ACHTES KAPITEL Heirat

Der alte ‚Marschall Vorwärts‘ hatte nach der siegreichen Schlacht bei Waterloo Frankreich zum zweiten Mal niedergeworfen. Paris war erobert und ein erneuter Frieden geschlossen worden, derselbe hatte Napoleon Thron und Freiheit gekostet. Er war nach der Insel St. Helena verbannt worden, von wo eine Rückkehr nicht so leicht zu bewerkstelligen war, als von Elba.

An diesem Niederringen der Kohorten des großen Korsen hatte Hugo von Königsau leider nicht mit teilnehmen können. Er war von den Folgen der fürchterlichen Hiebwunde monatelang an das Lager gefesselt worden. Lange, lange Zeit hatte er in völliger Bewußtlosigkeit gelegen. Diese war zunächst in einen apathischen, dann in einen traumhaften Zustand übergegangen, und erst später hatte es hier und da einen kurzen, lichten Augenblick gegeben, in welchem das Auge des Schwerkranken mit Bewußtsein an der Gestalt seiner Pflegerinnen gehangen hatte.

Diese waren seine aus Berlin herbeigeeilte Mutter, Frau Richemonte und ihre Tochter Margot, seine Geliebte.

Er erkannte sie alle drei. Er lernte sich von Stunde zu Stunde besser und deutlicher auf alles, was früher, geschehen war, besinnen. Seine Erinnerung reichte bis zu seiner Ankunft auf dem einsamen Hof, wo der brave Kutscher Florian seine Geliebte in Sicherheit gebracht hatte. Aber weiter konnte er sich nicht besinnen, so sehr er seinen leidenden Kopf auch anstrengte. Und selbst als die Ärzte ihn für hergestellt erklärten, war in diesem Punkt sein Gedächtnis noch immer nicht wiedergekehrt.

Er wußte ganz genau, daß er nach dem Hof gekommen war, um die Kriegskasse an einer anderen, sicheren Stelle zu verbergen. Er hatte auch den Situationsplan bei sich, den er gezeichnet hatte, er wußte den Ort, an welchem die Kasse zuerst verborgen gewesen war, ganz genau, seine erste Exkursion nach seiner Genesung führte ihn hinauf nach der Schlucht, wo er bei der dort vorgenommenen Nachgrabung auch die Leichen der beiden Männer fand; er besaß sogar noch das über die Ermordung des Barons Reillac abgefaßte und von seinen Untergebenen unterzeichnete Protokoll – aber dennoch blieb es ihm vollständig unmöglich, sich auf das zu besinnen, was innerhalb der Zeit von ungefähr zwölf Stunden vor seiner Verwundung geschehen war.

Er kannte die Namen aller, welche bestimmt gewesen waren, ihn nach der Schlucht zu begleiten und ihm bei der Ausgrabung der Kasse behilflich zu sein, er hielt genaueste Nachforschung und erfuhr, daß sie nie wieder zurückgekehrt seien. So sah er sich gezwungen, nach Berlin zu gehen, ohne in dieser wichtigen Angelegenheit Klarheit gewonnen zu haben.

Auch Blücher kehrte nach dem Friedensschluß nach der Hauptstadt Preußens zurück. Er wurde natürlich sofort von Königsau aufgesucht und jener empfing denselben mit seiner herkömmlichen, freundlichen Derbheit.

„Guten Morgen, mein Junge!“ meinte der Marschall. „Ich höre, du hättest einen solchen Schmiß über den Kopf erhalten, daß der Teufel jeden Augenblick bereit gewesen sei, dich zu holen?“

„Ja, es war ein verfluchter Schmiß, Exzellenz“, antwortete Hugo.

„Der Teufel hat aber doch auf dich verzichten müssen? Na, das ist gut, das freut mich! Quecken, Hederich, Sauerampfer und anderes Unkraut verliert sich nicht so leicht; das habe ich an mir selber hundertmal erfahren.“

„Aber eine verdammte Geschichte war es doch, Durchlaucht!“

„Hm! Ja! So ein Hieb wirft einen aufs Bette. Da gibt's rotrussisches Seifenpflaster, Weiermüllers Universalpflaster, Schwarzburger Zugpflaster, gelben Zug, roten Teakel, Heinswalder Kanaillenpflaster, Brausebeutel, Rizinusöl, Brechmittel, Purganzen und lauter solches verfluchtes Zeug, was einen Kranken nur noch elender macht, anstatt ihm auf die Socken zu helfen. Ich kenne das, oh, ich kenne das sehr genau. Mir aber dürfen diese Pflasterkasten nicht wieder an den Corpus. Wenn ich einmal meinen letzten Atem schnappe, so will ich ohne Medizin gen Himmel fahren.“

„Mag sein, Exzellenz. Aber das ist es nicht, was mich am meisten geärgert hat.“

„Nicht? Nun, was hat dich denn sonst gewurmt?“

„Zweierlei.“

„Laß es hören.“

„Erstens, daß ich nicht weiter mitmachen konnte.“

„Ja, das ist allerdings für einen jeden braven Kerl eine verflucht unangenehme Geschichte; aber man muß sich dreinfinden.“

„Man bringt es auch fertig“, sagte Königsau, „wenn man sich über verschiedenes hinwegzusetzen vermag.“

Blücher klopfte seine Tonpfeife an der Ecke des Tisches aus, so daß die noch glimmende Asche auf den Teppich fiel und ihn versengte, blickte den Lieutenant von der Seite forschend an und fragte:

„Über verschiedenes? Was wäre das wohl, he?“

„Nun“, antwortete Hugo etwas zögernd, „das versäumte Avancement zum Beispiel.“

Der Alte nickte bedächtig und wohlwollend.

