DRITTES KAPITEL Napoleons letzte Liebe

Ney traf die Baronin in ganz gefaßter Stimmung. Sie war zwar anfangs tödlich erschrocken, hatte aber dann die Augen geschlossen und in Ergebenheit den Erfolg abgewartet, der glücklicherweise ein guter war.

Ebenso war es mit Frau Richemonte. Ihr Schreck war kein geringer gewesen; als Grouchy den Wagen verlassen hatte, war sie ihn Ohnmacht gesunken, aber das Getöse des Kampfes hatte sie wieder aufgeweckt. Königsau war ihr dann wie ein rettender Engel erschienen. Jetzt, da der Marschall sie nach ihrem Befinden fragte, gab sie nur den Wunsch zu erkennen, zu wissen, wie ihre Tochter die Gefahr überstanden habe.

Bei dieser war es anders. Als der Kaiser an den Wagen trat, sagte er: „Mademoiselle, ich bedaure diesen Vorfall außerordentlich. Darf ich fragen, wie Sie sich befinden?“

„Oh, ich bin sehr schwach, Sire!“ hauchte sie.

„Ah! Jan Hoorn, frage die Damen nach einem Flakon!“

„Das wird nicht genügen, Majestät!“ sagte Margot leise.

„Nicht? Warum, Mademoiselle?“

„Ich glaube, ich bin verwundet.“

„O mein Gott, ist's möglich! Jan Hoorn, eine Laterne! Schnell, schnell!“

Der Kutscher riß die Wagenlaterne herab. General Gourgaud nahm sie ihm ab und leuchtete von drüben in den Wagen, während Napoleon von hüben den Schlag öffnete, um nachzusehen, ob sie recht habe.

Ja, da lag sie in der Ecke, bleich wie der Tod. Von ihrer Schulter floß ein Blutstrom über die Brust herab bis in den Schoß und von da dann weiter nieder auf den Boden des Wagens.

„Gott, sie hat einen Schuß erhalten!“ rief der Kaiser. „Wann ist das gewesen?“

„Der letzte, Sire, welcher Sie treffen sollte“, hauchte sie.

„Er ging an mir vorüber und in den Wagen. Was tun wir, General?“

Napoleon war außer sich, ganz ratlos.

„Wäre es nicht ratsam –“

Das wollte der Generaladjutant antworten; Margot aber bat:

„Bitte, Mama her!“

Da lief der Kaiser selbst zu Grouchys Wagen. Dieser wollte denselben eben verlassen, um sich nach Margots Befinden zu erkundigen. Frau Richemonte sah den Kaiser kommen. Brachte er etwa eine schlimme Botschaft?

„Ach, mein Gott, Sire, ist etwas geschehen?“ fragte sie.

„O Madame, man muß noch nicht verzagen!“ antwortete er.

Es ging ihm, wie so vielen großen Männern: In solchen Verhältnissen sind sie ungeschickt wie die Kinder. Anstatt die Mutter zu beruhigen, machte er die Sache noch schlimmer, als sie eigentlich war.

„Nicht verzagen? O Sire, was ist mit Margot?“ rief Frau Richemonte.

„Es ist ja nur die Kugel, welche mich treffen sollte –“

„Getroffen ist mein Kind?“

„Ja, Madame. Zwar schwimmt der ganze Wagen von Blut, aber –“

„O mein Kind, meine Tochter! Ich komme!“

Sie sprang aus dem Wagen, schob den Kaiser einfach zur Seite und eilte davon.

Napoleon blickte Grouchy erstaunt an.

„Haben Sie gesehen, Marschall?“ fragte er ganz betroffen.

„Allerdings“, antwortete dieser lächelnd.

„Und ich habe es ihr doch so zart wie möglich beigebracht.“

„Zart zur Bewunderung, Sire!“

„Ich habe sie so vorsichtig darauf vorbereitet.“

„Höchst vorsichtig, Majestät.“

„Und doch war sie wie im Fieber! Oh, diese Frauen! Besonders die Mütter!“

„Ja. Die Töchter pflegen sanfter zu sein, Sire.“

„Gewiß, gewiß, lieber Marschall. Wie zart lag diese Margot im Wagen! Wie sanft sagte sie, daß sie verwundet sei! Aber diese Mütter! Sie sind wie die Löwinnen! Sehen Sie, da bricht noch eine aus dem Käfig.“

Er sah mit Schreck, daß jetzt auch die Baronin ihren Wagen verließ.

„Auch diese will nach ihr sehen“, sagte er. „Ein Arzt wäre besser als zehn Mütter, meinen Sie nicht auch, Marschall?“

Diese Frage war an Ney gerichtet, welcher bestürzt herbeitrat.

„Allerdings, Sire“, antwortete er. „Ist die Dame verwundet?“

„Ja, leider! Die letzte Kugel, welche auf mich gezielt war, hat sie getroffen.“

„Welch ein Unglück! Ist die Wunde schwer?“

„O mein Gott, der Wagen schwimmt!“ antwortete der Kaiser.

„Da sollte man sofort aufbrechen –“

„Ja, sofort aufbrechen!“ stimmte der Kaiser bei.

„Oder sofort einen Boten fortjagen nach dem Arzt“, meinte Grouchy.

„Ja, einen Boten schleunigst fort, nach dem Arzt“, sagte der Kaiser.

Die großen Kriegshelden wußten hier, der Kaiser selbst an der Spitze, keinen Rat, nur weil eine Dame die Verwundete war.

„Jan Hoorn, einen Eilboten nach dem Chirurgen!“ befahl der Kaiser.

„Wohin, Sire?“ fragte der treue Kutscher.

„Dahin, wo am schnellsten einer zu finden ist!“

„Um Gottes willen, Sire“, meinte Ney. „Ehe der Chirurg kommt, kann sie sich verblutet haben. Sofort muß man nach Jeannette aufbrechen.“

„Jan Hoorn, sofort aufbrechen, nach Jeannette“, gebot der Kaiser.

Der Kutscher stand wirklich im Begriff, aufzusteigen und fortzufahren, ohne sich darum zu bekümmern, wie es im Wagen aussah, wer auf den Tritten desselben stand und wo sein Kaiser blieb; da aber erschien ein Retter in der Not.

Königsau war es. Er hatte seine Pistolen gesucht und war dann mit Florian in die Büsche gegangen, um die Flinte zu suchen, welche sein Gefangener weggeworfen hatte. Jetzt kehrte er zurück.

Als Frau Richemonte zu ihrer Tochter gekommen war, hatte sie der Schreck bei dem Anblick desselben beinahe zu Boden gerissen. Aber sie faßte sich mit Gewalt, ergriff der Verwundeten Hand und sagte, die Tränen zurückdrängend:

„Kind, mein gutes Kind, ist es gefährlich?“

„Ich glaube nicht, liebe Mama“, lispelte Margot.

„Nicht? Gott sei Dank! Wo bist du getroffen?“

„Vorn an der Schulter oder Achsel; ich weiß es nicht, wie man es nennt.“

„Tut es weh?“

„Nein, gar nicht. Aber ich bin sehr müde; ich möchte schlafen.“

„Laß es mich sehen.“

Sie stieg in den Wagen, um die Wunde zu untersuchen. Da kam die Baronin hervor. Diese war gefaßter und also geschickter zur Hilfe. Aber das Blut floß so reichlich, daß die Wunde auf diese Weise nicht untersucht werden konnte.

„Um Gottes willen, was tun wir?“ fragte Frau Richemonte. „Hörst du, liebe Cousine, man will fortfahren.“

„Wo ist Hugo?“ flüsterte die Verwundete.

„Hugo? Ja. Willst du ihn haben?“

„Ja, Mama. Er kennt die Wunden.“

„Aber, Kind – ein Herr!“ meinte die Baronin.

„Er ist mein Verlobter. Lieber soll er mich ansehen, als der Kaiser.“

Das wurde in zwar schwachem, aber sehr bestimmtem Ton gesprochen. Darum trat die Baronin zurück und blickte sich um. Sie sah den Lieutenant eben näher treten und rief, ihrer Rolle als seine Verwandte treu bleibend:

„Lieber Cousin, bitte! Ihre Hilfe wird gebraucht.“

„Hilfe?“ fragte der Kaiser den Marschall Ney. „Ist der Kapitän auch Arzt?“

„Wohl möglich, Sire! Ein Seemann muß oft sehr viel verstehen.“

„Wozu meine Hilfe?“ fragte Königsau.

„Es gibt eine Verwundete.“

„Eine Verwundete? O mein Gott, doch nicht etwa –“

Er hätte im ersten Schreck fast den Namen Margots genannt, doch nahm er sich zusammen und trat an den Wagen, wo ihm Frau Richemonte Platz machte.

Es war den beiden Damen noch nicht eingefallen, den Überwurf zu entfernen, welcher um Margots Schultern lag. Königsau tat dies sofort; die Baronin mußte leuchten. Als er die Heißgeliebte so bleich und schwach in den Kissen liegen sah, wurde es ihm angst und bange. Das Blut floß noch immer.

„O meine Margot“, sagte er, ihr schwaches Händchen ergreifend. „Hast du Schmerzen?“

„Nein, lieber Hugo“, flüsterte sie mit einem himmlischen Lächeln und einem unendlich sanften, milden Aufschlag ihrer Augen.

„Es ist ein Schuß.“

„Ja, der letzte.“

„Welcher den Kaiser treffen sollte?“

„Ja, Hugo.“

„So ist es noch nicht lange her, Gott sei Dank! Darf ich nachsehen?“

„Ich bitte dich darum.“

Er betrachtete die Wunde sehr sorgfältig und sagte dann, um vieles beruhigter:

„Bitte, Ihre Taschentücher, meine Damen. Es ist nur ein Streifschuß, aber die heftige Blutung hat die Patientin sehr geschwächt. Ich werde einstweilen einen Notverband anlegen, um das Blut möglichst zu stillen.“

„Es ist also nicht gefährlich?“ fragte Frau Richemonte.

„Nein“, antwortete er.

„Aber wohl sehr schmerzhaft?“

„Ihre Kräfte werden reichen, es auszuhalten.“

„Oh, ich danke Ihnen, lieber Hu – – – lieber Herr Kapitän.“

Sie wäre bald an dem Geheimnis zum Verräter geworden.

Unterdessen hatten die Helden und Recken von La Chêne die Wagen wieder instand gesetzt. Die zerbrochenen Deichseln waren verbunden, das zerrissene Riemenwerk fürs erste wieder haltbar gemacht, und statt der verwundeten oder getöteten Pferde andere eingeschirrt worden. Auch die Seile hatte man entfernt und die Leichen zur Seite geschafft. Wäre die Verwundete nicht gewesen, so hätte man aufbrechen können.

Da endlich verließ Königsau den Wagen und kam auf den Kaiser zu.

„Ich sehe, daß Sie auch Arzt sind, Kapitän?“ fragte dieser.

„Nicht Arzt, Sire“, antwortete er bescheiden, „obgleich ich so leidlich verstehe, den ersten Verband an eine Wunde zu legen.“

„Wie ist's? Doch nicht gefährlich, hoffe ich.“

„Bis jetzt nicht, aber durch allzu starken Blutverlust kann Gefahr eintreten.“

„Ah! Was tun wir? Kommen wir bis Jeannette?“

„Sofort nicht. Es muß vorher ein sorgfältigerer Verband angelegt werden, als es im Wagen und unter den gegenwärtigen Umständen möglich war.“

„Aber, was raten Sie uns da, Kapitän?“

„Es befindet sich unweit von hier eine Schenke, Sire –“

„Gut. Sie meinen, daß wir dort haltmachen.“

„Ja.“

„Was für ein Mann ist der Wirt?“

„Es ist nur eine Wirtin mit ihrer Tochter dort, arme, aber brave Personen, wie es mir schien.“

„Sie kennen sie?“

„Nein. Ich war erst einmal dort. Heute am Nachmittage.“

„So versuchen wir es, Kapitän. Aber, wie fortkommen, meine Herren.“

„Ich borge mir von diesem guten Maire von La Chêne ein Pferd“, meinte der Generaladjutant.

„Und ich ebenso“, meinte Marschall Ney. „So erhalten Majestät Platz in meinem Wagen.“

„Aber unser tapferer Arzt und Kapitän?“

„Ich muß bei der Patientin bleiben, Sire.“

„Recht so. Immer am Platz seiner Pflicht. Und Madame Richemonte?“

„Darf ich nicht bei meiner Tochter sein?“ wendete diese sich an Königsau.

„Madame, denken Sie an das Blut“, meinte dieser.

„Ich lade die beiden Damen zu mir ein“, sagte Marschall Grouchy.

Somit hatte ein jeder seinen Platz gefunden. Nur der brave Florian war nicht mit erwähnt worden. Er wußte sich aber selbst zu helfen. Er trat an den kaiserlichen Wagen und sagte zu Jan Hoorn:

„Nicht wahr, Kamerad, Sie haben sich brav gewehrt?“

„Ja, sogar mit der Peitsche.“

„Nun, so werden Sie einen wackeren Kollegen nicht auf der Straße sitzen lassen.“

„Nein, steigen Sie auf. Wohin gehören Sie?“

„Nach Jeannette.“

„Ach ja. Der Kaiser bleibt dort, folglich ich auch. Das wissen Sie bereits.“

„Ja, und so hoffe ich, daß Sie ein Glas Wein mit mir leeren werden.“

„O gewiß, mit braven Kameraden trinkt man gern.“

Napoleon war zu den Helden von La Chêne getreten. Sie bildeten eine lange Reihe, die Pferde in der Linken am Halfter hinter sich und in der Rechten die Laterne, so boten sie einen eigentümlichen Anblick dar.

„Nun, Messieurs“, sagte der Kaiser, „Sie haben mir einen Dienst erwiesen. Ich danke Ihnen. Auf dieser Straße soll, so lange ich regiere, kein braver Bürger wieder angefallen werden. Gute Nacht!“

„Ruft alle vive l'Empereur!“ befahl jetzt der Maire.

„Vive l'Empereur!“ brüllten die anwesenden Dorfbewohner.



„Schwingt die Laternen. Hoch aber!“

Sie schwangen die Laternen, daß diese zusammenklirrten.

„Er hat gute Nacht gesagt, schreit auch gute Nacht!“

„Gute Nacht!“ riefen sie.

Und unter diesem Laternengeprassel, diesen ‚Vive l'Empereur und Gutenacht‘-Schreien setzte sich der kurze Wagenzug in Bewegung, dieses Mal aber langsam. Der Kaiser war mit seinen Marschällen der Gefahr entgangen, welche ihnen gedroht hatte. Eine einzige hatte büßen müssen.

Sie lag drin im Wagen, matt und bleich. Aber sie ruhte nicht in den seidenen Kissen, sondern in den viel süßeren und weicheren Armen des Geliebten.

„Meine Seele, schläfst du?“ flüsterte er.

„Nein, mein Hugo.“

„Hast du Schmerzen?“

„Gar nicht.“

„Glut oder Frösteln?“

„Nein. Ich bin so glücklich.“

„Ja, ich kenne das. Es ist der Beginn jenes unendlichen Glückes, welches das entfliehende Leben uns empfinden läßt. Es ist, als habe man Schwingen, welche einen in eine Unendlichkeit von seliger Luft und Wonne tragen. So fliegt man fort und immer weiter, mit den entschwindenden Lebensgeistern, bis der Körper zurückbleibt, starr, tot, verlassen von der Seele, welche den kühnen Flug unternommen hat, hinein in die Ewigkeit.“

„Du denkst, ich sterbe, Hugo?“

„O nein. Du wirst leben, noch lange leben und glücklich sein.“

„Aber nur bei dir und mit dir.“

Sie lehnte den Kopf an seine Schulter. Er strich leise, leise mit der Hand über ihre Wangen und über die Fülle ihres schönen Haares. Er saß neben ihr und achtete nicht darauf, daß er in ihrem Blut saß.

„So fahren wir im kaiserlichen Wagen“, sagte sie leise.

