SIEBENTES KAPITEL Das Geständnis des Hadschi Omanah

Da, wo die Höhen des Auresgebirges im Westen des Wadi el Arab sich nach Südosten allmählich zur Ebene niedersenken, sind sie von tiefen, steilen Einschnitten und Schluchten zerrissen, welche das Gebirge nur sehr schwer zugänglich machen. In diesen Schluchten hausen der Löwe und der schwarze Panther; das Geschrei der Hyänen und Schakale erschallt des Nachts, und nur selten trifft man einen Menschen, welcher es wagt, in die tiefe und gefährliche Einsamkeit dieser Gegend einzudringen.

Ein einziger Ort war hiervon ausgenommen.

Stieg man im Tal des Wadi Mahana empor, so gelangte man an einen mit außerordentlich starkem Baumwuchse bedeckten Vorberg, welche wie ein riesenhafter Altan aus der Masse des Gebirges trat. Der ihn bedeckende Wald gab ihm ein düsteres Aussehen. Aber von diesem Dunkel stach ein glänzend weißer Punkt ab, welchen man oben fast auf der Spitze des Berges bemerken konnte. Es war dies ein weißgetünchtes Bauwerk, klein und unscheinbar, aber doch berühmt im Umkreise von vielen, vielen Meilen.

Dort oben hauste der fromme Marabut Hadschi Omanah, zu dessen Wohnung Tausende pilgerten, um dort ihr Gebet zu verrichten und dann mit dem Bewußtsein heimzukehren, eine Allah wohlgefällige Handlung getan zu haben.

Früher hatte mancher den Marabut gesehen, wenn er aus seiner weißgetünchten Hütte trat, um mit erhobenen Händen die Gläubigen zu segnen. Jetzt aber erschien sein Sohn an der Tür und brachte den Betenden den Segen seines Vaters, welcher die Wohnung nicht mehr verließ.

Woher der Marabut stammte, und wie er ursprünglich geheißen hatte, daß wußte niemand. Er nannte sich Hadschi Omanah, und sein Sohn wurde infolgedessen Ben Hadschi Omanah geheißen, daß ist der Sohn des Mekkapilgers Omanah.

Ungefähr fünf Tage nach den oben erzählten Ereignissen hielten zwei Männer inmitten eines dichten Gebüsches am Fuß des Berges. Sie hatten sich mit ihren Pferden hier herein gearbeitet und führten ein halblautes Gespräch miteinander. Es war niemand anderes als Richemonte und sein Verwandter.

„Du glaubst, daß die Pferde hier sicher sind?“ fragte der letztere.

„Ja.“

„Aber wenn doch jemand kommen sollte!“

„Hierher? Wer sucht Pferde in diesem Dickicht? Übrigens ist jetzt nicht die Zeit der Pilgerwanderungen. Steck deine Waffe zu dir, und komm!“

„Wann werden wir oben anlangen?“

„Es führt kein eigentlicher Weg hinauf. Stunden vergehen sicherlich, ehe wir die Höhe erreichen.“

„So wird es ja dann Nacht.“

„Eben das ist ja meine Absicht!“

Der andere blickte Richemonte fragend an.

„Was wollen wir des Nachts da oben? Wird er da zu sprechen sein?“

„Zu sprechen? Was fällt dir ein. Will ich denn mit ihm sprechen?“

„Was sonst? Wie willst du anders ihn aushorchen oder Auskunft über ihn erlangen?“

„Dummkopf! Deine Liebe zu der Maurin hat dich wirklich um den Verstand gebracht. Dieser Marabut wohnt mit seinem Sohn oben. Sie werden nicht stumm sein, sondern miteinander sprechen. Sie werden sich über ihre Lage, über ihre Vergangenheit unterhalten. Wer dies belauschen kann, wird dieses erfahren. Das Lauschen aber ist am leichtesten abends, wenn es dunkel ist. Binde das Pferd so an, daß es Raum hat, die Blätter abzufressen, und dann wollen wir keine weitere Zeit verlieren.“

Die beiden sahen sich gezwungen, sich durch dichtes Gestrüpp und über zahlreiche Felsentrümmer langsam und mühselig empor zu arbeiten. Als sie den Aufstieg begannen, war bereits die erste Hälfte des Nachmittags verstrichen, und als sie endlich oben anlangten, hatte die Sonne soeben den westlichen Horizont erreicht.

Sie hielten unter den Bäumen, wo sie nicht bemerkt werden konnten, und sahen eine nicht tiefe, aber breite, lichte Stelle vor sich, auf welcher sich die Hütte des Eremiten befand. Diese war aus rohen Steinen errichtet und mit Kalk angestrichen, so daß sie, von früh bis abends von der glühenden Sonne getroffen, auf Meilenweite hinaus in die Ebene leuchtete.

„Wird er zu Hause sein?“ flüsterte der Cousin.

„Natürlich! Oder hast du nicht in Seribet Ahmed gehört, daß er die Hütte nie mehr verläßt?“ antwortete Richemonte.

„Ich meine den Sohn.“

„Das ist etwas anders. Wir müssen es abwarten.“

Sie brauchten nicht lange zu warten, so sahen sie einen Menschen; aber er trat nicht aus der Hütte des Marabut, sondern er kam aus den gegenüberliegenden Büschen und schritt auf die letztere zu.

Sein Gesicht war gebräunt, er mochte gegen dreißig Jahre zählen und trug einen langen, kamelhärenen Burnus, welcher mit einem derben Strick um den Leib befestigt war, sowie einen grünen Turban, ein Vorrecht derjenigen Moslemin, welche von dem Propheten abstammen. Waffen waren bei ihm nicht zu sehen, aber an dem Strick hingen mehrere kleine Säckchen, welche verschiedenes zu enthalten schienen.

Beim Anblick der untergehenden Sonne hielt er seinen Schritt inne. Er wendete sich dem Osten zu, in der Richtung nach Mekka, kniete nieder und verrichtete mit lauter Stimme sein Abendgebet. Aus der offenstehenden Hütte antwortete eine zweite Stimme, deren Ton ein müder, dumpfer war.

Als der Beter geendet hatte, schritt er, nachdem er sich vom Boden erhoben hatte, auf die Hütte zu und trat in dieselbe ein. Ihr Inneres war geradezu armselig. Auf dem Boden lag eine breite Schicht von Moos, in einem Mauerloch ein aufgeschlagenes Buch, der Koran in arabischer Sprache, und in einer Ecke erblickte man einige alte Töpfe und Tiegel, denen man es ansah, daß sie zur Zubereitung von Pflastern und Salben dienten.

Auf dem Moos lag eine menschliche Gestalt, welche in ein ähnliches härenes Gewand eingehüllt war. Man sah nur dieses Gewand, den grünen Turban und ein unendlich hageres, eingefallenes Gesicht, welches mehr einem toten als einem lebenden Wesen anzugehören schien.

„Sallam!“ grüßte der Eintretende.

„Sallam!“ antwortete der Alte auf dem Lager. „Gab Allah seinen Segen?“

„Ja, Vater. Der Kranke wird genesen.“

„Allah sei Dank. Er gibt Freude den Sündern und Bußfertigen.“

Der Alte sprach sehr langsam und fast leise. Man hörte deutlich, daß ihm das Reden schwer wurde. Und wie sich unter dem schlechten Gewand seine Brust fieberhaft hob und senkte, hatte es ganz das Aussehen, als ob er ein Sterbender sei, dessen Geist im Begriff stehe, mit den letzten, hastigen Atemzügen den befreienden Weg aus dem schwachen, engen Körper zu suchen.

Der Angekommene öffnete die kleinen Säckchen und Schachteln und entnahm ihnen mehrere Büchsen und Schachteln, welche er zu den Töpfen und Tiegeln legte. Der Alte beobachtete dies schweigend, während seine sehr tiefliegenden Augen mit dem Ausdruck innigster Liebe jeder Bewegung des Sohnes folgten. Dann sagte er:

„Hast du sonst heute nichts Gutes getan, mein Sohn?“

„Leider, nein, mein Vater“, lautete die Antwort. „Vielleicht ist es sogar etwas Böses, was ich getan habe.“

„Allah behüte dich davor. Das Böse ist wie das Raubtier, welches man jung aufzieht; es frißt später seinen eigenen Herrn.“

„Ich hätte es nicht getan, aber die Sprache der Franken war daran schuld.“

„Die Sprache der Franken? Erzähle!“

„Ich war bei einigen Kranken gewesen und ging hinüber nach dem Wadi Sofama. Unterwegs suchte ich im Wald heilsame Kräuter, als ich plötzlich Stimmen von Menschen hörte.“

„Im Wald von Sofama, wo jetzt der Panther haust?“

„Ja. Die, welche miteinander sprachen, wußten von dem Panther nichts; sie waren fremd, denn sie redeten französisch.“

Der Blick des Alten belebte sich ein wenig.

„Französisch!“ sagte er. „Wie waren sie gekleidet?“

„Wie Beduinen. Auch hatten sie Pferde bei sich. Es waren ihrer zwei. Sie saßen an einem Baum. Ich stand ganz in der Nähe und konnte jedes Wort hören, welches sie sprachen.“

„Mein Sohn, hast du sie belauscht?“

„Ja, mein Vater.“

„Du hast sehr unrecht getan.“

„Vielleicht verzeihst du mir, wenn du erfährst, was ich hörte.“

„So sage es.“

„Sie redeten von unseren Freunden, den Beni Hassan“, antwortete der Sohn.

„In welcher Weise sprachen sie von ihnen?“

„In sehr feindseliger Weise. Sie fluchten ihnen. Es war ein alter Mann mit einem großen und dichten Schnurrbart und ein jüngerer, ungefähr so alt wie ich. Ich hörte aus ihrem Gespräch, daß sie Gäste der Beni Hassan gewesen, aber von ihnen als Spione fortgejagt seien. Der Jüngere scheint die Tochter des Scheiks begehrt zu haben, doch ist diese bereits mit Saadi versprochen gewesen.“

„Saadi, der Bruder Hassans, des Zauberers? Ich kenne ihn. Er ist der tapferste und umsichtigste unter allen jungen Männern.“

„Ferner sprachen sie von einem Deutschen, welcher mit Schätzen aus Timbuktu kommt. Sie wollen ihn mit Hilfe der Tuareg überfallen.“

„O Allah! Einen Deutschen? Haben sie seinen Namen genannt?“

„Ja. Er heißt Königsau.“

„Königsau?“

Dieses Wort kam fast wie ein Schrei aus der schneller atmenden Brust des Sterbenden.

„Hast du diesen Namen richtig verstanden?“ fragte er weiter.

„Ja, mein Vater. Ich habe mir denselben ganz genau gemerkt.“

„Hast du nicht gehört, was er ist?“

„Oberlieutenant.“

„O Allah! Und er soll überfallen werden?“

„Überfallen und getötet.“

„Wo?“

„Auf dem Gebiet der Beni Hassan, damit der Verdacht und die Schuld auf diese falle.“

„Welch ein teuflischer Plan! Oh, mein Sohn, wie gut ist es, daß du gelauscht hast. Allah selbst ist es gewesen, der deine Schritte gelenkt hat, um eine finstere, blutige Tat zu verhüten. Eile, eile zu den Nachbarn, um dir das schnellste Pferd zu leihen. Reite zu Menalek, dem Scheik der Beni Hassan. Erzähle ihm alles, was du gehört hast, und sage ihm, daß ich ihm im Namen des gerechten und allbarmherzigen Gottes befehle, mit seinen Kriegern diesem Königsau entgegen zu reiten, um ihn zu beschützen. Eile, eile, mein Sohn!“

„Mein Vater, ich darf dich doch nicht verlassen. Du bist krank.“

„Allah wird mich schützen.“

„Du kannst dich nicht einmal erheben.“

„Allah wird mich stützen.“

„Du könntest unterdessen sterben.“

„Allah wird mein Helfer sein. Eile, eile, mein Sohn.“

„Vielleicht hat es noch Zeit, mein Vater. Die beiden Männer sprachen davon, daß sie erst in neun Tagen zu den Tuareg kommen wollten.“

„Gott ist gnädig. Diese Frist genügt. Aber hast du auch recht gehört?“

„Ja. Sie haben zwei Wochen Zeit.“

„Wohin wollten sie?“

„Das habe ich nicht gehört; sie sprachen davon nicht.“

„Wir brauchen es auch nicht zu wissen. Es genügt, daß der Überfall erst so spät stattfinden soll. Oh, wie mich diese Nachricht ergriffen hat!“

Er hatte das härene Gewand, welches ihn bedeckte, halb von sich geschoben, und nun wurden zwei Arme frei, welche nur noch aus den Knochen bestanden, um welche die Falten der Haut schlotterten. Der Turban war ihm entfallen, und es kam ein kahler, haarloser Schädel zum Vorschein, der ganz und gar einem anatomischen Präparat glich.

Der Sohn ließ sich kniend an dem Lager nieder.