„Hm, ja, das ist allerdings wahr“, sagte er. „So etwas ist zum Ohrfeigenkriegen. Aber da kann man doch wohl ein wenig nachhelfen. Du hast uns ganz famose Dienste geleistet. Du hast uns hundertmal mehr genützt, als wenn du Kombattant geblieben wärst. Laß mich sorgen, mein Junge. Ein Wort, welches der alte Blücher sagt, wird schon noch gelten, meinst du nicht auch?“

„Ich denke es“, antwortete Königsau lächelnd.

„Na, also! Ich wollte es ihnen auch nicht geraten haben, eine Empfehlung von mir in den Wind zu schmeißen. Ich bin in solchen Dingen ein ganz kurioser Kauz. Aber, was ist denn nun das andere, worüber du dich ärgerst?“

„Die Kriegskasse, Exzellenz.“

„Die Kriegskasse? Alle Wetter, ja! Ich detachierte dich doch mit einer kleinen Anzahl von Leuten, um diese alte Sparbüchse anderweit in Sicherheit zu bringen. Du kamst nicht wieder, und ich mußte weiter, immer hinter diesem Bonaparte her, um ihm zu zeigen, was deutsche Hiebe für Beulen machen. Dann hörte ich, daß du verwundet worden seist. Was ist denn mit der Kasse geworden?“

„Ja, das weiß ich nicht, Exzellenz.“

„Nicht?“ fragte Blücher verwundert. „So bist du verwundet worden, noch ehe du zur Kriegskasse kamst?“

„Nein, später.“

„Aber, da mußt du doch wissen, ob du sie gefunden hast?“

„Jedenfalls habe ich sie gefunden.“

„Und anderswo vergraben?“

„Ich denke es.“

„Ich denke? Alle Teufel, was ist das für ein dummes Wort! Hier kann es ja gar nichts zu denken geben!“

„Eigentlich nicht, Durchlaucht. Aber ich habe es leider vergessen.“

„Vergessen? Das mit der Kriegskasse? Alles? Den ganzen Schwamm? Mensch! Kerl! Bist du ein Kind, so etwas Wichtiges zu vergessen?“

Königsau deutete auf die blutrote Narbe, welche sich über den ganzen Kopf und noch über die Stirn bis auf die Nasenwurzel herabzog und antwortete: „Ich kann nichts dafür, Exzellenz. Diese da ist schuld.“

„Die Wunde? Heiliges Donnerwetter! Hat sie dich um das Gedächtnis gebracht?“

„Leider. Ich bin nicht imstande, mich auf das zu besinnen, was in der Nacht vor meiner Verwundung geschehen ist.“

„Du hast dir keine Mühe gegeben, mein Junge.“

„O doch, und welche! Ich habe ganze Tage und Nächte durchgewacht, gesonnen und gegrübelt. Die Erinnerung aber hat nicht kommen wollen.“

„Das ist wunderbar. Es ist dir da irgendein Rad im Kopf ausgeschnappt, oder der Hieb hat dir einen Teil des Gedächtniskastens lädiert. So etwas läßt sich nicht wieder flicken oder zusammenkleistern. Aber oben bist du gewesen, wo die Kasse vergraben lag. Und die Leute mit dir?“

„Jedenfalls.“

„Und die Kasse habt ihr herausgenommen?“

„Ich denke es.“

„Wenn du das nur genau wüßtest.“

„Ich denke, daß es so ist. Ich bin nach meiner Genesung oben gewesen und habe gefunden, daß die Kasse nicht mehr vorhanden war.“

„Es kann sie ja auch ein anderer gefunden und gehoben haben.“

„Hm, wahrscheinlich ist es nicht, wohl aber möglich.“

„Möglich doch? Wieso?“

„Ich traue diesem Kapitän Richemonte nicht.“

„Ah, diesen Kerl? War er denn oben?“

Königsau machte ein etwas verlegenes Gesicht, zuckte die Achsel und antwortete:

„Höchst wahrscheinlich.“

„Wieder höchst wahrscheinlich! Donnerwetter! Junge, ich bin mit dir ganz und gar nicht zufrieden! Was tue ich mit einer Wahrscheinlichkeit? Gewißheit will ich haben.“

„Nun, freilich kann ich auch diese geben. Es ist nämlich fast für sicher anzunehmen, daß ich es gewesen bin, der die Kasse ausgegraben hat, denn ich habe einen Situationsplan gezeichnet und später bei mir gefunden, welcher jedenfalls den Ort anzeigen soll, an welchem ich das Geld wieder versteckt habe. Hier ist er.“

Blücher nahm das Papier und betrachtete es genau.