„Aber einer besseren Zukunft entgegen als er.“

„Glaubst du das?“

„Ja. Ich weiß, daß wir Deutschen siegen werden. Er ist zu schnell zurückgekehrt. Man wird den großen Adler wieder fangen, man wird seine Krallen beschneiden und seine Schwingen in Fesseln legen, welche er nicht wieder zerreißen kann. Der, welcher der Welt jahrzehntelang Gesetze gab, wird wie Prometheus angeschmiedet werden, ohne Hoffnung auf Erlösung.“

„Wie grausam. Er ist doch auch ein Mensch.“

„Ja, ein Mensch heute auch gegen dich.“

„Hugo.“

„Margot!“

„Bist du eifersüchtig, mein Lieber?“

„Nein. Ich weiß, daß ich dir teurer bin als alle Kaiser der Welt.“

„Das weißt du? Das glaubst du?“

„Ja.“

„Oh, wie macht mich das glücklich. Denn was du glaubst, das ist auch wahr.“

„So laß uns dieses Glück festhalten, so wie ich dich in meinen Armen halte.“

Sie schmiegte sich so innig, wie es ihre geschwächten Kräfte erlaubten, an ihn, und ihre Lippen fanden sich zu einem leisen, aber langen Kuß.

Da hörte man die Stimme Florians:

„Hier ist das Haus der Witwe Marmont, wo wir halten sollen.“

Die Wagen hielten an, und Hugo stieg aus. Sofort kam der Kaiser heran.

„Wie geht es, Kapitän?“ fragte er.

„Der Verband hat bis hierher gehalten, Sire“, antwortete der Gefragte.

„Hier kann ein besserer aufgelegt werden?“

„Ja.“

„Dann können wir nach Jeannette fahren?“

„Ich hoffe, daß die Patientin es aushalten wird.“

„Hält sie es nicht aus, so bleibe ich mit hier.“

„Majestät!“

„Pah! Was?“ fragte Napoleon kurz.

„Dieses Opfer!“

„Opfer? Was wollen Sie? Hat sie nicht die Kugel erhalten, welche mir gegolten hat? Bin ich ihr nicht Aufmerksamkeit schuldig? Allerdings ist sie schön, unendlich schön. Ich sah noch nie so ein Weib. Da gibt es kein Opfer.“

„So erlauben Sie, Sire, daß man die Verwundete in das Haus trägt.“

„Wer wird es tun?“

„Die beiden anderen Damen. Ich werde sie zu stützen versuchen.“

„Das werde ich selbst tun, Kapitän“, meinte der Kaiser mit einer Art von Eifersucht im Ton. „Zunächst aber muß man mit der Wirtin sprechen.“

„Ich eile, dies zu tun.“

„Ah, pah! Ich werde auch das selbst besorgen.“

Er schritt wirklich auf die Tür des Häuschens zu und trat in die Stube, wo die Mutter mit der Brille auf der Nase beim Schein eines Lämpchens saß und die hübsche Tochter sich gerade anschickte, hinauszugehen, um nach dem Begehr der Gäste zu fragen, deren Kommen man bemerkt hatte.

Als Napoleon eingetreten war, fuhr das Mädchen mit einem halblauten Schrei zurück. Die Mutter blickte vom Buch auf und erhob sich. Der Kaiser grüßte und fragte in mildem Ton:

„Warum erschrickst du vor mir, mein Kind? Fürchtest du dich?“

Sie antwortete nicht.

„Ich fragte, warum du erschrickst?“

„O, Mutter“, antwortete sie, auf den Kaiser deutend.

„Kennst du mich, mein Kind?“ fragte er.

Da faßte sie sich ein Herz und antwortete:

„Ich weiß nicht, ob ich mich irre.“

„Nun, wer, denkst du, daß ich bin?“

Da zeigte sie an die Wand, wo das Bild des Generals Bonaparte hing, wie er die Brücke bei Lodi verteidigt.

„Sind Sie das?“ fragte sie.

„Ja, ich bin es.“

Da schlug sie die Hände zusammen und rief jubelnd aus:

„Mutter, o Mutter, der Kaiser!“

„Der Kaiser?“ fragte die Frau. „Nein, das ist nicht möglich, der Kaiser kommt nicht in dieses Haus, in diese kleine, armselige Stube.“

„Und doch bin ich es, Mutter“, sagte er; „ich bin Napoleon, euer Kaiser.“

Da trat die Frau näher herbei, betrachtete ihn aufmerksam und sagte:

„Ja, Berta, das ist er; das ist unser Kaiser! So hat dein Vater ihn mir beschrieben.“

„Der Vater dieses Mädchens? Ihr Mann? Wer war er? Wie hieß er?“

Auf diese Frage antwortete die Frau:

„Oh, mein Kaiser, Sie kennen ihn; Sie müssen ihn kennen, Jacques Marmont.“

„Jacques Marmont? Es gibt der Marmonts viele.“

„Er war mit bei der Belagerung von Toulon, dann unter Defaix bei der Rheinarmee; er kämpfte bei Lodi, Castiglione, St. Georges, in Ägypten, bei Marengo, Castelnuovo und Ragusa, bei Wagram und in Spanien. Dann wurde er verwundet und kehrte zurück.“

„Ah, war es jener Marmont, welcher Soult bei Badajoz das Leben rettete?“

„Ja, ja, Sire, das war er!“

„Wie ging es ihm?“

„Nicht gut. Seine Narben brannten. Er kaufte dieses Haus, um hier auszuruhen. Er fand die Ruhe bald, denn er wurde ermordet.“

„Ermordet? Von wem?“ fragte der Kaiser, die Brauen zusammenziehend.

„Von Marodeurs.“

„Wo?“

„Hier im Wald.“

„Ach. Wieder einer. Sie sollen das büßen. Ich werde für Euch sorgen. Auch ich bin soeben da vorn im Wald überfallen worden.“

„Sie, Sire?“ rief die Frau erschrocken.

„Ja, ich! Von Marodeurs!“

„Gott! Sie wagen sich an den Kaiser!“

„Sie werden es nicht mehr wagen. Es sind viele gefallen, und die übrigen werde ich ausrotten bis auf auf den letzten Mann. Es ist eine Dame dabei verwundet worden. Sie soll hier bei Ihnen verbunden werden. Erlauben Sie, daß man die Arme zu Ihnen bringe?“

„Mein Häuschen und alles, was ich besitze, ist Ihr Eigentum, Sire. Ich gehe selbst, die Dame mit hereinzubringen. Komm, Berta.“

Sie schritt mit ihrer Tochter hinaus. Nun war die Hilfe des Kaisers nicht nötig. Hugo hatte Margot bereits aus dem Wagen gehoben; sie wurde von den beiden Damen und der Wirtin nebst ihrer Tochter nach der Stube halb geführt, halb getragen. Napoleon trat zu Königsau und fragte ziemlich barsch:

„Die Kranke scheint sich erholt zu haben?“

Der Gefragte ahnte, was Napoleon wollte; er antwortete:

„Ich hoffe, nach einem besseren Verband wird sie sich wohler befinden.“

„Sie ist selbst aus dem Wagen gestiegen?“

„Nein.“

„Man hat ihr geholfen? Man hat sie unterstützt?“

„Allerdings.“

„Wer ist das gewesen?“

„Ich, Sire.“

„Sie? Ich hatte Ihnen verboten, es zu tun.“

„Sie bat mich darum, Sire.“

„Mein Befehl pflegt zu gelten.“

Königsau verneigte sich, ohne zu antworten. Der Kaiser fuhr fort:

„Wer wird den jetzigen Verband anlegen?“

„Ich.“

„Gut, Kapitän. Aber ich werde dabeisein.“

„Ich kann nicht widersprechen, Sire.“

„Kommen Sie.“

Er schritt voran, und Königsau folgte ihm. Die Offiziere waren auch ausgestiegen, traten aber nicht mit in das Haus. Es war ganz so, als ob eine Fürstin in dem kleinen Häuschen weile, dessen Schwelle nun nicht überschritten werden dürfe.

Als Königsau eintrat, hellte sich der Blick Margots auf. Als sie aber den Kaiser bemerkte, verdüsterte er sich augenblicklich wieder. Sie hatte während der kurzen Fahrt doch wohl zu viel mit dem Geliebten gesprochen; sie fühlte sich matter als vorher. Sie lag auf einem einfachen Ruhebett; ihre Mutter und die Baronin waren um sie beschäftigt. Die Wirtin stand mit ihrer Tochter entfernt. Beide hatten ihre Blicke auf das wunderschöne Mädchen gerichtet.

Es war eigentümlich, mit welchem Ausdruck die Augen Bertas auf Margot ruhten. Es spiegelte sich darin Bewunderung und Furcht, Mitleid und Haß.

Da trat der Kaiser näher, faßte die Hand der Verwundeten und sagte:

„Wie fühlen Sie sich jetzt, meine Teure?“

„Sehr, sehr matt, Sire.“

„Sollte man da nicht mit dem zweiten Verband warten?“

Margot richtete den Blick fragend auf Königsau; darum antwortete dieser in seinem bescheidenen Ton:

„Der erste Verband war ein Notverband, Sire; er ist ungenügend.“

Da wendete sich der Kaiser ihm zu. Aus seinem Auge leuchtete es wie eine tiefe Leidenschaft, und er sagte in kaltem, abweisenden Ton:

„Ich sprach mit Mademoiselle. Ihre Antwort werde ich mir befehlen.“

Königsau verbeugte sich stumm. Der Kaiser wendete sich an die Mutter der Patientin, welche ganz erschrocken war, und sagte:

„Wünschen auch Sie, daß ein Verband angelegt werde?“

„Ich bitte darum, Sire“, antwortete sie fast furchtsam.

„So mag der Kapitän beginnen; aber ich selbst werde dabeisein.“

Es lag klar, daß der Kaiser eifersüchtig war. Er kreuzte die Arme über die Brust, wie er es zu tun pflegte, wenn ihn irgend etwas mehr als gewöhnlich bewegte, und stellte sich so, daß er die Prozedur genau betrachten konnte.

Königsau blieb an seiner Seite stehen, ohne sich zu bewegen.

„Beginnen Sie, Kapitän“, befahl Napoleon.

Königsau zuckte die Achseln und rührte sich nicht. Da leuchteten die Augen des Kaisers gebieterisch auf; er machte eine halbe Wendung und fragte:

„Haben Sie gehört?“

Da wendete sich Königsau mit der Frage an Margot:

„Mademoiselle, befehlen Sie, daß ich Sie in Gegenwart eines dritten verbinde?“

„Eines dritten?“ brauste da der Kaiser auf. „Wer ist dieser dritte?“

„Sie, Sire“, antwortete Königsau ruhig.

Er hielt den flammenden Blick des Kaisers standhaft aus, ohne mit der Wimper zu zucken. Dieser verließ seinen Platz, stellte sich vor ihn hin und sagte:

„Monsieur, ich bin der Kaiser!“

Königsau verbeugte sich tief, aber er antwortete:

„Majestät, nur der Gemahl pflegt in solchen Fällen bei der Dame zu verweilen. Oder haben Sie die Absicht, Mademoiselle Richemonte zu jenen Damen zu rechnen, die man wohl betrachtet, von denen man aber nicht spricht?“

„Monsieur!“ rief der Kaiser, mit dem Fuß auf den Boden stampfend.

Frau Richemonte und die Baronin waren erbleicht; sie waren keines Wortes fähig. Die Wirtin staunte ebenso wie ihre Tochter den jungen Mann an, der es wagte, dem gewaltigen Korsen zu widerstehen. Margot lag mit geschlossenen Augen da, mehr einer Leiche als einer Verwundeten ähnlich.

Königsau antwortete auf das Fußstampfen abermals mit einer sehr tiefen Verneigung und fügte dann lächelnd hinzu:

„Sire, keiner weiß so genau wie ich, daß ich eine Majestät vor mir habe: die höchste Majestät eines reinen, keuschen und züchtigen Weibes. Und liebte ich eine Braut, ein Weib mit allen Gluten meines Herzens, ich würde doch auf ihren Besitz verzichten, wenn ein fremdes Auge auf ihr geruht hätte zu einer Zeit, in welcher nur das Auge des Geliebten oder des Arztes zugegen sein darf. Ich würde verzichten selbst dann, wenn dieses fremde Auge dasjenige eines Kaisers wäre. Kein Bettler und kein Kaiser hat das Recht, einem reinen Wesen, weil es augenblicklich wehrlos ist, das hinwegzustehlen, was diese Wesen, wenn es sich stärker fühlte, tapferer verteidigen würde als ein Königreich.“

Es lag etwas in der Art und Weise des Deutschen, was selbst Napoleon imponierte. Er trat einen Schritt zurück und antwortete:

„Monsieur, Sie sprechen sehr verwegen!“

„Genau so, wie ich handelte, als es galt, Ihr Leben zu verteidigen.“

„Ah!“

Es lag in diesem knirschend hervorgestoßenen Laut eine ganze Welt von gewaltsam zurückgedrängten Empfindungen. Das war ganz der Korse, der am liebsten zum Dolch gegriffen hätte.

„Monsieur“, sagte er. „Sie haben mir Ihre Tat vorgeworfen und vorgerechnet, wir sind also quitt. Sie können gehen.“

„Ich werde gehen, sobald es hier niemanden mehr gibt, der meiner Hilfe bedarf.“

„Ich befehle es Ihnen!“ stampfte der Kaiser.

Der Deutsche sah ihn ruhig vom Kopf bis zu den Füßen an und sagte lächelnd:

„Majestät, haben Sie über dieses Leben zu gebieten? Ist Mademoiselle Richemonte Ihr Weib oder Ihre Braut? Selbst in diesen beiden Fällen dürften Sie es nicht wagen, ihr Leben aufs Spiel zu setzen. Sie sind hier Mensch, und ich bin Arzt; selbst wenn Sie hier Kaiser wären, würde ich als Arzt zu befehlen haben.“

Da warf ihm Napoleon einen vernichtenden Blick zu und sagte:

„Ich werde Sie hinausbringen lassen.“

Da schüttelte Königsau den Kopf so stolz und verächtlich, wie ein Löwe seine Mähne. Dann sagte er:

„Und ich werde einen jeden niederschießen, der es wagt, mich zu entfernen, bevor ich freiwillig gehe.“

„Ah! Auch mich?“

„Jeden, ohne Ausnahme.“

Da trat der Kaiser mit zwei Schritten an das Bett, faßte Margots Hand und sagte:

„Margot, sagen Sie ihm, daß er gehen soll.“

Da überflog ein leichtes Lächeln ihre Engelszüge, und leise klang es:

„Er wird nicht gehen; er ist zu stolz!“

Da nahte Berta, die Tochter der Wirtin, der Verwundeten, bog sich zu ihr nieder und flüsterte ihr leise zu. Margot nickte. Dann sagte Berta laut:

„Ich bin im Kloster der Barmherzigen gewesen; ich verstehe es, Wunden zu verbinden und habe einen Balsam, der sehr schnell heilt.“

Da fragte Frau Richemonte:

„Kind, soll sie dich verbinden?“

Alle waren gespannt auf die Antwort, welche sie geben würde.

„Wenn es der Herr Kapitän erlaubt“, flüsterte sie mit halblauter Stimme.

Da sagte Königsau:

„Mademoiselle weiß, was sie dem Arzt schuldig ist. Ich gehe, da ich glaube, sie befindet sich in guten Händen und unter diskreten Augen.“

Er wendete sich um, machte dem Kaiser eine sehr tiefe und sehr zeremonielle Verbeugung und schritt zur Tür hinaus. Es blieb nun Napoleon nichts anderes übrig, als ihm zu folgen. Draußen sprach er einige Worte mit Jan Hoorn, die niemand hörte, und dieser trat sodann zu Königsau.

„Majestät läßt Ihnen sagen, Herr Kapitän“, sagte er, „daß kein Platz in den drei Wagen mehr vorhanden ist.“

Königsau gab keine Antwort. Er nickte bloß.

Napoleon ging seinem Untergang entgegen, und nicht nur seinem politischen und militärischen, das hatte er heute bei diesem außerordentlichen Vorgang bewiesen, in dem seine eigene Leidenschaft, sein eigener Wille hatte Gesetz sein sollen.