„Du bist so schwach, mein Vater“, sagte er im Ton der größten Zärtlichkeit und Besorgnis. „Soll ich dir Wasser zur Stärkung reichen?“

„Nein. Ich bedarf keiner irdischen Stärkung mehr. Oh, Allah, ich danke dir, daß dieser Überfall noch Frist hat. Du erlaubst mir, in den Armen meines Sohnes zu sterben.“

„Mein Vater.“

In diesen zwei Worten sprach sich der ganze Schmerz eines Kindes aus, welches den Vater von dem nahen Tod sprechen hört.

„Sei still“, bat der Alte. „Ich gehe zu Gott, von dem ich gekommen bin. Ich verlasse das Land der Trübsal, des Irrtums und der Sünde, um in die Gefilde der Reinheit und der Seligkeit zu fliehen. Ist die Sonne bereits untergegangen?“

Der Sohn eilte zum Eingange, blickte hinaus und antwortete:

„Nein, mein Vater. Ihre letzten Strahlen sind noch zu sehen.“

„So trage mich hinaus. Ich will das scheidende Licht des Tages sehen und den Aufgang der Sterne. Mein Scheiden hier wird auch ein Aufgang sein, ein Aufgang jenseits der Grenzen dieser schönen und doch trügerischen Erde.“

Der Sohn beeilte sich, Moos vor die Hütte zu schaffen. Dann umschlang er den sterbenden Vater mit kräftigen Armen, trug ihn hinaus und setzte ihn so nieder, daß er mit dem Rücken an der Mauer der Hütte lehnte und die goldenen Strahlen schauen konnte, mit welchen die scheidende Königin des Tages den westlichen Horizont überflutete.

Die Augen des Marabut waren auf diese blitzenden Feuergarben gerichtet.

„Mein Sohn“, sagte er. „Du hast vorhin das Abendgebet der gläubigen Moslemin gesprochen. Kennst du noch die Lieder der Christen, welche ich dich lehrte?“

„Ja.“

„Auch das Abendlied, welches von der sinkenden Sonne und den tausend aufgehenden Sternen spricht?“

„Ich kenne es.“

„Bete es, mein Sohn.“

Sie falteten beide die Hände. Der Sohn kniete nieder und betete mit lauter Stimme diese Verse des Liedes. Es war gewiß wunderbar, hier vor dem Heiligtum eines Marabut ein christliches Kirchenlied erklingen zu hören. Als die Worte:


„Wer bin ich? Staub und Sünder;

Doch, Vater aller Kinder,

Auch mich begnadigst Du.

Wenn still gemeinte Zähren

Dir meine Reu' erklären,

So rufest du mir Gnade zu!“


gesprochen worden waren, senkte der Alte langsam das Haupt und sagte ein tiefes, seufzendes Amen.



Der Sohn blieb auf den Knien liegen. Es herrschte eine ernste Stille an diesem einsamen, abgeschiedenen Ort. Das Licht des Tages verschwand, und mit der jenen Gegenden eigentümlichen Schnelligkeit kam die Dunkelheit von Osten her geflogen. In der Nähe des Äquators gibt es keine Dämmerung.

Die beiden Lauscher hielten noch unter den Bäumen. Sie hatten keine Ahnung davon, daß sie selbst heute von dem Sohn des Marabut belauscht worden seien.

„Das muß der alte Heilige sein“, flüsterte der Cousin, als der Sohn den Vater aus der Hütte getragen brachte und ihm seinen Platz vor derselben gab.

„Jedenfalls“, antwortete Richemonte. „Sieh, die alte Vogelscheuche! Es scheint, die muselmännische Heiligtuerei macht nicht fett. Horch, ich glaube, sie beten.“

Der Sohn kniete eben nieder und betete das Lied.

„Tausend Donner!“, sagte Richemonte. „Sie beten französisch! Das ist ja ein Lied, wie es daheim in den Kirchen geplärrt wird! Ist das nicht wunderbar?“

„Ungeheuer! Ich glaube, wenn wir sie belauschen könnten, würden wir ganz außerordentliches zu hören bekommen. Sollten diese verkappten Muselmänner etwa gar geborene Franzosen sein?“

„Das möchte man fast wahrscheinlich nennen. Die Sonne geht unter. In fünf Minuten ist es dunkel. Wenn wir uns vorsichtig an die andere Seite des Häuschens schleichen, können wir alles hören, was jene sprechen.“

„Aber wenn wir bemerkt werden?“

„Was schadet das? Fürchtest du etwa dort das heilige Gerippe oder den, der am Boden kniet, um fromme Lieder zu plappern?“

„Nein.“

„Also. Wir zwei nehmen hundert solche Kerls auf uns. Laß uns am Rand der Büsche hinschleichen, daß wir auf die andere Seite kommen. Ich soll möglichst viel über diesen frommen Marabut erfahren, und ich glaube, daß wir gerade zur richtigen Stunde gekommen sind, um Dinge zu hören, welche sonst keiner weiß. Komm.“

Sie huschten hinweg von dem Ort, an welchem sie bisher gelegen hatten. Die schnell hereinbrechende Dunkelheit begünstigte ihr Vorhaben, so daß sie völlig unbemerkt an die Hinterwand der Hütte gelangten, vor welcher sich der sterbende Einsiedler mit seinem Sohn befand. Bis jetzt hatten beide nach dem Gebet geschwiegen. Nun aber sagte der Alte, indem er langsam den gesenkten Kopf emporhob:

„Wie strahlend nahm die Sonne Abschied von der Erde. Ich dachte, daß der Tag meines Lebens einst auch so herrlich enden werde; aber wie ist es geworden! Ich bin eingegangen wie die Pflanze, an welcher Würmer nagten.“

„Mein Vater, schone dich“, bat der Sohn.

Der Marabut beachtete dies nicht; er fuhr langsam fort:

„Ja Würmer, Würmer des Vorwurfs und der Reue. Mein Sohn, es gibt eine Last, welche größer ist als jede andere, es ist die Schuld.“

„Du hast diese Last niemals zu tragen gehabt, mein Vater.“

„Glaubst du? Oh, wie sehr irrst du dich doch! Nur die Reue kann sie vermindern. Und wie habe ich bereut. Der Glaube der Christen sagt, wer seine Sünden bekennt, dem sollen sie vergeben werden. Ich will meine Schuld nicht hinüber in das Jenseits nehmen, sondern ich will sie bekennen; ich will sie dir beichten, mein Sohn.“

„Mein Vater, deine Worte zerreißen mir das Herz.“

„Und dennoch muß du diesen bitteren Trank genießen, mir zur Liebe und Buße. Komm her zu mir. Setz dich neben mich nieder und höre, was ich dir zu sagen habe, vielleicht bietet mir dein Herz Verzeihung an.“

„O Allah! Was könnte ich dir zu verzeihen haben?“

„Viel, sehr viel, denn auch gegen dich habe ich gesündigt. Komm, dein sterbender Vater redet zu dir. Du sollst in seine Seele blicken und Geheimnisse erfahren, von deren Dasein du bis jetzt keine Ahnung hattest.“

Die beiden Lauscher hörten jedes Wort.

„Was werden wir jetzt erfahren!“ flüsterte der Cousin.

„Still!“ antwortete Richemonte. „Es darf uns kein Wort des Gespräches entgehen. Horch, er beginnt!“

Der Kranke war während dieser kurzen Pause beschäftigt gewesen, ein Paketchen aus seinem härenen Gewand hervorzuziehen. Er hielt dasselbe seinem Sohn hin und sagte:

„Öffne das!“

„Was ist darin, mein Vater?“

„Ein kostbares Eigentum, welches dir gehört.“

Der Sohn entfernte den Umschlag und brachte einige wohl verwahrt gewesene Papiere zum Vorschein. Es war gerade noch hell genug, die auf denselben befindlichen Schriftzüge zu lesen.

„Oh, Allah, das sind ja Worte in der Sprache der Franken“, sagte er.

„Ja“, antwortete sein Vater. „Du sollst jetzt erfahren, warum ich dich gelehrt habe, die Sprache der Franzosen und Deutschen zu sprechen und zu lesen. Du sollst hören, aus welchem Grund ich dein Lehrmeister gewesen bin in allem, was die Franken können und verstehen. Wir nennen sie Giaurs und Ungläubige; aber sie sind viel klüger und weiser als der Moslem, welcher sie verachtet. Lies diese Papiere, mein Sohn. Sie werden dir ein großes Geheimnis enthüllen.“

Der Sohn gehorchte. Er faltete das erste Dokument auseinander. Es war mit einem Amtssiegel und einer behördlichen Unterschrift versehen. Als er fertig war, blickte er seinen Vater befremdet an und sagte:

„Das ist der Geburtsschein eines Knaben, welcher Arthur de Sainte-Marie heißt, lieber Vater?“

„Ja“, nickte der Alte.

„Sein Vater ist der Baron Alban de Sainte-Marie auf Schloß Jeannette?“

„Ja, mein Sohn.“

„Wo liegt dieses Schloß, mein Vater?“

„Im schönen Frankreich, in der Nähe der Stadt Sedan.“

„Dieser Alban war also von Adel. Die Mutter des Knaben aber hat, wie ich hier sehe, nur Berta Marmont geheißen. Sie war also nicht von Adel?“

„Nein. Sie stammte aus einem einfachen Wirtshaus.“

„Und doch habe ich gehört, daß bei den Franken nur solche Personen Mann und Weib werden, welche gleichen Standes sind.“

„Das ist im allgemeinen der Fall; doch kommen auch Ausnahmen vor. Aber nimm das zweite Papier!“

Der Sohn tat dies. Als er es gelesen hatte, meinte er:

„Es handelt von demselben Knaben. Es ist sein Taufzeugnis. Er ist einige Wochen nach seiner Geburt in Berlin getauft worden. Zeugen waren drei Personen der Familie Königsau. Ah, mein Vater, das ist ja der Name des Lieutenants, welcher überfallen werden soll.“

„Allerdings. Aber lies auch die übrigen Papiere!“

Der Sohn gehorchte und erklärte der Reihe nach:

„Hier ist das Geburtszeugnis des Barons Alban de Sainte-Marie. Hier ist der Schein über seine Trauung mit jener Berta Marmont. Dann sehe ich hier einige seiner Pässe, und da am Ende finde ich einige Briefe, welche von einem Notar an ihn gerichtet sind.“

„Das alles stimmt. Und du, mein Sohn, hast nicht die mindeste Ahnung, wie nahe dich alle diese Schriften angehen.“

„Mich? Was könnte ich mit ihnen zu schaffen haben? Ich bin niemals auf Schloß Jeannette oder in Berlin gewesen.“

„Und dennoch warst du an beiden Orten.“

„Ich?“ fragte der Sohn verwundert.

„Ja, du warst daselbst; nur war damals dein Alter zu gering, als daß du dich jetzt noch darauf besinnen könntest. Rechne einmal nach, wie alt dieser Knabe Arthur de Sainte-Marie jetzt sein müßte.“

Der junge Mann nahm den Geburtsschein zur Hand, rechnete und sagte dann:

„Gerade so alt wie ich, nämlich neunundzwanzig Jahre.“

Der Alte schwieg eine Weile; dann sagte er langsam und sinnend:

„Ja, neunundzwanzig Jahre. Welch eine lange, lange Zeit! Und wie dunkel und drohend sind die Schatten, welche aus dem Abgrund dieser Zeit auftauchen, um mich zu ängstigen. O mein Gott, könnte mir vergeben werden. Könnte ich von hinnen scheiden mit dem Bewußtsein, daß Gott mir vergeben werde, um meiner Reue und um seines Sohnes Jesu Christi willen, der für uns am Kreuz gestorben ist!“

Es entstand eine peinliche Pause, welche der Sohn durch die Worte abzukürzen versuchte:

„Allah vergibt allen Sündern um des Verdienstes des Propheten und der heiligen Kalifen willen.“

Der Alte schüttelte langsam den Kopf und antwortete:

„Ich verzichte auf das Verdienst der Propheten und der Kalifen. Sie waren Menschen; Christus aber ist wahrer Gott von Ewigkeit zu Ewigkeit.“

Der Sohn erschrak.

„Wie, mein Vater?“ fragte er. „Du bist unter den Gläubigen bekannt als ein Heiliger, und dennoch lästerst du den Propheten?“

„Mein Sohn, du sollst den Anfang des Geheimnisses hören: Ich bin kein Moslem, sondern ein Christ.“

„Allah il Allah!“ rief der andere erschrocken.

„Ja. Und auch du bist ein Christ.“

„Ich?“ fragte der Sohn, indem er unwillkürlich zurückfuhr.

