FÜNFTES KAPITEL Schatzgräber

Als Baron de Reillac vorhin den Kutscher fortsprengen sah, ohne von ihm die gewünschte Auskunft zu erhalten, blickte er ihm kopfschüttelnd nach.

„Hm, da ist auf dem Meierhof ganz sicher etwas los!“ dachte er, indem er sein Pferd antrieb, den Weg wieder fortzusetzen. „Aber was? Diesen Offizier habe ich jedenfalls bereits gesehen. Sehr jung für den Rang eines Majors. Und die beiden Soldaten hatten auch so etwas Bekanntes an sich.“

Er sann und sann, ohne auf das Richtige zu kommen.

„Ah pah! Warum mir den Kopf zerbrechen? Ich werde auf Jeannette ja alles erfahren!“ rief er so laut, als ob es jemand hören solle.

Das Pferd mochte glauben, gemeint zu sein, denn es setzte in ein beschleunigtes Tempo ein. So ging es fort, und schon war der Meierhof in Sicht, als der Reiter plötzlich sein Pferd mit einem Ruck anhielt.

„Donnerwetter! Welch ein Gedanke!“ rief er. „Wenn dies wahr wäre! Richemonte traute diesem Florian nicht. Das wäre ein ganz verfluchter Strich durch diese Rechnung. Rasch vorwärts! Ich muß sobald wie möglich Gewißheit und Aufklärung haben.“

Er spornte sein Pferd, daß es im Galopp davon flog, und hielt nicht eher an, als bis er sich auf dem Hof der Meierei befand. Dort sprang er ab und eilte nach dem Zimmer des Kapitäns. Er fand diesen wachend auf dem Sofa liegen. Richemonte erhob sich nachlässig.

„Wieder da?“ fragte dieser.

„Wie Sie sehen.“

„Die Wechsel mitgebracht?“

„Ja. Doch ob ich sie vernichte, ist noch nicht ganz gewiß.“

„Wieso?“

Er betrachtete erst jetzt den Baron aufmerksamer und bemerkte alle Zeichen einer nicht gewöhnlichen Unruhe. Er fuhr darum fort:

„Was haben Sie? Ist etwas passiert?“

„Vielleicht sehr viel. Beantworten Sie mir schnell einige Fragen.“

„Fragen Sie.“

„Wurde noch später eine Spur von diesem Königsau gefunden?“

„Nein.“

„Sind Ihre Mutter und Schwester noch hier?“ fragte der Baron weiter.

„Natürlich.“

„Sie können nicht entkommen?“

„Es steht ein Posten vor der Tür.“

„Dann ist es rätselhaft. Befindet sich Florian noch auf dem Meierhofe?“

„Jedenfalls. Wenigstens habe ich erst vor kurzem mit dem Menschen gesprochen.“

„Er ist nicht mehr da. Auch ich habe mit ihm gesprochen.“

„Wo?“

„Zwischen hier und Sedan. Es war ein Dragonermajor mit zwei Soldaten bei ihm. Eine Täuschung ist nicht möglich, denn ich sprach mit ihm.“

„Kam der Major von Jeannette?“

„Ja.“

„Es ist nur ein einziger hier. Er kam gestern als Ordonnanz und schläft noch.“

„Das ist möglich, denn der Major, welchen ich gesehen habe, war kein anderer als dieser Königsau.“

Bei diesem Wort sprang Richemonte gleich zwei Schritte vorwärts.

„Baron, was sagen Sie?“ rief er.

„Ja, es war Königsau; dieser Florian ist ein Verräter.“

„Irren Sie sich nicht?“

„Nein. Der Deutsche flog im Galopp an mir vorüber; ich konnte sein Bild also nur höchst flüchtig in mir aufnehmen. Darum mußte ich längere Zeit angestrengt nachdenken, ehe ich darauf kam, wem dieses Gesicht gehörte.“

„Verdammt! Sie hätten ihm sonst nachreiten können, um ihn in Sedan festnehmen zu lassen.“

„Allerdings. Das ist es ja, was mich ärgert.“

„Nun, jetzt ist er entkommen.“

„Und die beiden Soldaten mit. Ich will nur wünschen, daß ich mich in meinen weiteren Vermutungen wegen der beiden Soldaten irre.“

„Was ist's mit den Soldaten?“

„Sie sahen Ihrer Mutter und Schwester außerordentlich ähnlich.“

Richemonte erbleichte.

„Sie wollen doch nicht etwa sagen, daß –“, stotterte er.

„Daß dieser verdammte deutsche Lieutenant sich in unser Hauptquartier und in die unmittelbare Nähe des Kaisers wagt, um mir meine Braut vor meinen Augen zu entführen? Ja, gerade das will ich sagen.“

„Das ist ein Unding, eine Unmöglichkeit. Wenn dies wahr wäre, so würde ich fast gezwungen sein, mich zu erschießen.“

„Überzeugen Sie sich.“

„Ja, kommen Sie mit.“

Die beiden Männer begaben sich nach dem Zimmer Margots. Vor demselben hielt der Posten.

„Etwas passiert?“ fragte Richemonte.

„Nein.“

„Viel Geräusch gehört?“

„Gar keins.“

Der Kapitän sowohl als der Baron sahen einander verdutzt an, und es schien, als ob sie wieder Vertrauen in die Lage ihrer Sache gewonnen hätten.

Richemonte wandte sich nun an den wachthabenden Posten mit der weiteren Frage:

„Ist da im Zimmer nicht gesprochen worden?“

„Nein“, rapportierte der Soldat.

„Treten wir ein!“ erklärte der Kapitän.

Er öffnete die Tür. Dies war jetzt möglich, da Margot vor ihrer Entfernung den Riegel mit Absicht wieder zurückgezogen hatte.

„Kein Mensch hier!“ sagte er. „Aber dort ist noch eine Tür!“

Er gelangte in das Zimmer, welches für Königsau bestimmt gewesen war. Auch hier war nichts zu sehen. Von da aus wagte er sich bis an die Treppe, welche in den Stall führte, und zu welcher er hinabgestürzt war.

„Hier sind sie hinab“, sagte er. „Der Schurke von Florian ist ihnen dabei behilflich gewesen und hat auch den Deutschen irgendwo versteckt gehabt. Wir müssen sehen, ob die Baronin und ihr Sohn mit ihm im Bunde gewesen sind.“

Er eilte, von Reillac gefolgt, nach dem Zimmer der Baronin. Dort stand der Posten, welchen er vor der Tür gelassen hatte.

„Ist die Gefangene noch anwesend?“ fragte er.

„Ja“, antwortete der Mann.

„Hast du sie gehört?“

„Ich habe soeben mit ihr gesprochen.“

„Was?“

„Sie trat an die Tür und verlangte ihre Bedienung zur Toilette.“

„Ist das Mädchen bereits bei ihr?“

„Sie ist im Augenblick eingetreten.“

„Wollen sehen.“

Er öffnete die Tür. Die Baronin saß, von dem Frisiermantel umhüllt, auf einem Stuhl. Beim Anblick der beiden Männer erhob sie sich überrascht.

„Madame, haben Sie während der Nacht dieses Zimmer einmal verlassen gehabt?“ fragte Richemonte, ohne sie vorher zu grüßen.

Sie warf ihm einen erstaunt-verächtlichen Blick entgegen und antwortete: „Monsieur, seit wann ist es Sitte, ohne Anmeldung und Gruß in das Boudoir einer Dame einzudringen?“

„Seit jeher, falls die Dame nämlich Gefangene ist. Sie haben meine Frage gehört, und ich ersuche Sie, mir eine Antwort zu geben.“

Sie zuckte die Achseln und entgegnete:

„Es kann hier von einer Antwort keine Rede sein. Ich spreche nur mit Personen, welche die im Verkehr mit Damen notwendige Höflichkeit besitzen. Ihnen aber mangelt dieselbe vollständig.“

„Ah!“ meinte er zornig. „Vergessen Sie nicht, daß Sie sich in meiner Gewalt befinden!“

„Jedenfalls in der des Kaisers, dessen Kerkermeister oder Büttel Sie ja nur sind. Verlassen Sie mich!“

„Ich werde nicht eher gehen, als bis Sie meine Frage beantwortet haben.“

Sie wendete sich stolz von ihm ab und schwieg.

„Ich muß Ihnen nämlich sagen, daß meine Mutter und Schwester während dieser Nacht entflohen sind – – –“

Bei diesen Worten des Kapitäns zuckte die Baronin zusammen. Sie konnte diesen Ausdruck der Verwunderung nicht beherrschen oder verbergen, doch schwieg sie noch immer.

„Und daß Sie der Beihilfe zu dieser Flucht dringend verdächtig sind“, fuhr er in barschem Ton fort.

Sie gewann es auch jetzt über sich, zu schweigen. Dies steigerte seinen Zorn in der Weise, daß er nahe an sie herantrat und ihr zurief:

„Haben Sie das Sprechen verlernt, Madame! Man wird rasch genug Mittel finden, Sie zu Worte zu bringen.“

Auch diese rüde Drohung würdigte sie keiner Antwort. Da mischte sich Reillac in die Angelegenheit, indem er Richemonte beim Arm ergriff und zurückzog.

„Dieses Zimmer hat nur den einen Ausgang“, sagte er. „Der Posten hat gesagt, daß Madame es nicht verlassen habe, und so meine ich, daß wir es glauben können!“

„Möglich!“ antwortete der Kapitän. „Aber ich bin gewöhnt, Antwort zu erhalten, wenn ich frage.“

„Lassen wir das jetzt. Wir versäumen damit nur ganz unnütz die kostbare Zeit. Jedenfalls steht der junge Baron mit im Bunde.“

„Oh, das ist nicht nur möglich, sondern sogar sehr wahrscheinlich. Also schnell zu ihm. Und wehe ihm, wenn ich ihn schuldig finde.“

Sie verließen das Gemach und begaben sich nach den Parterreräumlichkeiten, welche der Baron bewohnte. Auch hier berichtete der Posten, daß der Gefangene das Zimmer nicht verlassen habe. Vor den Fenstern der Wohnung hatte ein zweiter Soldat Wache gehalten, und da auch dieser aussagte, daß er nichts Verdächtiges bemerkt habe, so hätte man eigentlich die Unschuld des Barons für erwiesen achten können, aber dennoch drangen die beiden ohne Gruß und Anmeldung in dessen Zimmer ein.

Er lag auf dem Sofa und schien die Nacht schlaflos zugebracht zu haben. Als die beiden erschienen, gab er seine liegende Stellung auf.

„Sie sind beschuldigt, Mitwisser eines Ereignisses zu sein, welches eine für Sie sehr strenge Strafe nach sich ziehen kann“, sagte der Kapitän rauh. „Ich hoffe, daß Sie diese Strafe dadurch zu mildern suchen, daß Sie mir meine Fragen aufrichtig und reuevoll beantworten.“

Der Baron sah den Sprecher ganz erstaunt an.

„Reuevoll!“ sagte er. „Ich bin mir bewußt, nichts getan zu haben, was ich zu bereuen hätte.“

„Das wird sich finden. Haben Sie während der verflossenen Nacht dieses Zimmer verlassen?“

„Nein.“

„Es ist aber jemand bei Ihnen gewesen?“

„Kein Mensch.“

„Oder Sie haben wenigstens mit irgend jemand Zeichen gewechselt oder in irgendeiner anderen Weise sich mit ihm in Verbindung gesetzt?“

„Nein.“

„Wollen Sie wirklich leugnen?“

„Ich brauche nicht zu leugnen.“

„Sie wissen aber, was während dieser Nacht geschehen ist?“

„Ich weiß nur, daß es mir während der Nacht gelungen ist, ein Buch bis zu Ende zu lesen.“

„Versuchen Sie nicht, mich zu täuschen. Sie haben gelesen; Sie sind also stets wach gewesen?“

„Allerdings.“

„Nun, das genügt nicht nur, unsern Verdacht zu bestärken, sondern es stellt sogar Ihre Mittäterschaft außer allen Zweifel.“

„Sie sprechen in Rätseln, Monsieur. Mittäterschaft! Was ist denn geschehen, woran ich teilgenommen haben soll?“

„Gut, ich werde es Ihnen sagen, obgleich Sie es eher wußten, als wir es erfuhren. Madame und Mademoiselle Richemonte sind entflohen.“

Der Baron machte eine Bewegung des Erstaunens.