Der Deutsche ging seitwärts am Haus hin. Dort stand Florian, der Kutscher.

„Kommen Sie mir heimlich nach!“ sagte Königsau.

Er schritt noch eine Strecke weiter und blieb dann stehen. Bald stand der treue Mann vor ihm.

„Was gibt es?“ fragte er.

„Etwas Unglaubliches“, antwortete Hugo.

„Was?“

„Der Kaiser ist in Margot verliebt.“

„Das sieht ein jeder.“

„Er wollte beim Verband zugegen sein.“

„Ah! Sind Kaiser auch neugierig?“

„Wie es scheint! Ich wollte es nicht dulden, und so gerieten wir zusammen.“

„Donnerwetter! Ein deutscher Lieutenant und der französische Kaiser! Das wirft kein schlechtes Licht auf unser Vaterland.“

„Ja. Deutschland kann mit mir zufrieden sein.“

„Nachdem Sie ihm das Leben gerettet haben.“

„Pah, der ganz gewöhnliche Dank, beim Kaiser gerade so wie beim Feldhüter! Ich hatte übrigens auf ganz und gar nichts gerechnet.“

„Aber nun können Sie rechnen.“

„Gewiß.“

„Auf allerhöchste Ungnade und so weiter.“

„Sie ist bereits eingetroffen.“

„Inwiefern?“

„Ich darf nicht weiter mitfahren.“

„Donnerwetter! Ist das möglich?“

„Er hat es mir durch Jan Hoorn sagen lassen.“

„So fahre ich auch nicht weiter mit. Wir finden Jeannette mit den Beinen.“

„Gewiß. Aber ich möchte auch keinen Schritt ohne Vorwissen der Baronin tun. Wollen Sie mir einen kleinen Gefallen erweisen?“

„Oh, gar zu gern, Monsieur.“

„Der Kaiser wird den Eingang mit Argusaugen bewachen. Schleichen Sie sich einmal hinter dem Haus herum, und versuchen Sie, durch die hintere Tür eintreten zu können. Sie sagen der Baronin oder Madame Richemonte einfach, daß ich nicht weiter mitfahren darf. Man wird Ihnen dann schon einen Auftrag an mich erteilen.“

„Schön. Das ist alles?“

„Ja.“

„Sonst wirklich nichts?“

„Nein, lieber Florian.“

„O weh! Ich dachte, ich solle den Kaiser auf Fausthandschuhe fordern. Das wäre mir ein wahres Gaudium gewesen. Ich gehe also. Wo treffe ich Sie?“

„Hier.“

„Gut. Warten Sie.“

Er verschwand im Dunkel der Nacht. Es dauerte eine geraume Zeit, ehe er wiederkam. Endlich hörte Königsau leise Schritte, und die feste Gestalt des Boten tauchte vor ihm auf.

„Nun?“ fragte er.

„Getroffen.“

„Wen?“

„Erst Frau Richemonte und dann die Frau Baronin selbst.“

„Was lassen sie mir sagen?“

„Kommen Sie.“

„Wohin?“

„Nach Jeannette.“

„Fällt mir gar nicht ein.“

„Warum nicht?“

„Ich weiche diesem Franzmann keinen Schritt, wo es sich um Margot handelt.“

„Aber es handelt sich doch gar nicht um sie.“

„Um wen sonst?“

„Sie denken, der Kaiser setzt sich zu ihr in den Wagen?“ fragte der Kutscher.

„Ja. Lachen Sie nicht, Florian! Ich bin nicht im geringsten eifersüchtig. Selbst wenn er ganz allein mit ihr im dunklen Fond des Wagens säße, würde sie doch lieber sterben, als sich beleidigen lassen; aber ich will ihn nicht meinen lassen, daß sich seine Herrschaft auch über dieses Mädchen erstreckt.“

„Nun, ich habe Ihnen zu sagen, daß er sich nicht zu ihr in den Wagen setzen wird.“

„Ah, wirklich?“

„Ja.“

„Wie wollen Sie das anfangen?“

„Sie werden Berta Marmont mitnehmen.“

„Geht das?“

„Warum nicht? Das Mädchen versteht ganz ausgezeichnet, mit Kräutern und Säften umzugehen. Sie werden sie mit nach Jeannette nehmen, wo sie scheinbar als Krankenpflegerin bleiben wird, bis der Kaiser abgereist ist.“

„Gut. Und ich?“

„Sie habe ich zum jungen Herrn Baron zu führen, der Ihnen ein Zimmer anweisen soll, welches ich ihm zu bezeichnen habe.“

„Was ist es für ein Zimmer?“

„Ein Eck-, Erker- und Wendeltreppenzimmer, ein ganz verfluchtes Zimmer, von wo aus man allüberall hinkommen kann.“

„Ah, das ist mir lieb.“

„Mir auch.“

„Warum?“

„Weil ich sie da leicht besuchen kann. Überhaupt scheint die gnädige Frau dieses Zimmer Ihnen nicht ohne alle Absicht gegeben zu haben.“

„Denken Sie?“

„Ja, kommen Sie nur. Laufen wir. Ich kann Ihnen das alles unterwegs sagen. Wir müssen so bald wie möglich nach Hause kommen, und da wir nicht die Straße zu gehen brauchen, so treffen wir eher ein als die Wagen.“

Er schritt sehr rasch voran und bog dann in einen Seitenweg ein, welcher gerade so breit war, daß zwei Personen nebeneinander gehen konnten.

„Oder fürchten Sie sich, einen Richtweg durch den Wald zu gehen?“ lachte er.

„Pah! Ich hätte ja für alle Fälle meine Pistolen.“

„Ja, und Sie hätten ferner auf alle Fälle mich. Dem alten Florian tut kein Mensch etwas, und wer bei ihm ist, der ist auch mit sicher.“

„Also, wie steht es mit diesem Erker- und Treppenzimmer?“

„Nun, erstens kann ich Sie da sprechen, ohne daß es jemand bemerkt, denn gerade aus dem Stall geht eine kleine Wendeltreppe dahin. Zweitens können Sie von da aus Mademoiselle Margot besuchen, so oft Sie wollen und ohne daß jemand es beobachtet. Und drittens – das ist die Hauptsache.“

„Was?“

„Das ist ja eben die Pfiffigkeit der Frau Baronin.“

„Sie machen mich immer neugieriger.“

„Nun, von Ihrem Zimmer geht die Wendeltreppe hinauf auf das platte Steindach des Hauptgebäudes. Es gibt zwar noch einen zweiten, größeren Zugang da hinaus, aber der ist stets verschlossen, und den Schlüssel dazu soll Ihnen der gnädige Herr auch aushändigen. Sie sehen also, wie gut die gnädige Frau es mit Ihnen meint.“

„Ich gestehe Ihnen offen, daß ich das noch nicht so ganz einsehe.“

„So muß ich Ihnen zu Hilfe kommen, mein lieber Herr Seekapitän.“

„Tun Sie das.“

„Nun, zunächst den Schlüssel des Hauptzuganges, zum platten Dach bekommen Sie nicht zu Ihrem Gebrauch, sondern nur zum Beweis, daß man ein höchst ehrliches Spiel mit Ihnen treibt. Man will Ihnen damit sagen, daß Sie der einzige sind, der da oben Zutritt hat, und daß Sie sich dort herumtummeln können, soviel Sie wollen und ohne zu befürchten, beobachtet zu werden.“

„Warum das? Ist die Aussicht da oben gar so prächtig?“

„Ausgezeichnet.“

„Aber warum diese Heimlichkeit dabei?“

„Weil die Aussicht am besten ist, wenn man sie heimlich genießt.“

„Sprechen Sie deutlicher.“

„Nun, ich muß Ihnen sagen, daß es sehr gut für Sie ist, mich heute getroffen zu haben, denn ich bin fast der einzige Diener, der das alles kennt. Die Zimmer, welche eine Treppe hoch liegen, haben nämlich in der Mitte des Plafonds Ventilationslöcher, welche alle hinaus auf das platte Dach gehen. Sie sind mit runden Einsätzen verschlossen, welche man vom Dach aus fortnehmen kann, ohne daß es im Zimmer bemerkt wird, so täuschend ist die Malerei der Decke.“

„Hm. Ich beginne zu begreifen.“

„Nicht wahr? Sie sind jetzt eine Art von Diplomat –“

„Das stimmt.“

„Diplomaten wollen hören und sehen.“

„Und zwar viel, möglichst alles.“

„Und was andere nicht zu hören und zu sehen bekommen. Nimmt man nun da oben die Einsätze weg, so kann man nicht nur die betreffenden Räume vollständig bis in die kleinste Ecke überblicken, sondern man kann auch jedes Wort hören, was da gesprochen wird.“

„Auch leise Worte?“

„Ja, die Zimmer sind danach gebaut. Der Schall läuft an den stumpfen, abgerundeten Ecken in die Höhe bis zu dem Loch.“

„Das ist ja ganz außerordentlich vorteilhaft.“

„Ja. Aber das allervorteilhafteste werden Sie noch zu hören bekommen.“

„Was wird das sein, lieber Florian?“

„Horchen Sie gut auf. Der Kaiser wird nämlich mit dem Generaladjutanten und den Marschällen da oben einquartiert.“

„Ah?“ rief Königsau höchst erfreut.

„Nicht wahr? General Drouet wohnt auch bereits droben. Und nun noch eins, bester Herr Seekapitän aus Berlin. Sie werden nämlich nur von einem einzigen Menschen bedient, und raten Sie, wer das sein wird.“

„Doch Sie?“

„Natürlich. So, jetzt wissen Sie alles. Ist Ihnen das genug?“

„Oh, mehr als genug!“

„Wenn Sie mich haben wollen, sei es nun bei Tag oder bei Nacht, so ziehen Sie an einer Glockenschnur, welche sich in Ihrem Zimmer befindet. Es ertönt keine Glocke, sondern ich erhalte unten im Stall ein Zeichen, welches kein anderer versteht. Bemerken Sie nun, was die Baronin meint?“

„Ich meine es zu ahnen.“

„Sie will, Sie sollen recht oft auf dem platten Dache spazieren gehen, verstanden? Sie ist eine Deutsche, und der junge Herr liebt Deutschland; damit ist alles gesagt. Jetzt aber wird der Wald alle, und der Weg geht schmal über das Feld. Gehen Sie nun hinter mir, Monsieur.“

Der brave Kutscher lief voran, und Königsau folgte ihm. So gelangten sie an den Meierhof, aber nicht an die Zugangs-, sondern an die hintere Seite.

„Können Sie klettern?“ fragte Florian.

„Ich hoffe, es Ihnen gleich zu tun.“

„So kommen Sie über diesen Zaun hinweg.“

In zwei Augenblicken waren sie drüben; dann meinte der Kutscher:

„Wir könnten zwar ganz gut durch das Tor gehen; aber ich denke, daß man doch nach Ihnen fragen wird, und da liebe ich es, solche neugierige Leute im unklaren zu lassen. Kommen Sie mit nach dem Stall.“

„Ich denke, wir gehen zum Baron?“

„Sie werden ihn schon sprechen.“

Sie schritten durch einen breiten Garten, an welchen die hintere Seite des Stalls stieß. Dort gab es ein kleines Türchen, welches Florian öffnete. Als sie eingetreten waren, befanden sie sich in einer Abteilung, in welcher sich ein großer, hoher Futterkasten befand. Der Kutscher bückte sich und zog einen Riegel aus dem unteren Teil des Kastens. Sofort ließ sich der letztere bewegen, und es wurde hinter ihm, da, wo er an die Wand gestoßen hatte, eine türähnliche Öffnung sichtbar, welche jetzt im Licht der Stallaterne desto dunkler erschien.

„Das ist die Wendeltreppe“, sagte Florian.

„Und die kennen bloß Sie? Aber Sie können leicht überrascht werden!“

„Gar nicht. Dieser Teil des Stalls ist von dem anderen abgeschlossen und steht unter meiner alleinigen Verwaltung. Wenn ich vorn zuschließe, bin ich sicher. Ich bitte Sie, einige Augenblicke zu warten.“

Er schritt nach der vorderen Tür, welche er von innen öffnete. Als er hinaus auf den Hof getreten war, verschloß er sie von außen.

Königsau hatte doch einige Minuten zu warten. Als dann der brave Mensch zurückkehrte, befand sich der junge Baron bei ihm. Dieser kam schnell auf ihn zu, streckte ihm beide Hände entgegen und sagte:

„Willkommen, Herr Kapitän! Florian hat mir soeben in ganz kurzen Umrissen mitgeteilt, was geschehen ist. Ich habe Ihnen unendliches zu danken. Leider hörte ich, welch' außerordentliche Gäste wir bekommen; da gibt es Hals über Kopf Vorbereitungen. Ich werde Sie aber baldigst sprechen, um Ihnen zu danken.“

„Bitte, Herr Baron, keinen Dank!“ bat Königsau aufrichtig. „Darf ich Ihnen Ihre Pistolen zur Verfügung stellen. Sie haben mir gute Dienste geleistet.“

„Herr Kapitän, diese Waffen nehme ich nicht wieder –“

„O doch!“ fiel der Deutsche ein.

„Nein, auf keinen Fall. Sie haben damit Personen gerettet, welche mir unendlich teuer sind. Ich bitte wirklich dringend, die Waffen als ein Andenken an den heutigen Tag und als ein Zeichen meiner Ergebenheit zu behalten. Übrigens habe ich Ihnen diese Schlüssel zu übergeben.“

„Danke“, sagte Königsau einfach, indem er die Pistolen wieder zu sich steckte und die Schlüssel entgegennahm.

„Florian wird Sie in Ihre Wohnung einweisen. Wird Mama bald kommen?“

„Ich hoffe es“, sagte der Lieutenant, und an sein heutiges Gespräch mit der hübschen Berta denkend, fügte er hinzu: „Daß Mademoiselle Margot verwundet ist, wissen Sie bereits?“

„Mein Gott, ja. Florian hat es mir gesagt. Ist's gefährlich?“

„Nein, das befürchte ich nicht. Übrigens wird sie von einer ganz tüchtigen Pflegerin begleitet.“

„Ach, wer wäre das?“ fragte der Baron ahnungslos.

„Ein einfaches Mädchen, nämlich die Tochter der Witwe Marmont, welche im Wald die kleine Schenke besitzt.“

Der Baron wechselte jäh die Farbe.

„Was?“ rief er. „Berta Marmont?“

„Ja, Berta, wurde sie, glaube ich, genannt.“

„Das ist ein Wunder, ein großes, großes Wunder! Wie ist das gekommen?“

„Wir mußten dort einkehren, um einen Verband anzulegen, und da hat sich die junge Dame jedenfalls so brauchbar erwiesen, daß die gnädige Frau es vorgezogen hat, sie nach Jeannette einzuladen.“

„Das ist eine Neuigkeit, welche mich fast mehr als überrascht, welche mich verblüfft. Aber ich verschwatze hier meine und Ihre Zeit. Sie kennen die Verhältnisse und werden mir nicht zürnen, wenn ich Sie bitte, Ihnen meine Aufwartung später machen zu dürfen. Adieu, Herr Kapitän.“

„Adieu, Herr Baron.“

Was den jungen Mann so verblüffte, war Königsau sehr leicht begreiflich. Es hatte kein anderes Mittel gegeben, den Kaiser von Margot fern zu halten, als ihr diese Pflegerin an die Seite zu geben. Darum allein hatte sie Zutritt zu dem Meierhof gefunden; aus keinem anderen Grund.

Florian ließ seinen Herrn zum Stall hinaus, verschloß hinter demselben die Tür und kehrte dann zu Königsau zurück. Er brannte ein Laternchen an und bat dann den Lieutenant, ihm zu folgen.

Sie traten in die Treppenöffnung. Die Stufen führten steil und eng empor. Oben betrat man einen kleinen Bodenraum, welcher da über dem Stall lag, wo dieser an das Hauptgebäude stieß. Aus diesem Bodenraum führte eine Tür in das letztere.

„Sie haben den Schlüssel“, bemerkte Florian.