„Ja. Du bist als Christ getauft, wenn auch nicht konfirmiert oder gefirmt. Niemals habe ich mit dir eine Zeremonie vornehmen lassen, durch welche du zu den Anhängern des Propheten übergetreten wärst. Ich habe dich den Glauben der Christen und auch den Glauben der Mohammedaner kennen gelehrt. Du betest die Suren des Koran; du absolvierst die vorgeschriebenen Werke und Waschungen; aber du betest auch die Gebote der Christen und ihre Lieder. Der Taufe nach bist du ein Christ; dem Leben und der Besinnung nach bist du weder Moslem, noch Christ, sondern ein frommer Mensch, welcher seinem Schöpfer dient, ohne zu fragen, ob er denselben Gott oder Allah nennen müsse.“

Der Sohn schwieg eine Weile, mehr überrascht als bestürzt. Dann fragte er:

„Aber, mein Vater, warum sagst du mir dies erst heute?“

„Ich glaubte die Zeit noch nicht gekommen. Jetzt aber tritt der Tod an mich heran, und so sollst du alles erfahren, was ich dir bisher verschwiegen habe.“

Der junge Mann bemerkte, daß das Reden seinen Vater außerordentlich anstrengte, darum bat er:

„Schone dich, mein Vater. Gott wird mir nicht das Herzeleid antun, dich so schnell von mir zu rufen.“

„Wem der Engel des Todes naht, der hört seine Fittiche bereits von weitem rauschen. Dann soll er nicht zögern, seine Rechnung mit dem Leben zu schließen. Willst du nicht raten, mein Sohn, warum jener Knabe jetzt gerade so alt sein würde, wie du bist?“

„Nie vermöchte ich, dies zu erraten.“

„So will ich es dir mitteilen: Du bist es selbst.“

„Ich?“ rief der Sohn. „Wer – wer soll ich sein?“

„Du bist jener Knabe, der in Berlin getauft wurde und dabei den Namen Arthur de Sainte-Marie erhielt.“

„Allah akbar, Allah ist groß. Bei ihm ist nichts unmöglich, denn er ist allmächtig. Wie aber könnte ich jener Knabe sein?“

„Weil ich dein Vater bin.“

„Ja, das bist du. Du bist mir ein lieber und treuer Vater gewesen in jedem Augenblick meines Lebens.“

„Ich habe an dir sühnen wollen die Sünden meiner Jugend, denn wisse, ich bin jener Baron Alban de Sainte-Marie.“

Da schlug der Sohn die Hände zusammen und sagte:

„Welch ein Wort! Ist dies wahr, mein Vater?“

„Am Ende des Lebens treibt man keinen Scherz!“

„So bist du also nicht ein Araber vom Stamm der Schammar, sondern ein Franzose? Und jene Tochter eines Wirtes ist meine Mutter? Oh, mein Vater, schnell, schnell! Sage mir, ob sie noch lebt.“

Der Alte schüttelte langsam und traurig den Kopf und antwortete:

„Nein, sie lebt nicht mehr; sie ist tot.“

„Oh, warum hat Allah sie aus dem Leben gerufen! Wie glücklich würde ich sein, das Antlitz meiner Mutter sehen zu können!“

„Ja, du würdest glücklich sein. Sie war ein sanftes und gutes Weib. Aber desto größer ist meine Schuld, denn ich bin es gewesen, der – – – oh!“

Er stockte und fuhr sich mit den dürren Händen nach dem Kopf.

„Sprich weiter, mein Vater!“ bat der Sohn.

„Ich soll sprechen, und doch wie schwer fällt es mir! Oh, mein Sohn, o Arthur, denn so ist ja dein eigentlicher, richtiger Name; hier, hier ist es; hier ist der Ort, von dem die Bibel spricht: ‚Wo das Feuer brennt, welches nie verlischt, und wo der Wurm beißt, der niemals stirbt!‘“

Dabei deutete er mit den Händen nach seinem Kopf und seinem Herzen.

„Du und ihr alle hieltet mich für einen frommen Mann, für einen Liebling Gottes und des Propheten“, fuhr er fort. „Und doch war ich etwas ganz anderes. Ich war – – – ein Dieb, und ich war – – – ich war ein Mörder.“

Er hatte dieses letzte Bekenntnis wie mit Gewalt, mit aller Anstrengung herausgestoßen. Es wurde seinem Sohn fast angst dabei. Er ergriff die Hand des Vaters und sagte:

„Du irrst, du irrst! Mein Vater kann kein Dieb und kein Mörder sein!“

„Und doch bin ich es!“ erwiderte der Alte. „Und weißt du, wessen Mörder ich bin, Arthur?“

„Nein, wie sollte ich das wissen!“ sagte Arthur zaghaft.

„Ich habe diejenige gemordet, welche du so gern zu sehen wünschest, nämlich deine – – – oh, wie mir dies schwer fällt, auszusprechen! Ich bin der Mörder deiner – Mutter.“

„Allah kerihm! Meine Mutter willst du gemordet haben? Dein eigenes Weib?“

„Ja, Berta, meine einstige Geliebte, mein eigenes Weib!“ stöhnte der Kranke.

Arthur fuhr erschreckt empor.

„Sage, daß es aus Versehen geschehen ist, mein Vater!“ rief er.

„Oh, wenn ich das sagen könnte!“

„Mein Gott! So hast du es mit Absicht getan?“

„Ja, mit Absicht; aber es geschah im Zorn.“

Da drang ein Ruf der Erleichterung aus dem Mund des Sohnes.

„Allah sei Dank!“ rief er. „Im Zorn ist es geschehen. Der Prophet sagt, daß der Mensch nicht zu verantworten habe, was der Zorn getan hat.“

„Oh, was der Prophet sagt, das beruhigt mich nicht. Der starke, mächtige Gott der Christen ist es, der mit mir ins Gericht gehen wird!“

Da ergriff Arthur die Hand des Vaters und sagte:

„Hast du mich nicht gelehrt, daß dieser starke, mächtige Gott auch die Liebe, die Gnade und Barmherzigkeit ist? Hast du mir nicht gesagt, daß im Himmel der Christen über einen Sünder, welcher Buße tut, mehr Freude sei als über neunundneunzig Gerechte?“

„Ja, mein Sohn, das habe ich dir gesagt. Das war mein einziger Trost im Leben und ist nun auch mein einziger Trost im Sterben.“

„So fasse Mut, mein Vater! Vertraue mir an, was dich bedrückt. Vielleicht, daß dann die Last von deinem Herzen verschwindet.“

„Ja, ich will es tun. Ich habe dir bereits vorhin gesagt, daß ich beichten will. Vielleicht kannst du mir verzeihen, und dann will ich mit der Hoffnung von hinnen gehen, daß auch der ewige Richter meiner armen Seele gnädig ist.“

„So erzähle, mein Vater, erzähle!“

„Ich will erzählen, ich muß erzählen! Lege mir mein Haupt höher auf das Moos und komm nahe heran, daß du alles hörst. Mir graut vor den nächsten Augenblicken. Aber mein Sohn soll mein Richter sein. O Gott im Himmel, gib, daß er mich nicht gnadenlos in die Ewigkeit gehen läßt!“

Arthur erfüllte die Bitte des Vaters. Er legte ihm das Moos höher und rückte so nahe wie möglich zu ihm heran.

Die Dunkelheit der Nacht lagerte über der Ebene und auf den Bergen, aber es war die Dunkelheit des Südens, geschmückt mit Millionen Sternen, von den Zweigen der Bäume wehte eine erquickende Frische, mit welcher sich der eigentümliche Duft der Wüste mischte.

Es herrschte zwischen den beiden eine längere Stille. Dem Alten wurde es schwer, mit seinen Bekenntnissen zu beginnen, und dem Sohn war es eigentümlich bang. Er hatte in seinem Vater einen Heiligen verehrt und sollte nun erfahren, daß dieser nicht nur ein gewöhnlicher, sündhafter Mensch, sondern sogar ein schwerer Verbrecher sei.

Die beiden Lauscher hatten bisher jedes Wort vernommen. Als die jetzige Pause eintrat, stieß der Cousin Richemonte leise an und flüsterte:

„Hast du es gehört?“

„Ja“, flüsterte der alte Spion.

„Er ist kein Marabut, kein Mohammedaner, sondern ein Christ! Sogar ein Mörder!“

„Ich wußte das längst.“

„So kennst du diesen Marabut?“

„Oh, sehr gut! Aber ich hatte keine Ahnung davon, daß dieser fromme Hadschi Omanah ein alter Bekannter von mir sei!“

„Ein alter Bekannter? So kennst du ihn bereits von Frankreich her und er dich auch?“

„Oh, nur zu gut. Es ist möglich, daß er jetzt auch einiges von mir erzählt.“

„Das wäre interessant.“

„Für mich nicht.“

„Ah, warum nicht?“

„Du wirst wohl einiges von mir hören, was dir noch nicht bekannt sein dürfte. Ich hoffe, daß du alles so verschwiegen hältst, als ob es im Grab läge! Ich würde mich, falls das Gegenteil stattfände, ganz gewißlich sicher zu stellen wissen. Ich spaße mit solchen Dingen nicht!“

„Ah! Du willst mir drohen?“

„Nimm es, wie du willst! Übrigens werde ich deine Verschwiegenheit auch gehörig zu belohnen wissen. Vielleicht heute noch. Ich habe einen Plan, einen famosen Plan. Dieser Abend erweckt längst gestorbene Gedanken. Einst, als du noch ein Knabe warst, hatte ich Großes mit dir vor. Es glückte nicht; es kam nicht zur Ausführung. Vielleicht ist jetzt das möglich, was damals unmöglich war.“

„Du machst mich neugierig.“

„Warte noch! Horch, der Marabut will beginnen. Sei still!“

Der Marabut hatte jetzt tief, tief Atem geholt und stieß jenen leisen Husten aus, dem man des anhört, daß nun gesprochen werden soll. Er begann:

„Ich habe dir so viel von Napoleon, dem großen Kaiser, erzählt?“

„Ja“, antwortete Arthur. „Er wird sogar von den Arabern verehrt und von ihnen nicht anders als Sultan el Kebir, der große Sultan, genannt.“

„Ja, er war groß; aber er war auch ein Sterblicher.“

„Man sagt, er sei nicht gestorben, sondern er lebe noch.“

„Das ist eine müßige Sage. Sein Leib ist längst zu Erde geworden. Aber sein Geist lebt noch, und dieser ist es, welcher einst, wenn die Stunde gekommen ist, alle die, welche ihn stürzten, zu Boden werfen wird. Ich habe ihn nicht geliebt, ich habe einst sogar gegen ihn gehandelt; aber es hat mir keine Frucht gebracht; ich bin doch ein armer Flüchtling geworden.“

„Man hat dich aus dem Vaterland getrieben?“

„Man? Oh, wenn ich dieses sagen könnte. Aber ich bin selbst schuld daran, daß ich mich verbergen mußte. Höre also, mein Sohn!“

Er schloß für einen Augenblick die matten Lider, als wolle er in die ferne Erinnerung blicken, dann fuhr er fort:

„Ich war jung, reich und voller Hoffnung. Man nannte mich Baron Alban de Sainte-Marie. Ich hatte eine gute, liebevolle Mutter; aber ich besaß ein schwankes Herz, und leichtes Temperament und einen Charakter, der nicht Gelegenheit gehabt hatte, in der Schule des Lebens zu erstarken. Doch war ich überzeugt, daß ich der beste Mensch, der schönste junge Mann und der untadelhafteste Kavalier der Erde sei.“

Er holte Atem und fügte dann leiser hinzu:

„Und jetzt! Ein Gerippe mit einer Vergangenheit voller Selbsttäuschung, voller Fehler und Sünden.“

„Sprich nicht so, mein Vater“, bat der Sohn. „Erzähle lieber so, als ob du von einem vollständig Fremden redetest.“

„Ich will mir Mühe geben, dies fertig zu bringen. Sage mir, mein Sohn, ob du bereits einmal geliebt hast. Ich habe nie bemerkt, daß du eine der Töchter bekannter Stämme ausgezeichnet hättest, und ich habe dich auch nie gefragt.“

„Mein Herz hat nur dir gehört, mein Vater.“

„Du hast kein Mädchen gekannt, von welchem du gewünscht hättest, daß es dein Weib werde?“

„Niemals.“

„So wirst du mich schwerlich verstehen und begreifen. Die Liebe ist eine Macht, der nur wenige Menschen widerstehen können. Es geht über die Kräfte der meisten Sterblichen, mit kaltem Blut die Gefühle des Herzens zu beherrschen. Es gibt Schichten der Bevölkerung, in denen es Sitte und Gepflogenheit ist, mit diesen Gefühlen einen sündhaften Sport zu treiben. Es gibt da Tausende von jungen Männern, welche sich bemühen, hübsche und unbescholtene Mädchen zu betören. Sie lügen ihnen Liebe vor und verlassen sie, sobald sie erhört worden sind. Auch ich habe viele Mädchen gekannt, deren Liebe ich mir errang. Die letzte unter ihnen war Berta Marmont, deine Mutter.