„Der Plan ist gut und deutlich. Hier Fichten, dort Birken und drüben einige Kiefern. Hier ein Kreuz – jedenfalls die Stelle, wo ihr die Kasse wieder eingegraben habt. Das muß doch zu finden sein.“

„Ich habe vergebens tagelang gesucht, aber den Ort nicht gefunden.“

„Die Fichten, Birken und Kiefern auch nicht, mein Junge?“

„Nein, ich kann mich absolut nicht besinnen, in welcher Richtung wir uns damals von der Schlucht aus gehalten haben.“

„Das ist eine verdammte, ganz und gar miserable Geschichte, bei welcher einem sogar die Pfeife ausgehen kann.“

Er legte dieselbe fort, obgleich er sie eben erst neu gestopft und angebrannt hatte. Mit dem Plan in der Hand, ging er nachdenklich in dem Zimmer auf und ab. Dann warf er ihn auf den Tisch und sagte:

„Na, du kannst jedenfalls nichts dafür. Der verfluchte Hieb hat dein Gehirn bankrott gemacht; daran ist nichts zu ändern. Aber wo sind die anderen, welche dabei waren? Sie müssen sich doch besinnen können!“

„Ich habe nach ihnen geforscht. Es lebt keiner mehr.“

„Hol's der Teufel! Sie sind in den späten Kämpfen gefallen?“

„Nein, sondern wohl noch während jenes Tages. Das Haus, von welchem unsere Exkursion ausging, wurde von Franzosen überfallen, wobei ich meinen Hieb erhielt. Preußische Husaren kamen zu Hilfe und fanden später in der Richtung nach den Bergen zu gerade so viel erschossene Männer, als ich bei mir gehabt hatte.“

„Fand man nichts bei ihnen, was einen Anhalt hätte geben können, wer sie gewesen sind?“

„Nein. Sie waren vollständig ausgeplündert.“

„Das ist fatal! Na, wir haben wenigstens einen Trost dabei, nämlich den, daß wir die Kasse auch dann nicht bekommen würden, falls du es ganz genau wüßtest, wo sie verborgen liegt.“

„Nicht? Ich würde es in diesem Fall für nicht schwer halten, sie zu holen, Exzellenz.“

„Diebstahl, mein Junge. Sie liegt auf französischem Grund und Boden. Aber meintest du nicht, daß dieser Kapitän Richemonte mit euch oben in den Bergen gewesen sei? Woraus schließest du das?“

„Weil ich hier ein Dokument habe, nach welchem er da oben den Baron Reillac ermordet hat. Ich selbst bin Zeuge gewesen. Hier nun steht klar und deutlich, daß wir die Leiche Reillacs gefunden haben, und daß Richemonte bei ihr stand. Auch sind die Gegenstände verzeichnet, welche er bei sich trug, die aber Reillac gehörten.“

„Ihr habt sie ihm doch abgenommen? Wo sind sie?“

„Ich habe sie später in meinem Besitze gefunden und habe sie noch.“

„Aber wie es scheint, ist euch Richemonte selbst entkommen.“

„Entweder ist er uns entkommen, oder wir haben ihn freiwillig gehen lassen, Exzellenz.“

„Das letztere wäre eine unendliche Dummheit von euch gewesen.“

„Entschuldigung, Exzellenz. Ich möchte es doch nicht so bezeichnen.“

„Nicht? Warum nicht, he?“

„Es gilt, zu bedenken, daß wir uns in Feindesland befanden.“

„Ach so! Hm! Ja! Ihr wart gleichsam Spione; wenigstens befandet ihr euch heimlich mitten unter einer feindlichen Bevölkerung. Da war es allerdings nicht geraten, den Kerl zu arretieren.“

„Vielleicht könnte man ihn noch jetzt beim Schopf nehmen.“

„Noch jetzt? Ah, ja! Das ist wahr; würde man Reillacs Leiche finden?“

„Jedenfalls.“

„Hm! Der Gedanke ist nicht schlecht. Beweise hätten wir auch, nämlich das, was du gesehen hast, eure Unterschriften und dann die Gegenstände, welche Reillac gehörten und die ihr ihm abgenommen habt.“

„Oh, es gibt noch mehr Beweise, Exzellenz.“

„Welche?“

„Margot hat einen Brief von ihm erhalten, in welchem er ihr mitteilt – – –“

Blücher machte eine schnelle Bewegung und unterbrach ihn:

„Margot! Ah, Donnerwetter, an dieses alte Mädel habe ich gar nicht gedacht. Wie dumm von mir. Wo steckt es denn eigentlich?“

„Hier in Berlin bei meiner Mutter.“

„So. Die muß ich besuchen, und das sehr bald, mein Junge.“

Königsau räusperte sich ein wenig und sagte dann:

„Es war jetzt meine Absicht, Ew. Exzellenz zu einem solchen Besuch ganz gehorsamst einzuladen.“

„Wirklich? Gibt es vielleicht eine besondere Bewandtnis dabei?“

„Allerdings, Durchlaucht. Hochzeit.“

„Hochzeit? Kreuzmillionensternhagel! Du willst die Margot heiraten, Alter? Wann denn?“

„Übermorgen ist die Trauung.“

„Schon übermorgen? Da schlage doch das Wetter drein. Wie kann ich bis dahin mit dem Hochzeitsgeschenk fertig werden! Bis übermorgen kriege ich ja weiter nichts als höchstens eine Kohlenschaufel, einen Kinderkorb und einen Strauß von Aurikeln und Lindenblüten. Kerl, warum habe ich das denn nicht eher erfahren?“

„Exzellenz sind ja soeben erst in Berlin angekommen.“

„Das ist wahr. Aber höre, hast du bereits einen Brautführer, und wer ist es?“

„Lieutenant von Wilmersdorf.“

„Der Wilmersdorf?“ fragte der Marschall. „Donnerwetter! Warum denn dieser Kerl?“

„Er ist ein guter Freund von mir.“

„Unsinn. Freund hin, Freund her. Es gibt noch andere Leute, die deine und Margots Freunde sind. Nicht jeder Freund hat das Zeug, ein tüchtiger Brautführer zu sein. Hast du dir den Wilmersdorf denn einmal ganz genau angesehen?“

„Sehr oft“, antwortete Hugo unter einem ahnungsvollen Lächeln.