„Entflohen? Unmöglich!“

„Nein, wirklich.“

„Aber warum?“

„Das werden Sie wohl wissen.“

„Und wohin?“

„Auch diese Frage werden Sie beantworten können!“

„Bei meiner Ehre! Ich weiß kein einziges Wort davon.“

„Auch nicht, daß Ihr Kutscher mit ihnen fort ist?“

„Florian?“

„Ja.“

„Wie soll ich das wissen? Vor meiner Tür steht ein Posten und vor den Fenstern ein zweiter. Ich bin vollständig isoliert gewesen.“

„Ich werde Ihnen aber doch beweisen, daß Sie lügen.“

Da runzelte der Baron die Stirn.

„Monsieur“, sagte er, „Sie gebrauchten soeben einen Ausdruck, den zurückzunehmen ich Sie bitten muß.“

„Das kann mir nicht einfallen. Sie sind Mitwisser des Ereignisses.“

„Ich versicherte Ihnen bereits bei meiner Ehre, daß ich nichts weiß.“

„Ich glaube Ihnen nicht.“

„Donnerwetter, Sie glauben meinem Ehrenworte nicht? Wissen Sie, was das zu bedeuten hat?“

„Das hat nichts zu bedeuten, als daß ich als Untersuchender dem Inkulpaten keinen Glauben zu schenken brauche, ja, daß es vielmehr die größte Unvorsichtigkeit und der größte Fehler sein würde, ihm zu vertrauen.“

„Sie meinen also, daß Sie mich als Lügner betrachten?“

„Ja, das meine ich“, antwortete der Kapitän kaltblütig.

„Nun, Sie wissen, daß ich Kavalier und Edelmann bin. Sie werden mir jedenfalls Genugtuung geben.“

„Fällt mir nicht ein! Sie sind jetzt weder Kavalier, noch Edelmann, sondern Untersuchungsgefangener.“

Da trat der Baron nach der Ecke des Zimmers, in welcher ein Spazierstöckchen lehnte. Er griff danach und sagte:

„Pah! Sie sind nicht der Mann, der mich seinen Inkulpaten oder Untersuchungsgefangenen nennen könnte. Ich frage Sie einfach, ob Sie mir Genugtuung geben wollen oder nicht?“

„Fällt mir nicht ein!“ wiederholte der Kapitän.

„Nun, so werde ich Sie zwingen.“

Bei diesen Worten machte der Baron Miene, mit dem Stock auf seinen Gegner einzudringen. Dieser aber trat schnell zurück, so daß der Posten sichtbar wurde, und rief:

„Halt! Einen Schritt weiter, so gibt Ihnen dieser Mann eine Kugel.“

Der Baron blieb stehen. Er besann sich und warf den Stock von sich.

„Monsieur, Sie sind ein ehrloser Feigling“, sagte er. „Aber“, fügte er rasch hinzu, „dort sehe ich einen, welcher mir Genugtuung verschaffen muß und auch verschaffen wird.“

Der Kaiser war nämlich bereits wach geworden und trat soeben aus dem Portal. Der Baron hatte ihn erblickt und öffnete, ehe es verhindert werden konnte, das Fenster.

„Sire! Majestät!“ rief er mit lauter Stimme.

In seiner gegenwärtigen Aufregung dachte er gar nicht daran, daß es eigentlich ganz unerhört sei, sich in dieser Weise an den Kaiser zu wenden. Dieser wendete sich ihm zu und trat näher. Seine Stirn verfinsterte sich.

„Ah, Baron! Was wollen Sie?“ fragte er kurz und streng.

„Gerechtigkeit, Sire.“

„Sie wird Ihnen werden.“

Er machte Miene, sich umzudrehen, doch der Baron hielt ihn mit den Worten fest:

„Man hält mich ohne Recht gefangen; man dringt auf die unverschämteste Weise bei mir ein; man beleidigt meine Ehre und verweigert mir doch die Genugtuung. Ich verlange, gehört zu werden.“

Der Kaiser richtete einen finstern, beinahe starren Blick auf ihn.

„Junge Mann, Sie sind sehr kühn“, sagte er. „Ich komme selbst.“

Er hatte natürlich im Hof gestanden. Jetzt kehrte er durch das Portal zurück, um zum Baron zu gelangen.

Dieser wurde jetzt von Richemonte und Reillac vom Fenster weggerissen, aber freilich zu spät.

„Unsinniger, was wagen Sie?“ rief Reillac.

„Der Kaiser, ah, der Kaiser kommt“, sagte Richemonte.

Er war totenbleich geworden. Er hatte die Bewachung der Entflohenen übernommen und fühlte fürchterliche Angst bei dem Gedanken, wie Napoleon die Kunde von ihrer Entweichung aufnehmen werde.

„Ja, er kommt“, meinte der Baron. „Ich habe ihn nicht zu fürchten.“

„Hole Sie der Teufel! Aber machen Sie sich auf das Schlimmste gefaßt, wenn Ihnen nur der kleinste Gedanke einer Mitschuld zu beweisen ist.“

In diesem Augenblick präsentierte der Posten das Gewehr. Der Kaiser nahte. Er trat langsam ein, warf einen raschen Blick auf die Anwesenden und fragte dann:

„Kapitän Richemonte, was ist geschehen?“

„Sire, etwas, was ich Eurer Majestät nur auf Dero Zimmer melden kann“, antwortete der Gefragte.

„Sprechen Sie hier!“ klang es kurz und befehlend.

Der Kapitän räusperte sich in größter Verlegenheit und meldete:

„Die Gefangenen sind entflohen, Sire.“

Es ging ein schnelles, unheilverkündendes Zucken über Napoleons Gesicht.

„Welche Gefangenen?“ fragte er.

„Meine Mutter und meine Schwester.“

Das bronzene Gesicht des Kaisers wurde um einen Schein dunkler. Er trat rasch zum Fenster und blickte hinaus, als ob er irgend etwas Auffälliges da draußen bemerkt habe. Doch geschah dies nur, um seine Gefühle zu verbergen und Zeit zu gewinnen, ruhig zu erscheinen. Als er sich wieder umdrehte, war in seinen eisernen Zügen nicht die mindeste Aufregung zu bemerken.

„Wann sind sie entflohen?“ fragte er.

„Beim Morgengrauen“, antwortete der Kapitän. „Das zu untersuchen, begab ich mich hierher, Majestät. Ohne Beihilfe von anderer Seite wäre den Damen die Flucht unmöglich gewesen.“

„Wann hat man ihre Entfernung bemerkt?“

„Herr Baron de Reillac ist ihnen zwischen hier und Sedan begegnet.“

„Ah! Er hat sie nicht festgehalten?“

„Er hat sie nicht erkannt, da sie als Soldaten verkleidet waren.“

„Sie waren allein?“

„Nein, der Kutscher Florian begleitete sie, und der Anführer der Truppe war jener deutsche Lieutenant Königsau.“

Der Kaiser preßte die Lippen zusammen. Es dauerte eine Weile, ehe er weiter forschte:

„Hatten Sie nicht Posten vor die Tür beordert?“

„Ja, Majestät.“

„So hat dieser Mann geschlafen.“

„Schwerlich. Die Gefangenen sind mit Hilfe des Kutschers nach dem Stall und von da in das Freie gekommen.“

„So hatte das Zimmer derselben noch einen zweiten Ausgang?“

„Allerdings, Sire.“

„Es stand kein Posten davor?“

„Nein.“

„Kannten Sie diesen zweiten Ausgang?“

Die Fragen des Kaisers folgten sich mit außerordentlicher Geschwindigkeit, so daß der Kapitän Mühe hatte, seine Antworten mit derselben Schnelligkeit zu geben. Jetzt aber stockte er.

„Nun, Antwort!“ befahl der Kaiser streng.

„Ja, ich kannte ihn“, antwortete Richemonte gepreßt.

„Warum ließen Sie ihn nicht besetzen?“

„Weil ich ihn für unpassierbar hielt. Es waren dieselben Stufen, von denen ich heruntergefallen war.“

„Was tun Sie dann hier?“

„Ich kam, um den Baron zu verhören, nachdem ich vorher auch bereits bei seiner Mutter gewesen war.“

„Was sagte die Dame aus?“

„Daß sie von nichts wisse.“

„Und Sie, Baron?“

Mit dieser Frage wendete Bonaparte sich direkt an Sainte-Marie.

„Auch ich weiß von nichts“, antwortete dieser. „Ich versicherte dies dem Kapitän auf Ehrenwort, als Edelmann und Kavalier; er aber nannte mich einen Lügner, und als ich Genugtuung verlangte, verweigerte er mir dieselbe, weil ich Inkulpat sei.“

Der Kaiser blickte den Kapitän mit einem undefinierbaren Ausdruck in das Gesicht und fragte ihn:

„Also die beiden Posten haben ihre Schuldigkeit getan?“

„Ja, Majestät“, antwortete er.

„Das Zimmer der Baronin hat nur den einen Ausgang, welcher bewacht wurde?“

„Ja.“

„Und dieses auch?“

„Ja, wie Majestät sich selbst überzeugen können.“

„Nun, so sind Sie allein schuld an dem Entweichen der Gefangenen, indem Sie die Treppe nicht bewachen ließen. Ich sollte Sie streng bestrafen.“

Er ließ den vor Angst fast vergehenden Kapitän ein Weilchen warten; dann fuhr er fort:

„Doch ist diese ganze Angelegenheit eine so untergeordnete und gleichgültige, daß ich davon absehe. Diese Leute mögen sich immerhin entfernt haben: es liegt nichts an ihnen. Der Baron de Sainte-Marie und seine Mutter aber sind auf alle Fälle unschuldig; der Zimmerarrest ist aufgehoben: Sie sind beide frei.“

„Majestät, ich danke!“ rief der Baron. „Oh, ich wußte, daß mein Kaiser uns die Gerechtigkeit nicht verweigern werde.“

Napoleon beachtete diese Worte nicht; er wendete sich an Richemonte:

„Diese Angelegenheit ist also erledigt. Nehmen Sie die Posten weg und verfügen Sie sich dann nach Ihrem Zimmer. Der Baron de Reillac wird Sie begleiten.“

Er wendete sich kurz um und ging. Die beiden folgten ihm. Als sie nach kurzer Zeit Richemontes Zimmer betraten, meinte dieser:

„Was sagen Sie nun, Baron?“

„Ein ganz verfluchter Fall.“

„Oh, ich brenne vor Wut, daß der Kaiser mir vor diesem jungen Menschen den Verweis geben mußte. Nun werden die Weiber entkommen.“

„Meinen Sie? Ich glaube es nicht.“

„Nicht? Inwiefern?“

„Ich bin überzeugt, daß die Gleichgültigkeit des Kaisers nur affektiert gewesen ist. Er hat die Absicht gehabt, den Baron und dessen Mutter sicher zu machen. Es sollte mich gar nicht wundern, wenn Sie in der nächsten Minute zu ihm gerufen würden.“

„Verdammt! Aber ich möchte es auch fast glauben.“

„Natürlich! Wir sollen uns in Ihr Zimmer verfügen. Zu welchem anderen Zweck denn, als sofort bei der Hand zu sein, wenn er schickt.“

„Ich könnt mich vor Grimm verzehren. Es ist wirklich – – –“

Er wurde unterbrochen, denn ohne, daß vorher geklopft worden war, öffnete sich die Tür, und – der Kaiser trat ein.

Die beiden standen in strammer Haltung, aber auch banger Erwartung vor ihm. Er zog die Tür zu, versicherte sich, daß sie wirklich verschlossen sei und wendete sich zuerst an Reillac:

„Baron, ich höre, daß Sie diese Margot Richemonte lieben?“

Der Gefragte verneigte sich stumm.

„Sie ist Ihre Verlobte?“

„Noch nicht, Sire.“

Die Stimme des Kaisers klang scharf und schneidend, als er antwortete.

„Sie ist es! Ihr Kaiser sagt es, und hier haben Sie meine schriftliche Bestätigung. Nehmen Sie.“

Er hatte bisher einen zusammengefalteten Bogen in der Rechten gehalten. Jetzt übergab er denselben dem Baron und fuhr dann fort:

„Die Braut ist Ihnen entflohen. Was ist Ihre Pflicht?“

„Ihr nachzueilen“, antwortete Reillac rasch.

„Allerdings. Ich hoffe, daß Sie es schleunigst tun werden.“

„Gern, Majestät! Aber meine anderen so wichtigen Verpflichtungen – – –“

„Welche meinen Sie?“

„Ich bin Armeelieferant, Majestät.“

„Pah! Haben Sie Stellvertreter?“

„Die Verwaltung meines Geschäftes ist allerdings so organisiert, daß ich mich ohne Schaden eine kurze Zeit entfernen könnte.“

„So eilen Sie! Ich hoffe, daß es Ihnen gelingen wird, die Flüchtigen baldigst einzuholen. Erzählen Sie schnell, wie und wo sie dieselben getroffen haben!“

Der Baron stattete seinen Bericht ab, welchem der Kaiser mit der gespanntesten Aufmerksamkeit folgte. Dann wendete sich der Monarch mit einer raschen Bewegung zu Richemonte.