Es lag nicht in meiner Absicht, sie zu meinem Weib zu machen. Ich spielte mit ihr wie der Verführer mit seinem ahnungslosen, vertrauenden Opfer spielt. Aber sie war rein und gut. Dies stachelte mich. Ich glaubte wirklich, sie heiß zu lieben, und beschloß, sie um jeden Preis zu besitzen. Meine Mutter war gut, aber stolz. Sie bemerkte meinen Umgang mit dem armen, bürgerlichen Mädchen und verbot mir denselben.“

„Du gehorchtest?“

„Mein Sohn, gegen eine solche Liebe vermag das Gebot der besten Mutter nichts. Ich beschloß, Berta im geheimen zu meinem Weib zu machen, aber es trat ein Ereignis dazwischen, welches mit einem einzigen Schlag alle meine Gefühle und Sinne gefangen nahm. Es kam eine entfernte Verwandte zu uns auf Besuch; sie brachte eine Tochter mit, ein Mädchen von so unvergleichlicher Schönheit, daß sofort die arme Berta vergessen war.“

„Wie hieß diese andere?“

„Margot Richemonte. Ich war unter ihrem Zauber gefangen, daß ich vom ersten Augenblick an nur danach trachtete, sie zu besitzen. Sie war stolz, edel und rein wie eine Rose, welche noch keines Menschen Hand berührt hat. Aber schon nach kürzester Zeit erfuhr ich, daß meine Liebe hoffnungslos sei. Sie war bereits verlobt mit einem deutschen Offizier, welcher mit nach Frankreich gekommen war, um den Kaiser, um den Sultan el Kebir, zu besiegen.“

„Einen Feind des Vaterlandes liebte sie?“

„Ja, aber nicht einen Feind von uns, denn deine Mutter war von Geburt auch eine Deutsche, und ich hatte nicht gelernt, die Deutschen zu hassen. Ich wollte es, aber ich brachte es nicht fertig, denn er war ein Mann, welchen man achten und lieben mußte.“

„Wie hieß er?“

„Hugo von Königsau.“

„Königsau? Das ist ja abermals der Name jenes Lieutenants, welcher überfallen werden soll!“

„Ja. Er kam zu uns, um seine Verlobte zu besuchen. An demselben Tag kam auch der Kaiser nach Jeannette in Quartier. Er sah Margot und liebte sie. Er wollte sie an sich fesseln, sie aber entfloh mit ihrem Verlobten.“

„So war sie wirklich stolz und rein, wie du sagtest.“

„Sie hatten einen Bruder, welcher ganz das Gegenteil von ihr war. Er jagte ihr nach, um sie dem Kaiser zurückzubringen, aber es gelang ihm nicht; die Flüchtigen wurden zwar entdeckt, aber der Kaiser hatte inzwischen die Schlacht von Waterloo verloren, mußte fliehen und wurde dann von den Engländern nach St. Helena geschafft.

Königsau war schwer verwundet worden; aber der fürchterliche Hieb, den er über den Kopf erhalten hatte, heilte zu. Er zog nach Berlin, und Margot wurde seine Frau.

Er mußte den Abschied nehmen. Der Hieb hatte das Gehirn verletzt und eine eigentümliche Gedächtnisschwäche war die Folge. Er konnte sich nicht auf das besinnen, was vor seiner Verwundung geschehen war. Er hatte übrigens dem Vaterland wichtige Dienste geleistet und wurde dafür so belohnt, daß er keine Sorgen zu haben brauchte.“

„Was aber tatest du bei der großen Liebe, welche du zu Margot gehegt hattest?“

„Ich war jung und oberflächlich. Vorher hätte ich gedacht, sterben zu müssen, wenn ich gezwungen sein solle, von dem schönen Mädchen zu lassen. Nun es aber in Wirklichkeit so gekommen war, wurde mir es nicht sehr schwer, mich mit der Tatsache zu befreunden. Ich kehrte zu der früheren Geliebten zurück, zu Berta Marmont.

Ich war störrisch geworden, und so schwor ich mir, von dieser nicht zu lassen. Mutter wiederholte umsonst ihren früheren Befehl. Ich hatte mich in eine wahre Lust des Widerstandes hineingearbeitet und ließ mich nicht besiegen.“

„Da gab sie nach?“

„Nein. Sie sorgte dafür, daß Berta plötzlich verschwand. Darob ergrimmte ich so, daß ich Gehorsam und Dankbarkeit vergaß. Ich sagte mich von der Mutter los und ging in die weite Welt.“

„Allah il Allah! Allein? Ohne die Geliebte?“

„Ohne sie. Aber ich hatte ihre Spur entdeckt.“

„Sie war arm. Und du jetzt auch, mein Vater!“

Der Kranke schloß die Augen, als ob der Strahl der Sterne ihn blende. Erst nach einer Weile öffnete er sie wieder und antwortete:

„Nein, mein Sohn. Ich war reich, denn ich war – ein Dieb geworden.“

Der Sohn legte rasch die Hand auf den Arm des Vaters und fragte:

„Du hast fremdes Eigentum an dich genommen?“

„Ja.“

„Wessen?“

„Der Mutter.“

„Allah kerihm! Ich bin erleichtert. Das Eigentum der Mutter war ja auch das deinige. Du hast keinen Diebstahl begangen, mein Vater.“

„Und doch. Das Besitztum der Mutter war noch nicht mein Eigentum. Ich hatte alles Geld, was vorhanden war, mitgenommen; ich war in Paris gewesen, um auf Rechnung der Mutter große Summen aufzunehmen, und ich nahm sogar den kostbaren Familienschmuck mit, in welchem der größte Reichtum unseres Hauses bestand. Ich ging – als ein Dieb.“

„Was tat deine Mutter?“

„Sie tat nichts. Sie ließ mich nicht verfolgen. Sie ließ mir alles, was ich ihr geraubt hatte. Aber sie ließ mir, nachdem sie erfahren hatte, wo ich mich befand, sagen, daß ich nicht mehr ihr Sohn sei und niemals wieder ihr Angesicht sehen werde.“

„Mein armer, armer Vater. Hat dieser Fluch sich erfüllt?“

„Ja, mein Sohn.“

Er sagte diese drei Worte langsam und stockend. Man hörte es seinem Ton an, daß es wirklich ein Fluch für ihn gewesen war.

„Hast du nie um Barmherzigkeit gefleht?“

„Ich habe es versucht.“

„Aber ohne Erfolg?“

„Ich wurde niemals vorgelassen. Ich brachte ihr den größten Teil dessen wieder, was ich ihr genommen hatte; aber ich wurde dennoch abgewiesen. Sie wollte mich nicht sehen und wollte nichts wieder haben, obgleich ich mich von Berta getrennt hatte.“

„Ah! Ihr bliebt nicht zusammen?“

„Nein. Es war in Berlin, als sie mir einen Sohn gebar. Margot, Königsau und dessen Mutter waren Paten, als dieser getauft wurde. Ich ließ ein Bild des Kindes anfertigen und sandte es der Mutter. Sie schickte es wieder retour. Ich wurde zornig und später auch verbittert. Mein Weib mußte das empfinden. Unser Sohn warst du. Deine Geburt hatte deiner Mutter die Schönheit und die Gesundheit gekostet; ich hörte auf, sie zu lieben.“

„Meine arme, arme Mutter!“

„Jawohl, arm! Bald haßte ich sie. Ich gab ihr die Schuld an allem, was ich getan und zu tragen hatte. Ich vernachlässigte sie; ich machte ihr Vorwürfe. Sie wurde von Tag zu Tag unglücklicher, und eines Abends, als ich nach Hause kam, war sie verschwunden.“

„Allah! Wohin?“

„Ich wußte es lange nicht.“

„Allein?“

„Nein. Sie hatte dich mitgenommen.“

„Ah! Was tatest du? Sie hatte mich lieber als du!“

„Nein, mein Sohn. Ich war grausam gegen sie; an dir aber hing meine ganze Seele, denn du warst mein Ebenbild. Dich wollte und konnte ich nicht missen; ich mußte dich wieder haben. Ich begann meine Nachforschungen.“

„War sie nicht nach der Heimat gegangen?“

„Das ahnte ich auch.“

„Du folgtest ihr?“

„Ja, und ich fand, daß ich mich nicht getäuscht hatte. Ich fand ihre Spur, aber dabei auch diejenige eines Menschen, in dessen Gesellschaft ich Berta niemals vermutet hätte.“

„Wer war dieser Mensch?“

„Kapitän Richemonte, welcher Margot, seine eigene Schwester, dem Kaiser hatte zubringen wollen. Wie war er auf Berta getroffen? Welche Absichten hatte er mit ihr?“

„Hast du es erfahren?“

„Das erstere wohl, aber das letztere nicht.“

„Du hast sie beide getroffen?“

„Ja. Richemonte war aus irgendwelchen Gründen, die ich nicht erfuhr, aus dem Offizierskorps gestoßen worden und zunächst nach Deutschland gegangen. Er mochte in Berlin nach Königsau gesucht haben, um sich an diesem zu rächen, hatte aber vielleicht keine Gelegenheit dazu gefunden. Da traf er Berta, die er von Schloß Jeannette her kannte. Er erfuhr, daß sie meine Frau sei und höchst unglücklich mit mir lebe. Einem Menschen von seinen Eigenschaften konnte es nicht schwer fallen, die von mir auf das äußerste gebrachte Frau zu bereden, mich zu verlassen. Er hatte sie bis nach Marseille geführt, wo sie eine Anstellung finden sollte. Sie beide waren nur zwei Tage vor mir angekommen.“

„Du fandest sie und suchtest sie auf?“

„Ja. Er war ausgegangen. Nur Berta war daheim im Gasthof.“

„Wohnten sie beisammen?“

„Nein. Die Geliebte eines anderen Mannes hätte Berta niemals werden können. Sie hatte mich verlassen, um nicht länger mit mir unglücklich zu sein, und war ihm gefolgt, weil er ihr bei Verwandten von sich eine Stellung angeboten hatte. Das war alles.“

„Besaß jener denn Verwandte in Marseille?“

„Nein, so viel ich weiß. Es mußte ihn also irgendeine geheime, jedenfalls schlimme Absicht veranlaßt haben, mir das Weib und den Sohn zu entführen. Ich habe sie aber weder erfahren, noch erraten können.“

„Wie empfing dich meine Mutter?“

„Sie war voller Schreck, doch faßte sie sich schnell. Ich bat sie, wieder mit mir umzukehren; sie weigerte sich. Ich drohte ihr; auch das half nichts. Ich verlangte wenigstens mein Kind. Da sagte sie, daß sie sich lieber töten, als von demselben trennen werde.

Ich konnte weder durch Bitten, noch durch Drohungen in deinen Besitz gelangen. Sie stellte sich wie eine Löwin, welche ihr Junges zu beschützen hat, vor dein Bettchen. Auf dem Tisch hatte ein Messer gelegen, spitz und scharf wie ein Dolch. Sie ergriff es und drohte, mich zu erstechen, falls ich Gewalt anwende. Ich lachte über diese Worte. Ich kannte den Mut einer Mutter noch nicht. Ich faßte sie an, um sie von dir fortzuschleudern. Sie wehrte sich. Wir kamen in das Ringen. Ihre Kräfte waren den meinigen nicht gewachsen. Da gebrauchte sie das Messer. Sie stieß es mir durch den Arm. Aufgeregt durch mein Verlangen, dich zu besitzen, durch Bertas Widerstand und durch den Stich, den ich erhalten hatte, riß ich ihr das Messer, welches sie sofort wieder aus der Wunde gezogen hatte, um einen zweiten Stich zu versuchen, aus der Hand. Ich kannte mich vor Wut nicht mehr und stieß zu. Mit einem halblauten Aufschrei brach sie zusammen. Ich hatte sie mitten in das Herz getroffen.“

„O Allah il Allah! Du warst ihr Mörder.“

„Ja, mein Sohn, ich war und bin ihr Mörder“, sagte der Alte.