„Diese dünnen krummen Beine.“

„Hm. Nicht sehr schlimm.“

„Stumpelnase.“

„Ein wenig.“

„Drei Haare im Schnurrbart.“

„Vielleicht doch einige mehr, Exzellenz.“

„Unsinn! Da sieh mich einmal dagegen an. Hier guck her.“

Er drehte sich einige Male um seine eigene Achse und fuhr dann fort:

„Habe ich etwa dünne Beine?“

„Nein, Exzellenz“, antwortete Königsau.

„Oder sind sie krumm?“

„Nicht im mindesten.“

„Ist meine Nase stumpelig? Oder fehlt es meinem Bart an Melissengeist?“

„Exzellenz haben allerdings kein solches Frühbeetmittel nötig.“

„Nu also. Oder ist dieser Lieutenant von Wilmersdorf etwa ein honetterer Kerl als ich?“

„Das glaube ich nicht.“

„Du glaubst es nicht? Ah, du glaubst es bloß nicht. Sieh doch einmal an. Kerl, mache mir keine dummen Witze, sonst heirate ich dir die Margot vor der Nase weg. Ich sage dir, wäre ich fünfzehn Jahre jünger, so müßte sie meine Frau werden. Da ich aber nun einmal das Pech habe, so ein alter Methusalem zu sein, so will ich wenigstens das Vergnügen haben, ihr Brautführer zu sein. Verstanden?“

„Zu Befehl, Exzellenz.“

„Zu Befehl? Lauf zum Kuckuck mit deinem Befehl! Diese Geschichte soll nicht durch einen Armeebefehl erzwungen werden. Liegt dir nichts daran, so tue den Schnabel auf.“

„Oh, Durchlaucht, es gereicht mir ja nicht bloß zur größten Ehre, sondern es gewährt uns auch das innigste Glück, Ihren Wunsch zu erfüllen.“

„Na also! Endlich nimmt der Mensch drei Zoll Verstand an. Nun führe ich die Margot bis in die Ehe, und dieser Lieutenant von Wilmersdorf mag Hunde führen bis Bautzen. Aber sagtest du nicht, daß dieser Richemonte an Margot geschrieben hätte?“

„Ja, bereits dreimal.“

„Ah. Wie kann sie sich mit diesem Kerl in Briefwechsel stellen?“

„Das fällt ihr gar nicht ein.“

„Aber sie hat ihm doch geantwortet?“

„Nein.“

„Wo befindet er sich jetzt?“

„Für zwei Wochen in Straßburg.“

„Habt ihr seine Adresse?“

„Ja. Er erwartet dort unsere Antwort.“

„Das ist gut. Da wissen wir, wo der Herr Urian zu finden ist. Was schreibt er denn?“

„Margot soll mich verlassen und zu ihm kommen.“

„Der Kerl ist verrückt. Das Mädel wird dich nicht aufgeben.“

„Oh, er gibt einen sehr gewichtigen Überredungsgrund an.“

„Da bin ich doch neugierig.“

„Margot ist arm; er aber will, sobald sie mich verläßt und zu ihm kommt, sie zu einer reichen, ja zu einer steinreichen Erbin machen.“

„Sapperlot! Welcher Krösus ist denn gestorben?“

„Reillac.“

Blücher fuhr erstaunt zurück.

„Reillac?“ fragte er in einem unendlich gedehnten Ton. „Natürlich ist er tot. Aber er ist es, den sie beerben soll? Da sollen doch gleich tausend Bomben platzen. Wie geht das zu?“

„Wissen Euer Exzellenz, daß Baron Reillac reich, sehr reich war?“

„Ja. Aber er war reich, weil er ein großer Schuft war. Er machte den Gurgelabschneider und sammelte sich als Armeelieferant Millionen, während die armen Soldaten hungern mußten und in Lumpen gingen.“

„Erinnern sich Exzellenz auch noch meiner früheren Mitteilung, daß Napoleon Margot gesehen hatte?“

„Ja, er hatte ein Auge auf sie geworfen, oder auch wohl alle beide.“

„Nun, es ist im Plan gewesen, daß Reillac sie heiraten solle.“

„Der? Dem soll ein heiliges Wetter auf den Leib fahren, aber kein solches Prachtmädel, wie die Margot ist. Aber hätte der Kaiser denn dazu seine Einwilligung gegeben?“

„Natürlich. Von diesem ist ja der Plan ausgegangen. Margot sollte als Baronin de Reillac am kaiserlichen Hof Zutritt erhalten.“

„Ah, damit Napoleon Gelegenheit hatte, sie zuweilen beim Kopf zu nehmen? Das mag er sich vergehen lassen! Jetzt mag er auf St. Helena Käse reiben, aber an solche Sachen mag er ja nicht denken.“

„Richemonte hat die Hand dabei im Spiel gehabt. Er schreibt, daß Reillac gestorben sei, ohne einen nahen Erben zu hinterlassen und daß er die schriftliche Einwilligung des Kaisers zur Verheiratung Margot mit Reillac in den Händen habe.“