„Kapitän“, sagt er in jenem Ton, welcher bei ihm so gefürchtet war.

„Sire!“ antwortete Richemonte, beinahe zitternd.

„Es ist Genugtuung von Ihnen gefordert worden?“

Richemonte machte eine kurze, bejahende Verneigung.

„Sie haben dieselbe verweigert – einem Edelmann verweigert?“

Dieselbe Verneigung. Man hätte das Herz des Kapitäns klopfen hören können, so war er von Angst erfüllt.

„Sie haben Leute entkommen lassen, welche ich selbst Ihnen anvertraute. Wissen Sie, was dies heißt?“

Dem Kapitän tröpfelte der Schweiß von der Stirn.

„Ich habe Ihnen vorhin gesagt, daß ich ihnen das letztere verzeihe. Die Gegenwart des Barons von Sainte-Marie zwang mich dazu. Aber ich kann Sie kaum mehr als Offizier und Ehrenmann betrachten. Schließen Sie sich der Verfolgung der Flüchtlinge an und lassen Sie sich ohne dieselben nie wieder vor mir sehen. Sind Sie in der Ergreifung derselben glücklich, so können Sie vielleicht auf eine mildere Beurteilung Ihres Verhaltens rechnen. Sind Sie überzeugt, daß der deutsche Husarenlieutenant bei den Damen gewesen ist?“

„Ja, Majestät.“

„Bringen Sie ihn mir lebendig oder erschießen Sie ihn, sobald Sie ihn treffen. Die Damen aber muß ich auf alle Fälle haben.“

„Wir werden augenblicklich aufbrechen.“

„Aber wohin?“

„Zunächst nach Sedan, wo wir wohl erfahren werden, in welcher Richtung die Entwichenen zu suchen sind. Majestät geruhen wohl, uns die Erlaubnis zu erteilen, die zur Verfolgung nötigen Mannschaften zu requirieren.“

„Welch ein Gedanke!“ zürnte Napoleon. „Wollen Sie zwei Frauen mit einem Reiterregiment fangen? Wollen Sie die Augen der Welt auf dieses private Unternehmen ziehen? Drei bis höchstens vier Mann genügen vollständig. Diese nehmen Sie gleich von hier mit. Wenn Sie gut reiten, werden Sie die Frauen in kürzester Zeit einholen.“

Nach diesen Worten drehte er sich scharf auf dem Absatz herum und schritt zur Tür hinaus.

„Sehen Sie, daß ich recht hatte?“ sagte Reillac. „Er ist sogar selbst gekommen, anstatt uns zu sich zu befehlen. Nun möchte ich zunächst diesen Bogen und seinen Inhalt kennen lernen.“

„Nein, nein!“ meinte Richemonte. „Das können Sie unterwegs vornehmen. Wir müssen augenblicklich aufbrechen, denn der Kaiser wird uns scharf beobachten.“

In demselben Augenblick schritt Napoleon auf die Treppe zu, welche nach seinen Gemächern führte, als eine Tür geöffnet und ihm gerade an den Kopf gestoßen wurde.

„Donnerwetter, wer hat –“, rief eine zornige Stimme aus dem geöffneten Zimmer.



Zu gleicher Zeit erschien ein bärtiger Mann, welcher eine fast paradiesische Erscheinung bildete, denn er war nur mit dem Hemd bekleidet. Es war jener Dragonermajor, welchem Florian die Uniform entwendet hatte, um sie Königsau zu bringen.

Napoleon fuhr sich mit beiden Händen an den Kopf und sagte:

„Mon dieu! Wer kann so unvorsichtig sein!“

Der Mann sah, wem er die Tür in das Gesicht geschlagen hatte.

„Alle Teufel; der Kaiser!“ rief er, auf das heftigste erschreckt.

„Ja, der Kaiser! Ich rate Ihnen, in Zukunft – ah!“ unterbrach er sich. „Major Marbeille!“

„Pardon, Majestät“, stotterte der Offizier. „Ich suchte meine Kleidung, welche man aus irgendwelchen Grund entfernt hat.“

Napoleon hatte sich bereits in die Szene gefunden.

„Man hat sie gestohlen“, meinte er, über die vor ihm stehende Figur nur mit Mühe ein Lächeln unterdrückend.

„Gestohlen! Bei Gott, den Dieb lasse ich hängen.“

„Man wird erst sehen müssen, ob er sich fangen läßt!“

„Aber, was fange ich an?“

„Leihen Sie sich einstweilen eine andere Uniform, und schließen Sie jetzt die Tür, Major.“

Bei diesen Worten schritt er davon. Der Major aber kam erst jetzt zum vollen Bewußtsein der Situation, in welcher er sich hatte überraschen lassen.

„Donnerwetter!“ sagte er. „Im Hemd! Und es war der Kaiser. Ich werde sogleich nach anderen Kleidern klingeln und dann nach dem Spitzbuben forschen. Erwische ich ihn, so lasse ich ihn hängen, erschießen und rädern für die Blamage, die er mir bereitet hat.“

Er drückte seine Tür gerade zur rechten Zeit zu, um nicht auch noch von Richemonte und Reillac bemerkt zu werden, welche eben jetzt vorüber schritten. Nach wenigen Minuten verließen beide den Meierhof zu Pferd, gefolgt von drei Kavalleristen, mit denen sie im gestreckten Galopp auf Sedan zusprengten.

Dort erfuhren sie zunächst, daß die Gesuchten hier durchgekommen seien, und am jenseitigen Ausgang der Stadt gab man ihnen dann an, daß sie die Richtung nach Bouillon eingeschlagen hatten.

Die Verfolger nahmen natürlich dieselbe Richtung.

Sie kamen viel schneller vorwärts als Königsau, welcher die Damen hatte berücksichtigen müssen. In verhältnismäßig kurzer Zeit erreichten sie Bouillon. Jenseits dieses Ortes erblickten sie zwei Personen auf einer Wiese. Dort hielten sie an.

„Seid Ihr von hier?“ fragte Richemonte.

„Ja, Monsieur“, antwortete der Mann.

„Wer seid Ihr denn?“

„Ich bin der Besitzer des Gasthauses dort, und das ist meine Frau.“

„Wie lange arbeitet Ihr heute bereits hier?“

„Seit drei Stunden.“

„Sind keine Reiter hier vorüber gekommen?“

„Ja, doch.“

„Wieviele?“

„Vier waren es.“

„Soldaten?“

„Drei Soldaten; einer von den Dragonern und zwei Gemeine.“

„Wer war der vierte?“

„Das muß ein Landmann gewesen sein!“

„Ist Euch an diesen Leuten nichts aufgefallen?“

Der Mann blickte seine Frau und sie ihn an.

„Soll man es verraten?“ flüsterte er.

„Hm! Wer weiß denn, was das klügste ist“, antwortete sie ebenso leise, wie er gesprochen hatte.

Richemonte bemerkte ihr Flüstern und ihre Ungewißheit und sagte:

„Ich bin ein Abgesandter des Kaisers. Ihr habt mir die Wahrheit zu sagen, wenn ihr nicht in Strafe kommen wollt. Also, ist Euch nicht etwas Ungewöhnliches an diesen Reitern aufgefallen?“

„Ja, doch“, antwortete der Mann zögernd.

„Was?“

„Der eine von den Soldaten war ein Weib.“

„Ah! Woher wißt Ihr das?“

„Weil ihr das Haar aufging, als der Major sie vom Pferd hob.“

„Er hob sie vom Pferd? Weshalb?“

„Es mochte ihr übel geworden sein, denn er trug sie zum Wasser und gab ihr zutrinken.“

„Blieben sie lange hier?“

„Nein. Sie ritten bereits nach kurzer Zeit wieder fort.“

„Wohin? Wohl jedenfalls nach Paliseul zu?“

„Nein, sondern links da in die Berge hinauf.“

„Donnerwetter! Was wollen sie dort?“ sagte er zu Reillac. „Sie fangen es nicht ganz übel an, uns zu entkommen.“

„Ja“, meinte der Baron. „Da in den Bergen und Wäldern wird es uns schwer werden, auf der Spur zu bleiben. Wir sind leider keine Indianer, welche jeder Fährte zu folgen vermögen. Aber nach müssen wir ihnen doch!“

„Das versteht sich ganz von selbst.“

Und zu dem Wirt gewendet, fragte er weiter:

„Ritten diese Leute sehr schnell?“

„Nein, sondern sehr langsam.“

„Haben sie mit Euch gesprochen?“

„Kein Wort. Aber den Major kennen wir.“

„Wieso? Wie heißt er?“

„Das wissen wir nicht. Er hat vor kurzer Zeit eine Nacht bei uns geschlafen.“

„War er in Uniform bei Euch?“

„O nein. Er gab sich für einen Musikus aus Paris aus.“

„Das ist eine Lüge. Ich will Euch sagen, daß er ein preußischer Spion ist, den wir fangen wollen. Wohin führt der Weg, den sie geritten sind?“

„Nur in den Wald zu einer alten Kohlenbrennerhütte.“

„Nicht weiter? Nach keiner Stadt und keinem Dorf?“

„Nein.“

„Das ist schlimm. Wie lange ist es her, daß sie hier waren?“

„Vielleicht eine halbe Stunde.“

„Hurra, so erwischen wir sie vielleicht noch, bevor der Weg aufhört und der Wald anfängt?“

„Ja, wenn Sie die Pferde anstrengen wollen, so ist es möglich, daß Sie sie noch bei der Hütte einholen.“

„Dann vorwärts!“

Er gab seinem Pferd die Sporen und lenkte in den schmalen Bergweg ein. Die anderen folgten.

Es war schwer, hier reitend empor zu kommen, aber die beiden Verfolger hatten keineswegs die Absicht, ihre Tiere zu schonen. Diese wurden vielmehr zum möglichst schleunigen Tempo angetrieben, und so wurde die Entfernung sehr rasch zurückgelegt.

Richemonte spähte höchst aufmerksam nach vorn und hielt, eben als er um einen Busch biegen wollte, sein Pferd plötzlich an.

„Was gibt es?“ fragte Reillac.

„Da, sehen Sie.“

Bei diesen Worten deutete der Kapitän nach vorn. Reillac folgte mit seinen Augen der angegebenen Richtung.

„Hölle und Teufel!“ sagte er. „Das muß die Köhlerhütte sein.“

„Natürlich! Und die beiden, welche da im Moos sitzen?“

„Das ist dieser verfluchte Florian.“

„Und der Soldat neben ihm? Er dreht uns den Rücken zu.“

„Ah, jetzt dreht er sich etwas herum. Richemonte, das ist Ihre Mutter!“

„Wahrhaftig! Wer hätte diesem Weib jemals zugetraut, sich in die Montur eines gemeinen Soldaten zu stecken! Aber wo mögen die beiden anderen sein?“

„Königsau und Margot? Jedenfalls im Innern der Hütte.“

„Das glaube ich nicht“, meinte der Kapitän kopfschüttelnd.

„Warum nicht?“

„Weil ihre Pferde nicht zu sehen sind.“

„Ah, richtig! Sollten sich diese Leute getrennt haben, um die etwaigen Verfolger irrezuführen?“

„Unsinn! Diese beiden werden ein wenig vorausgeritten sein. Sie sind ja Liebesleute!“

„Hole sie der Teufel! Was tun wir?“

„Wir fallen natürlich über sie her, ganz plötzlich, so daß dieser brave Florian sich gar nicht zu verteidigen vermag.“

„Da ist es am besten, wir reiten heimlich um die Hütte herum, steigen ab, schleichen uns näher und überfallen sie von hinten.“

„Richtig! Tun wir das! Vorwärts!“

Sie ritten einen Bogen und gelangten an den Teil des Waldes, welcher an der Rückseite der Hütte lag. Hier stiegen sie ab und schlichen sich leise herbei. Die beiden, denen dieser Überfall galt, ahnten nicht, welche Gefahr ihnen so nahe war. Auch Tiger, der Hund, merkte nichts.

„Wird es nun bald wieder gehen, Madame?“ fragte Florian.