Es trat eine Pause ein, während welcher eine tiefe Stille herrschte. Dann brach Arthur das Schweigen zuerst. Er fragte:

„Was dachtest und was tatest du nun, mein armer Vater?“

„Ich starrte vor Entsetzen wie abwesend auf die Leiche der einst so sehr Geliebten. Aber die Angst um mich und ebenso die Sorge, dich nun ganz zu verlieren, brachten mich bald zur Besinnung. Ich mußte handeln.“

„Hatte man euch denn nicht gehört?“

„Ich glaube, nein. So lebhaft unser Wortwechsel gewesen war, wir hatten ihn doch nur mit halblauter Stimme geführt, und der Kampf war fast lautlos vor sich gegangen.“

„So konntest du entkommen?“

„Ja. Ich riß mir den Rock herunter und band mir das Taschentuch fest um die Wunde, dann nahm ich dich, hüllte dich in dein Kleidchen und verließ mit dir das Zimmer, dessen Schlüssel ich zu mir steckte, nachdem ich die Tür verschlossen hatte.“

„Warum tatest du das?“

„Richemonte sollte bei seiner Rückkehr, und ebenso auch die Bediensteten des Hauses, denken, daß Berta bereits schlafen gegangen sei. Auf diese Weise gewann ich einen weiten Vorsprung zur Flucht.“

„Aber die Mutter mußte sich ja rettungslos verbluten, falls der Stich vielleicht nicht tödlich gewesen wäre.“

„Er war absolut tödlich gewesen. Ich untersuchte sie ja. Sie war eine Leiche.“

„Aber Richemonte mußte bei seiner Rückkehr erfahren, daß ein Fremder zur Mutter gegangen sei. Das mußte seinen Verdacht erwecken?“

„Man hatte mich nicht gesehen. Ich war unbemerkt bei ihr eingetreten, denn ich hatte sie am erleuchteten Fenster stehen sehen. Zum Glück gelang es mir, ebenso unbemerkt zu entkommen, wie ich zu ihr gelangt war.“

„Aber du warst verwundet; du warst voller Blut! Wie entkamst du?“

„Es galt zunächst, unbemerkt das Zimmer in meinem Hotel zu erreichen. Ich hatte das Glück eines Bösewichtes: Es gelang mir auch das. Du warst ruhig, du schliefst in meinen Armen; von dir hatte ich keinen Verrat zu befürchten. Zum größten Glück wußte ich, daß in meinem Hotel ein Schiffer aus Ajaccio wohnte, welcher noch diese Nacht nach Hause segeln wollte. Ich fragte ihn, ob er mich mitnehmen wollte, und er machte nicht die geringsten Schwierigkeiten, da ich Geld hatte und mich im Besitz guter Papiere befand. Natürlich hatte ich mich gewaschen und andere Kleider angelegt. Während du schliefest, brachte ich dich in einem leeren Reiseköfferchen an Bord. Ich befand mich bald in Ajaccio und also wenigstens einstweilen in Sicherheit.“

„Was wird man gesagt haben, als man am anderen Morgen die Leiche fand?“

„Das erfuhr ich auf Korsika. Man hatte Bertas Leiche bereits während der Nacht entdeckt. Das Blut war durch die Decke gedrungen. Die Mutter war erstochen worden, und das Kind fehlte. Von ihren Habseligkeiten war nicht das geringste entwendet worden. Wer konnte der Täter sein? Kein anderer als der Vater, dem sie entflohen waren. Man forschte und erfuhr, daß ich sie wirklich verfolgt hatte. Nun war man außer allem Zweifel. Ich durfte nie mehr nach der Heimat zurückkehren.“

Das Sprechen griff den Kranken von Minute zu Minute mehr an. Er war erschöpft und machte eine Pause; auch der Sohn schwieg. Ihn erfüllte eine Traurigkeit, nicht geringer als die Reue, welche der Vater fühlte. Endlich ergriff dieser letztere wieder das Wort:

„So war aus einem Dieb ein Mörder geworden und aus dem Mörder ein heimatloser Ahasver, welchen die Furien von Ort zu Ort verfolgten. Ich erfuhr, daß man meine Flucht nach Ajaccio entdeckt hatte und dort weiter nach mir suchte. Wo fand ich Sicherheit? Ich ging nach Ägypten. Nicht lange war ich dort, so hörte ich, daß man bereits von meinem Aufenthalt auf Sizilien wisse. Bald mußte man erfahren, daß ich von dort nach Ägypten gegangen sei. Um sicher zu sein, galt es, mich von dir zu trennen. Du mußtest unbedingt für das Kind eines Moslem gelten; daher war es notwendig, dich zu beschneiden. Aber das durfte ich keinem anderen überlassen. Ich beschnitt dich selbst, und nachdem die Wunde geheilt war, brachte ich dich in eins der Findelhäuser, welche damals noch mit einigen Moscheen in Kairo verbunden waren. Ich wartete im verborgenen, bis man dich gefunden und aufgenommen hatte und ging nun den Nil aufwärts bis über die Grenze von Nubien. Dort blieb ich zwei Jahre lang. Während dieser Zeit hatte ich gelernt, das Arabische zu sprechen wie ein Eingeborener. Die größte Sicherheit bot sich mir, wenn ich mich für einen geborenen Araber, für einen wahren Gläubigen ausgab. Ich tat dies und bin niemals in Verdacht gekommen.“

„Jetzt, mein Vater, erwacht meine Erinnerung. Ich sehe mich bei alten bärtigen Männern in einem heißen Hof, welcher mit einer hohen Mauer umschlossen ist, und viele andere Knaben sind bei mir.“

„Das ist der Findelhof an der Moschee. Ich kehrte nach Kairo zurück und suchte dich auf. Ich sagte, daß ich ein kinderloser Mann sei und die Absicht habe, einen Knaben an Kindesstatt zu mir zu nehmen. Gegen ein Geschenk an die Moschee durfte ich unter den Knaben wählen. Ich erkannte dich wieder, auch gab man mir das Kleidchen, welches du getragen hattest, als man dich fand. Ich hatte es bei einem Juden in einem der engsten Gäßchen von Kairo gekauft. Es war gerade die Zeit der großen Pilgerreise nach Mekka. Ich schloß mich an, denn ich wollte von nun an nur dir leben, und das konnte ich nur dann, wenn ich als echter Muselman in vollkommener Sicherheit war.

In Mekka blieb ich fünf volle Jahre, um den Islam zu studieren. Dann aber sehnte ich mich nach einem Aufenthalt, an welchem es möglich war, zuweilen etwas von der Heimat zu hören. Ich verließ also Arabien und ging nach Ägypten zurück, und von da die Wüste nach Tunesien und später nach Algerien.

In Mekka hatte ich einen arabischen Namen getragen. Auf diesen hatte mir der Scherif meine Zeugnisse und Legitimationen ausgestellt. Ich hatte den Koran aus Mekka am Hals hängen, ich trug das Fläschchen mit dem Wasser des heiligen Brunnen Zem-Zem am Gürtel; ich besaß viele Reliquien der heiligen Stadt und ebenso von Medina. Ich galt überall als ein außerordentlich frommer Hadschi (Pilger). Kein Mensch hätte in mir einen entflohenen Mörder vermutet. Der Gram und die Reue hatten mich abgezehrt, die Sonne hatte mich schwarz gebrannt. Ich trug sogar den grünen Turban der Abkömmlinge des Propheten, was ich zwar in Algerien, nie aber in Mekka wagen durfte. Und wenn mir jetzt meine Mutter oder Margot oder selbst dieser Richemonte begegnet wäre, keins von ihnen hätte mich erkannt.

Ich wollte dein Vater und zugleich dein Lehrer sein. Von mir solltest du alle diejenigen Schätze des Charakters und Gemütes empfangen, welche meiner Jugend gefehlt hatten. Ich träumte von einem Sohne, welcher berufen sein solle, eine hohe Stelle einzunehmen. Aber dieser Traum zerrann in nichts, nicht schnell und plötzlich, sondern nach und nach, aber desto sicherer. Ich hatte in der Heimat die Universität besucht und mich vorzugsweise mit Medizin beschäftigt. Auf diesen Bergen wachsen tausend heilsame Kräuter. Ich sammelte sie und erprobte ihre Wirkung. Bald war ich der Wohltäter vieler Stämme. Konnte ein schöneres, besseres Los eines Mörders harren?“

„Nein, mein Vater!“

„Du hast recht, und ich danke dir. Ich baute mir diese Hütte und blieb, was ich war. Du solltest mein Nachfolger werden, niemals solltest du erfahren, wer ich war, und wer du eigentlich bist.“

„Und dennoch hast du es mir erzählt.“

„Mein Sohn, die Gedanken und Entschlüsse des Menschen sind wie das Haar, welches sich auf dem Sand niedergelassen hat. Der erste Lufthauch nimmt es mit sich fort. Ich war dein Vater und Beschützer. Nun aber gehe ich von hinnen, und du bleibst allein zurück. Wen sollst du lieben, und wer liebt dich? Du wirst unter Moslemim stehen, allein, zwar hoch geehrt, aber dein Herz wird keine Worte finden dürfen. Ich habe dich in die Wüste geführt, ich habe dich der Zivilisation und dem göttlichen Erlöser geraubt. Ich muß dich dahin zurücksenden, von wo dein Leben ausgegangen ist.“

„Soll ich dich verlassen, mein Vater? Niemals!“

„Mein Leben ist zu Ende. Nach wenigen Augenblicken werde ich zu Staub geworden sein.“

„Soll ich dein Grab verlassen?“

„Ja. Mein Segen und mein Geist werden bei dir sein! Und nun, Arthur, mein Sohn, hast du meine Beichte vernommen. Dein Vater liegt vor dir, seine Seele steht unter Tränen bitterer und lange verborgener Reue, und sein Herz schreit auf nach einem Wort der Vergebung. Da droben strahlen Gottes Sterne; sie leuchten Liebe und Barmherzigkeit herab. Du kennst mein Tun. Verdamme oder begnadige mich, wie dir es der Allwissende eingibt jetzt in der Stunde, welche die letzte meines Lebens ist. Ich habe zu viel gesprochen, ich bin müde zum ewigen Schlaf. Bereits werden die Beine kalt und starr. Vielleicht ist in wenigen Augenblicken das Ohr nicht mehr offen, um deinen Richterspruch zu hören.“

Er faltete die Hände. So wartete er auf das Wort, welches er aus dem Mund des Sohns ersehnte. Dieser schluchzte laut vor Schmerz und umschlang den sterbenden Vater mit beiden Armen.

„Mein Vater, o mein Vater!“, meinte er. „Will Gott dich wirklich von mir nehmen, sollen wir wirklich scheiden, so habe Dank für deine tausendfältige Liebe und für dein treues Sorgen! Ich wollte, ich könnte mit dir sterben!“

„Keinen Dank!“ antwortete der Alte. „Den Richterspruch!“

„Gott ist die Liebe, mein Vater. Er zürnt dir nicht, sondern er hat dir vergeben.“

„Und du, Arthur?“

„Auch ich. Mein Schmerz um dein Scheiden ist unsäglich, aber der Wunsch, alle Schuld von dir zu nehmen, ist noch tausendfältig größer. Gehe getrost aus dieser Welt, da oben wird es keinen Vorwurf für dich geben.“

Da entflog dem Mund des Sterbenden ein langer, tiefer Seufzer unendlicher Erleichterung. Man sah beim Schein der Sterne, daß sich ein seliges Lächeln über sein Antlitz breitete.

„Ich danke dir, mein Sohn, oh, ich danke dir!“, sagte er langsam und mit Anstrengung. „Nun sterbe ich ruhig, denn ich habe Barmherzigkeit gefunden. Grabe in der Hütte unter meinem Lager nach. Dort findest du wohl verwahrt das Kleidchen, welches du in Marseille trugst, meine Aufzeichnungen, welche dich legitimieren werden, den Schmuck und den Rest des Geldes, welches ich raubte. Gehe damit nach Jeannette und siehe, ob du dort Gnade findest, so wie ich sie bei dir gefunden habe.“

Der Sohn hielt den Vater noch immer fest umschlungen. Er küßte ihn auf den bleichen, bereits erkaltenden Mund und fragte unter strömenden Tränen:

„Ist's wahr, ist's denn wirklich wahr, daß du sterben mußt?“

„Ja, mein Sohn, mein lieber, lieber Sohn. Und wenn ich tot bin, so lege mich in die Hütte und maure, ehe du gehst, den Eingang zu. Nur oben laß gegen Osten eine kleine Öffnung, damit täglich ein Strahl der aufgehenden Sonne in das Grab des Mannes falle, dessen Leben von so wenigen Strahlen erwärmt und erleuchtet wurde.“

„Ich werde es tun! Ja, mein Vater, ich werde es tun.“

„Und noch den letzten Wunsch, mein Kind. – Bereits kann ich – kaum mehr sprechen, du hast vorhin ein Lied gebetet. Jetzt – das Lied noch von – Leben und vom Ende.“

„Ja, mein guter, mein lieber Vater!“

„Richte mich auf! Lehne – meinen Rücken höher – an die Hütte, damit ich – noch einmal den Sternenhorizont – überschaue.“

Unter strömenden Tränen tat Arthur ihm den Willen. Sodann kniete er nieder und faltete die Hände. Er unterdrückte mit aller Anstrengung das Schluchzen und betete mit lauter, zitternder Stimme:

„Bedeckt mit deinem Segen


Eil' ich der Ruh' entgegen;


dein Name sei gepreist.


Mein Leben und mein Ende


Ist dein. In deine Hände


Befehl ich, Vater, meinen Geist!“

Die Worte klangen laut zu den Wipfeln der Bäume empor und von der Bergeshöhe hinab. Es war ein christliches Sterbegebet inmitten eines durchaus mohammedanischen Landes.

„A – – – men!“ hauchte es von der Mauer herüber.

Dann war es still. Der Beter regte sich nicht. Arthur wartete, daß der Vater ihn rufen, noch ein Wort, ein einziges Wort sagen solle – vergebens! Da endlich erhob er sich und trat zu ihm. Er bückte sich zu ihm nieder.

„Vater, lieber Vater!“

Keine Antwort.

„Schläfst du, Vater?“

Auch jetzt erhielt er keine Antwort. Da nahm er die Hände des Entschlafenen leise und behutsam in die seinigen. Sie hatten noch eine Spur von Lebenswärme, wurden aber bald völlig kalt.