„Ah. Das galt damals als vollzogene Verlobung!“

„Auch jetzt noch?“

„Hm. Kommt auf die Umstände an. Ich bin kein Advokat oder Rechtswurm.“

„Ferner hat Reillac ein Testament hinterlassen.“

„Doch? Also gibt es einen Erben? Wer ist es?“

„Eben Margot.“

„Heiliges Pech! Margot? Inwiefern denn?“

„Reillac hat seine Verlobung oder die kaiserliche Einwilligung dadurch erkauft, daß er für den Fall seines Todes Margot als unumschränkte Erbin seiner sämtlichen Hinterlassenschaft einsetzte.“

„Welch ein Glück oder welch eine Schande für euch.“

„Kein Glück, sondern eine Schande, wenn Margot akzeptierte.“

„Richtig, mein Junge. Du bist ein tüchtiger Kerl und hast Ehre im Leib. Aber wo befindet sich das Testament?“

„Richemonte hat es.“

„Wird es echt sein?“

„Es müßte geprüft werden.“

„Dem Kerl ist alles zuzutrauen. Aber ein Esel ist er doch, ein großer Esel.“

„Inwiefern, Exzellenz?“

„Er will mit diesem Testament Margot zu sich locken?“

„Ja, wie ich bereits sagte.“

„Wenn sie ihm aber nicht folgt – – –“

„So soll sie keinen Genuß davon haben.“

„Unsinn. Es wäre leicht, ihm das Testament abzunehmen. Dazu sind die Behörden da, und eben darum ist er ein großer Esel, mein Junge.“

„O Durchlaucht, er würde dasselbe versteckt halten und sagen, daß er die Unwahrheit gesagt habe, er würde behaupten, daß die Erfindung von dem Testament nur eine Lockung gewesen sei.“

„Das ist allerdings richtig. Was sagt Margot dazu?“

„Sie will natürlich nichts von ihm wissen.“

„Und von der Erbschaft?“

„Auch nichts.“

„Brav. Ihr habt zwar beide kein Vermögen, aber ich will schon für ein rasches Avancement sorgen, und dann leidet ihr ja keine Not.“

Die Züge Königsaus verdüsterten sich.

„O Exzellenz“, sagte er, „mit dem Avancement wird es vorüber sein.“

„Vorüber?“ fragte Blücher. „Warum?“

Königsau deutete zum zweiten Male nach der Narbe und antwortete:

„Hier liegt der Grund!“

„Donnerwetter! Ist so eine ehrenvolle Narbe etwa ein Schandfleck?“

„Ganz und gar nicht.“

„So brauchst du dich doch auch nicht wegen ihrer zu schämen, fort zu dienen.“

„Zu schämen? Ganz und gar nicht, Durchlaucht!“

„Nun, und dennoch soll sie der Grund sein, daß es mit dem Avancement vorüber ist? Das begreife, wer da will, ich aber nicht.“

Königsau lächelte trübe, beinahe bitter.

„Haben Exzellenz nicht vorhin selbst gesagt, daß in meinem Kopf irgendein Rad zersprungen sei?“ fragte er.

Blücher ahnte, was da kommen werde, darum antwortete er rasch:

„Papperlapapp! Das war ja nur im Spaß gesagt.“

„Ich weiß das, und dennoch ist es bitterer Ernst. Mein Gedächtnis hat gelitten und ist nicht mehr zuverlässig.“

„Doch bloß in dem einen, vorhin erwähnten Punkt.“

„Bisher, ja. Aber es kann mich in jedem Augenblick, bei jedem Punkt, der vielleicht von größter, dienstlicher Wichtigkeit ist, ebenso verlassen.“

„Donner und Doria! Wer sagt das?“

„Die Ärzte, die mich behandelten und die als Sachverständige jetzt über meine Zukunft zu entscheiden haben.“

Blücher blickte ihn mit einem ganz eigentümlichen Ausdruck an.

„Sachverständige?“ fragte er. „Zukunft? Entscheiden? Ich verstehe das nicht.“

„Ich wollte es auch nicht verstehen, sah mich aber bald dazu gezwungen. Ich werde meinen Abschied fordern müssen.“

„Abschied? Kerl, ist Er verrückt?“ rief der Marschall.

„Oh, man hat es mir bereits angedeutet.“

Da trat Blücher an das Fenster, blickte ein Weilchen stumm hinaus und drehte, als er seiner Gefühle Herr geworden war, sich wieder um. Seine Wangen waren rot geworden, und seine Augen schimmerten feucht, als er in scheinbar ruhigem, aber aufrichtig herzlichem Ton sagte:

„Also dir hat man angedeutet, daß du deinen Abschied fordern sollst? So einem jungen, talentierten und hoffnungsvollen Offizier. Was hast du zu tun beschlossen?“

„Zu gehorchen.“

„Auch wenn ich dir abrate?“

„Auch dann.“

„Millionendonnerwetter! Kerl, warum auch dann?“

„Weil ich den Abschied erhalte, wenn ich ihn nicht fordere.“

„Da werde ich mich denn doch in der Länge und der Breite dazwischen legen.“

„Ich bin Exzellenz außerordentlich verbunden! Aber, darf ich aufrichtig sein?“

„Rede nur gerade so, wie dir's vom Maule kommt.“

„Ihre Intervention würde allerdings mächtig genug sein, mich zu halten; aber ich würde denn doch den Verhältnissen und den nächsten Vorgesetzten gegenüber zu kämpfen haben.“