Er nahm ihn aus der Hand des Lieutenants und öffnete die Tür. Als sie eintraten, kamen sie in ein mittelgroßes Zimmer, welches zwei Fenster hatte. Gegenüber dem jetzigen Eingang gab es eine Tür.

„So, das ist Ihr Wohnzimmer, Herr Kapitän“, sagte Florian.

Der Lieutenant blickte sich um. Ein Sofa, vier Stühle, ein Tisch, ein Schreibtisch, Spiegel mit Toilette, das war das ganze Meublement. Es war kein feines Zimmer, aber es war recht wohnlich und behaglich. Jetzt schob er den breiten Vorhang im Hintergrund zurück, und Königsau gewahrte da ein schwellendes Bett. Am Fußende desselben führte eine Wendeltreppe empor.

„Ah, das ist der Weg zum Dache?“ fragte er.

„Ja, der andere Schlüssel schließt.“

„Und dort jene Tür?“

„Kommen Sie, Herr Kapitän.“

Er öffnete die Tür und ließ ihn eintreten. Es war ein Schlaf- und Ankleidezimmer, jedenfalls einer Dame gehörig, denn es war hier jenes feine, nervenprickelnde Parfüm zu bemerken, welches der stete Begleiter des schönen Geschlechts zu sein pflegt.

„Wer wohnt hier?“ fragte er.

„Wollen Sie nicht raten?“ fragte der Kutscher lächelnd.

„Ah! Ist's möglich? Rate ich recht?“

„Nun, wie raten Sie?“

„Margot?“

„Margot, Mademoiselle Margot, ja, sie schläft hier, und nebenan hat sie den Wohnraum. Sie sehen, Herr Kapitän, daß Ihr Zimmer Ihnen nur unter gewissen Voraussetzungen gegeben werden konnte. Es ist kein Zimmer für einen Offizier. Sie sind jedenfalls ganz anderen Komfort gewöhnt; aber wenn Sie an die Vorteile denken, welche Ihnen die Wendeltreppe bietet, so werden Sie der Frau Baronin verzeihen, daß sie für dieses Mal ihren Geschmack so wenig berücksichtigen konnte. Und mir bitte ich auch nicht bös zu sein.“

Der alte Kutscher stand da, mit einem Gesicht so treu und gut, so pfiffig und schlau, so selbstbewußt und überlegen, daß Königsau sagte:

„Aber Florian!“

„Was, Herr Kapitän?“

„Der Teufel werde aus Ihnen klug.“

„Der nun nicht, wenn nur Sie in mir klug werden; das ist die Hauptsache.“

„Oh, ich beginne wahrhaftig, nun bald gescheiter zu werden! Wer Sie vorher hörte, wer Sie so dummfeig auf dem Bock sitzen sah und Sie jetzt reden hört, der kennt Sie ja gar nicht mehr! Der Hofmeister des feinsten Haufens kann sich ja gar nicht besser ausdrücken als Sie! Und nun das jetzige Gesicht gegen ihr früheres! Florian, Florian, Sie sind ein ganz verfluchter Schlauberger.“

Da nickte der Alte mit dem Kopf und antwortete:

„Monsieur, es wird auch häufig gebraucht! Durchschnittlich ist es besser, man wird für dümmer gehalten, als man ist. Es schmeichelt zwar der Selbstliebe nicht, aber es bringt reichliche Zinsen. So, nun wollen wir die Tür von Mademoiselle Margot verschließen und einmal nach dem Dach gehen.“

Er riegelte zu und wollte sich dann nach der Wendeltreppe wenden, aber Königsau faßte ihn beim Arm und sagte in bittendem Ton:

„Florian, wollen Sie es mir wohl gestehen?“

„Was?“ schmunzelte der Alte.

„Daß ich dieses Zimmer, diese herrliche Nachbarschaft und die unbezahlbaren Chancen da droben auf dem Dach nur Ihnen zu verdanken habe?“

„Nur mir?“ sagte der Alte, das erste Wort betonend. „Nein, da raten Sie falsch, Herr Kapitän. Ich will Ihnen die Wahrheit sagen: Ich gelte in diesem Haus etwas; der alte Kutscher hat oft mehr zu sagen als der junge Herr. Man erfüllt gern meine Wünsche, wenn es irgend möglich ist. Ich hatte den Narren an Ihnen gefressen und an unserer Margot noch mehr, Sie sind ein Paar, wie die lieben Engel im Himmel es nicht besser zusammensuchen können, und darum habe ich alter Kerl mich zu Ihrem Beschützer aufgeworfen. Auch die Baronin hat sehr schnell Respekt vor Ihnen bekommen. Wie Sie heute unter den Vagabunden aufgeräumt haben, das tut Ihnen so leicht keiner nach, und noch kühner muß, den Reden der Baronin nach, das gewesen sein, was Sie dann mit dem Kaiser gehabt haben. Sie ist ganz starr und steif vor Angst gewesen; aber ihr Respekt ist gewachsen. Zu alledem sind wir gut Deutsch gesinnt und da wir Ihnen gern dienlich sein wollen und den Lauschapparat nun einmal besitzen, so bat ich die Gnädige für Sie um dieses Zimmer. Sie willigte auch sofort mit Freuden ein. Das höchste aber, was sie getan hat, Ihnen zuliebe getan hat, nämlich ist, daß sie die Berta Marmont mitbringt. Anders war das Ding ja nicht zu machen, sonst hätte sich der Kaiser auf alle Fälle zu Margot in den Wagen gesetzt.“

„Ist sie denn gar so schlimm auf diese Berta Marmont zu sprechen?“

„Ja, weil der junge Herr seinen Narren an dem Mädchen gefressen hat. Das ist aber nun wohl vorüber, seit Margot sich hier befindet.“

„Ah, wirklich?“

„Ja, jetzt ist er nämlich bis über den Kopf in Ihre Margot verliebt. Er hat gar keine Ahnung davon, daß Sie ihr Verlobter sind. Er hat eingewilligt, Ihnen dieses Zimmer zu geben, weil er überzeugt ist, daß die Tür stets fest verschlossen bleibt, daß Sie nur auf Politik sinnen und gar nicht an das Mädchen denken.“

„So wird er ein wenig brausen und sich dann lachend darein ergeben, wenn er doch die Wahrheit erfährt. Er ist keine böse, sondern im Gegenteil eine gutmütige, ziemlich oberflächliche Natur. Sie brauchen also keine Sorge zu haben, wenigstens keine allzu große. Jetzt aber wollen wir auf das Dach steigen.“

Die Wendeltreppe war oben mit einer gußeisernen Platte verschlossen, welche genau in die Fugen paßte und mit dem Schlüssel zu öffnen war, den Königsau von dem Baron erhalten hatte.

Das Dach war eben und mit einer ungefähr vier Fuß hohen, steinernen Balustrade versehen. Als sie oben standen, meinte der Kutscher:

„Nehmen Sie sich in acht, daß Sie sich an den Erhöhungen, in denen sich die Ventilationslöcher befinden, nicht stoßen. Ich werde sie Ihnen zeigen.“

Er ergriff ihn bei der Hand und führte ihn nun von einem dieser Löcher, welche jetzt allerdings verschlossen waren, zum anderen. Er zeigte ihm, wie die Öffnung derselben zu bewerkstelligen sei, und sagte dann:

„Ich kann Ihnen jetzt gar nicht genau mitteilen, in welche Zimmer die Gäste verteilt werden; aber wenn Sie die Plattform später betreten und durch die Löcher hinabblicken, werden Sie ja selbst sehen, wo sich die Herren befinden. Nur ersuche ich Sie, dabei recht vorsichtig zu verfahren.“

„Wohl weil ich leicht bemerkt werden könnte?“

„Allerdings. Man hat Ihnen hier recht große Chancen geboten, benutzen Sie dieselben jedoch so, daß die geheimen Vorrichtungen unentdeckt bleiben. Jetzt wissen Sie alles, was ich Ihnen sagen konnte. Ich gehe und werde Sorge tragen, daß es Ihnen an nichts Nötigem mangelt.“

Sie stiegen wieder vom Dach herab, worauf Königsau die Treppenöffnung wieder mit der Eisenplatte verschloß. Er blieb, während Florian sich nach dem Stall begab, in seinem Zimmer zurück, löschte dann das Licht aus, um seine Anwesenheit möglichst unbemerkbar zu machen, und öffnete das Fenster, von dem aus er alle Passanten beobachten konnte.

Er hatte eine ziemliche Weise auf diesem Posten gestanden, als die Wagen ankamen. Diener mit Windlichtern eilten herbei, dabei entwickelte sich auf dem Hof eine sehr rege Geschäftigkeit, aber die Lichter verbreiteten doch nur einen so ungenügenden Schein, daß die Einzelheiten dem Beobachter entgingen.

Jetzt warf Königsau sich auf das Bett, um eine Zeit verstreichen zu lassen. Er mußte sich sagen, die die Belauschung der Angekommenen ihm jetzt noch keinen Nutzen bringen könnte. Erst nachdem eine geraume Weile vergangen war, stieg er wieder auf das Dach hinauf. Er begab sich zu dem Ventilator, welcher der Treppenöffnung am nächsten lag. Das Loch desselben war, wie bereits erwähnt, mit einer Art Spund verschlossen, den man von oben leicht entfernen konnte.

Er zog denselben vorsichtig heraus und blickte dann durch die Öffnung hinab. Was er da erblickte, erregte seine vollste Teilnahme.

Er sah das Schlafgemach der Geliebten unter sich. Sie lag bleich und angegriffen auf dem Bett, und ihre Mutter befand sich bei ihr. Ein Militärarzt, welcher zum Hauptquartier des Generals Drouet gehörte und auf dem Gut anwesend war, hatte auf Napoleons speziellen Befehl sich zu der Patientin begeben müssen. Er hatte die Wunde untersucht und kunstgerecht behandelt. Jetzt stand er im Begriff, sich zu entfernen.

„Es ist nicht die mindeste Gefahr vorhanden, Madame“, sagte er in beruhigendem Ton zu Frau Richemonte. „Mademoiselle wird baldigst genesen.“

„Ich danke Ihnen, mein Herr“, antwortete die Angeredete. „Ihre Worte gewähren mir die Beruhigung, deren wir nach der Aufregung dieses Abends so sehr bedürfen.“

„Ja, Ruhe ist das Beste, was ich Ihnen für Mademoiselle empfehlen kann. Meiden Sie jede Aufregung. Die Verletzung ist keineswegs eine schlimme; aber bei einer Dame hat das Wundfieber immer mehr zu bedeuten, als bei einem Mann.“

Er ging, und nun nahm die Mutter die Hand ihrer Tochter in die ihrige.

„Mein armes Kind“, sagte sie liebevoll. „Ich bin ganz glücklich, daß die Verletzung eine so wenig gefährliche ist: die Kugel konnte dich ja sehr leicht töten; aber dennoch befinde ich mich in nichts weniger als einer ruhigen Stimmung.“

„Meinetwegen, Mama?“ fragte Margot.

„Ja! Natürlich!“

„Oh, da darfst du keine Sorge haben. Du hast ja gehört, was der Arzt sagte. Meine Befürchtungen sind ganz andere.“

„Du hast Befürchtungen? Welche denn, liebes Kind?“

„Hugo –“, antwortete das schöne Mädchen.

„Oh, die Baronin hat uns ja versichert, daß ihm nichts geschehen kann. Er ist so gut versteckt, daß kein Franzose ihn finden wird.“

„Das ist es nicht, was ich meine. Aber stelle dir die unglücklichen Gedanken vor, welche ihn peinigen werden.“

„Du meinst, er hat Angst, entdeckt zu werden?“

Obgleich Margot sich sehr angegriffen fühlte, leuchteten ihre Augen stolz auf.

„Angst?“ sagte sie. „Ich glaube nicht, daß Hugo jemals Angst empfinden kann. Er hat dies uns oft genug bewiesen. Er wird an den Kaiser denken.“

„Du willst sagen, daß ihn das Interesse, welches der Kaiser für dich gezeigt hat, beunruhigen werde?“

„Gewiß, liebe Mama. Dieses Interesse ist ein so auffälliges gewesen, daß es meine größte Besorgnis erweckt.“

„Eine plötzliche Gefühlsaufwallung, mein Kind. Weiter nichts.“

„Glaube dies nicht! Hugo war der Retter des Kaisers und der Marschälle. Einem Lebensretter dankt man einer momentanen Aufwallung wegen nicht in der Weise, wie es heute von seiten Napoleons gesehen ist.“

„Mein Gott, man soll doch nicht etwa glauben, daß die Teilnahme des Kaisers eine mehr als vorübergehende, eine ernstliche ist?“

„Ich möchte das nicht hoffen, bin aber überzeugt, daß Hugo diese Ansicht hegen wird. Und doch kann er von meiner Liebe und Treue so fest überzeugt sein.“

Frau Richemonte blickte nachdenklich vor sich hin. Die Mutter einer schönen Tochter ist zu entschuldigen, wenn es für sie einmal einen Augenblick gibt, in welchem sie geneigt ist, auf der Grundlage dieser Schönheit ein kleines Luftschloß zu errichten.

„Du liebst ihn also wirklich so treu und innig?“ fragte sie.

„Ja, Mama.“

„So, daß nichts dich in deiner Liebe beirren könnte?“

„Gar nichts.“

„Auch nicht der Gedanke an die Zukunft?“

„Gerade der Gedanke an die Zukunft ist es ja, welcher meine Liebe mir als das größte Glück der Erde erscheinen läßt. Oh, Mama, dein Kind wird sehr, sehr glücklich sein.“

Sie zog die Hand der Mutter an die Brust, welche sich bei dem Gedanken an den Geliebten wonnig hob und senkte.

„Aber, man darf auch einmal weniger phantastisch sein, Margot“, sagte Frau Richemonte. „Das Leben ist ernst; die Prosa desselben ist weit mächtiger als die Poesie, welche alles gern in einem Licht erscheinen läßt, welches zwar im ersten Augenblick hell und verführerisch aufflackert, dann aber desto rascher verlischt, so daß das spätere Dunkel desto schwärzer und trauriger erscheint.“

Margot blickte die Sprecherin befremdet an.

„Aber, Mama, ich verstehe dich nicht“, sagte sie.

„Liebes Kind, ich meine, daß Herr von Königsau ein Subalternoffizier ist.“

„Oh, er wird bald avancieren.“

„Aber er wird nie Kaiser sein.“

Jetzt ging eine Art von Schreck über die Züge des schönen Mädchens.

„Habe ich recht gehört?“ fragte sie.

„Urteile nicht vorschnell, Kind. Der Kaiser schenkt dir seine Teilnahme. Weißt du, was das zu bedeuten hat?“

„Ja. Das hat zu bedeuten, daß Gott mir die Gabe der Schönheit verliehen hat, welche für mich nur den Zweck hat, den Geliebten glücklich zu machen.“

„Du würdest also gegebenenfalls die Teilnahme des Kaisers zurückweisen?“

„Sobald sie beleidigend werden könnte, gewiß. Oder wäre es möglich, daß du von deinem Kind eine andere Ansicht haben könntest?“

Diese Worte waren im Ton kindlicher Liebe und doch eines leisen Vorwurfs gesprochen. Frau Richemonte blickte ihrer Tochter tief in die schönen, treuen Augen und antwortete dann:

„Ich habe nur den Wunsch, dich glücklich zu sehen, Margot.“

„Nun, der äußere Glanz wird nie imstande sein, mich glücklich zu machen.“

„So gehört dein ganzes Vertrauen, deine ganze Hoffnung allein Herrn von Königsau?“

„Ja, ganz allein, Mama.“

„So beschämst du mich beinahe, mein liebes Kind. Ich kenne dich so genau und glaubte dennoch, dem Gedanken Raum geben zu dürfen, daß der Glanz, welcher die Person eines Kaisers, eines mächtigen Herrschers umgibt, Einfluß auf dich haben könnte.“

„Dieser Glanz steht im Begriff, zu verbleichen.“

„Du glaubst an den Sieg Deutschlands?“

„Von ganzem Herzen.“

„So gebe Gott, daß du dich nicht täuschst.“

In diesem Augenblick öffnete sich leise die Tür, und Berta Marmont trat ein.