„Gott, mein Gott, ist er wirklich tot, tot, tot?“

Die beiden Lauscher hörten das schnelle Rauschen eines Gewandes. Der Sohn fühlte nach dem Herzen des Vaters, um sich zu überzeugen, ob der eingetretene Schlummer wirklich der ewige sei.

„Allah! Allbarmherziger! Er ist gestorben! Sei ihm gnädig da oben und auch mir hier in meiner Einsamkeit.“

Das wurde unter lautem Schluchzen gesprochen. Dann warf sich der Lebende neben dem Toten nieder. Es herrschte tiefe Stille rings umher. Nur in den Zweigen war ein leises, leises Rauschen zu hören, als ob eine Seele die Schwingen breite, um sich zum Flug nach der ewigen Heimat zu erheben.

Richemonte stieß jetzt seinen Gefährten an.

„Komm!“ flüsterte er ihm zu.

„Wohin?“

„Immer hinter mir her. Aber leise, damit er uns ja nicht hört.“

Sie schlichen sich von der Hütte fort und nach dem Rand der Lichtung hin. Dort angekommen, faßte der Kapitän den anderen bei der Hand und zog ihn ziemlich tief in das Dunkel des Waldes hinein.

„So!“ sagte er, endlich stehen bleibend. „Jetzt sind wir so weit entfernt, daß er nichts vernehmen kann. So lange Zeit ganz und gar lautlos bleiben zu müssen, ist wirklich eine fürchterliche Anstrengung. Ich hätte es nicht fünf Minuten länger ausgehalten.“

„Ich auch nicht.“

„Hast du alles gehört?“

„Jedes Wort.“

„Was sagst du dazu?“

„Wer hätte das gedacht! Alle Teufel, wer hätte das gedacht!“

„Hm! Als ich hörte, daß der Kerl beichten wolle, ahnte ich einen ziemlichen Teil dessen, war wir dann wirklich zu hören bekamen.“

„Und es ist alles wahr? Der Kaiser war wirklich in deine Schwester verliebt?“

„Rasend!“

„Sie entfloh?“

„Leider. Mit diesem verdammten Königsau.“

„Welche eine kolossale Dummheit von ihr! Du aber verfolgtest sie?“

„Natürlich.“

„Doch aber nicht auf den Befehl Napoleons?“

„Auf seinen ausdrücklichen Befehl. Hätte er die Schlacht bei Waterloo nicht verloren, so wäre er mit einem Schlag Meister der ganzen Situation und Herr Europas geworden. Margot hätte die Stelle einer Maintenon oder Pompadour eingenommen, und ich – alle tausend Teufel, was für Chancen hätten sich mir geboten! Was wäre ich heute?“

„Mußtest du denn wirklich aus der Armee treten?“

„Das geht dich ganz und gar nichts an. Glaube es oder glaube es nicht; mir ist dies egal.“

„Und du hattest dich wirklich nach Deutschland, nach Berlin gewagt?“

„Natürlich! In Frankreich war ja meines Bleibens nicht.“

„Was wolltest du?“

„Hm! Ich wollte mit diesem guten Königsau einige Worte sprechen; aber der Satan legte sich mir immer in den Weg, so daß ich nicht so an ihn kommen konnte, wie ich wollte. Da entdeckte ich diesen dummen Sainte-Marie mit seiner noch einfältigeren Dulcinea. Das war mir natürlich im höchsten Grad willkommen.“

„Inwiefern? Seines Geldes wegen?“

„Auch! Das wäre später mein geworden. Zunächst hatte ich es natürlich auf seinen Buben gemünzt.“

„Auf den Knaben? Das verstehe ich nicht. Das Geld und der Schmuck wären mir ja tausendmal lieber und willkommener gewesen.“

„Da sieht man wieder einmal, was für ein Schwachkopf du bist.“

„Pah! Ich sehe keine sehr große Geistesstärke darin, einen Menschen mit hunderttausenden laufen zu lassen und dafür sich mit einem Säugling zu begnügen, der einem nur Arbeit und Sorge bringen kann.“

„Hm! Wie du es verstehst.“

„War diese Berta denn gleich bereit, mit dir zu gehen?“

„Ich brauchte meine Überredungsgabe allerdings nicht sehr anzustrengen. Sie hatte ihren Mann hassen gelernt und strebte danach, von ihm fortzukommen, um ihr Kind aus seiner Nähe zu bringen. Es war dann allerdings für mich ein harter Schlag, als ich ihre Leiche fand, die Leiche ganz allein, ohne das Kind.“

„Aber, welche Absichten hattest du denn eigentlich mit dem letzteren?“

„Das errätst du nicht?“

„Wie sollte ich!“

„Ja“, lachte der Kapitän leise vor sich hin. „Dieser Richemonte ist ein Kerl, dessen Kombinationen nicht so leicht ein anderer folgen kann. Wer war denn der Vater des Kindes, he?“

„Nun, der Baron de Sainte-Marie.“

„Schön! Wer war also der Junge?“

„Hm!“ brummte der andere ziemlich verblüfft. „Sein Sohn natürlich.“

„Sehr geistreich geantwortet. Weißt du, was ein Fideikommiß ist?“

„Ich denke.“

„Nun?“

„Eine Besitzung, welche ungeschmälert vom Vater auf den Sohn oder überhaupt auf den Erben übergeht, ohne verkauft werden zu können.“

„Ja. In Frankreich darf sogar auch nicht zugunsten eines anderen darüber verfügt werden, im Falle der eigentliche Erbe mißliebig wird. Verstehst du mich nun?“

„Noch nicht.“

„So beklage ich die Kürze deines Verstandesfadens. Der Junge war unbedingt der Erbe seines Vaters.“

„Ah! So ist er es ja auch jetzt noch.“

„Sehr richtig.“

„Dieser wilde Beduine – der Erbe der sämtlichen Güter. Donnerwetter! Und so ein zivilisierter Kerl, wie unsereiner ist, hat oft weder zu trinken, noch zu beißen.“

„Du brauchst es ja nur zu ändern.“

„Ich? Du bist wohl närrisch, Alter! Wie sollte ich es ändern können?“

„Oh, sehr leicht, sehr leicht sogar.“

„So erkläre es mir. Ich bin zu einer solchen Änderung auf der Stelle und herzlich gern bereit. Das kannst du mir wohl glauben.“

„Ein Schuß, ein Stich ist das Ganze, was nötig sein würde.“

„Du sprichst abermals in Rätseln.“

„Und für dich wird ein jeder Plan, ein jeder geistreicher Gedanke in Ewigkeit ein Rätsel bleiben. Du fragtest vorhin, was ich mit dem Sprößlinge dieses Sainte-Marie und diese Berta wollte –“

„Ja.“

„Nun, hast du dich vielleicht auch gefragt, was ich damals mit dir wollte?“

„Nein. Damals war ich zu jung, um mir eine solche Frage vorzulegen. Ich glaube, ich habe damals kaum die Windeln verlassen gehabt.“

„Du warst bereits ein zweijähriger Bub.“

„Aber doch noch immer zu jung zu so einer ungewöhnlichen Frage.“

„So frage ich dich jetzt.“

„Gib mir lieber sogleich die Antwort.“

„Bei deinem Schwachkopf bleibt mir allerdings gar nichts anderes übrig. So höre also! Du hattest damals bereits weder Vater, noch Mutter mehr.“

„Leider! Ich wurde von einer alten Base ausgehungert und durchgeprügelt. Das nannte sie erziehen. Jetzt aber werde ich von dir erzogen.“

„Jedenfalls ist meine Manier besser als die ihrige, obgleich ich auch noch keinen Erfolg verspüre. Ich kam damals zu dieser Base und bat sie, dich mir zu überlassen –“

„Sie ging sofort darauf ein, wie sie mir dann später erzählte.“

„Ich machte ihr allerdings den ihr sehr erwünschten Vorschlag, dich zu adoptieren. Auf diese Weise wäre sie dich los geworden.“

„Leider aber wurde sie mich nicht los. Du kamst nicht wieder. Warum? Das habe ich dich oft gefragt, ohne aber jemals eine Antwort zu erhalten.“

„Mein Schweigen hatte seine Gründe; jetzt aber kann ich endlich sprechen.“

„So rede! Ich bin sehr neugierig auf das, was ich erfahren werde.“

„Du weißt, daß durch die Adoption beide Teile in die Naturrechte eintreten?“

„Was nennst du Naturrechte?“

„Beide gelten als leiblicher Vater und leiblicher Sohn.“

„Ah, ja.“

„Was der eine hat, gehört dem anderen.“

„Ja.“

„Und was der eine genießt, erwirbt auch der andere mit.“

„Natürlich.“

„Nun, ich wollte dein wirklicher Vater werden, um das mit genießen zu können, was dir später zufallen würde.“

„Parbleu! Du tust ja gerade, als ob mir irgendein Fürstentum hätte zufallen sollen.“

„Wenn auch nicht gerade ein Fürstentum!“

„So doch eine Grafschaft?“

„Auch diese nicht ganz!“

„Meinst du etwa eine Baronie?“

„Das ist viel eher und leichter möglich!“

„Du phantasierst!“

„Pah! Ich weiß stets genau, was ich sage und tue. Ich werde dir meinen damaligen Plan anvertrauen. Aber ich hoffe, daß ich das ohne irgendeine Befürchtung zu tun vermag. Verstehst du mich?“

„Wenn es sich um eine Baronie handelt, werde ich zu schweigen wissen.“

Er hatte diese Worte in einem ironischen Ton ausgesprochen.

„Laß diesen Ton! Er gefällt mir nicht und paßt auch nicht hierher!“ sagte der Kapitän. „Also höre! Dieser Berta wollte ich irgendeine Stellung verschaffen, wie du bereits gehört hast. Es wäre das auf alle Fälle eine Stellung gewesen, in welcher sie sich von dem Kind scheinbar nur auf kurze Zeit hätte trennen müssen.“

„Wäre sie darauf eingegangen?“

„Ich hätte sie schon zu bearbeiten verstanden. Natürlich hätte sie den Jungen irgendwo in Pflege geben müssen. Und weißt du, bei wem dies gewesen sein würde?“

„Ich habe keine Ahnung davon.“

„Nun, nirgends anders als bei deiner Base.“

„Donnerwetter! Bei dieser? Aus welchem Grund gerade bei ihr?“

„Zunächst wäre die brave Berta verschwunden.“

„Aber zu welchem Zweck denn?“

„Schwachkopf! Du wärest an seine Stelle getreten. Die Papiere waren da. Wer hätte beweisen können, welcher von den beiden Buben der richtige Erbe der Baronin ist?“

Der ‚Schwachkopf‘ ließ ein leises, verwundertes Pfeifen hören.

„Alle Teufel, ist es das!“ sagte er. „Die Nachbarn hätten es beweisen können, denn sie kannten mich und die Alte sehr genau.“

„Die Alte hätte den Wohnort gewechselt. Dann war alles gemacht. Ich hätte einen Baron de Sainte-Marie adoptiert gehabt. In Frankreich geht das, während es in anderen Ländern schwieriger würde.“

„Donnerwetter, welch ein Plan! Schade, daß nichts daraus geworden ist.“

„Der Mord kam mir darein und das Verschwinden des Knaben.“

„Aber warum hast du mich dann doch noch adoptiert?“

„Du bist allerdings zugleich mein Cousin und mein Sohn. Ich tat es, weil ich doch noch Hoffnung hegte, den Kerl zu erwischen.“

„Und da mußte er entkommen! Ich könnte Baron sein!“

„Was damals nicht möglich wurde, kann vielleicht jetzt noch geschehen.“

„Ah! Wenn das wäre!“, meinte der andere höchst eifrig.