„Ich hoffe es“, antwortete Frau Richemonte. „Ich habe mich ein wenig ausgeruht und denke, daß wir aufbrechen können. Aber werden wir die beiden glücklich wiederfinden?“

„Natürlich.“

„Also an einer Schlucht erwarten sie uns?“

„Ja, ich kenne sie. Darf ich Ihnen in den Sattel helfen?“

„Ich bitte, lieber Florian.“

Sie erhob sich aus dem Moos. Florian wollte dasselbe tun, kam aber nicht dazu, denn ohne daß ein Laut die Nähe der Verfolger angezeigt hätte, wurde er von sechs kräftigen Armen gefaßt und niedergedrückt, nachdem zunächst der Hund durch einen Kolbenschlag unschädlich gemacht worden war, während vier andere Arme sich um Frau Richemonte schlangen.

„So! Endlich haben wir Euch!“ sagte der Kapitän tief aufatmend.

Sie wandte ihm ihr Gesicht zu.

„Albin! Mein Gott, es ist Albin!“ rief sie, auf das heftigste erschrocken.

„Ja“, höhnte er. „Es ist der liebe Albin, und mit ihm kommt der heißgeliebte Bräutigam, um sich seine Braut zu holen!“

„Verdammt! Laßt mich los!“

Bei diesen Worten machte Florian eine gewaltige Kraftanstrengung, um sich zu befreien, aber dies war ihm, dreien gegenüber, unmöglich.

„Bursche, füge dich!“ meinte Reillac. „Sonst geht es dir nicht gut! Du bist ein Lügner und Verräter!“

„Pah! Ich reite spazieren, mit wem ich will!“ meinte der Kutscher.

„Ja, aber der gegenwärtige Spazierritt wird dir schlecht bekommen. Wo ist dieser Monsieur Königsau?“

„Ich weiß es nicht.“

„Und Margot?“

„Jedenfalls bei ihm.“

Florian glaubte, daß es dem Lieutenant doch möglich sein werde, mit der Geliebten den Verfolgern zu entkommen.

„Mensch, antworte besser, sonst bekommst du Hiebe! Wie sind die beiden zu treffen?“

„Ich weiß es nicht. Schlagt immer zu.“

„Dazu ist es später auch noch Zeit. Übrigens irrst du dich, wenn du meinst, daß wir sie nicht finden. Die Schlucht, von welcher ihr vorhin spracht, wird nicht sehr weit entlegen sein.“

„Hier sind sie fortgeritten; man sieht ihre Spuren.“

Während Richemonte diese Worte sprach, deutete er auf die Erde.

„Wirklich!“ antwortete Reillac. „Es wird hier nicht sehr schwer sein, ihnen zu folgen.“

„Sie haben auf die Mama und den lieben Florian warten wollen. Wir dürfen uns also Zeit nehmen und können zu Fuß gehen.“

„Das wird das beste sein. Zu Pferd geht es schlecht. Aber vorher wollen wir dafür sorgen, daß diese zwei Vögel uns nicht wieder ausfliegen.“

Florian wurde sehr fest, Frau Richemonte aber leichter gefesselt. Die drei Soldaten erhielten den Befehl, sie zu bewachen, und dann folgten Richemonte und Reillac der Spur Königsaus.

Diese hatte sich in dem lockeren Waldboden tief genug eingedrückt, um leicht genug erkannt zu werden. So gelangten die Verfolger bald zur Stelle, wo die Pferde angebunden waren.

Richemonte erblickte die Tiere zuerst. Er faßte den Gefährten am Arm und hielt ihn zurück.

„Halt!“ sagte er. „Sehen Sie dort die Pferde?“

„Natürlich! Wo aber mögen die Reiter sein?“

„Jedenfalls in der Nähe.“

„Warten wir hier, bis sie kommen?“

„Nein. Ich habe nämlich so meine Gedanken.“

„Welche?“

„Sie haben an der Schlucht warten wollen. Daraus schließe ich, daß sie das Innere derselben haben aufsuchen wollen.“

„Dazu müßte ein Grund vorhanden sein.“

„Allerdings, und zwar muß dieser Grund ein Geheimnis enthalten, denn sie haben die beiden anderen nicht mitgenommen.“

„Es wäre doch merkwürdig, wenn wir hier etwas Wichtiges erführen.“

„Das ist sehr möglich. Schleichen wir uns also einmal am oberen Rand der Schlucht hin; aber leise und vorsichtig.“

Sie taten es und bemerkten gar bald Königsau, vor welchem Margot auf einem Stein saß, und ihr etwas sehr Interessantes zu erzählen schien. Sie hörte sehr aufmerksam zu.

„Dort sitzen sie“, flüsterte Reillac.

„Ja. Er erzählt. Was mag es sein? Wer es doch hören könnte!“

„Man könnte sie ja belauschen.“

„Das ist wahr. Gleich neben ihnen steht ja Gesträuch, welches dicht genug ist, uns zu verbergen.“

„Aber wenn sie uns bemerken?“

„Was ist da weiter? Wir fallen sofort über ihn her. Margot wird sich nicht sehr wehren können.“

„Töten wir ihn?“

„Nur dann, wenn es nicht anders geht. Ist es aber möglich, so soll er leben bleiben, um seiner Strafe und unserer Rache willen.“

Obgleich der eine von ihnen vorher gesagt hatte, daß sie keine Indianer seien, gelang es ihnen doch, ganz unbemerkt hinter das erwähnte Gesträuch zu kommen, wo sie sich niederduckten und so nahe waren, daß sie ein jedes Wort verstehen konnten.

„Das war also dieselbe Kriegskasse, von welcher der Wirt erzählt hatte?“ fragte soeben Margot.

„Ja, jedenfalls.“

„Weiß du, wieviel darinnen ist?“

„Nein; jedenfalls aber zählt es nach Millionen.“

„Wer aber mag noch davon wissen?“

„Einige; niemand aber kennt den Ort, wo sie vergraben liegt. Nur ich allein weiß denselben.“

„Aber wie wirst du das benutzen?“

„Ich werde zunächst abwarten, welche Ereignisse der bevorstehende Krieg mit sich bringt. Dann erst werde ich wissen, was zu tun ist.“

„O bitte, zeige mir den Ort, lieber Hugo! Ich möchte einmal wissen, wie es ist, wenn man auf einem verborgenen Schatze steht.“

„Das sollst du sofort erfahren. Komm.“

Er nahm sie bei der Hand und zog sie nach der Stelle, wo die Kasse vergraben lag.

„Hier, Margot, stehst zu auf einem sehr, sehr großen Reichtum“, sagte er. „Die Geister der beiden Toten werden ihn bewachen, so daß er keinem anderen in die Hände fällt.“

Er drehte sich bei diesen Worten ein wenig nach rechts herum, um nach der Stelle zu deuten, wo der Mörder neben seinem Opfer lag, und dabei fiel sein Auge auf die Sträucher, hinter denen die beiden Lauscher steckten.

„Donnerwetter! Jetzt hat er mich gesehen“, flüsterte Richemonte.

„Ich denke es auch“, sagte Reillac ganz leise.

„Nein, doch nicht. Er spricht mit Margot ganz unbefangen weiter. Der Kerl muß keine Augen haben.“

Der Sprecher irrte sich sehr. Königsau hatte nicht nur ihn gesehen, sondern auch bemerkt, daß noch ein zweiter in der Nähe stecke. Er erschrak zwar, hatte aber die Geistesgegenwart, sich nichts merken zu lassen, und fuhr ruhig in seinem Gespräch fort:

„Übrigens ist dies nicht der einzige Schatz, den ich kenne.“

„Wie? Du kennst noch mehrere?“ fragte Margot erstaunt.

„Ja, liebes Kind. Ich bin an jenem Tag außerordentlich glücklich gewesen. Jene Spitzbuben hatten nämlich zu derselben Zeit einen großartigen Diamantendiebstahl ausgeführt. Die Steine sind hier in der Nähe vergraben.“

„Wo?“

„Nicht weit vom Ausgang der Schlucht.“

„Was für Wunderbares ich heute erfahre! Was wirst du mit den Steinen beginnen?“

„Später werde ich sie den rechtmäßigen Eigentümern wieder zustellen.“

„Ich danke dir, Hugo, obgleich ich es von dir nicht anders erwarten konnte. Für einen anderen wäre die Versuchung, die Steine für sich zu behalten, außerordentlich groß gewesen.“

„Für mich nicht, ich kenne meine Pflicht: Und zu dieser gehört es, daß ich für die Sicherheit dieses Schatzes Sorge trage. Die Steine sind nämlich so unvorsichtig versenkt, da sie durch den einfachsten Zufall leicht entdeckt werden können. Darum bin ich mit dir hierher gegangen, um sie mit deiner Hilfe besser zu verbergen.“

„Wohin?“

„Ich habe den Plan, sie mit zur Kriegskasse zu stecken. Diese liegt ja an einem Ort, der niemals in den Verdacht kommen wird, einen Schatz, und zwar einen so großen, zu verbergen. Stimmst du bei?“

„Was du tust, das ist mir recht.“

„So warte hier, liebe Margot, bis ich wiederkomme. Ich werde jetzt die Diamanten holen.“

„Wie lange währt es, bis du wieder kommst?“

„Vielleicht zehn Minuten.“

„Oh, das ist sehr lange! Wie nun, wenn wir verfolgt werden?“

„Kein Mensch wird ahnen, daß wir hier in den Bergen stecken. Wir sind vollkommen sicher.“

„Oh, ich fürchte meinen Bruder.“

„Ich nicht. Ich glaube nicht, daß er mir gewachsen ist.“

„Aber ich mag nicht zehn Minuten lang hier allein bleiben, wo diese beiden Toten begraben liegen. Bitte, nimm mich lieber mit.“

„Nun gut. In zehn Minuten sind wir wieder hier, und fünf Minuten dauert das Vergraben der Steine; so können wir also nach einer Viertelstunde wieder aufbrechen.“

Er nahm sie bei der Hand und führte sie nach dem Ausgang der Schlucht hin, wo die Pferde standen, welche aber von hier aus nicht mehr gesehen werden konnten.

Richemonte und Reillac blickten einander an.

„Rasch, ihnen nach!“ flüsterte der letztere, indem er Miene machte, sein Versteck zu verlassen.

„Halt! Keine Dummheit, Baron!“ warnte der Kapitän, indem er ihn zurückhielt. „Wir müssen hier bleiben.“

„Ah! Warum?“

„Erstens könnten wir uns verraten, so daß er uns bemerkt, und dann wären die Diamanten für uns verloren, denn wir würden den Ort nicht erfahren, an welchem sie stecken.“

„Das ist allerdings wahr!“

„Und zweitens ist uns der Schmuck ja gewiß; er holt ihn doch herbei, und dieses müssen wir erst abwarten.“

„Hm! Wird er auch Wort halten?“

„Jedenfalls! Aber sagen Sie! Haben Sie alles gehört?“

„Jedes Wort!“

Die Augen des Kapitäns glühten vor Habsucht. Er, der arme Teufel, welcher des Geldes wegen so vieles gewagt und getan hatte, des Mammons wegen vor keiner Untat zurückgeschreckt war, stand oder lag vielmehr hier vor der Quelle eines Reichtums, der groß genug war, ihn tausendmal aus allen Verlegenheiten zu reißen. Aber an dieser Quelle lag noch ein zweiter. Sollte dieser auch mittrinken, mitgenießen können? Hatte dieser zweite nicht die Wechsel in der Tasche, welche der Grund so vielen Ärgers gewesen waren. Hatte dieser zweite nicht Margot zu seiner Universalerbin eingesetzt? Und sie konnte ihn nur dann beerben, wenn er – tot war.

Ein finsterer Gedanke zuckte durch Richemontes Gehirn, und dieser Gedanke wurde sofort zum festen Vorsatz.

„Was sagen Sie dazu?“ fragte er.