„Darf ich stören?“ fragte sie bescheiden.

„Was bringen Sie, mein Kind?“ antwortete Frau Richemonte.

„Der Herr Baron de Sainte-Marie ist draußen.“

„Er will mit mir sprechen?“

„Er läßt fragen, ob es ihm erlaubt sei, Mademoiselle sein Beileid zu bezeugen. Es ist ihm, da er mit den hohen Herren beschäftigt war, noch nicht möglich gewesen, dies tun zu können.“

„Was meinst du, mein Kind?“ fragte Frau Richemonte ihre Tochter.

Es ging eine leise Röte über das blasse Gesicht Margots. Sie warf einen forschenden Blick über das Arrangement ihres Lagers und sagte dann:

„Der Baron ist unser Gastfreund und Verwandter; wir sind ihm Rücksicht schuldig.“

„Du willst ihn empfangen?“

„Ja, er mag eintreten.“

„So werde ich mich einstweilen zurückziehen.“

Da sagte Margot schnell, beinahe hastig:

„Nein. Bitte, bleibe bei mir.“

„Wie du denkst, liebe Margot. Er kann übrigens gar nicht übel nehmen, die Mutter bei der kranken Tochter zu finden. Bitte, lassen Sie ihn eintreten.“

Diese letzteren Worte waren an Berta gerichtet. Das Gesicht des Mädchens war sehr ernst, fast besorgt. Sie warf einen unruhigen Blick auf die schöne Patientin und entfernte sich dann. Einen Augenblick später trat der Baron ein.

Er hatte seine Verwandte während ihrer Anwesenheit auf dem Meierhof täglich gesehen, aber nicht in der gegenwärtigen Situation. Sie lag im leichtesten Nachtgewand in den Kissen, und die Blässe ihres Angesichts machte einen tiefen Eindruck auf ihn.

Er verbeugte sich höflich vor Mutter und Tochter und sagte, zur ersteren gewendet:

„Verzeihung, liebe Tante, daß ich es wage, im innersten Damengemach Zutritt zu suchen. Aber ich bin so besorgt um Margot, daß ich mich auf alle Fälle selbst überzeugen wollte, ob meine Angst um sie eine begründete ist.“

Er gab Frau von Richemonte die verwandtschaftliche Bezeichnung Tante; dies rückte ihn den Damen näher und gewährte ihm das Recht, vertraulicher mit ihnen zu verkehren, als es ihm sonst wohl gestattet gewesen wäre.

„O bitte“, antwortete die Angeredete freundlich. „Wir erkennen die Freundlichkeit, welche Sie uns erweisen, dankbar an.“

„Wie geht es der lieben Cousine?“

„Gott sei Dank, besser als man erwartet hatte.“

„Darf sie sprechen?“

„Es wurde ihr nicht verboten.“

Er trat langsam an das Bett, ergriff Margots Rechte und drückte sie an seine Lippen.

„Liebe Margot, Sie glauben nicht, wie sehr ich erschrocken bin, als ich hörte, daß Sie verwundet seien“, sagte er. „Ich wünschte im ersten Augenblick, daß die Kugel mich selbst an ihrer Stelle getroffen hätte.“



Margot entzog ihm leise die Hand und fragte lächelnd:

„Sie wünschten das im ersten Augenblick?“

„Ja, bei Gott, ich wünschte das“, antwortete er.

„Aber im zweiten Augenblicke?“

„Auch noch.“

„Und im dritten?“

„Oh, ich wünschte es ja jetzt noch“, antwortete er, halb verlegen und halb in einer Art von schwärmerischer Begeisterung.

„Ich danke Ihnen, lieber Cousin“, sagte die Patientin freundlich. „Ich bin überzeugt, daß Sie die Wahrheit sprechen.“

Sein Blick ruhte wie trunken auf ihr. Er konnte sich dem Eindruck, den ihre Schönheit auf ihn machte, nicht entziehen; er gab sich auch gar keine Mühe, sich zu beherrschen. Er ergriff abermals ihre Hand, zog dieselbe an seine Lippen und sagte:

„Der Augenblick, in welchem ich von Ihrer Verwundung hörte, wird mir unvergeßlich sein.“

„Ist Ihr Gedächtnis wirklich ein so treues?“

„In Beziehung auf Sie, jedenfalls. Dieser Augenblick ist ja einer der wichtigsten meines Lebens.“

„Inwiefern, lieber Cousin?“ fragte Margot ahnungslos.

„Weil er mir Aufschluß über mich gegeben hat. Ich habe da erkannt, wie teuer, wie wert Sie mir sind.“

„Ich hoffe allerdings, daß es Ihnen nicht ganz gleichgültig ist, ob man Ihre Cousine erschießt oder nicht, Herr Baron.“

Diese Worte sagte Frau Richemonte. Sie erteilte ihnen einen scherzenden Klang, welcher ihn abschrecken sollte. Sie hatte mit scharfem Auge erkannt, daß er im Begriff stehe, die schönste Liebeserklärung vom Stapel zu lassen. Er aber merkte oder beachtete ihre Absicht nicht im geringsten; denn er fuhr fort:

„O bitte, liebe Tante, ich meine das anders, ganz anders! Nicht so allgemein, nicht bloß verwandtschaftlich. Ich habe vielmehr erkannt, daß mein Herz, mein ganzes Leben Margot gehören.“

„Cousin!“ sagte da Margot erschrocken.

„Ja“, antwortete er. „Ich hoffe, daß du es mir glauben wirst. Ich fühle, daß ich ohne dich nicht leben kann.“

Er machte Anstalt, vor dem Bett niederzuknien, blieb aber stehen, als er eine Armbewegung Margots sah, in welcher sich Schreck ausdrückte.

„Du scherzest“, sagte sie.

„Scherzen? Oh, ich bitte dich im Gegenteil, es so ernst wie möglich zu nehmen.“

Sie blickte ihm in das hübsche, jugendliche Gesicht, und über das ihrige glitt ein leises Lächeln, als sie ihm sagte:

„Du dauerst mich da sehr, lieber Cousin.“

„Warum?“ fragte er sie befremdet.

„Weil du sterben mußt.“

„Sterben? Ich? – Inwiefern?“ fragte er erblassend. „So hältst du mich für krank?“

„Das nicht. Aber sagtest du denn nicht soeben, daß du ohne mich nicht leben kannst?“

„Ja, allerdings.“

„Nun, also wirst du sterben müssen.“

Er blickte sie starr an, trat einen Schritt zurück und fragte dann in verwundertem Ton:

„Wie? Verstehe ich dich recht?“

„Wie hast du mich verstanden?“

„Ich verstehe dich dahin, daß du mich nicht liebst.“

„Oh, ich liebe dich freilich; du bist ja mein Cousin.“

Er machte eine Gebärde des Unwillens und antwortete:

„So meine ich es nicht.“

„Wie denn?“

„Nicht als Cousin sollen Sie mich lieben, sondern anders, ganz anders. Ich will von Ihnen als Bräutigam, als Mann geliebt sein.“

Ihr Lächeln wurde noch schalkhafter als vorher.

„So werden Sie doch sterben müssen“, sagte sie im Ton des Bedauerns.

„Ah!“ seufzte er.

„Ja, ohne Gnade und Barmherzigkeit.“

„Das soll heißen, ich kann Ihr Bräutigam nicht sein?“ Da schlug er ganz überrascht die Hände zusammen und rief: „Mein Himmel, da falle ich ja wie aus den Wolken.“

„Bitte, tun Sie sich dabei keinen Schaden.“

„Wollen Sie meiner spotten?“ fragte er sehr ernsthaft.

„Nein, lieber Cousin. Aber wie es scheint, haben Sie es für eine ganz und gar ausgemachte Sache gehalten, daß Sie mein Bräutigam werden?“

„Allerdings“, antwortete er rasch.

„Das überrascht mich sehr.“

„Warum?“

„Sie hätten sich vorher informieren sollen, ob Sie da auf kein Hindernis stoßen.“

„Welch' ein Hindernis sollte denn da vorhanden sein?“

„Oh, das größte, welches es geben kann: ein Bräutigam.“

Es war beinahe belustigend anzusehen, wie er jetzt vor Erstaunen den Mund öffnete.

„Das wäre allerdings ein ganz bedeutendes Hindernis!“ sagte er verblüfft.

„Welches Sie natürlich gelten lassen.“

„Nun, haben Sie denn einen Bräutigam, Margot?“

„Schon längst!“

„Donnerwetter! Dem Kerl drehe ich den Hals – ah, verzeihen Sie! Aber ich glaube wirklich, daß Sie nur ein wenig Scherz treiben!“

Jetzt schüttelte sie sehr ernst ihr schönes Köpfchen und sagte:

„Nehmen Sie es nicht übel, lieber Cousin. Sie sind da ein wenig zu unvorsichtig vorgegangen. Sie sind Baron, wohlhabend und von leidlich angenehmen Äußeren; die Damen sind Ihnen daher stets freundlich entgegengekommen, und das hat in Ihnen die Ansicht hervorgebracht, daß Liebe und Gegenliebe ganz selbstverständlich sei. Darum ist es Ihnen auch gar nicht eingefallen, zu fragen, ob Ihnen jemals eine Abweisung werden könne. Ich bedaure Sie, aber ich bin überzeugt, daß Sie nicht unglücklich sein werden.“

„Unglücklich? Ich bin es im höchsten Grad!“ versicherte er rasch.

„In diesem Augenblick?“ lächelte sie.

„Oh, ganz gewiß, auch für immer.“

„Nein, dazu ist Ihr Gemüt zu elastisch.“

„Gemüt? Elastisch? Cousine, ich versichere Ihnen, daß ich in diesem Augenblick gar kein Gemüt mehr habe. Oh, mein Herz ist total gebrochen.“

Da ließ sie, trotzdem sie krank war, ein helles, silbernes Lachen hören.

„Dieses arme Herz“, scherzte sie im Ton des Bedauerns. „Ich hoffe jedoch, daß es zu reparieren sein wird.“

Da trat er einen Schritt zurück und fragte mit finsterem Stirnrunzeln:

„Machen Sie sich etwa über mich lustig?“

Jetzt legte ihm Frau Richemonte beruhigend die Hand auf den Arm.

„Bitte, nehmen Sie diese Angelegenheit nicht so sehr tragisch“, bat sie ihn.

„Aber sie ist ganz und gar nicht komisch“, antwortete er. „Bei einem gebrochenen Herzen von Reparatur zu sprechen, das ist gelinde ausgedrückt, gefühllos.“

„Nicht ganz, lieber Cousin.“

„Oder maliziös!“

„Das noch weniger. Margot wird sich nicht irren, wenn sie annimmt, daß die Konstitution Ihres Herzens eine stärkere sei, als Sie selbst denken und glauben.“

„Das muß sich erst finden. Also Margot hat wirklich einen Bräutigam?“

„Ja.“

„Seit wann?“

„Seit geraumer Zeit bereits.“

„Also schon in Paris?“

„Ja.“

„Das beruhigt mich einigermaßen. Hätte sie hier einen anderen außer mir lieben gelernt, so würde dies die größte Ehrenkränkung für mich sein. Da sie jedoch ihr Herz verschenkt hat, ehe sie mich kennen lernte, so bin ich ja gar nicht beleidigt worden. Zu beklagen ist es aber auf jeden Fall; denn wir wären sehr glücklich miteinander gewesen.“

Die letzten Worte des Barons wurden mit einer solchen Überzeugung gesprochen, daß selbst Frau Richemonte nicht ganz ernsthaft bleiben konnte.

„Ich bin überzeugt davon“, sagte sie unter einem nicht ganz zu verbergenden Zucken ihrer Mundwinkel.

„Ja, gewiß. Aber wer ist denn eigentlich dieser Bräutigam?“

Die beiden Damen blickten sich an. Es kam ihnen zu gleicher Zeit der Gedanke, daß es jetzt wohl nicht ganz geraten sei, diese Frage zu beantworten. So gutmütig und leicht getröstet der Baron auch war, er befand sich doch unter dem ersten Einfluß einer zurückgewiesenen Werbung und konnte dies keinem Nebenbuhler entgelten lassen. Königsau konnte dadurch in Gefahr kommen.

„Erlauben Sie, dies jetzt noch als Geheimnis zu behandeln“, bat darum Frau Richemonte.

„Warum?“

„Familienrücksichten –“

„Ah! Gut! Aber sagen Sie wenigstens, was er ist!“

„Offizier!“

„Das dachte ich mir! Franzose?“

„Nein; er ist ein Deutscher.“

„Das lasse ich eher gelten. Ich danke für die Auskunft. Weiß Mama bereits davon?“

„Ja.“

„Das ist ja kaum zu glauben. Ich habe bisher geglaubt, es sei ein Wunsch von ihr, Margot und mich vereint zu sehen.“

„Hat sie diesen Wunsch ausgesprochen?“

„Deutlich ausgesprochen nicht, aber sehr verständlich angedeutet.“

„So will ich Ihnen gestehen, daß Ihre Mama erst heute von der Verlobung meiner Tochter gehört hat.“

„Was sagte sie dazu?“

„Sie gratulierte.“

Er kratzte sich leise hinter den Ohren und fragte:

„Da meinen Sie wohl, daß ich auch gratulieren soll?“

Margot antwortete unter einem leisen Lachen:

„Natürlich. Ich erwarte dies ganz bestimmt von Ihnen!“

Er machte ein halb ärgerliches und halb komisches Gesicht und antwortete:

„Das scheint mir denn doch zu viel verlangt.“

„Wohl nicht. Sie sind ja mein Cousin!“

„Ja, aber der Cousin, der soeben einen Korb erhalten hat. Na, ich will nicht ganz und gar unhöflich sein. Ich gratuliere Ihnen also, liebe Cousine.“

„Ich danke!“

Er hatte ihr die Hand geboten, und sie nahm dieselbe an. Sie hielt sie jetzt fest und fragte:

„Zürnen Sie mir, lieber Baron?“

„Nein, obgleich ich eigentlich sollte. Doch jetzt muß ich Sie verlassen. Die hohen Herrschaften werden meiner bedürfen.“

„Was tut der Kaiser?“

„Als ich ihn vorhin verließ, hatte er sich soeben vom Souper zurückgezogen. Er hat sehr wenig gegessen und beorderte die Marschälle für später zu sich.“

Er ging.

Da draußen im anderen Zimmer saß Berta Marmont. Ihr Auge richtete sich mit einem fragend besorgten Blick auf ihn. Er blieb bei ihr stehen, betrachtete sie einen Augenblick lang und fragte dann.

„Warum siehst du so ernsthaft aus?“

Sie erhob sich und antwortete:

„Darf eine Krankenpflegerin lustig sein, Herr Baron?“

„Warum nicht, wenn die Kranke selbst lustig ist.“

„Ah, ist Mademoiselle lustig geworden?“

„Sehr!“

Ihr Auge verdunkelte sich. Wer lustig ist, der muß sich glücklich fühlen, und glücklich fühlt man sich zumeist, wenn man liebt und geliebt wird. Dies war der schnelle Gang ihrer Gedanken. Darum sagte sie:

„Ich beneide Mademoiselle!“

„Warum?“

„Sie ist so glücklich, vergnügt sein zu können.“

„Kannst du denn nicht auch vergnügt sein?“ fragte er sie.

Er legte ihr bei diesen Worten die Spitzen seiner Finger unter das weiche, mit einem allerliebsten Grübchen versehene Kinn; sie aber trat aus dem Bereich seiner Hand zurück.

„Worüber sollte ich mich glücklich fühlen!“ sagte sie.

„Oh, über denselben Gegenstand, worüber sich meine schöne Cousine glücklich fühlt!“

Sie blickte ihn fragend an.

„Errätst du diesen Gegenstand nicht?“ fuhr er fort.

„Nein, Herr Baron.“

„Nun, welch' größeres Glück gibt es denn für eine Dame, als einen Bräutigam?“

Sie erschrak, man sah es ihr an.

„Mademoiselle hat einen Bräutigam?“ fragte sie.

„Ja“, antwortete er.