„Warum nicht?“

„Auf welche Weise?“

„Abermals Schwachkopf! Ein Schuß oder ein Stich, sagte ich ja vorhin.“

„Donnerwetter! Jetzt beginnt mein Schwachkopf zu begreifen.“

„Das ist zu wünschen. Der junge Baron muß, gerade wie ich damals plante, spurlos verschwinden. Eine einzige Kugel ist vollständig genug.“

„Das ist wahr.“

„Die Papiere sind da.“

„Allerdings! Geburtsschein und Taufzeugnis, sämtliche Legitimationen seines Vaters, dazu das Geld und die Schmucksachen!“

„Das ist genug. Du hast fast das gleiche Alter, hast in der Wüste gelebt, sprichst Arabisch und kennst nun auch die ganze Vergangenheit deines Vaters, des Barons Alban de Sainte-Marie.“

Der andere schwieg. Richemonte hütete sich, ihn zu stören. Er wußte, daß der ausgestreute Samen mit riesiger Schnelligkeit heranwachsen werde. Er hatte richtig gerechnet, denn sein Gefährte meinte bald:

„Der Kerl da drin wäre bald beseitigt. Aber die Schwierigkeiten in der Heimat! Ich bin zu wenig dazu.“

„Pah. Ich helfe dir!“

„Hm. Wenn ich mich wirklich auf dich verlassen könnte, Alter!“

„Natürlich! Ich setze allerdings voraus, daß ich nicht umsonst arbeite.“

„Das versteht sich ganz von selbst.“

„Also, du denkst, daß es geht?“

„Sehr leicht sogar. Nur müssen wir schnell handeln. Hast du gehört, daß sie von diesem Königsau sprachen?“

„Ja. Wie konnten sie davon wissen?“

„Ob uns der Junge etwa gar im Wald belauscht haben sollte?“

„Das ist möglich.“

„Nun, so ist es höchst wahrscheinlich, daß er sich sputen wird, Königsau und die Beni Hassan zu warnen.“

„Donnerwetter, das wäre ein Strich durch unsere Rechnung!“

„Und abermals ein gewaltiger. Wer steht uns dafür, daß er nicht den Alten liegen läßt, seine Siebensachen nimmt und noch diesen Augenblick aufbricht, während wir uns hier langatmig beraten?“

„Ja, Cousin, wir müssen handeln.“

„Nun, also vorwärts.“

„Halt! Vorher noch eins.“

„Was?“

„Ich sage dir im voraus, daß ich ohne Erfüllung dieser einen Bedingung von der ganzen Sache nichts wissen will. Es handelt sich um Liama.“

„Wieder dieses Mädchen“, zürnte der Alte. „Was willst du mit ihm? Jetzt stehen die Sachen ganz ander als noch vor zwei Stunden.“

„Meine Liebe ist ganz dieselbe geblieben.“

„Du kannst sie doch wahrhaftig nicht zur Baronin de Sainte-Marie machen. Das wäre der größte Blödsinn, den es gibt!“

„Ich tue es nicht anders.“

„Kerl, nimm Verstand an!“

„Und du, nimm Herz an! Ich habe sie lieb, und ich will sie haben.“

„Meinetwegen, als Geliebte!“

„Nein, als Frau.“

„Das ist ja ganz unmöglich! Du kannst ja nicht als Prätendent der Baronie auftreten, und dann, wenn man sie dir zugesprochen hat, diese halbwilde Beduinin heiraten.“

„Das ist auch nicht nötig. Ich heirate sie bereits hier.“

„Sie kennt dich als meinen Sohn Ben Ali. Der junge Sainte-Marie aber muß als Ben Hadschi Omanah auftreten. Dieser Name ist in den Aufzeichnungen des Marabut sicher genannt.“

„So nehme ich ihn an. Ist sie einmal meine Frau, wird sie sich meinem Willen fügen müssen!“

Richemonte sah ein, daß jetzt nichts zu erreichen sei. Er hoffte den Plan seines Gefährten doch noch zu durchkreuzen. Es galt, schnell zu handeln, daher gab er scheinbar nach und meinte nach einigem Überlegen:

„Wem nicht zu raten ist, dem ist auch nicht zu helfen. Du sollst meinetwegen deinen Willen haben, aber ich bitte dich im voraus, etwaige unangenehme Folgen nicht mir aufzubürden. Gehen wir also!“

Er wendete sich ab, um die Stelle zu verlassen; da aber faßte ihn der andere beim Arm und sagte:

„Wer soll ihn denn – hm!“

„Was?“

„Wer soll ihm denn zum Verschwinden helfen, meine ich, du oder ich?“

„Natürlich du!“

„Warum ich? Du triffst viel sicherer.“

„Das mag sein; aber ich werde mich hüten, für einen anderen die gebratenen Kastanien aus dem Feuer zu holen und mir die Finger zu verbrennen.“

„Für einen anderen? Dieser andere bin ich, dein Adoptivsohn. Du genießt die Früchte ebenso wie ich!“

„Das gilt erst abzuwarten. Ich war vorher bereit, dem Kerl meine Kugel zu geben; wie die Sache aber jetzt steht, sehe ich hiervon ab, deiner Liama wegen.“

„Ihretwegen? Das begreife ich nicht.“

„Es ist doch sehr leicht erklärlich. Sie weiß, daß du nicht der Sohn des Marabuts bist. Sie kann alles verraten, und in diesem Fall will wenigstens ich nicht derjenige sein, dem man den Mord aufwalzt.“

„Ist es das? Gut, so werde ich den Schuß abgeben. Für dieses Mädchen tue ich alles. Aber es wird uns nicht verraten.“

Richemonte lachte in sich hinein. Er hätte die Ermordung des Opfers auf keinen Fall auf sich genommen. Es lag ihm sehr daran, an dem späteren Baron de Sainte-Marie ein willenloses Werkzeug zu besitzen, und dies war nur dann der Fall, wenn er ihn mit Drohungen einzuschüchtern vermochte. Einem Mörder ist am leichtesten zu drohen.

Sie huschten leise zwischen den Bäumen hindurch, bis sie die Lichtung wieder erreichten. Dort duckte Richemonte sich auf den Boden nieder und kroch langsam und leise auf die Hütte zu. Der andere folgte ihm. Auf halbem Weg blieben sie plötzlich halten. Es war ein lichter Strahl aus dem Inneren der Hütte auf den Platz herausgefallen.

„Gut für uns“, flüsterte der Kapitän. „Er ist drin. Wir können herankommen, ohne kriechen zu müssen. Er hat Licht. Das gibt für dich ein festes, sicheres Ziel. Machen wir uns den Spaß, ihn zu überraschen. Welch ein Gesicht er machen wird, wenn so plötzlich zwei unbekannte Personen inmitten der Nacht bei ihm erscheinen.“

„Er wird Waffen in der Hütte haben.“

„Feigling! Ein Marabut und Waffen!“

„Von früher her vielleicht.“

„In diesem Fall erwarte ich, daß du schneller bist als er. Komm!“

Sie schlichen sich leise bis an die Mauer. Dort lehnte noch der tote Marabut. Sie schritten um denselben und standen nun vor dem Eingang, wo sie das Innere der Hütte überschauen konnten.

Ein kleines Tongefäß, mit Fett gefüllt, in welchem ein Docht steckte, bildete eine Lampe, deren Licht gerade hinreichend genug war, die Gegenstände im Inneren der Hütte erkennen zu lassen. Der Sohn des toten Heiligen hatte das Lager zur Seite geschoben und war damit beschäftigt, mit einem spatenartigen Werkzeug den Boden aufzugraben. Da ertönten plötzlich, so daß er erschrocken emporfuhr, hinter ihm die lauten Worte:

„Mesalcheer – guten Abend.“

Er drehte sich um und sah zwei bewaffnete Beduinen am Eingang stehen. So sehr erschreckt er war, er faßte sich doch schnell und antwortete:

„Allah jumessik! Was wollt ihr?“

„Wir kommen, um einige Worte mit dir zu sprechen“, antwortete Richemonte.

„Tretet näher.“

Sie traten ein, und nun fragte der Kapitän, auf das Loch deutend:

„Was tust du hier?“

„Ich grabe die Grube für den Toten, welcher draußen vor der Türe liegt“, antwortete er, schnell gefaßt.

„Wer ist dieser Tote?“

„Mein Vater, der fromme Marabut Hadschi Omanah.“

„Du lügst.“

„Du irrst! Ich sage keine Lüge.“

„Und dennoch lügst du.“

„Ich kenne euch nicht; ihr seid Fremde; darum will ich euch verzeihen. Ein Mann eines der nahe wohnenden Stämme würde anders sprechen. Aber auch für euch ziemt es sich nicht, den Mann, unter dessen Dach ihr tretet, einen Lügner zu nennen. Die Leiche eines Marabut heiligt den Ort, an dem sie sich befindet, ihr aber entweiht und entheiligt ihn.“

Er hatte sehr ernst und furchtlos gesprochen: der Kapitän aber antwortete ganz in seiner vorigen Weise:

„Ich wiederhole, daß du lügst. Ich kenne den Mann, dessen Leiche ich da draußen liegen sah.“

„Wenn du ihn besser kennst als ich, der ich sein Sohn bin, so sage mir, wer du meinst, daß er sei.“

„Jetzt ist er nichts als Staub und Erde. Vorher aber war er der Baron Alban de Sainte-Marie“, sagte Richemonte in französischer Sprache.

„Allah!“ rief der junge Mann erschrocken.

„Der Mörder seines eigenen Weibes.“

Die Augen Arthurs öffneten sich weit vor Entsetzen.

„Der seine eigene Mutter beraubte und bestahl.“

„Wer seid ihr?“ stieß der Überraschte hervor.

„Ich bin derjenige, von dem er dir vorhin erzählt hat.“

„Ah! Ihr habt uns belauscht?“

„Ja. Hast du dir den Namen Richemonte gemerkt? Ich bin es.“

„Gott schütze mich!“

„Ja, Gott schütze dich!“, rief jetzt der andere. „Aber er wird es nicht vermögen, dich, den abtrünnigen Muselman, zu schützen.“

Er zog blitzschnell seine Pistole hervor, zielte und drückte ab. Der Schuß krachte weit in die Nacht hinaus. Arthur de Sainte-Marie stürzte lautlos mit zerschmetterter Stirn zur Erde. Der Kapitän beugte sich nieder und untersuchte ihn.



„Ausgezeichnet gemacht, mein Junge!“, sagte er. „Die Kugel ist ihm bis ins kleine Gehirn gedrungen. Er war sofort tot und hat nicht viel zu leiden gehabt. Auch das ist der Tod eines Heiligen.“

Der Mörder aber drehte sich scheu zur Seite. Er wagte kaum, einen Blick auf sein unschuldiges Opfer zu werfen.

„Du meinst, ich habe gut getroffen?“ fragte er, um nur etwas zu sagen. „So schaffe ihn hinaus. Ich mag den Kerl nicht vor Augen haben. Dieses Loch im Kopf, diese krampfhaft geballten Fäuste, diese starren, fürchterlichen Augen!“

Er schüttelte sich, als ob es ihn fröstele.

„Hasenherz! Aber es ist dennoch wahr. Wir müssen ihn hinausschaffen, um Platz zu haben, seine begonnene Arbeit fortzusetzen. Faß an.“

„Tue es allein.“

„Meinetwegen. Ich brauche mich nicht zu fürchten und zu scheuen, denn ich bin es nicht, der ihn erschossen hat. Ich bin unschuldig an diesem Blut.“

Diese Worte trafen den anderen wie ein Donnerschlag.

„Du unschuldig?“ fragte er. „Hast du nicht die ganze Sache angestellt?“

„Pah! Mußt du tun, was andere sagen? Wenn ich dir rate, dir selbst eine Kugel durch den Kopf zu jagen, wirst du es auch tun? Ein jeder trägt die Verantwortung seines Tuns. Die Gründe dazu liegen in ihm selber, wenn auch zehnmal der Anstoß von außen kommen sollte. Ich wünsche übrigens nicht, daß du mir noch einmal zu hören gibst, ich sei es, der dich zu diesem Mord veranlaßt habe.“

In diesem Augenblick begann er die Taktik, welche er dann später auch auf Schloß Ortry zu befolgen pflegte. Er faßte den Erschossenen bei den Armen und schleifte ihn auf dem Rücken hinaus vor die Tür. Wieder eingetreten, untersuchte er das Loch und gebot dann seinem Gefährten:

„Nun, was soll die Pistole noch in der Hand? Der Geruch des Blutes hat dich wohl um die Besinnung gebracht? Hier, grabe weiter, mein Junge!“

Der andere gehorchte, ohne eine Widerrede zu versuchen. Er steckte die Pistole in die Tasche, ergriff den Spaten und begann zu graben. Bereits nach kurzer Zeit stieß er auf etwas Hartes.

„Schaffe die Erde weg. Ich bin begierig, zu sehen, was es ist.“

Dies geschah, und nun zeigte es sich, daß ein großer, vasenartiger Topf, welcher mit einem tönernen Deckel belegt war, in der Erde steckte.

Der Kapitän nahm denselben ab. Ein ziemlich dickes Papierheft kam zum Vorschein. Richemonte öffnete es, beleuchtete es mit der Lampe und blätterte darin umher.

„Die Aufzeichnungen des alten Sünders“, sagte er. „Sie behandeln die Zeit von dem Tag an, an welchem er Jeannette verließ, um seinem Mädchen nachzulaufen, bis einige Jahre vor seinem Tod. Weiter!“

Unter dem Heft befand sich ein alter, wollener Lappen. Als dieser entfernt worden war, entfuhr den beiden Männern ein Ausruf der freudigsten Überraschung. Was sie sahen, war kostbares, mit Perlen und Edelsteinen besetztes Geschmeide, unter welchem der Topf mit lauter englischen Guineen angefüllt war.

„Alle Teufel, das ist mehr, als ich dachte!“ rief Richemonte erfreut.

„Das ist ein großer Reichtum“, meinte der andere, den Inhalt des Topfes mit gierig funkelnden Augen musternd.