„Außerordentlich! Ganz außerordentlich!“

„Ja, wer hätte dies gedacht! Aber hatte ich nicht recht, als ich sagte, daß wir hier ein Geheimnis erfahren würden?“

„Ja, wunderbar. Wer kann hier eine vergrabene Kriegskasse vermuten.“

„Und wie schön hat dieser Königsau uns den Ort verraten.“

„Prächtig, Kapitän, prächtig! Aber wie ist er selbst denn eigentlich zu diesem Geheimnis gekommen?“

„Wer weiß es. Wären wir eher gekommen, so hätten wir es gehört. Doch ist das ja ganz gleichgültig. Es fragt sich nur, was wir tun werden.“

„Nun, das ist doch sehr einfach.“

„Was meinen Sie?“

„Zunächst nehmen wir sie gefangen, verraten aber nicht, daß wir sie belauscht haben. Wir bringen sie alle vier zum Kaiser, und dann – – –“

„Nun, dann?“

„Dann holen wir uns die Kasse.“

„Wenn wir diesen Plan ausführen wollen, dürfen wir sie aber nicht hier gefangennehmen.“

„Warum nicht?“

„Weil sie sonst wissen würden, daß wir sie belauscht haben. Und dann wäre die Kasse für uns verloren.“

„Das ist wahr. Es wird also am besten sein, wir sehen uns erst das Vergraben der Diamanten mit an, und dann wird sich ja ganz von selbst ergeben, was zu tun ist.“

„Richtig. Aber da wollen wir etwas tiefer in das Gebüsch kriechen. Wir könnten leicht bemerkt werden.“

„Ja, kommen Sie.“ Reillac kroch voran, und Richemonte folgte ihm, plazierte sich aber in der Weise ein wenig rückwärts neben ihm, daß es ihm leicht war, seinen Plan in Ausführung zu bringen. Er griff nämlich, unbemerkt von dem anderen, in seine Tasche, und zog einen Nickfänger hervor, der auch als Dolch zu brauchen war.

„Und wenn wir die Kriegskasse haben, was tun wir mit ihr?“ fragte er, um den anderen zu beschäftigen.

„Teilen, natürlich!“ antwortete Reillac. „Wir haben heute beide den glücklichsten Tag unseres Leben.“

„Beide? O nein!“

„Nicht? Inwiefern nicht? Sie werden doch nicht etwa so dumm sein, eine Teilung des Schatzes auszuschlagen?“

„Nennen Sie das wirklich dumm?“

„Natürlich.“

„Warum?“

„Nun, wer soll die Kasse denn sonst erhalten, als wir? Wollen Sie sie gar dem Staat überlassen?“

„Das fällt mir gar nicht ein. Aber auf eine Teilung brauche ich trotzdem nicht einzugehen. Ich brauche das Geld für mich allein.“

„Ah! Meinen Sie?“ fragte der Baron, indem er eine Bewegung machte, sich nach ihm umzudrehen. „Sie denken, ich soll den Schatz Ihnen allein überlassen, Kapitän?“

„Ja.“

„Nein, so verrückt bin ich doch nicht, denn – oh – ooh!!!“

Er stieß diesen Ruf nur halblaut aus; mehr war ihm nicht möglich, denn gerade in diesem Augenblick war Richemontes Klinge ihm durch den Rücken genau bis in das Herz gedrungen. Ein krampfhaftes Zittern durchlief seine Glieder; dann streckten sich seine Extremitäten; er war – tot.

„So, mein Herr Baron!“ grinste der Kapitän. „Nun teilen Sie, mit wem Sie wollen. Sie haben meinen Vater verführt und mich unglücklich gemacht. Sie haben den Grund gelegt zu allem, was ich bin. Jetzt kommt die Strafe. Dem Kaiser werde ich sagen, daß Königsau Sie im Kampf erstochen habe. Die Kriegskasse ist mein; die Diamanten werden mein und die Wechsel auch.“

Er öffnete den Rock des Toten und visierte die Taschen desselben.

Er fand eine reich gespickte Börse und ein Portefeuille, welches voller Banknoten war. Auch die Wechsel und die kaiserliche Bestätigung der Verlobung befanden sich darin.

„Das genügt, um Margot zu seiner Universalerbin zu machen. Sie wird in meine Hand gegeben sein; folglich bin ich der eigentliche Erbe“, murmelte er. „Jetzt mag Königsau kommen und die Steine vergraben. Ich schieße ihn einfach nieder, sobald er im Begriff steht, sein Pferd wieder zu besteigen.“

Während er auf das Erscheinen des Lieutenants wartete, steckte er seinen Raub zu sich. Er hatte das kaum getan, so fuhr er zusammen, denn ein Schuß erscholl.

„Was war das?“ fragte er. „Ein Schuß! Donnerwetter, noch einer – und noch einer. Drei Schüsse! Sie kamen aus der Gegend, wo die Köhlerhütte liegt! Drei Schüsse und drei Wächter bei den Gefangenen! Was ist da vorgegangen? Ich muß es wissen.“

Er kroch eilig aus den Sträuchern hervor und sprang dem Ausgang der Schlucht zu. Dort blieb er einen Augenblick halten.

„Die Pferde fort!“ sagte er. Und sich mit der Faust an den Kopf schlagend, fügte er hinzu: „Beim Teufel, dieser Königsau ist mir wirklich abermals überlegen gewesen. Die Kasse liegt da, aber das von den Steinen war Schwindel, augenblicklich erdacht, um mit guter Manier fortzukommen. Denn jetzt ist es gewiß, daß er mich bemerkt und gesehen hat. Aber noch sind wir nicht fertig, Monsieur Königsau. Noch bin ich da, um eine letztes Wort mit Ihnen zu sprechen.“

Seine beiden Pistolen ziehend und schußfertig haltend, eilte er auf die Köhlerhütte zu, sich jedoch vorsichtig in Deckung der Bäume haltend.

Seine Vermutung war ganz richtig. –

Als Königsau die Hand der Geliebten ergriffen und mit ihr die Pferde erreicht hatte, band er die letzteren los und sagte leise:

„Schnell auf das Pferd, Margot! Schnell, schnell!“

„Warum?“ fragte sie, ganz erstaunt über den plötzlich veränderten Ausdruck seiner Gesichtszüge.

„Das sage ich dir noch.“

Bei diesen Worten hatte er sie auch bereits in den Sattel gehoben. Im nächsten Augenblick saß auch er auf, ergriff den Zügel ihres Pferdes und lenkte nach der Hütte zurück, aber auf einem Umwege.

„Zurück?“ fragte sie. „Warum?“

„Um Mama zu retten“, antwortete er.

„Zu retten? Befindet sie sich denn in Gefahr?“

„Ja, in einer sehr großen. Sie ist gefangen.“

„Mein Gott! Das ist ja unmöglich! Wie könntest du das wissen?“

„Ich weiß es. Weißt du, wen ich gesehen habe, als wir auf der Stelle standen, wo die Kriegskasse liegt?“

„Wen?“ fragte sie voller Angst.

„Deinen Bruder. Er lag in dem Gebüsch. Und hart neben ihm bemerkte ich noch einen anderen. Sie haben unsere Spur gefunden; sie sind uns gefolgt und haben uns belauscht. Sie wissen nun auch das Geheimnis der Kriegskasse. Ganz sicherlich hätten sie mich erschossen und dich gefangen genommen, wenn ich nicht augenblicklich die Fabel von den Diamanten erfunden hätte.“

„Das war erfunden?“

„Ich sagte es nur, um uns zu retten. Sie haben uns erlaubt, uns zu entfernen, weil sie dachten, auch in den Besitz der Steine zu kommen, welche ich eingraben wollte.“

„O ihr Heiligen! Meine Mama! Hugo, mein Hugo, was ist zu tun? Was ist mit ihr geschehen?“

„Wenn die Verfolger sich bereits in der Schlucht befinden, so ist als ganz sicher anzunehmen, daß sie die beiden Zurückgelassenen schon vorher in ihre Gewalt bekommen haben.“

„So sind sie verloren.“

„Noch nicht. Es kommt darauf an, mit wieviel Verfolgern wir es zu tun haben. Ich lasse dich hier zurück und gehe rekognoszieren.“

Sie waren an ein dichtes Tannendickicht gekommen, welches nicht weit von der Köhlerhütte lag. Hier hielt er die Pferde an.

„Nein! Um Gottes willen, verlaß mich nicht“, bat sie.

„Sei ohne Sorge“, beruhigte er sie. „Hier bist du sicher, und ich komme ganz gewiß zurück.“

„Ist es wahr?“

„Ja.“

„Du wirst dich in keine Gefahr begeben, ohne mich vorher zu fragen?“

„Nein.“

„Nun, so gehe, Hugo! Aber denke an mich! Ich wäre dann ohne alle Rettung verloren, wenn du ergriffen würdest.“

Er stieg vom Pferd und schlich sich nach der Hütte hin. Als sein Blick sie zu erreichen vermochte, sah er Frau Richemonte gefesselt an der Erde sitzen; neben ihr lag Florian, an Händen und Füßen gebunden, und daneben standen drei französische Soldaten als Wächter.

„Arme Teufel!“ sagte er. „Aber ich darf sie nicht schonen.“

Er schlich sich glücklich bis an diejenige Wand der Hütte, welche der beschriebenen Gruppe entgegengesetzt lag, und zog seine beiden geladenen Pistolen, deren Hähne er spannte. Er tat dies sehr vorsichtig; aber den kriegsgeübten Ohren der Franzosen entging doch dieses eigentümliche Knacken nicht.

„Wer da?“ fragte der eine, indem er rasch um die Ecke trat.

Er erhielt in demselben Augenblick Königsaus Kugel in den Kopf, und ehe die beiden anderen zu den Waffen greifen konnten, hatte sie das gleiche Schicksal ereilt.

„Herr Lieutenant!“ rief Florian erfreut.

„Oh, mein Sohn!“ stimmte Frau Richemonte bei.

„Gelungen!“ rief Hugo, den Gefangenen die Bande zerschneidend. „Aber, vor allen Dingen, mit wie vielen haben wir es zu tun?“

„Nur mit dem Kapitän und Reillac“, antwortete Florian.

„Dann schnell auf die Pferde, ehe sie kommen.“

Diesem Ruf wurde schleunigst Folge geleistet, und dann ging es der Stelle zu, an welcher sich Margot befand. Sie hatte natürlich die Schüsse vernommen und schwebte in höchster Angst. Ihr Gesicht hellte sich auf, als sie die Nahenden erblickte.

„Wer hat geschossen?“ fragte sie, noch immer nicht beruhigt.

„Ich“, antwortete der Lieutenant.

„Auf wen?“

„Später, später! Jetzt haben wir keine Zeit zu Auseinandersetzungen. Kommt, kommt, mir nach.“

Er ritt voran, und zwar wieder nach der Schlucht zurück. Wäre er nicht den vorigen Bogen geritten, so hätte er auf Richemonte treffen müssen, welcher ja eben jetzt zur Hütte eilte. Als er in die Schlucht einbog, fragte Florian erstaunt:

„Warum hier herein?“

„Nicht fragen, sondern folgen. Wir müssen dieses Gras ein wenig zerstampfen; aber schnell.“

Er lenkte sein Pferd der Stelle zu, an welcher er Richemonte gesehen hatte, und bemerkte eine fürchterliche Blutlache.

„Was ist das?“ fragte er. „Blut? Die beiden können nicht mehr hier sein. Sie haben die Schüsse gehört und sind jedenfalls fortgeeilt, um ihren Untergebenen Hilfe zu bringen. Was ist es?“

Florian war nämlich vom Pferd gesprungen und an das Gesträuch getreten, wo man die Lache bemerkte.

„Herrgott, ein Toter!“ sagte er.

Die beiden Damen wendeten sich schauernd ab. Königsau aber sprang auch vom Pferd und trat hinzu. Sie zogen den Körper aus dem Busch heraus und drehten ihn um.

„Reillac!“ rief Florian, ganz und gar erschreckt.

„Ja, Reillac!“ bestätigte Königsau.

Er bog sich zu dem Toten nieder, um ihn zu untersuchen.

„Er ist noch warm, aber tot. Ein Stich durch den Rücken bis in das Herz. Uhr und Börse, alles ist fort. Kapitän Richemonte ist der Mörder.“

Frau Richemonte stieß einen Schrei des Entsetzens aus.

„Gott, das ist nicht möglich!“ rief sie.

„Er ist es. Es war kein anderer bei dem Baron. Ich kenne den Grund, weshalb er diesen getötet hat. Aber jetzt haben wir keine Zeit. Es kann uns in jedem Augenblicke seine Kugel treffen. Fort von hier. Der Tote mag liegenbleiben!“

Er tummelte sein Pferd noch einige Male, um den Platz, den er als die Stelle des Schatzes bezeichnet hatte, möglichst unkenntlich zu machen, und dann ritten sie gleich an der Böschung der Schlucht empor, um keinen Umweg zu machen. – – –

Als Richemonte bei der Hütte ankam, erblickte er die drei Toten.