„Darf ich fragen, wer dies ist?“

„Schelm du!“ antwortete er. „Du glaubst wohl gar, daß ich es bin?“

„Ist das so unmöglich?“

„Ja. Ich kann es nicht sein, da ein anderer es ist.“

Da holte sie tief Atem.

„Sie sind es wirklich, wirklich nicht?“ fragte sie stockend.

„Nein, liebe Berta, ich bin es wirklich nicht, ganz gewiß nicht.“

Da rötete sich ihr schönes Gesichtchen lieblich, und sie fragte:

„Darf ich Ihnen sagen, daß ich Ihnen dies kaum glaube?“

„Warum glaubst du es nicht, kleiner Schelm?“

„Mademoiselle ist so schön.“

„Ja, eben darum hat sie so leicht einen Bräutigam gefunden.“

„Und eben darum werden Sie dieser Bräutigam sein.“

„Ich? Nein. Ich möchte sie nicht, wahrhaftig nicht.“

„Warum, Herr Baron?“

„Sie ist zwar schön, aber sie hat ein hartes Herz.“

„So ist sie hartherzig gegen Sie gewesen?“

„Ich habe ihr keine Veranlassung dazu gegeben. Übrigens sage ich zwar, daß ich sie für schön halte, aber die Schönste ist sie noch lange nicht. Ich kenne eine, welche mir noch tausendmal besser gefällt.“

Sie schwieg, obgleich sie errötete. Darum fuhr er fort:

„Nun, Berta. Du fragst nicht, wer das ist?“

„Ich darf mir eine solche Frage ja gar nicht erlauben, Herr Baron.“

„Warum nicht? Gerade du hast das meiste Recht, diese Frage auszusprechen, denn du bist diejenige, welche ich meine!“

Er versuchte den Arm um sie zu legen. Sie entwand sich ihm und flüsterte:

„Es ist nicht recht von Ihnen, eines armen Mädchens zu spotten.“

„Spotten? Wo denkst du hin! Du bist mir in Wahrheit tausendmal lieber als diese Cousine. Du bist zehnmal hübscher, und ich bin überzeugt, daß du nicht ein so hartes, gefühlloses Herz besitzt wie sie. Habe ich da recht oder unrecht?“

Er legte abermals den Arm um sie. Sie wollte sich auch dieses Mal ihm entwinden, aber er hielt sie so fest, daß es ihr nicht gelang.

„Herr Baron, lassen Sie mich“, bat sie leise aber dringend. „Man wird uns hören.“

„Nein“, flüsterte er, sie fester an sich drückend. „Ich werde diesen schönen Mund so leise küssen, daß man es gar nicht zu hören vermag.“

„O nein, nein! Das darf nicht sein“, bat sie, sich gegen ihn wehrend.

„Warum nicht?“

„Sie sind Baron.“

„Nun gut, so wirst du meine Baronin werden.“

„Ich, das arme Schankmädchen?“

„Ja. Du und keine andere.“

Er nahm jetzt ihr Köpfchen so fest an sich, daß ihr ein fernerer Widerstand zur Unmöglichkeit wurde. Seine Lippen legten sich auf ihren Mund und küßten denselben ein, zwei, drei und noch mehrere Male. Er war so in diesen süßen Genuß vertieft, daß er gar nicht bemerkte, wie die Tür geöffnet wurde.

„Bon appétit“, klang es da hinter ihnen.

Sie fuhren erschrocken auseinander.

„Der Kaiser!“ rief Berta im tiefsten Schreck.

Im nächsten Augenblick war sie aus dem Zimmer entflohen. Der junge Baron stand vor Napoleon, verlegen wie ein Schulknabe.

„Sie haben einen guten Geschmack, Baron“, sagte der Kaiser unter jenem sarkastischen Lächeln, welches bei ihm eine solche Schärfe besaß. „Darf ich hoffen, daß Sie mir die Unterbrechung verzeihen?“

„Majestät –“, stotterte der Gefragte.

„Ich hatte allerdings keineswegs die Absicht, Sie zu stören. Ich wollte mich nach dem Befinden unserer schönen Blessierten erkundigen und fand den Weg nach hier. Wo ist Demoiselle Richemonte zu treffen?“

„Im Nebenzimmer, Majestät.“

„Ist sie allein?“

„Nein; ihre Mutter ist bei ihr.“

„Sie haben sie gesprochen?“

„Ja; soeben, Sire.“

„So ist der Zutritt nicht untersagt?“

„Die Damen werden glücklich sein, Majestät bei sich zu sehen.“

„So melden Sie mich!“

Der Kaiser hatte in seiner kurzen, gebieterischen Weise gesprochen. Der Baron gehorchte schleunigst. Er trat an die Tür und riß dieselbe auf.

„Seine Majestät!“ rief er hinein.

Die beiden Frauen fühlten sich im höchsten Grad erschrocken, als sie Napoleon bei sich eintreten sahen. Er konnte wirklich herzgewinnend sein, wenn er wollte. Er verbeugte sich leicht und sagte im höflichsten Ton:

„Pardon, Mesdames! Die Sorge um Mademoiselle läßt mich vielleicht eine Unhöflichkeit begehen; aber ich hörte, daß der Zutritt gestattet sei.“

Frau Richemonte verbeugte sich tief und stumm, und Margot versuchte, sich respektvoll ein wenig emporzurichten. Des Kaisers Augen ruhten forschend auf ihr. In seinem Blick glänzte ein Etwas, was Margot tief erröten ließ.

„Der Arzt war bei Ihnen?“ fragte er.

Bei diesen Worten zog er sich einen Stuhl ganz in die Nähe des Bettes und nahm darauf Platz. Frau Richemonte gab für ihre Tochter die Antwort.

„Er hat uns erst vor kurzer Zeit verlassen, Sire.“

„Darf ich Sie um seinen Bescheid bitten?“

„Er versicherte, es sei keine direkte Gefahr vorhanden, warnte aber vor jeder Aufregung.“

„Ich habe ganz denselben Bericht von ihm erhalten.“

Er ließ sein Auge abermals langsam und forschend über die Verwundete und deren Mutter gleiten. Es war, als ob er beurteilen wolle, welches Entgegenkommen er hier finden werde. Dann fuhr er, die Beine übereinanderlegend, fort:

„Mademoiselle ist an meiner Seite verwundet worden. Die Dankbarkeit eines Kaisers wird dadurch herausgefordert. Darf ich einige Fragen aussprechen?“

Frau Richemonte verbeugte sich schweigend. Der Kaiser fragte:

„Monsieur Richemonte, lebt er noch?“

„Nein.“

„So sind Sie Witwe?“

„Leider, Sire.“

„Es ist Pflicht der Herrscher, sich der Witwen und Waisen anzunehmen. Haben Sie Besitzungen oder Vermögen?“

„Wir sind arm, Sire.“

„Sie sind im Gegenteil sehr reich, Madame“, sagte der Kaiser. „Im Besitz einer schönen, liebenswürdigen Tochter ist man niemals arm. Ist Mademoiselle verlobt?“

„Ja, Majestät.“

Seine Brauen zogen sich leicht zusammen.

„Mit wem?“

Ihm, dem gewaltigen Kaiser, war es höchst gleichgültig, ob seine Fragen peinlich berührten oder nicht. Es war ja überhaupt eine Gnade von ihm, mit jemand zu sprechen.

„Mit einem Offizier“, antwortete die Mutter.

„Ah!“ sagte er. „Mit einem jungen Offizier?“

„Ja, Sire.“

„So hat er keine Charge. Warum sorgen Sie nicht in vorteilhafter Weise für die Zukunft Ihrer Tochter? Mademoiselle ist schön, ist geistreich. Sie wird sehr leicht eine höhere Connaissance anknüpfen. Haben Sie nicht Lust, bei Hofe zu erscheinen, Mademoiselle?“

Diese Frage war direkt an die Tochter gerichtet. Er erwartete natürlich, daß sie sehr schnell und überglücklich Ja sagen werde, aber sie antwortete:

„Sire, mein Wunsch ist nur, glücklich zu sein.“

„Das werden Sie in jenen Kreisen werden.“

„Ich wage, dies zu bezweifeln, Sire.“

„Ah, warum?“

Sein Blick, welchen er jetzt auf sie richtete, war fast stechend zu nennen.

„Ich ziehe ein bescheidenes Glück einem glänzendem vor“, antwortete sie.

„Aber man kann den höheren Kreisen angehören, ohne allzu sehr hervorzutreten. Auch dort wird die echte Bescheidenheit anerkannt und belohnt. Sie haben für mich gelitten; ich fühle die Verpflichtung, für Sie zu sorgen. Sie werden die Frau eines hohen Offiziers werden und ein Schmuck der Gesellschaft sein.“

„Sire, meine Mutter hatte bereits die Ehre, zu sagen, daß ich verlobt bin.“

„Pah! Mit einem niedrigen Offizier.“

„Ich hoffe, daß er sich eine Zukunft erringen werde.“

„Ah, Sie lieben ihn?“

„Von ganzem Herzen.“

Er heftete seinen Blick nach der Ecke des Zimmers und sagte erst nach einer Weile:

„Das ist schwärmerisch. Wohl! Ich werde ihn kennenlernen und nach Verdienst belohnen. Wie ist sein Name?“

Da zuckte es wie eine innige Genugtuung über das bleiche Gesicht Margots.

„Majestät werden nichts für ihn tun können“, sagte sie einfach.

Das war Napoleon noch nicht vorgekommen. Er, der allmächtige Kaiser, könne nichts für einen obskuren Offizier tun, er, der aus Bürgerssöhnen Marschälle, Fürsten und Herzöge gemacht hatte! Er fragte in sehr scharfem Ton:

„Warum nicht, Mademoiselle?“

„Er dient nicht im Heer“, antwortete sie.

„So aber in der Marine?“

„Er ist auch nicht eigentlich Marineoffizier, sondern Kapitän der Handelsflotte.“

Da zuckte der Kaiser zusammen.

„Da meinte Mademoiselle etwa jenen Kapitän de Sainte-Marie?“

„Allerdings, Sire.“

„Er wird nicht Ihr Mann werden.“

Diese Worte waren in einem Ton gesprochen, gegen den es voraussichtlich keinen Widerspruch gab; sie aber antwortete ruhig:

„Womit wollen Majestät diese Behauptung begründen?“

„Ich verbiete es!“ sagte er kurz.

Da stemmte sie den schönen Kopf in die Hand und blickte ihn von der Seite an. Es war ihr gar nicht, als ob sie mit einem Kaiser spreche.

„Sire werden da eine sehr ungehorsame Untertanin finden“, sagte sie.

„Und Mademoiselle werden einen sehr strengen Kaiser kennenlernen. Ich habe bereits über Ihre Zukunft bestimmt; Sie haben nicht zu appellieren. Wo befindet sich jetzt dieser Kapitän?“

„Sire hatte in ja in Dero Gefolge.“

„Er wurde entfernt; man wird nach ihm suchen.“

Es war zu sehen, daß der Kaiser eifersüchtig war. Diesem Kapitän gönnte er das schöne Geschöpf nicht. Er stand auf und sagte im strengen Ton:

„Bis morgen wird Mademoiselle sich entscheiden, ob sie eine gehorsame Untertanin sein will oder nicht. Nur in ersterem Fall ist Hoffnung vorhanden, daß die Ungnade, welche der Kapitän so verdientermaßen auf sich geladen hat, wieder von ihm genommen werde.“

„Sire, diese Ungnade wird ihn nicht drücken“, antwortete sie mutig.

„Mademoiselle ist sehr kühn!“ rief der Kaiser zornig.

„Ich sage die Wahrheit. Denn mein Verlobter befindet sich bereits in Sicherheit. Er wird Gelegenheit haben, jenseits von Frankreichs Grenzen vom heutigen Abend zu berichten und von dort aus seine Braut zu reklamieren.“

Der Kaiser stand sprachlos vor Erstaunen. In dieser Weise hatte noch niemand zu ihm gesprochen. Endlich fand er Worte.

„Mademoiselle scheint die Absicht zu haben, in ein Kloster zu gehen“, sagte er.

„Sire“, sagte sie, „ich hoffe, daß eine jede Untertanin Frankreichs das Recht besitzt, ihre Selbstbestimmung zu behaupten. Ich erteile das Recht, für mich zu sorgen, nur meinem Bräutigam.“

Er warf ihr einen vernichtenden Blick zu.

„Pah!“ sagte er. „Sie sind sehr schön, aber – außerordentlich dumm.“

Nach diesen Worten verließ er das Zimmer, ohne Frau Richemonte oder deren Tochter nochmals anzusehen. Sein Gesicht hatte jenen starren, marmornen Ausdruck angenommen, der ihm eigentümlich war, sobald er einen festen, unerschütterlichen Entschluß gefaßt hatte.

„Welch ein Unglück“, sagte Frau Richemonte. „Wir sind verloren!“

„Nein, wir haben gewonnen!“ antwortete Margot.

„Da täuschest du dich sehr.“

„Im Gegenteil, ich habe vollkommen recht.“

„Wieso?“

„Der Kaiser kann ein arm und niedrig geborenes, niemals aber ein dummes Mädchen lieben. Wenn er die Absicht hatte, mich in seine Nähe zu ziehen, so hat er diese Absicht jetzt ganz sicher aufgegeben.“

„Das gebe Gott, sonst sind wir wirklich verloren.“

„Für uns ist mir nicht bange, aber desto mehr für Hugo.“

„Wieso?“

„Gegen ihn wird sich der Grimm des Kaisers richten.“

„Ich denke, er befindet sich in Sicherheit.“

„Jetzt wohl nicht mehr. Bitte, Mama, benachrichtige sofort die Baronin von dem Vorgefallenen, damit sie ihre Vorkehrungen trifft.“

Frau Richemonte entfernte sich, um diesem Wunsch der Tochter zu willfahren.

Königsau lag oben auf dem Dach vor dem Ventilator. Er hatte die ganze Szene mitangesehen und angehört. Jetzt, nachdem der Kaiser gegangen war, verschloß er das Loch und forschte unter den übrigen Ventilatoren. Er hatte den richtigen sehr bald gefunden. Er konnte jetzt genau das Zimmer Napoleons überblicken, in welches dieser letztere soeben eingetreten sein mußte.

„Die Baronin!“ hörte er den Kaiser sagen.

Der Diener, welchem dieser Befehl gegolten hatte, entfernte sich schleunigst.

„Ah, jetzt fragt er nach mir!“ dachte Königsau.

Der Kaiser saß finster sinnend in seinem Sessel. Als die Baronin eintrat, fuhr er mit dem Kopf empor, sah sie scharf an und fragte:

„Sie sind eine brave Französin?“

„Ja, hoffe ich, Sire“, antwortete sie.

Sie wußte noch nicht, weshalb der Kaiser sie hatte rufen lassen.

„Sie werden jetzt Gelegenheit haben, mir dies zu beweisen“, sagte der letztere. „Seit wann ist Ihr Verwandter, der Seekapitän, der Verlobte von Mademoiselle Richemonte?“

Sie erschrak. Also hatte er dies erfahren! Von wem? Hier galt es, sehr vorsichtig zu antworten, um keinen Fehler zu begehen.

„Seit einigen Monaten“, sagte sie.

„Wo lernte er sie kennen?“

„In Paris.“

„Ist er reich?“

„Ja“, antwortete sie getrost.

„Seit wann befindet er sich hier bei Ihnen?“

„Seit kurzen Tagen.“

„Wo ist er in diesem Augenblick zu treffen?“

„Das weiß ich nicht, Sire.“

„Ich hoffe, daß Sie es dennoch wissen!“

Er schien sie jetzt mit seinen Augen durchbohren zu wollen. Sie hielt diesen Blick ruhig und standhaft aus und antwortete mit fester Stimme:

„Sire, ich sagte die Wahrheit.“

„Sie haben auch keine Ahnung?“

„Ich ahne nur, daß er sich schleunigst über die Grenze geflüchtet hat, um den Folgen, welche das Mißfallen Ew. Majestät nach sich ziehen könnte, zu entgehen.“

„Hier auf dem Meierhof befindet er sich nicht?“

„Nein, sonst wüßte ich es.“

„Das ist gut für Sie; denn ich werde den Hof augenblicklich durchsuchen lassen. Haben Sie mir also vielleicht eine Bemerkung zu machen?“

„Nein, Sire.“

„So können Sie sich entfernen.“

Sie ging. Kaum hatte sie das Zimmer verlassen, so ergriff der Kaiser die Glocke.