„Diese vorgesetzten Halunken sollte der Teufel holen!“

„Das geht nicht so schnell. Es würde da Scherereien geben, die – – –“

„Ja, ja“, fiel Blücher schnell ein. „Ich weiß, was du meinst. Es gibt so kleine, ganz kleine Teufeleien, die in fürchterlicher Menge und Schärfe kommen und gegen welche ich dich nicht schützen könnte. Ich kann dir da allerdings nicht Unrecht geben, armer Kerl!“

„Und wie nun, wenn die Ärzte recht haben?“

„Mit dem Rad im Kopf?“

„Nicht in dieser Bedeutung, Exzellenz. Meine Denk- und Urteilskraft hat nicht im mindesten gelitten; wie aber, wenn dies nur so scheint? Meine Wunde verursacht mir mancherlei Schmerzen und Beschwerden. Wenn ich gerecht und unparteiisch denke, so muß ich die Möglichkeit zugeben, daß eine so bedeutende Hirnverletzung noch schwerere, unvorhergesehene Folgen nach sich ziehen kann!“

„Mensch, du bist ein Schwarzseher.“

„Ich bemühe mich nur, keine Möglichkeit unberechnet zu lassen.“

„Mag sein! Aber schade, jammerschade ist es doch! Also du bist wirklich gewillt, um deinen Abschied einzukommen?“

„Fest gewillt.“

„Na, meinetwegen. Tue es. Aber wann denn?“

„Sobald als tunlich!“

„Unsinn! Hat dein Kopf etwa so gelitten, daß du über einem solchen Gesuch drei Vierteljahre zubringen wirst?“

„Nicht ganz“, antwortete Königsau lächelnd.

„So schreibe es heute.“

„Exzellenz, ich erlaube mir die Meinung, daß – – –“

„Unsinn! Maul halten! Wer hat hier eine Meinung zu haben, Er oder ich?“ donnerte da der Alte los. „Mache Er die Sache kurz. Hat Er während Seines Krankenlagers das Schreiben verlernt?“

„Nein“, antwortete Königsau kurz.

„Gut! Dort sieht Er Tinte, Papier und Gänsewische. Reiße Er sich eine Feder heraus. Das Messer, sie zu schneiden, liegt auch dort. Dann setze Er sich hin und fertige Er sein Gesuch. Aber so kurz wie möglich. Ich werde mir inzwischen eine andere Pfeife anbrennen. Also gehe Er los.“

Königsau gehorchte. Er setzte sich. Auf dem Tisch lag der Flügel einer Gans, wie man sie zum Ausfegen und Abstäuben damals in Gebrauch hatte. Er riß sich eine Feder heraus, schnitt sie, da sie nicht gezogen war, mühsam zurecht und schickte sich an, zu schreiben.

„Halt!“ meinte da der Marschall. „Wie denkt es sich besser nach, mit Pfeife oder ohne Pfeife?“

„Mit!“ antwortete Königsau.

„So stopfe dir eine, ehe du die Klexerei beginnst. Da, greif zu!“

Der Lieutenant mußte gehorchen. Er stopfte sich eine holländische Tonpfeife, setzte sie in Brand und begann dann.

„Halt!“ rief der Alte abermals. „An wen adressierst du das Gesuch?“

„Vorgeschriebenerweise an das Regimentskommando.“

„Unsinn! Dich geht diese vorgeschriebene Weise ganz und gar nichts mehr an. Man will dich los sein, und man soll den Willen haben. Aber mit diesen Kerls sollst du nun auch nicht mehr schriftlich verkehren.“

„An wen meinen Exzellenz sonst, daß ich adressieren soll?“

„Wie? Was? Das leuchtet dir nicht ein?“

„Nein.“

„Da schlage doch das Wetter drein. Muß ich dich denn geradezu mit der Nase hineindrücken? Du adressierst dein Abschiedsgesuch an mich alten Halunken; das ist das Gescheiteste, was du tun kannst.“

„Mit Übergehung sämtlicher anderer Kompetenzen?“

„Jawohl, anders nicht.“

„Ganz, wie Exzellenz befehlen.“

„Ja, das befehle ich. Und nun fange endlich einmal an. Drücke aber vorher den Tabak nieder, sonst fällt er dir aus der Pfeife auf das Papier herunter.“

Königsau schrieb. Er gab sich trotz der Eile die möglichste Mühe: als zehn Minuten vergangen waren, legte er die Feder weg.

„Fertig?“ fragte Blücher.