Er wollte die Hand danach ausstrecken, allein der Kapitän schob ihn zurück und sagte in gebieterischem Tone:

„Halt, mein Junge! Das ist vorderhand noch nichts für dich.“

„Ah! Bin ich nicht Ben Hadschi Omanah, der Baron de Sainte-Marie?“

„Du sollst es erst werden.“

„Dann ist alles mein Eigentum.“

„Natürlich! Bis dahin aber werde ich es in meine eigene Verwahrung nehmen. Ich kenne dich. Sobald du Geld in der Tasche hast, bekommt es Flügel. Du bist imstande, deiner Liama hier den ganzen Kram für einen einzigen Kuß an den Hals zu werfen.“

„So verrückt bin ich allerdings wohl nicht!“

„Vorsicht bleibt Vorsicht. Ich will dir erlauben, dich herzusetzen, um mitzuzählen. Eingesteckt aber wird kein einziges dieser Goldstücke. Was wir für die nächste Zeit brauchen, das habe ich in Biskra erhalten.“

„Aber was soll denn mit diesem Schatz geschehen?“

„Vergraben wird er, bis wir mit Königsau fertig sind. Dann holen wir ihn und kehren nach Frankreich zurück, um zu sehen, ob dort die Verhältnisse unserem Vorhaben günstig sind.“

„Wollen wir nicht die Türöffnung verschließen? Es ist doch immerhin eine Überraschung im Bereich der Möglichkeit.“

„Pah, wer soll kommen. Draußen liegen die beiden Toten, einer hüben und der andere drüben. Sie halten so gut Wache, daß kein Mensch herein kann. Komm her, Junge, wollen an unsere Arbeit gehen.“

Zunächst wurde der Schmuck besichtigt. Er bestand aus vielen Gegenständen und repräsentierte einen wirklich hohen Wert. Dann zählten die beiden Mörder die Goldstücke; es waren ihrer gegen dreitausend.

„Dieser heilige Marabut ist wirklich ein großer Spitzbube gewesen“, meinte Richemonte. „Bescheiden hat er sich bei dem Diebstahl ganz und gar nicht aufgeführt. Desto besser aber ist das für uns, die wir seine dankbaren Erben sind. Er mag in Allah ruhen und selig werden.“

„Es ist wirklich zu verwundern“, sagte seine Gefährte, „daß seine Mutter sich keine Mühe gegeben hat, wieder zu dem Ihrigen zu gelangen!“

„Zu verwundern? O nein! Es beweist das bloß, daß sie viel Stolz und Ehrgefühl besessen hat, daß sie zweitens den Sohn wirklich aus dem Herzen gerissen hat, und daß sie drittens reich genug war, diesen Verlust verschmerzen zu können. Du siehst also ein, daß es sich der Mühe lohnt, Baron de Sainte-Marie zu werden.“

„Ob die alte Frau wohl noch leben wird?“

„Wer kann das wissen. Frauen haben oft ein zähes Leben. Wahrscheinlich aber ist sie gestorben. Sie war bereits damals die Jüngste nicht mehr.“

„Wo vergraben wir diese Sachen? Hier oben?“

„Fällt mir gar nicht ein! Unten im Dickicht liegen sie sicherer.“

„Und was tun wir mit den Leichen?“

„Den Marabut mag man in Gottes und Allahs Namen immerhin finden. Wir legen ihn in die Hütte, natürlich nachdem wir dieses interessante Loch zuvor wieder zugeworfen haben. Den anderen aber müssen wir irgendwo verscharren, wo er niemals entdeckt werden kann.“

„Wenigstens nicht eher, als bis er zur Unkenntlichkeit verwest sein wird, da ich es bin, der für ihn zu gelten hat. Machen wir, daß wir aus der Hütte hinauskommen. Die Lampe ist fast ganz herabgebrannt, und im Dunkeln mag ich nicht hierbleiben.“

Das festgetretene Erdreich wurde wieder mit dem Moos des Lagers bedeckt, und dann holte der Kapitän den Marabut herbei, den er darauf legte.

„So!“ sagte er. „Die Tür werden wir ihm nicht zumauern, wie er es sich bedungen hat. Er wollte nur einen einzigen Sonnenstrahl täglich haben, wir sind aber Christen und gönnen ihm mehr.“

„Und der andere?“

„Der muß liegen bleiben, bis der Morgen anbricht. In der nächtlichen Dunkelheit ist es ganz unmöglich, eine solche Arbeit vorzunehmen.“

„Und wo bleiben wir bis dahin?“

„Draußen irgendwo unter den Bäumen. Vom Schlafen ist keine Rede.“

„Diesen Schatz nehmen wir doch mit uns?“

„Ja, obgleich er hier bei den Toten sicher aufgehoben sein würde. Aber, alle Wetter, da hätten wir ja beinahe die Hauptsache vergessen. Die Legitimation, welche der junge Marabut zu sich gesteckt hat. Wenn wir sie mit ihm vergraben wollten, so würde es dir verteufelt schwer werden, den Baron de Sainte-Marie zuspielen.“

„Er hat sie in die Innentasche seiner Kutte gesteckt. Ich habe es gesehen.“

„So nimm sie heraus.“

„Das kannst du ebensogut.“

„Abermals Hasenherz!“

„Spotte immerhin. Am hellen Tag und im offenen Kampf, da stelle ich meinen Mann, des Abends oder gar des Nachts aber mag ich von Toten nichts wissen. Er ist das ein alter Grundsatz von mir.“

„Ja, Feiglinge pflegen in dieser Beziehung die festesten Grundsätze zu haben. Ich will hinausgehen, die Papiere zu holen. Siehe inzwischen nach, ob vielleicht noch Blutflecke zu vertilgen sind. Wer morgen kommt, darf nichts ahnen. Man muß denken, daß der Alte gestorben ist, während der Junge sich auf einer Exkursion auswärts befindet.“

Die Papiere wurden gefunden. Der Kapitän steckte sie zu sich. Nachdem nun auch einige noch sichtbare Blutspuren vertilgt worden waren, löschten die beiden die Lampe aus und begaben sich mit dem Topf nach dem Ort, wo sie bereits vorhin miteinander gesessen hatten. Sie fühlten trotz der Länge ihres anstrengenden Rittes nicht die mindeste Müdigkeit. Das abendliche Erlebnis hatte ihre Nerven erregt, so daß sie keine Spur von Schläfrigkeit bemerkten.

Sie versuchten, sich die Zeit durch leise geführte Gespräche zu vertreiben, wozu ihnen allerdings Stoff genug geboten war. Während einer Pause fragte der Jüngere den Kapitän:

„Leben deine Schwester Margot und ihr Mann noch?“

„Jener verfluchte Hugo von Königsau, der Günstling des alten Blüchers? Ihm habe ich viel Malheur zu verdanken. Ich wollte, daß ihn der Teufel hätte. Ob er ihn aber schon hat, das kann ich nicht sagen, da ich so lange Zeit nicht wieder drüben gewesen bin.“

„Ob der Lieutenant von Königsau, den wir jetzt so freudig überraschen wollen, wirklich ein Verwandter von ihm ist?“

„Natürlich! Er ist ein Sohn von ihm und meiner Schwester. Wenn dieser Laffe wüßte, daß sein lieber Onkel ihm unterwegs auflauert, um ihn um einige Tropfen Blutes und verschiedene Kamelladungen leichter zu machen! Ich glaube, daß endlich, endlich meine Zeit begonnen hat. Ich habe jahrzehntelang vergebens auf sie gehofft und gewartet, und sie ist nicht gekommen. Ich habe gedarbt und gekämpft fast ein ganzes Menschenalter, ohne daß meine Hoffnung erfüllt worden ist. Jetzt aber winkt mir die Erfüllung meiner Wünsche. Rache will ich haben, Rache an diesem Königsau und seiner ganzen Sippe und auch, womöglich, Rache an der ganzen Nation dieser vermaledeiten Deutschen, deren Anwesenheit in Paris ich es zu verdanken habe, daß andere, welche damals neben mir dienten, heute bereits die Marschallstäbe tragen. Vielleicht gibt der Satan, wenn ich wieder im Vaterland wohne, diesen Deutschen die gehörige Portion Verblendung, einen Krieg mit uns zu beginnen; dann werde ich alles, alles tun, um ihr Blut fließen zu sehen, Blut, Blut und Blut.“

Wäre es nicht dunkel gewesen, so hätte man an ihm jenes Zähnefletschen beobachten können, welches bei ihm stets ein Zeichen grimmiger Aufregung war. Er befand sich jetzt in der Stimmung, in welcher er sich am wohlsten fühlte.

„Wer hätte gedacht“, meinte sein Gefährte, „daß wir heute so rasch zum Ziel kommen würden.“

„Und zu welch einem Ziel! Zwei Sainte-Marie sind tot, und ein Richemonte wird Baron. Das ist überschwenglich, mehr, als selbst die kühnste Hoffnung erwarten konnte. Wir können zufrieden sein.“

„Welche Nachricht wirst du dem Gouverneur Cavaignac bringen?“

„Bringen? Keine. Ich werde sie ihm durch den Kommandanten von Biskra, zu dem wir reiten, schicken. Es hat sich durch unser heutiges Abenteuer so vieles geändert, daß auch ich meinen Plänen eine andere Richtung geben muß. Es wird dies der letzte Dienst sein, den wir dem Gouverneur erweisen. Ich habe die Spionage satt.“

„Wird er erfahren, wer der Marabut eigentlich gewesen ist?“

„Wo denkst du hin! Er wird erfahren, daß er den frommen Hadschi Omanah nicht mehr zu fürchten brauche, weil dieser heute gestorben ist. Und unseren Lohn werden wir sicher erhalten. Ich hole ihn mir nach dem Überfall der Karawane des Deutschen.“

„Mir recht. Noch aber ist mir nicht klar, wie wir die Beni Hassan in den Verdacht bringen wollen, den Deutschen überfallen zu haben.“

„Das laß nur meine Sorge sein. Der Plan dazu ist fertig, er harrt nur noch der Ausführung und des Gelingens.“

„Ich mache aber die strenge Bedingung, daß dieser Saadi, der Geliebte Liamas, sterben muß.“

„Am liebsten ließe ich den ganzen Stamm vernichten und deine süße Liama zu allererst. Du wirst sehen, wohin dich diese Liebesblindheit führen wird. Ich habe meine Schuldigkeit getan und dich gewarnt; jetzt sieh du zu, ob du auch imstande sein wirst, die voraussichtlichen Folgen deiner Starrköpfigkeit auf deine eigenen Achseln zu nehmen.“

„Das laß nur immerhin meine Sorge sein“, antwortete der andere so kurz wie möglich. „Du sollst gar nicht das Glück haben, die Folgen dieses dummen Streiches, wie du ihn nennst, mitgenießen zu können.“

Mit dieser etwas scharfen Entgegnung wurde das Gespräch abgebrochen. –

Der Duft der Wüste stieg empor; es wehte leise, leise in den Zweigen; wie Flügelschlag einer fliehenden Seele; die Sterne des Südens lächelten herab, als ob es kein Ereignis gegeben habe, durch welches die Ruhe und der tiefe Frieden des heiligen Berges in so entsetzlicher Weise gestört worden sei. Als Arthur auf Wunsch des sterbenden Vaters betete:

„Mein Leben und meine Ende


Ist Dein. In Deine Hände


Befehl ich, Vater, meinen Geist!“

hatten sein Schmerz und sein gewaltsam niedergehaltenes Schluchzen nur diesem Vater gegolten, und doch hatte er sein eigenes Sterbegebet gesprochen. Er hätte die Wüste verlassen sollen, um nach dem Heimatland seines Vaters zu pilgern; nun aber war er mit diesem eingegangen in eine Heimat, welche höher und herrlicher ist als alle Stätten der Erde. –

Kaum begann im Osten der Horizont sich leise aufzuhellen, so machten die beiden Mörder sich an die Arbeit, den Topf mit dem Gold und den Kostbarkeiten einzugraben. Sie fanden bereits nach kurzem Suchen einen außerordentlich passenden Ort, an welchem sie den geraubten Schatz für voraussichtlich nur kurze Zeit der Erde anvertrauten. Einige nur ihnen in die Augen fallende Kennzeichen dienten zur Bezeichnung dieser Stelle, und sodann begaben sie sich wieder nach der Hütte des Marabut.

Sie traten nochmals in das Innere, um sich nun auch beim Licht des hereinbrechenden Morgens zu überzeugen, daß keine Spur ihrer schaurigen Tat vorhanden sei. Dann ergriffen sie die Leiche des Ermordeten, um sie im tiefen Wald zu verscharren, zu welchem Zweck sie den in der Hütte vorgefundenen Spaten mitnahmen. Auch dieses unheimliche Geschäft wurde rasch beendet, dann aber machten sie sich auf den Weg, um ihre zurückgelassenen Pferde aufzusuchen. Sie fanden dieselben an Ort und Stelle und trabten bald, da die Tiere sich mittlerweile ziemlich erholt hatten, munter dem Osten zu, in welcher Richtung Biskra, ihr nächstes Ziel, zu suchen war.

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