„General Drouet“, befahl er dem Diener, welcher auf dieses Zeichen eingetreten war und sich eiligst entfernte, um den Befehl auszuführen.

Drouet ließ kaum zwei Minuten auf sich warten.

„Sie entsinnen sich des Kapitäns, von welchem bei Tafel die Rede war?“ fragte Napoleon.

„Sehr wohl, Sire.“

„Ich wünsche, ihn zu fassen. Lassen Sie sofort den ganzen Hof genau nach ihm durchsuchen. Findet er sich nicht, so sind berittene Piquets auszusenden, um ihn zu ergreifen. Er kann sich noch nicht weit entfernt haben.“

Er machte die Bewegung der Entlassung, als Drouet dennoch stehen blieb, fragte er:

„Was noch?“

„Nachrichten vom Feind, Majestät.“

„Ah!“ rief der Kaiser, rasch aufspringend. „Von welchem Feind? Von den Engländern oder den Preußen?“

„Von beiden, Sire.“

„Wer brachte sie?“

„Kapitän Richemonte, mein bester Eclaireur.“

„Richemonte? Ah, ist er vielleicht mit Frau Richemonte verwandt, welche sich hier auf dem Hof als Gast befindet?“

„Möglich, ich weiß es nicht.“

„Wo befindet sich der Kapitän?“

„In meinem Arbeitskabinett.“

„Er soll augenblicklich zu mir kommen. Nachdem Sie meinen vorigen Befehl ausgeführt haben, bringen Sie Ney und Grouchy zu mir.“

Der General entfernte sich eiligst, und nach ganz kurzer Zeit meldete der Diener den Kapitän Richemonte, welcher auch sogleich eintrat.

Napoleon betrachtete ihn mit scharfem Auge, konnte aber eine Ähnlichkeit zwischen ihm und Margot nicht entdecken. Er fragte: „Wo sind Sie geboren, Kapitän?“

„In Paris, Sire“, antwortete der Gefragte.

„Wo lebten Sie zuletzt?“

„Ebendaselbst.“

„Sie standen im Dienst?“

„Nein.“

„Warum nicht?“

„Ich wollte nur meinem Kaiser dienen, nicht aber dem König, welchen uns die Feinde aufzwangen.“

„Das ist brav, Kapitän. Man wird solche Treue zu belohnen wissen. Haben Sie Verwandte?“

Der Kapitän horchte bei dieser Frage auf. Hatte sie einen näheren Zweck?

„Ja“, antwortete er.

„Wen?“

„Mutter und Schwester.“

„Ah! Wie heißt diese Schwester?“

„Margot, Sire.“

Napoleon nickte sehr schnell mit dem Kopf.

„Aber Sie sehen dieser Schwester nicht ähnlich!“ sagte er.

„Es sind Stiefmutter und Stiefschwester, Majestät.“

„Ah! Wo befinden sie sich?“

„Hier auf dem Meierhof.“

Er konnte keine andere Antwort geben, denn er sagte sich, daß der Kaiser seine Schwester gerade heute und hier gesehen haben müsse.

„Sie kamen heute, um Drouet Bericht zu erstatten?“

„So ist es Sire.“

„Woher?“

„Von Lüttich, Namur und Brüssel.“

„Wann sind Sie angekommen?“

„Vor einer Viertelstunde.“

„Haben Sie Ihre Mutter und Schwester gesprochen, Kapitän?“

„Nein, Sire.“

„Warum nicht?“

„Ich hätte keine Zeit dazu gehabt, spreche aber mit diesen Verwandten überhaupt nicht.“

Das war dem Kaiser auffällig.

„Sie sind mit ihnen zerfallen?“ fragte er.

„Ja.“

„Warum?“

„Sie sind der Sache des Vaterlandes untreu geworden, Sire. Ich muß mich ihrer schämen.“

„Untreu geworden?“ fragte Napoleon rasch. „Wie meinen Sie das?“

„Die Schwester hat sich mit einem preußischen Offizier verlobt.“

Da erhob sich Napoleon rasch vom Stuhl und sagte:

„Das ist ein Irrtum, Kapitän. Sie sind falsch berichtet worden.“

„Sire, ich sage die Wahrheit“, behauptete Richemonte.

„Ihre Schwester ist mit einem Seekapitän aus Marseille verlobt.“

„Davon weiß ich nichts.“

„Dieser Seemann heißt Saint-Marie und ist ein Verwandter der Besitzerin dieses Meierhofs.“

„Auch dies ist mir vollständig unbekannt, Majestät.“

„Wohl nur deshalb, weil Sie mit den beiden Frauen nicht verkehren?“

„Es ist erst kurze Zeit, daß ich mich von ihnen trennte; außerdem habe ich sie auch hier nicht aus meiner Beobachtung gelassen.“

„Merkwürdig! Wie heißt jener deutsche Offizier?“

„Hugo von Königsau.“

„Welchen Grad besitzt er?“

„Lieutenant bei den Ziethenhusaren.“

„Kennen Sie ihn persönlich?“

„Ja. Er ist übrigens ein besonderer Schützling des Feldmarschalls Blücher.“

„Beschreiben Sie ihn mir genau.“

„Er ist hoch und stark gebaut, wenn auch nicht sehr lang, hat blondes Haar, einen starken, leicht gekräuselten Schnurrbart von derselben Farbe, blaue Augen, sehr gute Zähne und ein kleines rotes Mal auf der rechten Wange.“

Da trat Napoleon zwei Schritte auf den Sprecher zu:

„Sie malten da wirklich diesen Lieutenant ab?“ fragte er rasch und dringlich.

„Ja, Majestät.“

„Sie wissen genau, daß Sie nicht irren?“

„Ganz genau.“

„Ah, so hat man es gewagt, mich zu betrügen, zu belügen und zu hintergehen! Dieser sogenannte Seekapitän ist kein anderer als jener Husarenlieutenant, jener Liebling des Feldmarschalls Blücher. Er kam nach hier, um zu spionieren. Man muß alles tun, um ihn zu fangen. Dann wird man ihn aufhängen. Warten Sie draußen im Vorzimmer. Ich muß sofort zu Drouet. Ich komme gleich wieder.“

Königsau hatte diese Unterredung von Wort zu Wort belauscht. Er erschrak. Diese Sache konnte gefährliche Dimensionen annehmen. Er mußte die Freunde sofort warnen. Daher eilte er nach der geheimen Treppe und stieg hinab, um sich zu Margot zu begeben. –

Als die Baronin den Kaiser verlassen hatte, eilte sie sofort zu ihren Verwandten, um ihnen mitzuteilen, daß Napoleon nach dem vermeintlichen Seekapitän suchen lassen werde. Sie begegnete Frau Richemonte, welche ja im Begriff gestanden hatte, sie aufzusuchen, unter der Tür und veranlaßte sie, wieder mit einzutreten.

„Erschrecken Sie nicht, liebe Margot“, sagte sie. „Ich komme soeben vom Kaiser.“

„Das bedeutet ein Unglück“, sagte Frau Richemonte.

„Es sieht größer aus, als es ist. Der Kaiser läßt das Haus nach dem sogenannten Seekapitän durchsuchen.“

„Mein Gott, wird man ihn finden?“

„Wohl schwerlich.“

„Wo ist er versteckt?“

„Ganz in Ihrer Nähe“, sagte die Baronin lächelnd.

„Unmöglich. Wo wäre das?“

„Hier!“

Diese Antwort wurde aber nicht von der Baronin, sondern von Königsau ausgesprochen, welcher durch die hintere Tür trat.

„Hugo!“ rief Margot. „Neben mir bist du?“

„Ja. Aber um Gottes willen, wir alle befinden uns in einer fürchterlichen Gefahr.“

„Wir wissen bereits davon. Die Frau Baronin wollte dir davon mitteilen.“

„Oh, es bedarf dieser Mitteilung nicht, denn ich weiß bereits alles. Ich weiß sogar mehr, als die Frau Baronin ahnt.“

„Haben Sie gelauscht?“ fragte diese.

„Ja. Kapitän Richemonte ist da.“

„Albin ist hier?“ fragten Mutter und Tochter zu gleicher Zeit.

„Ja“, meinte er.

„Mein Gott, so sind wir verraten! Wie hat er unseren Aufenthalt erfahren?“

„Durch einen Kommis des Hauses, von welchem Mama ihre Gelder bezieht.“

„Ah, daran hatten wir nicht gedacht; diese Möglichkeit wurde von uns übersehen. Aber ist es nicht möglich, daß du dich geirrt hast?“ fragte Margot.

„Nein. Er war soeben bei Napoleon: er befindet sich noch im Vorzimmer desselben. Er hat dem Kaiser gesagt, daß dein Verlobter nicht ein Seekapitän, sondern ein preußischer Husarenlieutenant ist.“

„So sind wir verloren.“

„Noch nicht. Er hat dem Kaiser mein Signalement gegeben und sogar das kleine Mal hier an der Wange nicht vergessen; aber dennoch kann man Euch nichts tun. Ihr dürft nur behaupten, daß die Verlobung mit mir aufgehoben wurde und daß ich durch Kapitän von Sainte-Marie ersetzt wurde.“

„Das ist die einzige Rettung“, stimmte die Baronin bei. „Meine Leute sind mir alle treu. Ich werde sie sofort instruieren lassen, auf etwaiges Befragen auszusagen, daß Kapitän de Sainte-Marie hier auf Besuch gewesen sei.“

„Dann muß er aber mein vollständiges Signalement besitzen“, meine Königsau.

„Natürlich. Es wird der Dienerschaft mitgeteilt. Wo ist der Kaiser?“

„Er eilte zu Drouet, jedenfalls um die Haussuchung zu beschleunigen.“

„Gott, wenn man dich entdeckt“, klagte Margot.

„Man wird ihn nicht finden“, tröstete die Baronin.

„Ich befürchte doch, daß man mich finden wird“, meinte Königsau.

„Wieso?“

„Man wird wohl auch dieses Zimmer durchsuchen und also diese Tür sehen, durch welche man in mein Zimmer gelangt. Dort wird man die Treppe und den Ausgang nach dem Dach entdecken. Dann bin ich verloren.“

„So weit kommt es nicht“, bestritt die Baronin. „Man wird nicht wagen, diese Krankenstube zu betreten.“

„Warum nicht? Der Kaiser war bereits da, ohne Rücksicht zu nehmen. Man wird mich ja am ersten bei meiner Braut vermuten und suchen.“

„Nun, so ist auch dann noch nichts verloren. Begeben Sie sich nach Ihrem Zimmer, und klingeln Sie Florian. Sie brauchen ihm nur zu sagen, daß der die Treppen fortnehmen solle. Dann sind Sie geborgen. Aber schnell! Ich höre unten laufen. Man beginnt die Durchsuchung bereits, wie es scheint.“

Königsau ging in seine Stube und klingelte. Bald erschien Florian.

„Was befehlen Sie?“ fragte er.

„Sie sollen die Treppe da fortnehmen“, antwortete Königsau.

„Sapperlot! Warum?“

„Napoleon hat erfahren, daß ich nicht der Seekapitän Sainte-Marie, sondern ein preußischer Husar bin. Er läßt haussuchen.“

„Sie meinen, daß man auch hierher kommen wird?“

„Ich vermute es.“

„Gut, dann nehmen wir die Treppe weg.“

„Geht dies so leicht?“

„Ja. Ich brauche nur zwei Schrauben aufzudrehen.“

„Wo kommt die Treppe hin?“

„Hinunter in den Stall, unter den Dünger.“

„Wird man den Ausgang nach dem Dach nicht trotzdem entdecken?“

„Nein. Haben Sie noch nicht bemerkt, daß die Eisenplatte genau dieselbe Farbe wie die Decke Ihres Zimmers hat?“

„Ich habe nicht so genau aufgemerkt. Übrigens ist es ja ganz dunkel hier. Wir wollen schnell ans Werk gehen. Es ist keine Zeit zu verlieren.“

„So steigen Sie hinauf.“

„Ah. Ich bleibe auf dem Dach?“

„Ja. Sie steigen hinaus und schließen die Platte von draußen zu. Sie müssen freilich auf dem Dach bleiben, bis die Gefahr beseitigt ist. Ich werde überdies, sobald es mir möglich ist, kommen, um Sie zu benachrichtigen.“ –

Unterdessen hatte Kapitän Richemonte im Vorzimmer gewartet. Als der Kaiser zurückkehrte, mußte er mit diesem wieder eintreten.

„Man beginnt soeben die Haussuchung“, sagte Napoleon. „Er wird uns nicht entgehen, wenn er sich noch hier befindet. Würden Sie ihn erkennen?“

„Sofort.“

„Und ihn rekognoszieren können?“

„Ja. Übrigens befindet sich ein zweiter hier, der ihn ebenso genau kennt wie ich.“

„Wer ist dies?“

„Der Baron de Reillac.“

„Hier auf Jeannette?“

„Nein, sondern in Sedan.“

„So könnte man ihn kommen lassen. Wie ist übrigens dieser Königsau mit Ihrer Schwester bekannt geworden?“

„Majestät, ich weiß dies nicht.“

„Wer hat die Einwilligung zur Verlobung gegeben?“

„Meine Stiefmutter.“

„Trotzdem er ein Deutscher ist?“

„Sie selbst ist auch eine Deutsche.“

„Ah, man hat also doppelt vorsichtig zu sein! Gab es denn keinen Franzosen, welchem es hätte gelingen können, das Herz Ihrer Schwester zu erobern?“

Der Kapitän sah ein, daß der Kaiser ein persönliches Interesse für Margot hege. Er konnte dies zu seinem Vorteil ausnutzen; es gab ihm ferner Gelegenheit, sich an Königsau, seinem Todfeind, zu rächen. Er antwortete:

„Dieser Husarenlieutenant machte mir einen meiner besten Pläne zuschanden.“

„Ah. Sie hatten einen Plan? Welchen?“

„Schon mein Vater bestimmte auf seinem Sterbebette, daß Margot die Gemahlin seines und meines besten Freundes, nämlich des Barons Reillac, werden solle –“

„Des Barons Reillac? Sie meinen den Armee-Lieferanten?“

„Ja, Sire.“

„Er erhielt aber die Zuneigung Ihrer Schwester nicht?“

„Leider, nein.“

Über die ehernen Züge des Kaisers glitt ein Lächeln, welches man teils erfreut und teils schadenfroh nennen konnte. Er blickte eine Zeitlang sinnend vor sich hin und sagte dann:

„Der Baron hat dieses Projekt fallen lassen?“

„Nein. Mutter und Schwester ergriffen die Flucht; der Baron half mir, ihre Spur zu entdecken, und ist jetzt so wenig wie vorher gesinnt, seinen Absichten zu entsagen.“

„Man muß zugeben, daß er einen sehr guten Geschmack besitzt. Ihre Schwester ist ganz geeignet, den feinsten Salon zu schmücken. Ich war bereit, ihr den Weg zu ebnen; sie aber hat verzichtet, dies zu akzeptieren.“

Jetzt wußte der Kapitän ganz genau, daß der Kaiser in Margot verliebt sei. Er sagte im Ton des tiefsten Erschreckens:

„Himmel, das ist ja gar nicht möglich! Eine solche Gnade zurückzuweisen! Wenn Majestät mich mit diesem Arrangement betrauen wollten, so bin ich überzeugt, den sträflichen Eigenwillen der Schwester zu besiegen.“

„Sie würden auf einen sehr energischen Widerstand stoßen.“

„Mit der Vollmacht von meinem Kaiser in der Hand würde ich diesen Widerstand nicht fürchten.“

„Sie würden ihn nicht bloß bei der Tochter, sondern auch bei der Mutter finden.“

„Die Mutter ist verständig und lebenserfahren genug, um einzusehen, welch einen unverdienten Schatz die Huld des Kaisers bildet.“

„So muß man sich die Angelegenheit überlegen. Vorher aber wollen wir sehen, ob es uns gelingt, diesen Lieutenant Königsau zu ergreifen. Baron Reillac ist kein Jüngling mehr, wie es scheint?“

„Er ist ungefähr fünfzig, Sire.“

„Sie ist seine Liebe keine rein leidenschaftliche?“

„Er glüht wie ein Milchbart.“

„Ah, das will einem so bejahrten Manne nicht wohl anstehen. Ich meinte, er begehre die Hand Ihrer Schwester nur, um mit ihr zu glänzen.“

„Vielleicht ist die glühende Erregung nur vorübergehend, Sire.“

„Man müßte dies hoffen. Der Baron hätte also Ihre Zustimmung?“

„Ich habe sie ihm bereits gegeben.“

„Sie werden ihn sehen und sprechen?“

„Ja.“

„Wann?“

„Morgen, wenn ich nach Sedan komme.“

„Nun wohl, so will ich diese Angelegenheit Ihrer Hand anvertrauen und sehen, ob Sie sich so geschickt erweisen, wie ich es erwarte.“

Der Kapitän verbeugte sich so tief wie möglich.