„Ja.“

„Vorlesen!“

Königsau erhob sich vom Stuhle, nahm den Bogen empor und begann:

„An seine fürstliche Durchlaucht, Herrn Feldmar – – –“

„Halt!“ donnerte da Blücher. „Das ist die Überschrift?“

„Allerdings.“

„Kerl, dich soll der Teufel reiten. Wenn so ein vorgesetzter Kerl von dir an mich schreibt, so verlange ich allerdings, daß er alles, alles bringt, nämlich den Fürsten, den Gebhard Leberecht, den Marschall, die Exzellenz, den alten Blücher, die Durchlaucht, die Hoheit und das Euer Gnaden. Wehe ihm, wenn er ein Jota weglassen wollte. Aber wenn du, der Zurückgesetzte von diesen Vorgesetzten, mir schreibst, so ist das überflüssig. Ich will diesen Kerls beweisen, daß ich etwas auf dich halte. Wie viele Zeilen hat denn dein Gesuch?“

„Zweiundfünfzig.“

„Mein Gott, zweiundfünfzig! Ist denn solch ein Quirlquatsch nötig? Setze dich hin und nimm einen anderen Bogen. Ich werde dir diktieren.“

Königsau gehorchte. Blücher steckte die Pfeife ordentlich in Brand, lief nachdenklich im Zimmer auf und ab und fragte nach einer Weile:

„Kann's losgehen?“

„Ja.“

„Gut, also jetzt! Was haben wir heute für einen?“

„Den Dreiundzwanzigsten.“

„Ah, ja, übermorgen ist ja Weihnachten. Also gerade zu Weihnachten läßt du dich trauen? Das freut mich, und das paßt mir. Hast du die Feder auch gehörig eingetunkt?“

„Ja.“

„So schreibe! Berlin, den dreiundzwanzigsten Dezember 1816. An meinem Freund und Gönner Gebhard Leberecht von Blücher. – – – Fertig? Also weiter! Lieber Freund und Kampfgenosse! Ich habe einen gottserbärmlichen Schmiß über den Kopf bekommen. Ich soll deshalb den Abschied verlangen. Ich tue es hiermit. Von Dir ist er mir lieber als von anderen; denn Du weißt, daß ich meine Pflicht getan habe. Dein treuer Hugo von Königsau, Lieutenant.“

„Fertig?“ fragte er eine Minute nach dem letzten Worte.

„Ja“, antwortete Hugo.

„Na, weißt du nun, wie ein Abschiedsgesuch gemacht wird?“

„Exzellenz, die Worte wollten mir nicht aus der Feder.“

„Warum nicht?“

„Dieser Scherz ist mir allerdings ein erfreulicher Beweis Ihres –“

„Unsinn!“ unterbrach ihn Blücher. „Es ist kein Spaß, sondern mein Ernst, zeig mal her! Hast du Streusand drauf? Schütt' Tabakasche drauf! Die löscht viel besser als Sand.“

Dies wurde getan, und dann nahm Blücher den Bogen her, um ihn zu lesen.

„Hast wirklich keine üble Hand“, meinte er. „Dein Geschreibsel ist besser zu lesen als meines. Rate, wer das zu lesen bekommt.“

„Ich habe keine Ahnung, Exzellenz.“

„Keine Ahnung? Dummkopf, wer anders als der König.“

Königsau hatte sich das gedacht, aber er erschrak dennoch.

„Exzellenz“, meinte er zögernd. „Es scheint mir, als ob in diesem Fall das Gesuch denn doch eine veränderte Fassung erhalten müßte.“

„Eine andere Fassung? Wie meinst du das? Den Bogen zusammengebrochen? Das versteht sich ja ganz und gar von selber. Es kommt sogar ein Kuvert darüber.“

„Ich meine, daß der Inhalt durch andere Worte ausgedrückt werden müsse.“

Blüchers Brauen zogen sich zusammen.

„Die Worte verändern?“ fragte er. „Mensch, Kerl, Junge, Königsau, was fällt dir ein? Denkst du etwa, daß ich kein Gesuch entwerfen kann?“

Hugo erschrak.

„Exzellenz“, beeilte er sich, zu antworten, „ich bin vollständig überzeugt –“

„Oder, daß ich nicht diktieren kann?“ unterbrach ihn Blücher. „Dieses Gesuch ist ein stilistisches Meisterwerk, und der König bekommt es zu lesen. Damit basta und Punktum. Aber nun weiter. Wie steht es mit diesem Richemonte. Wollen wir ihn abfangen?“

„Ich weiß nicht, ob dies möglich ist.“

„Warum nicht? Du weißt ja seinen Aufenthalt?“

„Aber Straßburg gehört zu Frankreich.“

„Das ist egal. Wie heißt in Frankreich der oberste Ankläger?“

„Generalprokurator.“

„Nun gut. An diesen Generalprokurator schreibe ich. Ihm schicke ich die Anklage. Und dann will ich sehen, ob man es wagen wird, einen Antrag des alten Blücher unbeachtet zu lassen. Was hattet ihr diesem Richemonte an der Leiche seines Opfers abgenommen?“

„Reillacs Börse und Brieftasche. Sein Wappen und Namenszug befinden sich darauf.“

„Das ist hinreichend. Ihr habt die Leiche begraben, und du könntest die Stelle heute noch finden?“

„Ganz gewiß.“

„Es wäre ja möglich, daß man deine Gegenwart forderte. Hast du die Ermordung direkt gesehen?“

„Nein.“

„Das ist dumm. Nun kann er leugnen.“

„Oh, doch nicht. Ich sah ihn mit Reillac beisammen. Nach einer Zeit von kaum fünf Minuten kehrte ich zurück. Richemonte war fort, Reillac aber lag erstochen am Boden. Er war noch warm. Es fehlten ihm die Gegenstände, welche wir dann bei Richemonte fanden.“

„Das ist allerdings genug. Wie mag das Testament in die Hände des Kapitäns gekommen sein?“

„Vielleicht ist es gefälscht. Ist es jedoch wirklich echt, so kann es für Reillac ja irgendeinen Grund gegeben haben, es den Händen Richemontes anzuvertrauen.“