„Hölle und Teufel! Er hat sie erschossen und die Gefangenen befreit!“ rief er. „Wohin aber sind sie? Er hat mich in der Schlucht gesehen. Er wird wieder hin sein, um auch mit mir abzurechnen; aber da soll er sich irren. Meine Kugel trifft ihn, ehe er mich erblickt.“

Er band die mitgebrachten Pferde los und ließ sie, außer dem seinigen, welches er bestieg, frei. Dann ritt er nach der Schlucht zurück. Erst nach längerem Auskundschaften bemerkte er, daß sie verlassen war. Er ritt in sie hinein und betrachtete alles.

„Ja, sie sind hier gewesen“, knirschte er grimmig. „Sie haben den Boden zerstampft; aber ich werde die Kasse dennoch finden. Und da – Donnerwetter! Da liegt der Baron! Sie haben ihn gefunden. Sie wissen, daß ich ihn erstochen habe. Das kann schlimm ausfallen. Schnell ihnen nach! Die beiden Kerls müssen sterben! Mutter und Schwester habe ich nicht zu fürchten!“ – – –

Es war am vierzehnten Juni, nur ganz kurze Zeit nach dem Erzählten, als ein jugendlicher Reiter in höchster Eile von Lüttich nach Namur sprengte. Er hatte Zivilkleider an, aber auf der von preußischem Militär reich belebten Chaussee gab es manchen Offizier, der ihn vertraulich grüßte, wenn er an ihm vorüberflog.

In Namur angekommen, fragte er nach dem Quartier des Feldmarschalls Blücher. Dort angekommen, meldete er sich sofort zur Audienz und wurde sogleich vorgelassen.

Bei dem Marschall befanden sich eben Gneisenau, der Generalmajor von Grolman, welcher Generalquartiermeister war, und der Adjutant Major von Drigalski. Trotz der Anwesenheit dieser hochgestellten Persönlichkeiten ging Blücher dem Eintretenden höchst erfreut entgegen.

„Königsau! Junge!“ rief er. „Bringt dich der Teufel schon wieder zurück? Hast du mich etwa in Lüttich gesucht?“

„Ja, Exzellenz. Ich wußte noch nicht, daß Sie Ihr Hauptquartier nach Namur verlegt haben.“

„Das war notwendig, denn es geht los, mein Sohn, Keile setzt es, fürchterliche Keile! Aber wer sie zunächst bekommt, das weiß man nicht. Weißt du es vielleicht?“

„Auch nicht. Aber wer sie bekommen soll, das wenigstens weiß ich.“

„Ah! Wer denn?“

„Euer Exzellenz.“

„Wie? Wa – wa – was?“ fragte der Alte. „Ich? Ich soll die Keile kriegen? Wer sagt das denn?“



„Der Kaiser selbst.“

„Er selbst? Dann ist er verrückt, total verrückt, was ich übrigens schon längst nicht mehr bezweifelt habe. Aber zu wem hat er es denn gesagt?“

„Zu Ney, Grouchy und Drouet.“

„Ha, das sind lauter hübsche Kerls, die ich wohl noch unter die Fäuste bekommen werde. Bist du etwa verwandt mit einem von ihnen, he?“

„Danke für diese Ehre, Exzellenz!“

„Na, ich dachte beinahe, weil du so genau weißt, was sie mit dem Napoleon gesprochen haben.“

„Ich habe sie belauscht.“

„Wo denn?“

„Auf dem Meierhof Jeannette.“

„Dort? Wohin du dein Mädel geschafft hast? Dort war der Bonaparte?“

„Ja, Exzellenz.“

„Was wollte er denn dort?“

„Hm! Ich glaube, er hatte die Absicht, mich um meine Braut zu bringen.“

„Du flunkerst wohl, he?“

„Nun, Tatsache ist, daß er der Margot eine förmliche Liebeserklärung gemacht hat.“

„Donnerwetter! Der sollte sich doch lieber um ein Paar warme Filzschuhe und um ein seliges Ende bekümmern! Erzähle!“

„Exzellenz, es ist da sehr viel Privates dabei, dessen Bericht eine sehr kostbare Zeit wegnehmen würde. Darf ich nicht lieber vorher über die strategischen Absichten Napoleons berichten, welche sofortige Dispositionen unsererseits notwendig machen?“

„Natürlich! Rede also! Wird er angreifen?“

„Ja.“

„Wann?“

„Morgen oder spätestens übermorgen.“

„Gut! Je eher die Prügel, desto wärmer sind sie. Aber wen?“

„Sie, Exzellenz.“

„Nicht Wellington?“

„Nein. Ich kenne auch den Grund, weshalb er zunächst Sie angreift.“

„Laß ihn hören, mein Sohn!“

„Er sagte, Euer Exzellenz seien schnell und hitzig. Wellington aber überlege und wäge gern ab. Greife er den letzteren an, so wäre Feldmarschall Blücher schnell mit der Hilfe bei der Hand und – – –“

„Das ist wahr. Wir werden ihn schon kuranzen.“

„Greife er aber Euer Exzellenz an, so würde Wellington wohl so lange zaudern und sinnen, bis die Preußen geschlagen sind.“

„Höre, Junge, der Kerl ist doch noch nicht ganz so sehr verrückt, wie ich dachte. An dem Zeug ist sehr viel Wahres.“

Königsau erzählte nun weiter alles, was er auf Jeannette erlauscht und dann auch später während seines Ritts noch erfahren hatte. Es stellte sich heraus, daß infolge dieser Berichte allerdings schleunige Dispositionen nötig waren, welche den Marschall so in Anspruch nahmen, daß er erst am Abend eine kurze Zeit für Königsau übrig hatte.

Da saßen sie denn beisammen, ein jeder eine brennende Tonpfeife in der Hand, und der Lieutenant erzählte die Erlebnisse der letzten Tage ausführlich. Blücher unterbrach ihn öfters durch einen kräftigen Fluch, eine drastische Bemerkung, oder eine Frage, welche bewies, mit welchem Interesse er diese Erzählung verfolgte. Als Königsau geendet hatte, meinte der Marschall:

„Du glaubst also, daß dieser Richemonte euch auch noch weiter verfolgt hat?“

„Ich denke es.“

„So hältst du deine Margot also auch in Gedinne nicht für sicher?“

„Nein, obgleich der brave Florian sie bewacht.“

„Hm! Was du mir da erzählst, ist der reine Roman. Aber er will ernst genommen sein. Wir wissen nicht, was die nächste Zeit bringt, und darum soll ein jeder das Seinige tun. Auch du.“

„Geben Exzellenz mir Gelegenheit dazu.“

„Sogleich, mein Sohn. Weißt du, was jetzt das Notwendigste für dich ist?“

„Ich bitte, es erfahren zu dürfen.“

„Du mußt dir dein Mädel zu erhalten suchen.“

„Exzellenz!“

„Schon gut! Ich weiß, was du sagen willst. Aber indem du so für dein Glück sorgst, kannst du zu gleicher Zeit auch dem Vaterland einen großen Dienst erweisen. Ahnst du, worauf ich ziele?“

„Vielleicht auf die Kriegskasse?“

„Ja. Du denkst, daß Richemonte bestrebt sein wird, sich ihrer so rasch als möglich zu bemächtigen?“

„Ja.“

„Nun, so ist es notwendig, daß wir ihm zuvorkommen. Aber wie? Der Ort liegt in Feindesland.“

„Es wird bald das unserige sein.“

„Ja; aber bis dahin kann der Teufel die Kasse geholt haben. Man müßte sie wenigstens bewachen, bis wir kommen.“

„Das ist entweder zu gefährlich oder zu umständlich oder zu langwierig, Exzellenz.“

„Weißt du einen besseren Plan?“

„Ich meine, daß es genügen würde, die Kasse herauszunehmen und ihr eine neue Stelle anzuweisen. Da kann sie liegen, bis die Preußen kommen, und dieser Richemonte findet sie nicht.“

„Donnerwetter, Junge, das ist wahr! Willst du das übernehmen?“

„Von Herzen gern!“

„Warum aber hast du es nicht bereits getan?“

„Ich hatte die nötigen Kräfte nicht. Auch gehören treue und verschwiegene Leute dazu.“

„Ja; die müßte ich dir mitgeben. Wie viele brauchtest du?“

„Mit zehn Mann glaube ich, es fertig zu bringen.“

„Gut, du sollst sie haben. Suche sie dir selbst aus. Wie du es aber anfängst, das ist ganz und gar deine eigene Sache. Als Extrabelohnung für dich aber werde ich dafür sorgen, daß der schändliche Meuchelmord, welchen dieser Richemonte an seinem Kumpan begangen hat, nicht verschwiegen bleibt!“ –

Einige Tage später zog durch den Ort Gedinne ein zerlumpter Kerl, dessen Kleider kaum zureichten, seine Blöße zu bedecken, desto mehr Lappen aber hatte er um seinen Kopf gewickelt.

Am Wirtshaus blieb er stehen, als besinne er sich, ob es möglich sei, auch ohne Geld einen Schluck zu erlangen. Da klopfte es von innen an das Fenster.

„Komm herein, Kerl, wenn du Hunger hast!“ rief eine laute Stimme.

Das ließ sich der Mann nicht zweimal sagen. Er trat in das Haus und dann in die Stube. Dort saßen verschiedene Gäste, alle aus dem Ort gebürtig, außer einem, eben demjenigen, welcher den Vagabunden hereingerufen hatte.

Als dieser eintrat, waren alle Augen auf ihn gerichtet. Man schüttelte mißbilligend die Köpfe, und der Wirt fragte:

„Mensch, wer bist du?“

„Ein armer Savoyard“, antwortete er bescheiden.

„Was willst du hier?“

„Ich weiß nicht, was ich soll. Dieser Monsieur hat mich gerufen.“

Da wendete sich der Wirt an den Bezeichneten und fragte:

„Monsieur, warum bringen Sie mir solche Leute in die Stube?“

Der Gefragte war ein noch junger Mann von anständigem Äußern. Er blickte den Wirt von oben bis unten an und fragte:

„Kennen Sie mich?“

„Nein“, lautete die Antwort.

„Nun, so will ich Eure Frage verzeihen. Ich hoffe, daß Ihr ein guter Franzose seid?“

„Das bin ich, Monsieur!“

„Und diese anderen Herren auch?“

„Ja.“

„Habt Ihr von dem Armeelieferant Baron von Reillac gehört?“

„Dem Millionär? Den kennen wir alle, wenigstens seinen Namen.“

„Nun gut. Er ist plötzlich spurlos verschwunden, und ich bin von dem Kaiser beauftragt, nach ihm zu forschen, da man ein Verbrechen ahnt.“

„So seid Ihr wohl Prokurator?“

„Ja. Aus Paris. Wenn ich also diesen Mann hereinkommen lasse, weil ich ihm die Not, den Hunger und den Durst ansehe, so werde ich es wohl verantworten können!“

„Ihr habt recht, Monsieur! Tut, was Euch beliebt. Nur seht zu, daß dieser Mann auch mit Legitimation versehen ist!“

„Das soll sogleich geschehen.“ Und sich zu dem Vagabunden wendend, fügte er hinzu: „Was bist du eigentlich?“

„Ich war Besitzer eines Affen und eines Murmeltieres“, antwortete der Gefragte in seinem savoyardischen Dialekt. „Ich war mit diesen meinen Ernährern bis hinein nach Holland. Da kam ich in die Hände der Preußen, und sie nahmen mir meine Tiere und auch mein Geld ab. Nun bettle ich mich nach Hause!“

„Laß dir auf meine Rechnung zu essen und zu trinken geben, armer Teufel, und setz dich mit her zu mir!“

Der Savoyarde folgte dieser Einladung wie einer, dem ein großes Glück begegnet, und ließ sich das Vorgesetzte vortrefflich schmecken. Der Prokurator ließ sich in ein gleichgültiges Gespräch mit ihm ein, welches zuweilen bis zum Flüsterton herabsank.

„Sind alle beisammen?“ fragte er in einem Augenblick, in welchem niemand auf sie horchte.

„Alle bis auf einen“, antwortete der Savoyarde.

„Und die Werkzeuge?“

„Liegen im Wald, Herr Korporal.“

„Laß den Korporal! Ich wundere mich über die Virtuosität, mit welcher du deine Rolle spielst.“

„Sie ist nicht schwer. Wo treffe ich den Herrn Lieutenant?“

„In dem einsamen Haus am Anfang des Waldes.“

„Welchen Namen führt er?“

„Du fragst nach dem Florian. Das andere findet sich. Die Befehle des Lieutenants bringst du nach dem Rendezvous. Jetzt will ich gehen. Halte auch du dich nicht zu lange hier auf.“

Der vermeintliche Prokurator bezahlte seine Zeche und entfernte sich. Der Savoyarde folgte sehr bald diesem Beispiel. Er hatte das Zimmer noch nicht lange Zeit verlassen, so trat ein neuer Gast ein. Er blickte sich im Kreise um und sagte im vornehmen Ton:

„Ich bin der Kapitän Richemonte und fand den Maire nicht zu Hause. Man sagte mir, daß er hier sei.“

Da erhob sich einer der Anwesenden.

