing er an ihnen, nur daß sich jetzt Angst unter diese Zuneigung zu mischen begann. Ersäufen würde er sie alle, wie… junge Katzen!

Er dachte an die Schubkarre. Ohne sie käme er ja mit dem Abtransport gar nicht nach! Aber er versuchte sie nur anzuheben, wie sie da an der Wand in einer alten Grube festgefahren war, und trippelte wieder ins Haus. Schwach war er, sehr schwach. Er mußte das verschieben. Er beschloß, mehr zu essen.

Die Nacht war gräßlich. Müde, wie er war, schlief er trotz allem ein. Der erste metallische Klang weckte ihn, er setzte sich im Finstern auf, und vor ihm sprühte das ganze Zimmer kurze Zickzacklinien, aus der Schwärze tauchten für Sekundenbruchteile beleuchtete Ausschnitte aus den Wänden, den verstaubten Regalen, dem abgewetzten kleinen Teppich vor dem Bett; die Blitze vervielfachten sich im Glas der zitternden Gefäße; auf einmal schimmerte etwas matt durch den Bezug der Decke, mit der er sich zudeckte: also hier lauerte irgendeine tückisch versteckte Bestie! Angewidert schüttelte er sie ab.

Dieses irrwitzige Kindbett bot das Bild einer blitzdurchzuckten Landschaft, nur daß auf die winzigen Lichtblitze statt des Donners dieses Hämmern der Glocken folgte, das die Scheiben widerhallen ließ. Er schlief im Sitzen ein, an die Wand gelehnt. Kurz vor Tag erwachte er nochmals mit einem schwachen Aufschrei: eine Welle von blauem Gischt erhellte das Zimmer, überflutete es, die vervielfachten Zickzacklinien erreichten fast die Schreibtischplatte, und auf einmal erbebte der Schreibtisch und fuhr von der Wand weg: eine unsichtbare Kugel hatte ihn bei der Teilung weggestoßen. Er selbst aber fühlte die unerbittliche Kraft dieser Bewegung, und eisiger Schweiß überströmte ihn, er schaute mit hervorquellenden Augen auf das Zimmer, murmelte etwas — und schlief vor Erschöpfung nochmals ein.

Tags darauf erwachte er sehr geschwächt — so schwach, daß er kaum hinabklettern konnte, um den kalten bitteren Tee zu trinken, der ihm übriggeblieben war. Er zuckte zusammen, als er bis an den halben Leib in der weichen unsichtbaren Halde versank. So viele waren es, daß er sich kaum regen konnte. Mit größter Mühe drang er zum Tisch durch. Das Zimmer war von stickiger, erwärmter Luft erfüllt, als brenne darin ein unsichtbarer Ofen. Er aber fühlte sich sonderbar, er sank zu Boden, doch er fiel nicht, sie stützten ihn als elastische, federnde Masse, diese Berührung war so sacht, so weich, daß sie ihn mit unsäglicher Sorge erfüllte; der furchtbare Gedanke kam ihm in den Sinn, er habe vielleicht schon irgendeine mit der Hafersuppe verschluckt, eine kleinere, und in der nächsten Nacht werde sie sich in den Eingeweiden…

Er wollte flüchten. Fortgehen. Fortgehen! Er konnte die Tür nicht öffnen. Einige Zentimeter weit lüftete sie sich, und die elastische Masse, die federnd nachgab, hielt sie an und ließ sie nicht weiterrücken. Er wagte nicht gegen die Tür anzukämpfen, er fühlte, daß ihm schwindlig wurde. — Ich werde eine Scheibe einschlagen müssen — dachte er. — Aber wieviel wird der Glaser rechnen?

Schlotternd bahnte er sich den Weg zum Schreibtisch, kletterte hinauf und schaute stumpf ins Zimmer. Als grauer Nebel mit Pünktchen, als kaum wahrnehmbare schweigende Wolke umringten ihn die Kugeln von allen Seiten. Er war hungrig, aber er traute sich nicht mehr, hinabzusteigen. Er schloß die Augen und rief ein paarmal schwach, ohne Überzeugung: „Hilfe! Hilfe!“

Er schlief ein, bevor es dämmerte. In der einfallenden Dunkelheit belebte sich das Zimmer mit Blitzen und Geknall, das immer gewaltiger anwuchs. Von inneren Lichtblitzen durchleuchtet, vergrößerte sich die Masse, türmte sich, bauschte sich langsam nach oben, zitterte in feinen Erschütterungen. Von den Regalen, zwischen den weggedrängten Büchern hervor, hüpften und flogen im Bogen in blauem Gefunkel die erhitzten zuckenden Kugeln. Eine rollte ihm von oben auf die Brust, eine zweite berührte die Wange, die nächste heftete sich an die Lippen, immer mehr Kugeln bedeckten die Matratze rund um seinen zur Hälfte kahlen Schädel, blitzten ihm in die halbgeöffneten Augen, er aber erwachte nicht mehr…

In der nächsten Nacht, gegen drei Uhr morgens, fuhr auf der Straße zum Städtchen ein Lastauto vorbei. Es fuhr Milch in Kannen zu zwanzig Gallonen. Von der durchfahrenen Nacht ermüdet, nickte der Fahrer über dem Lenkrad. Das war die ärgste Stunde, da ließ sich die Schläfrigkeit einfach nicht abschütteln. Auf einmal vernahm er langgezogenes Gedröhn, das aus der Ferne herüberdrang. Instinktiv verlangsamte er die Fahrt, er sah jenseits der Bäume einen Zaun, dahinter einen dunklen verwilderten Garten und darin ein ebenerdiges Häuschen. In den Fenstern blitzte es.

* Ein Brand — dachte der Schofför, fuhr an den Straßenrand, bremste jäh und lief zur Gartenpforte, um die Bewohner des Hauses zu wecken.

Er hatte den mit Gras überwucherten Weg schon zur Hälfte zurückgelegt, als er sah, daß aus den Fenstern des Hauses, zwischen den Überresten eingedrückter Scheiben hervor, nicht Flammen strömten, sondern eine unentwegt klirrende und blitzende Schaumwelle, die immer breiter und weiter an den Wänden aufbrodelte; an den Händen und im Gesicht fühlte er weiche unsichtbare Berührungen, wie die Flügelschläge Tausender Nachtfalter; er meinte zu träumen — als ringsherum Gras und Gebüsch plötzlich von blauen Flämmchen wimmelten, als das linke Bodenfenster erglühte, wie ein weit geöffnetes riesiges Katzenauge, als die Haustür knirschte und krachend zerbarst — und er stürzte in blinder Flucht davon, und in den Augen zuckte ihm noch dieses Gebirge aus Laich, das mit langgezogenem Dröhnen das Haus zersprengte.

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