„Sire“, sagte er, „mein Leben gehört meinem Kaiser.“

„Ich bin überzeugt davon.“ Und nach einer Pause fuhr er fort: „Sie wissen, Kapitän, daß es Dinge und Arrangements gibt, über welche man nicht spricht –“

Richemonte verbeugte sich stumm.

„Welche man ordnet, ohne sich vorher Instruktion zu holen –“

Eine zweite Verbeugung war des Kapitäns Antwort.

„Eine solche Angelegenheit ist die gegenwärtige. Ich gebe Ihnen nur zu überlegen, daß ich als Kaiser Vormund aller Waisen bin.“

„Eins der schönsten Vorrechte der Krone, Sire.“

„Daß ich meine Vormundschaft nicht mit Gewalt zur Geltung bringen möchte. Eine Dame darf die möglichsten Rücksichten erfordern –“

„Bis zu einer gewissen Grenze, Majestät.“

„Ich sehe, Sie verstehen mich. Diese Grenze dürfte nur im Notfall überschritten werden, und dann zwar in einer Weise, welche nicht von sich reden macht. Ich muß das ganz allein Ihrer Klugheit überlassen.“

„Ich hoffe, die richtige Weise zu treffen, Sire.“

„Gut. So beauftrage ich Sie, dem Baron Reillac mitzuteilen, daß ich geneigt bin, ihn als den Verlobten Ihrer Schwester zu betrachten.“

„Er wird diese freudige Nachricht morgen empfangen.“

„Ich verbiete ihm aber, sich der Dame zu nähern, bevor ich ihm meine Erlaubnis dazu erteile. Verstanden?“

„Er wird gehorchen, obgleich ihm die Erfüllung dieses Befehles nicht leicht werden kann.“

„Sie haben darüber zu wachen, daß dieser Punkt streng respektiert wird.“

„Majestät, ich muß mir doch erlauben, eine solche Verantwortlichkeit von mir zu weisen.“

„Warum?“

„Weil ich der Schwester fern stehe und andere Pflichten –“

„Pah“, unterbrach ihn der Kaiser. „Sie werden der Schwester nahe gestellt werden, und die Erfüllung Ihrer anderen Pflichten wird man anderen Händen anvertrauen.“

„Dann soll es meine Aufgabe sein, darüber zu wachen, daß die Intention Ew. Majestät befolgt werde.“

„Ich erwarte das. Das Hauptquartier wird in kurzer Zeit den Meierhof Jeannette verlassen, doch werde ich eine Etappe auf dem Platz lassen.“

Der Kapitän errötete vor Freude. Er ahnte, was kommen werde.

„Das Kommando derselben werden Sie überkommen“, fuhr der Kaiser fort. „Ich werde General Drouet das Nötige mitteilen. Außer den Instruktionen, welche Sie von mir erhalten, haben Sie mir täglich briefliche Nachricht von dem Befinden Ihrer Schwester in das Quartier zu senden. Sollte sich etwas Ungewöhnliches ereignen, so benachrichtigen Sie mich sofort per Estafette.“

„Majestät, ich fühle mich glücklich, daß ich über meine Befugnisse eine wenn auch nur ganz kleine Andeutung notwendig habe.“

„Die Andeutung ist kurz. Sie lautet: Ihre Schwester und Ihre Mutter sind Ihre Gefangenen, natürlich nicht offiziell, sondern geheim. Die beiden Damen dürfen den Meierhof nicht ohne meine Erlaubnis verlassen.“

Soweit war die Instruktion gegeben, da wurde Drouet gemeldet. Der General trat unmittelbar hinter dem meldenden Diener ein. Napoleon wendete sich ihm zu.

„Gefangen?“ fragte er.

„Leider noch nicht, Sire“, lautete die Antwort. „Man hat bisher noch keine Spur entdeckt.“

„So hat man vielleicht schlecht gesucht.“

„Man hat bisher unterlassen, die Zimmer der Damen zu untersuchen.“

„Welche Damen meinen Sie?“

„Die Baronin und die Damen Richemonte.“

„Man suche auch bei ihnen.“

„Wird auch auf die Verwundung von Mademoiselle Margot nicht einige Rücksicht zu nehmen sein?“

Napoleon blickte vor sich nieder, dann antwortete er:

„Die einzige Schonung, welche ich gewähren kann, ist diejenige, daß nicht fremde Leute, sondern ihr Bruder bei ihr suchen soll.“

Das war eine Rache an Margot für ihre Zurückweisung. Der Kaiser fuhr fort:

„Kapitän, Sie werden sich sofort nach den Gemächern Ihrer Verwandten begeben und dort die genaueste Nachsuchung halten.“

Der Kapitän verbeugte sich und sagte:

„Ich erlaube mir, zu bemerken, daß unser Suchen trotz allem Eifer und Sorgfalt vielleicht vergebens sein kann und der Deutsche sich trotzdem hier versteckt aufhält. Dieser alte Meierhof hat Schlupfwinkel. Um ganz sicher zu gehen, müßte man sich mit jemandem verständigen, welcher das Haus genau kennt.“

„Es wird sich keiner finden, der sich dazu hergibt, die Herrschaft zu verraten“, sagte Drouet.

„Ich kenne einen“, bemerkte Richemonte.

„Wer wäre das?“

„Der alte Kutscher Florian.“

„Gerade dieser scheint seiner Herrschaft sehr ergeben zu sein.“

„Dies scheint nur so, mein General. Ich habe Beweise, daß er mir ergebener ist, als der Baronin oder dem Baron de Sainte-Marie.“

„Dieser Baron scheint ein etwas leichtsinniger Patron zu sein?“ fragte Napoleon.

„Er ist als nicht sehr charaktervoll bekannt“, antwortete der Kapitän.

„Solche Leute sind schwach und lassen sich leicht erschrecken. Man wir ein wenig ernst auftreten und den Baron so damit erschrecken, daß er die Wahrheit eingesteht. Ich habe soeben den Kapitän Richemonte zum Etappenkommandanten von Jeannette ernannt. Er wird sich jetzt zu der Baronin und ihrem Sohne, ebenso zu den Damen Richemonte begeben und ihnen ankündigen, daß sie seine Gefangenen sind.“

„Diese strenge Maßregel –“, wollte der General bemerken.

„Ist sehr begründet“, fiel Napoleon schnell ein. „Man nimmt einen preußischen Spion hier auf, man verbirgt ihn; das ist Landesverrat, in Kriegszeiten doppelt strafbar. Das Gesetz bedroht dieses Verbrechen mit dem augenblicklichen Tod. Man lasse sofort den Kutscher kommen, von dem Sie gesprochen haben.“

Diese Worte waren an Richemonte gerichtet. Er meldete dem Diener den Befehl, Florian sofort zu Stelle zu bringen, was augenblicklich befolgt wurde.

Florian trat mit jener Scheu ein, welche ein niedrig stehender Mann gewöhnlich vor hochgestellten Personen hegt.

„Sie sind der Kutscher der Baronin?“ fragte ihn der Kaiser.

„Zu dienen, Majestät“, antwortete jener ängstlich.

„Dienen Sie ihr bereits lange Zeit?“

„Schon viele Jahre.“

„Sind Sie mit ihr zufrieden?“

„Hm“, brummte der Gefragte verlegen.

Florian drehte seine Mütze verlegen hin und her und antwortete endlich:

„Es bleibt manches zu wünschen übrig.“

„Man hat einen besseren Dienst für Sie, wenn Sie sich desselben würdig zeigen.“

Da hellte sich das Gesicht des Kutschers auf.

„Oh, ich habe schon längst fort gewollt“, sagte er.

„Gut, so seien sie einmal aufrichtig, wenn Sie sich glücklich machen wollen, und sagen Sie, ob Sie einen Deutschen kennen, welcher Husarenoffizier ist und heimlich hier auf dem Meierhof verkehrt.“

„Nein, ich kenne keinen, Sire.“

„Sie reden da die Wahrheit?“

„Ja.“

„Vielleicht ist dieser Mensch unter einem anderen Namen hier gewesen?“

„Das würde mir aufgefallen sein. Es haben nur Bekannte hier verkehrt.“

„So kennen Sie wohl einen Bekannten, oder Verwandten der Baronin, welcher Seekapitän ist?“

„Ja, den kenne ich.“

„Er ist hier auf Besuch?“

„Er war hier. Es ist der Herr, welcher heute die Marodeurs so gut bediente.“

„War er schon längere Zeit hier?“

„Einige Tage.“

„War er viel mit Mademoiselle Margot zusammen?“

Florian blickte dumm verlegen vor sich nieder.

„Hm. Ja“, antwortete er mit breitem Lachen.

„Warum lachen Sie?“

„Na, sie waren ja Liebesleute.“

„War dies allgemein bekannt?“

„Man sah es ja. Sie schnäbelten sich wie die Tauben.“

„Wo ist er jetzt?“

„Fort! Futsch!“

„Man bezweifelt das. Er soll hier versteckt sein?“

„Versteckt? Das fällt ihm gar nicht ein. Ich weiß das viel besser, Sire.“

„So. Inwiefern wissen Sie das besser?“

„Weil er es mir gesagt hat.“

„Ah, endlich eine Spur. Was hat er gesagt?“

„Daß er entflieht.“

„Aber er hat die Flucht doch nicht sofort ergriffen?“

„Sofort.“

„Das ist kaum glaublich.“

„Oh, er sagte es mir selbst. Ich war, als wir an der Waldschenke standen, etwas beiseite getreten, und da kam er zu mir. Er sagte, daß er fliehen müsse, weil – weil –“

Der Kutscher steckte in ganz schauderhafter Verlegenheit.

„Fahren Sie fort“, sagte der Kaiser. „Ich befehle es Ihnen, die volle Wahrheit zu sagen. Weshalb mußte er fliehen? Was gab er an?“

Florian antwortete sehr befangen und schamhaft:

„Er sagte, er müsse fort, weil – weil – – – er, weil der Kaiser die Margot für sich haben wolle und sich deshalb mit ihm gezankt habe.“

„Pah!“ sagte Napoleon verächtlich und mit unbeschreiblichem Stolz.

„Ja, so sagte er“, fuhr Florian fort. „Er meinte, wenn er sich hier noch einmal sehen lasse, so sei er verloren. Er wolle aber seine Liebste und die Baronin nicht in Verlegenheit bringen: darum ergreife er auf der Stelle die Flucht.“

„Wohin?“

„Ich solle der gnädigen Frau sagen, daß er zunächst nach Luxemburg und dann nach Köln gehe. Er verließ mich in der Richtung nach Donzy zu.“

„Sie sagen die Wahrheit?“ fragte der Kaiser streng.

„Ja. Warum sollte ich lügen?“

„Weiter sagte er nichts?“

„O ja.“

„Was?“

„Daß er wiederkommen werde.“

„Wann?“

„Dann, wenn – wenn – – – ich kann das nicht sagen, Majestät.“

„Warum nicht?“

„Sie werden sich ärgern.“

„Ich befehle Ihnen dennoch, es zu sagen.“

„Nun, er sagte, er werde wiederkommen, wenn – wenn – sobald der Kaiser die richtigen Keile von den Alliierten erhalten habe.“

Über das Angesicht Napoleons huschte ein eigentümlicher und undefinierbarer Ausdruck. Er bezwang sich aber und fragte weiter:

„Das ist alles, was Sie von ihm wissen und was er sagte?“

„Noch nicht alles.“

„Was noch?“

„Noch zweierlei. Er sagte, ich solle den Damen und dem Baron tausend Grüße bringen, Mademoiselle Margot aber tausend Küsse von ihm geben.“

Drouet lächelte belustigt; der Kaiser aber fragte, ernst bleibend:

„Und das zweite?“

„Ich soll gut aufpassen und ihm später alles genau sagen.“

„Aufpassen? Worauf?“

„Ob der Kaiser viel bei Margot sei, und ob er sie oft küsse.“

„Mensch, Sie sind bei Gott höchst aufrichtig“, rief Napoleon.

„Ja, das bin ich“, sagte der Kutscher sehr stolz.

Er schien den ärgerlichen Ausruf des Kaisers für ein Lob zu nehmen.

„Sie sind also überzeugt, daß er wirklich fort ist?“ examinierte Napoleon weiter.

„Ja. Ich habe ihn ja gehen sehen.“

„Er kann Sie auch getäuscht haben.“

„Mich?“ sagte Florian ganz erstaunt. „Der wäre mir der Kerl dazu. An mich kommt da nicht gleich einer heran.“

„Das sieht man Ihnen an“, meinte Napoleon ironisch. „Dennoch aber ist es möglich, daß er nicht nach Donzy gegangen ist, sondern sich heimlich hier verborgen hält. Gibt es hier nicht Orte, die man als Versteck benutzen kann?“

„Oh, viele.“

„Wo?“

„Der Taubenschlag zum Beispiel.“

„Unsinn!“

„Ferner die Milchkammer. Da stecke ich manchmal selber.“

„Gut, gut!“ rief Napoleon, nach der Tür winkend. „Sie können gehen!“

Florian schickte sich an, das Zimmer zu verlassen, drehte sich aber an der Tür noch einmal um und fragte:

„Aber die neue Stelle Majestät? Bitte, ja nicht vergessen!“

Damit verschwand er.

Der Kaiser wendete sich mit mitleidigem Achselzucken an Kapitän Richemonte:

„Sie haben uns da einen sehr schlauen Diplomaten empfohlen. Er ist ebenso borniert, wie aufrichtig, und ich bin überzeugt, daß er uns die Wahrheit gesagt hat.“

Hätte der Kaiser geahnt, daß durch den Ventilator in der Zimmerdecke derjenige herabblickte und alles hörte, den man so gern fangen wollte, so hätte er wohl ganz anders gesprochen. Er fuhr fort:

„Dennoch ist es leicht möglich, daß der Gesuchte sich hier aufhält. Das Geheimnis, welches ihn umhüllt, muß schleunigst aufgeklärt werden. Man muß erfahren, ob jener Seekapitän und der Husarenlieutenant dieselbe Person sind, oder nicht. Ich lege diesen Auftrag in Ihre Hand, Kapitän. Gehen Sie.“

„Ich bin nicht in Uniform, General“, wendete sich Richemonte an Drouet. „Darf ich zu meiner Legitimation mich eines Piquets bedienen?“

„Nehmen Sie so viel Mann, als Sie brauchen.“

Der Kapitän ging.

Es jubelte ihm das Herz in der Brust. Er sah sich mit einem Mal als Meister der ganzen Situation. Mutter und Schwester waren in seine Hand gegeben. Wurde Margot die Maitresse des Kaisers, so war sein Glück gemacht.

Zu gleicher Zeit hatte Napoleon ihm eine Waffe gegen den Baron Reillac in die Hand gegeben. Dieser sollte sie nicht berühren dürfen; er mußte ihn, den Kapitän, von jetzt an mit Schonung behandeln, da dieser nunmehr sichtlich unter dem unmittelbaren Schutz Napoleons stand.

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