„Der Maire bin ich, Monsieur“, sagte er. „Was wünschen Sie?“

„Eine Auskunft.“

„Ich stehe zu Diensten.“

„Hat sich in letzter Zeit die Einwohnerschaft Ihres Ortes vermehrt?“

„Ja, allerdings.“

„Wie?“

„Wir haben in zwei Wochen eine Geburt gehabt.“

„Pah! Unsinn!“ sagte Richemonte. „Das meine ich nicht, sondern ob vielleicht Fremde bei Ihnen sich niedergelassen haben.“

„Nein, das ist nicht der Fall.“

„Müssen Besuche bei Ihnen angemeldet werden?“

„Ja.“

„Sind solche Anmeldungen eingegangen?“

„In letzter Zeit gar nicht.“

„Gut. Ich suche nach drei Personen, zwei Damen und einem Knecht; die Damen sind Mutter und Tochter. Sie müssen sich in dieser Gegend verborgen halten, und ich würde denjenigen, der sie mir nachweisen könnte, sehr gut belohnen.“

„Würden Sie mir diese Personen beschreiben können?“

„Ist nicht nötig. Die Tochter soll sehr schön sein.“

„Eigentümlich. Heute wird nur immer gesucht. Soeben war ein Prokurator aus Paris da, welcher auch jemand suchte.“

„Ah! Wen suchte er?“

„Einen Baron Reillac, welcher Armeelieferant ist und verschwunden sein soll.“

Der Kapitän verfärbte sich jetzt.

„Wohin begab sich der Prokurator von hier aus?“

„Ich weiß es nicht, Monsieur.“

„Gibt es noch Militär hier?“ fragte der Kapitän weiter.

„Nein. Da der Kaiser gestern die Schlacht bei Ligny gewonnen hat, so wurden die Truppen von hier fortgezogen. Befehlen Sie etwas?“

„Ein Glas Wein.“

Der Kapitän setzte sich und trank seinen Wein schweigend aus. Er schien in seinem Inneren außerordentlich beschäftigt zu sein. Nachdem er das Haus verlassen hatte, schlug er den Weg nach Paliseul ein. Unterwegs sprach er laut mit sich, blieb stehen, ging weiter und blieb abermals stehen.

„Verdammtes Unglück“, brummte er. „Die Armee gewinnt Schlachten, und ich darf mich nicht vor dem Kaiser, daß heißt also, in Reih und Glied, sehen lassen. Warum verlor ich doch die Spur dieser verteufelten Weiber! Könnte ich wenigstens diesen Königsau erwischen!“

Er schritt weiter, blieb abermals stehen und fuhr fort:

„Diese Kriegskasse wird mich für alles entschädigen. – Aber ist es denn auch wirklich wahr, daß eine dort vergraben liegt? Warum überzeuge ich mich nicht lieber, anstatt dieser Margot nachzurennen, ohne sie zu finden? Dort liegt Reillac noch unbegraben. Wenn man ihn findet! Waren die drei Grenadiere wirklich tot? Wenn einer noch lebte und als Zeuge gegen mich aufträte! Ich habe mich nicht überzeugt, ob das Leben wirklich aus ihnen entwichen sei. Ich werde heute in Paliseul bleiben und morgen mit dem Frühesten hinaus nach der Schlucht gehen, um die Sache in Ordnung zu bringen.“

Er blieb stehen und horchte. Es war ihm, als ob er ein Geräusch gehört habe, dem entfernten Donner ähnlich.

„Sollte man sich wieder schlagen?“ fragte er sich. „Pah! Mordet Euch immerhin, aber laßt mir nur die Kriegskasse.“

Er ahnte nicht, daß er sich auf dem gegenwärtigen Weg von dem entfernte, was er so sehnsüchtig gesucht hatte.

Drüben am Waldrand stand nämlich ein nettes Häuschen. Es sah nicht reich, aber hübsch und sauber aus. Der Besitzer war ein Freund und Verwandter Florians und war gern bereit gewesen, die beiden Frauen aufzunehmen und zu verbergen. In den letzten Tagen war ihm dies freilich schwer geworden. Es hatte viel Militär im Ort gelegen, und auch ihm hatte man reichliche Einquartierung gegeben. Darum war er gezwungen gewesen, die Frauen im Keller zu verbergen. Jetzt aber befanden sie sich in dem kleinen Giebelstübchen, während er mit Florian in dem Gärtchen saß und über allerlei plauderte.

Da plötzlich stockte das Gespräch, und beide horchten.

„Hast du es gehört, Florian?“ fragte der Wirt.

„Ja“, antwortete der Gefragte, „schon einige Male.“

„Das ist ein Erdbeben.“

„Nein, wie Donner. Ich bemerke es bereits seit Mittag.“

„Sollte es eine Schlacht sein?“

„Jedenfalls.“

„So werden die Deutschen abermals geschlagen.“

Bei diesen Worten blickte er den Kutscher forschend von der Seite an.

„Warum gerade wieder die Deutschen?“ fragte dieser.

„Ich denke es mir.“

„Das wäre dir wohl sehr lieb?“

„Nein. Du weißt, daß ich kein geborener Franzose bin. Aber weil du gar so heimlich mit mir tust, wird es mir wohl auch erlaubt sein, mit meinen Gesinnungen Verstecken zu spielen.“

„Das bringst du gar nicht fertig. Ich weiß doch, daß du ein braver Kerl bist.“

„Warum also hast du kein Vertrauen zu mir?“

„Kein Vertrauen? Worüber hättest du in dieser Beziehung zu klagen?“

„Ich habe wohl zu klagen. Habe ich nicht bereits seit heute früh bemerkt, daß fremde Gestalten sich da drüben im Wald befinden, welche von Zeit zu Zeit nach meinem Haus blicken!“

„Das habe ich noch nicht bemerkt“, meinte Florian sehr aufrichtig.

„So sage, wer eigentlich jener Herr war, welchen du mit den Damen zu mir brachtest.“

„Hm! Es ist mir zwar von ihm verboten, aber ich weiß, daß ich dir Vertrauen schenken darf. Er ist ein Deutscher.“

„Ein Deutscher? Ah, da hat er viel gewagt?“

„Allerdings. Aber er hat noch mehr gewagt, als du von ihm weißt. Ich werde dir erzählen.“

Und er erzählte. Der Wirt hörte sehr aufmerksam zu. Als Florian geendet hatte, sagte er:

„Das klingt, als hättest du es in einem Buch gelesen, aber ich will es dir glauben. Doch siehe, da kommt einer mit einem Wägelchen gefahren. Gewiß ein Hausierer. Wollen einmal sehen, was er hat.“

Der Mann, welcher sich jetzt langsam dem Haus näherte, hatte rotes fuchsiges Haar und ebensolchen Bart. Er war zwar nicht lumpig, aber beinahe liederlich gekleidet und zog einen vierräderigen Karren nach sich.

Als er das kleine Vorgärtchen erreichte, griff er an die Mütze und grüßte. Die beiden Männer begaben sich zu ihm.

„Womit handelt Ihr?“ fragte der Wirt. „Was habt Ihr zu verkaufen?“

„Nichts“, antwortete er. „Ich kaufe im Gegenteil ein.“

„Was?“

„Knochen, altes Eisen, Zinn und ähnliches. Habt Ihr nichts für mich?“

Florian hörte die Stimme, blickte den Mann scharf an, schlug sodann die Hände zusammen und rief:

„Ist es möglich, Monsieur! Aber wahrhaftig, Sie sind fast gar nicht zu erkennen. Diese Perücke und der Bart verstellen Sie ganz.“

„Wer ist es denn?“ fragte der Wirt.

Da griff Florian schnell zu, nahm dem Mann die Mütze und die Perücke ab und sagte:

„Da sieh einmal selbst!“

Vor den beiden stand – Königsau.

„Verzeihen Sie die Täuschung“, sagte er. „Aber ich nehme an, daß Florian Ihnen wohl bereits gesagt hat, daß ich ein Deutscher bin?“

Ehe der Wirt noch antworten konnte, wurde oben das kleine Giebelfenster geöffnet, und die Stimme Margots ertönte:

„Hugo, mein Hugo! Darf ich hinunter kommen?“

Er blickte mit glücklichem Lächeln empor und antwortete:

„Nein, sondern ich komme zu dir.“

Im Nu war er in das Haus getreten und flog die Treppe empor. Sie öffnete und lag in seinen Armen.

„Ich sah dich kommen!“ sagte sie.

„Und dein Herz klopfte vor Liebe und Seligkeit?“ lächelte er.

„Ah, ich erkannte dich ja nicht. Oh, diese häßlichen roten Haare!“

„Wenn du wüßtest, wer mich soeben auch nicht erkannte.“

„Wer war es?“

Er trat mit ihr in das Stübchen, begrüßte vorerst auch die Mutter und deutete sodann zum Fenster hinaus.

„Siehst du den Mann da auf dem Weg nach Paliseul?“

„Ja.“

„Dieser Mann ist kein anderer als dein Bruder.“

„Der Kapitän?“ fragte sie erschrocken.

„Ja.“

„Hat er dich erkannt?“

„Nein. Er hat wohl geglaubt, mich bereits einmal gesehen zu haben, und darum hat er mir so lange nachgeblickt; aber erkannt hat er mich sicherlich nicht.“

„Das würde auch ein großes, großes Unglück sein, denn er sucht nach uns. Der Wirt erzählte, daß er überall nach zwei Damen und einem Knecht frage. Aber, Lieber, welcher Umstand führt dich wieder zurück?“

„Der Feldmarschall schickt mich in die Berge, um die Kriegskasse in Sicherheit zu bringen. Ich soll ihr nur eine andere Stelle geben, damit der Kapitän sie nicht findet. Ich habe Leute hierher bestellt, welche heute eintreffen werden.“

„Ist es wahr, daß die Preußen eine Schlacht verloren haben?“

„Ja, bei Ligny. Sie wurden fast erdrückt, da Wellington nicht standhalten konnte. Dafür aber werden sie heute eine desto bedeutendere gewinnen. Hast du gehört, daß man sich wieder schlägt?“

„Ja. Wo wird es sein?“

„Im Süden von Brüssel, vielleicht in der Gegend von Waterloo.“

„Aber wenn die Verbündeten doch nicht siegen?“

„Sie siegen; das ist meine Überzeugung.“

„Wie hat der Marschall dich empfangen?“

Auf diese Frage hin kam er in das Erzählen. Dies nahm ihn so sehr in Anspruch, daß er den Savoyarden gar nicht bemerkte, welcher sich dem Haus näherte. Als dieser die beiden Männer bemerkte, grüßte er sehr höflich und fragte:

„Verzeihung! Wohnt ein Monsieur Florian hier?“

„Ja, der bin ich“, antwortete der Kutscher.

Der Fremde betrachtete ihn aufmerksam und sagte dann:

„Ich habe mich bei Ihnen nach jemandem zu erkundigen.“

„Nach wem?“

„Das darf ich nicht sagen.“

„Ah“, nickte der Kutscher, „Sie sind eingeweiht. Sie meinen den Herrn Lieutenant Königsau?“

„Allerdings“, antwortete der andere. „Ist er anwesend?“

„Er ist soeben erst gekommen. Wollen Sie ihn sprechen?“

„Ja.“

„Ich werde ihn holen.“

Er ging und brachte den Lieutenant von den Damen herab. Als dieser den Savoyarden bemerkte, stieß er ein helles Lachen aus und sagte:

„Prächtig, Kunze! In dir sucht niemand einen Preußen. Was hast du mir zu sagen?“

„Daß sie alle da sind, außer einem.“

„Wer ist es?“

„Ich weiß es noch nicht.“

„Die Werkzeuge sind da?“

„Ja.“

„Darf man wissen, um was es sich handelt?“

„Jetzt noch nicht. Kann ich meinen Wagen sicher bei Ihnen einstellen?“

„Das versteht sich.“

„Er enthält außer den Knochen und dem alten Eisen Gewehre und Munition, welche wir brauchen. Hören Sie die Kanonade? Es scheint heiß herzugehen.“

„Gebe Gott nur den Verbündeten Sieg“, sagte Florian.

„Er wird diesen Wunsch erhören, und unser Siegeszug wird ein schnellerer sein als das vorige Mal.“

Die Männer besprachen dieses Thema noch einige Zeit, und dabei merkte Königsau, daß er dem Wirt vollständig vertrauen könne. Später kehrte er zu den Damen zurück, denen es ein Trost war, ihn wieder bei sich zu sehen. Margot hatte sich von ihrer Verwundung völlig erholt. Sie war schön und reizend wie immer und freute sich im stillen innig darüber, daß der Geliebte heute nicht den Schlachtgeschossen ausgesetzt war.

„Was wird Napoleon tun, wenn er siegt?“ fragte sie.

„Er wird sofort Herr des Rheines sein.“

„Und wenn wir siegen?“

„So stehen wir binnen einer Woche vor Paris und diktieren einen Frieden, welcher gewiß nicht wieder gebrochen wird. Und weißt du, was nachher geschieht, meine Margot?“

„Was?“ fragte sie, lieblich errötend.

„Da wirst du deinen Siegeszug nach Berlin antreten.“

Sie legte die Arme um ihn und flüsterte ihm zu:

„Unter deinem Schirm und Schild, ja, Geliebter.“ –

Gegen Mitternacht begab sich der Lieutenant zu dem Stelldichein im Wald, wo er zehn mutige und kräftige Burschen fand, welche ganz geeignet waren, auch in Feindesland ein Abenteuer auszuführen. Der Karren mit den Waffen wurde geholt, und dann trat man den nächtlichen Weg an.

Sie erreichten den Fuß der Höhe mit Tagesanbruch und begannen dann den Aufstieg. Der Forst lag still und menschenleer, und so gelangten sie nach der Schlucht, ohne von jemand gesehen zu werden.

„Hier ist es“, sagte der Lieutenant zu den Leuten. „Haltet hier Wache, bis ich zurückkehre. Ich werde einen passenden Ort suchen, welcher in nicht zu großer Entfernung liegen darf.“

Wer den Sprecher jetzt sah, hätte ihn allerdings nicht für einen preußischen Husarenlieutenant gehalten, denn er trug Perücke und roten Bart, gerade so, wie auch die anderen in Verkleidungen steckten.

Nachdem er sich entfernt hatte, lagerten sich die anderen zwischen den Büschen, um seine Rückkehr zu erwarten.

„Pfui Teufel, was stinkt da?“ fragte einer. „Herrgott, eine Leiche hinter dem Strauch!“

Sie traten näher. Es war der Körper Reillacs.

„Das wird der französische Baron sein, von welchem der Herr Lieutenant erzählt hat“, meinte der Korporal. „Er sagte, daß wir ein Dokument darüber ausstellen würden.“

Erst nach längerer Zeit kehrte Königsau zurück. Es war nicht leicht gewesen, einen passenden Ort zu finden.

„Grabt ein!“ befahl er.

Bei der Arbeit so rüstiger Hände ging das Bloßlegen der Kriegskasse rasch vonstatten. Es wurde aus abgeschnittenen Stämmchen eine Trage gemacht, mit deren Hilfe man sie nach ihrem neuen Bestimmungsort brachte. Dort wurde sie sehr vorsichtig eingegraben, worauf man noch vorsichtiger jede, auch die geringste Spur vertilgte.

Dann zog der Lieutenant Papier und Stift hervor, um einen Situationsplan auszufertigen, mit dessen Hilfe es einem Dabeigewesenen leicht war, den Platz wieder zu finden.

Während dieser Arbeit war es Mittag geworden. Die Leute nahmen einen kurzen Imbiß zu sich und kehrten dann nach der Schlucht zurück, um das dort offen gelassene Loch wieder zuzuwerfen. –

Auch der Kapitän Richemonte hatte sein gestriges Vorhaben ausgeführt. Er hatte sich mit einem Spaten versehen und war an dem heutigen Morgen in die Berge gegangen. Er hatte die Absicht, Reillac einzuscharren und sich dann zu überzeugen, ob die Kriegskasse wirklich vorhanden sei.

In der Schlucht angekommen, ging er ahnungslos auf die bewußte Stelle zu, blieb aber starr vor Schreck stehen, als er das Loch bemerkte, dessen glatt gedrückte Seiten zur Evidenz beweisen, daß sich hier ein großes Gefäß befunden habe.

„Fort! Weg!“ rief er. „Herrgott, ich komme zu spät!“

Es war ihm, als sei alles Leben aus seinen Gliedern gewichen.

„Das ist nur vor kurzer Zeit geschehen“, fuhr er fort, „denn die Erde ist noch ganz frisch. Wer aber ist es gewesen?“

Er blickte umher, konnte aber nichts finden, was ihm einen Anhalt hätte bieten können. Er stampfte den Boden mit dem Fuß und rief:

„Nun ist auch diese Hoffnung hin! Gewiß ist es dieser Königsau gewesen, Oh, ich wollte, ich hätte ihn in diesem Augenblick hier bei mir! Wie sollte er meine Rache fühlen!“

Gerade zu dieser Zeit kehrte Königsau nach der Schlucht zurück. Er dachte an nichts weniger als daran, daß er jemand da antreffen werde. Daher erstaunte er, als er einen Menschen an dem offenen Loch heftig gestikulieren sah. Er winkte seinen Leuten, leise zu folgen, und schlich sich auf den Fußspitzen vorwärts. Er erkannte den Kapitän und legte ihm die Hand auf den Arm.

„Mit wem sprechen Sie hier, Kapitän Richemonte?“ fragte er.

Der Gefragte fuhr herum und wurde leichenblaß vor Schreck.

„Wer – seid Ihr?“ stammelte er.

„Schatzgräber, gerade wie Sie, aber glücklicher. Doch, Sie kommen uns gerade gelegen. Treten Sie doch gefälligst einmal zu dieser Leiche. Kennen Sie dieselbe?“

Richemonte blickte jetzt dem Sprecher schärfer in das Gesicht.

„Verflucht!“ knirschte er. „Königsau!“

„Ja, ich bin es! Aber haben Sie keine Sorge; ich werde ihnen nichts zuleide tun. Nur gestehen sollen Sie mir, daß Sie der Mörder dieses Mannes sind.“

„Den Teufel werde ich gestehen, aber dieses nicht.“

„Sie geben wenigstens zu, daß diese Leiche diejenige Ihres Freundes Reillac ist?“ fragte er.

„Was geht mich dieser Kadaver an?“

„Mir auch recht! Aber da wollen wir dem Herrn doch einmal in die Taschen sehen. Haltet ihn fest!“

Er wurde trotz seines Sträubens so fest gehalten, daß er sich nicht zu bewegen vermochte. Er schäumte vor Wut, konnte aber doch nicht verhindern, daß Königsau die Börse und die Brieftasche des Ermordeten zum Vorschein brachte, beide waren mit dem Namen und Wappen Reillacs versehen.

„So, das ist genug“, meinte der Lieutenant. „Mehr brauchen wir nicht. Ich werde diese Gegenstände behalten und an geeigneter Stelle deponieren. Nehmt ihm die Waffen, und gebt ihm einen Fußtritt. Das ist alles, was er von uns zu fordern hat.“

Man kam diesem Befehl sofort nach. Dann wurde die Leiche untersucht und begraben. Ein kurz abgefaßtes Protokoll, an Ort und Stelle verfertigt und von sämtlichen Leuten unterschrieben, steckte er zu sich; dann wurde der Rückweg angetreten. –

Richemonte wußte nicht, wie ihm geschehen war. Er hatte kein Wort zu sprechen gewagt und sogar den Fußtritt ruhig hingenommen. Er hatte den Fuß des Berges erreicht, als ob es im Traum geschehen sei. Dann aber kam er zu sich. Er blieb stehen, ballte einen Augenblick die Faust und rief:

„Rache! Rache! Ich weiß jetzt alles! Dieser verkleidete Offizier ging nach dem einsamen Haus. Dort wird sich die Dulcinea befinden. Man wird ja sehen, was geschieht.“

Er eilte so, daß er noch vor Anbruch des Morgens nach Gedinne kam. In dem Ort schlief kein Mensch. Eine flüchtige Soldatenschar, welche noch jetzt da rastete, hatte die Meldung gebracht, daß der Kaiser völlig geschlagen und Frankreich verloren sei. Da gab es ein Jammern und Klagen, welches dem Kapitän höchst willkommen war. Er ergriff das Wort und erzählte, daß er diesen braven Patrioten elf deutsche Spione in die Hände liefern wolle. Die Braut des Anführers befinde sich jedenfalls in dem einsamen Haus am Waldrand.

Die Bürger des Ortes ließen sich nicht so leicht hinreißen wie die Soldaten, welche sofort unter Richemontes Führung nach dem Häuschen zogen, es besetzten und die Bewohner desselben gefangen nahmen. Während einige als Wache zurückblieben, zogen die anderen den ‚deutschen Spionen‘ entgegen, um sie zu vernichten. –

Die Preußen hatten es nicht für nötig gefunden, sich jetzt noch zu trennen. Königsau hatte ihnen dies angeraten und sich dann von ihnen getrennt. So kamen sie, die Karre mit sich führend, ahnungslos daher; da krachte eine Salve, und alle zehn stürzten, zum Tod getroffen, zu Boden.

Richemonte untersuchte sie.

„Der Anführer ist nicht dabei“, sagte er. „Er wird noch nachkommen. Er darf uns nicht entgehen.“

Er täuschte sich. Königsau hatte unterwegs daran gedacht, daß er von Richemonte auf seinem Weg zum Waldhäuschen beobachtet worden sei, und das hatte ihn besorgt gemacht. Daher trennte er sich von dem langsamen Zug seiner Leute und eilte ihnen voraus. Dabei schlug er durch dick und dünn die gerade Richtung ein und wurde so von Richemonte nicht getroffen.

In der Nähe des Häuschens angekommen, merkte er sofort, was geschehen war; aber er bemerkte auch, daß die Besatzung keine große sein werde. Dagegen erblickte er eine preußische Husarenpatrouille nicht, welche am Waldrand dahergeritten kam.

Er schritt auf das Häuschen zu und trat ein. Der an der Tür stehende Posten wollte es ihm verwehren, aber in demselben Augenblick hörte er Margots Stimme um Hilfe rufen. Sofort riß er die Pistolen hervor und drang ein. In der Stube rang Margot mit vier Soldaten. Der Wirt und Florian lagen gebunden in der Ecke, und Frau Richemonte war ohnmächtig. Die vier Schüsse krachten, und vier Angreifer stürzten tot zu Boden; aber der Posten war dem Lieutenant gefolgt.

Margot stieß einen schrillen Warnungsruf aus. Königsau wollte sich schnell umdrehen, aber es war zu spät. Der Pallasch des Franzosen sauste durch die Luft und fuhr ihm in den Kopf. Er sank nieder und Margot neben ihm.

Unterdessen war die Patrouille aus dem Wald hervorgebrochen. Der sie befehligende Offizier hielt an und schaute sich um. Da fielen in dem nahen Haus vier Schüsse, und dann hörte man einen schrillen Angstschrei.

„Was ist das? Dort kämpft man!“ sagte der Offizier. „Vielleicht bedarf man unserer Hilfe. Vorwärts!“

Sie sprengten herbei, saßen ab und drangen ein. Da sprang gerade der Franzose, welcher den Hieb gegen Königsau geführt hatte, zum Fenster hinaus, da er sich nicht anders retten konnte. Aber der Husar erkannte auf den ersten Blick, was hier geschehen war, und sandte ihm eine Kugel nach, welche auch ihr Ziel nicht verfehlte.

Florian und der Wirt wurden ihrer Fesseln entledigt und erfuhren, daß eine größere preußische Truppenabteilung im Anzug sei, so daß sie nun nichts mehr zu befürchten hatten. Sie erzählten in kurzen Umrissen, was geschehen war, und mußten auf Befehl des Offiziers die Damen nach oben bringen.

Königsaus Kopfwunde war lebensgefährlich. Er erhielt einen notdürftigen Verband, bis nach ungefähr einer Stunde die erwähnten Truppen ankamen und ein Arzt sich seiner annehmen konnte. Dieser schüttelte zwar höchst bedenklich den Kopf, gab aber doch der inzwischen wieder zu sich gekommenen Margot eine tröstliche Antwort, obgleich er ihr nicht erlaubte, den Geliebten zu sehen.

Richemonte kehrte nicht nach Hause zurück; er hatte unterwegs von dem Anrücken der Preußen gehört und vorgezogen, sich nicht in eine gar zu große persönliche Gefahr zu begeben. Von der Verwundung seines Todfeindes wußte er allerdings noch nichts.

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