„Das ist wahr“, meinte Blücher. „Richemonte hat kein Vermögen?“

„Nein, aber desto mehr Schulden, wie Exzellenz bereits wissen.“

„Dann muß es allerdings verteufelt fatal für ihn sein, in diesem Testament ein riesiges Vermögen in der Hand zu halten, von welchem er nicht einen Heller erhalten wird.“

„Deshalb will er Margot zu sich locken.“

„Ja, er würde die Erbschaft für sie erheben und dann schleunigst durchbringen. Das soll ihm nicht gelingen. Na, übermorgen bin ich bei euch, da besprechen wir alles, und dann wird gehandelt. Jetzt kannst du dich von dannen trollen, mein Junge. Grüße mir die Margot und auch die anderen beiden Frauen! Das Abschiedsgesuch wird besorgt. Adieu.“

„Adieu, Exzellenz!“

Er ging. War er durch seine kaum überwundenen Leiden in eine trübe Stimmung und dann durch den Wink, seinen Abschied zu nehmen, verbittert worden, so hatte ihn jetzt die Unterredung mit dem alten Haudegen förmlich erquickt und wieder aufgerichtet. Er kehrte mit frischem Mut zu den Seinigen zurück.

Zwar war es zutreffend, daß er keinen Reichtum besaß. Das kleine Gut, welches er sein Eigentum nannte, brachte nicht mehr ein, als er zur notwendigen Befriedigung bescheidenster Lebensansprüche bedurfte; aber wenn er die Augen seiner Margot so glücklich und vertrauensfreudig auf sich gerichtet sah, so war es ihm, als ob es niemals einen Tag geben werde, an welchem er mit seinem Schicksal hadern könne.

„Hat er dich freundlich empfangen?“ fragte sie, als er sich neben ihr niedergelassen hatte.

„Er hat mir wahrhaftig die alte Zuneigung und Güte bewahrt“, antwortete er. „Laß dir nur erzählen, meine Margot.“

Er berichtete, und sie freute sich, als sie seine Augen nach so langer Zeit wieder vor Freude und Vergnügen leuchten sah. Und als er geendet hatte, meinte sie im Ton innigster Überzeugung:

„Blücher ist nicht der Mann, etwas fallen zu lassen, was er einmal ergriffen hat. Glaube mir, daß er bemüht sein wird, dich für die Untätigkeit zu entschädigen, in welche man dich zwingen will.“

Und sie hatte recht.

Der Weihnachtstag kam heran, und Hugo erhielt das kostbarste Geschenk, welches ihm jemals an diesem Tag geworden war: ein Weib, wie es schöner, lieber und besser kein Mensch besitzen konnte.

Wie entzückend war Margot in ihrem einfach weißen Brautkleid! Sie glich einem überirdischen Wesen und wurde durch keine Brillanten, durch kein Raffinement, sondern nur durch die eigenen Reize, die eigene Lieblichkeit geschmückt.

Die Gäste waren schon alle versammelt, als der Marschall erschien. Er hatte seinen beiden Lieblingen zu Ehren seine beste Hof-, Parade- und Galauniform angelegt. So alt er war, als er eintrat, schien ein Hauch erhöhter Jugend und gesteigerten Wohlbefindens durch die Versammlung zu wehen. Das ist stets der Fall, wenn ein Charakter naht, welchem die Stimme der Natur mehr gilt, als die störenden Ansprüche einer berechnenden und künstlich emporgeschraubten Welt.

„Guten Tag alle mitsammen!“ rief er heiter, indem er sich umblickte. „Donnerwetter, ist das ein Weihnachten! Da bringt das Christkind Braut und Bräutigam. Ich wollte, ich könnte es auch noch einmal so gut haben. Langt zu, ihr Jüngeren! Wo ist denn dieser Mosiöh, der Herr Lieutenant von Wilmersdorf?“

„Hier, Exzellenz“, meldete sich der Genannte, indem er vortrat und die Fersen klirrend zusammenschlug.

Blücher betrachtete ihn vom Kopf bis zu den Füßen herab und sagte dann:

„Also er ist der Urian, der mir die Brautführerschaft wegschnappen wollte? Mit ihm sollen doch gleich drei Schock Schulpferde durchbrennen!“

Der Lieutenant wurde einigermaßen verlegen, faßte sich aber und sagte:

„Mit Verlaub, Exzellenz, ich hatte keine Ahnung davon, daß ich mit meinem Oberfeldherrn rivalisierte. Ich trete feierlichst zurück.“

„Er muß auch! Ob er das feierlich tut oder nicht, das kommt ganz und gar auf Seinen Geschmack an. Na, Scherz muß sein! Damit Sie aber sehen, Lieutenant, daß ich Sie nicht ganz berauben will, so sollen Sie wenigstens jetzt Gelegenheit erhalten, den Brautführer zu machen. Wo befindet sich Fräulein Margot?“

„Im Nebenzimmer.“

„Eigentlich hätte ich sie aufzusuchen; aber um Ihnen die besagte Gelegenheit zu geben, so gehen Sie einmal und bringen Sie sie mir.“

Der Lieutenant entfernte sich eilig, um diesem Gebot Folge zu leisten. Unterdessen begrüßte Blücher Königsau und die anderen, als dann aber Margot eintrat, machte er eine Miene größter Überraschung.

„Millionendonnerhagel!“ rief er. „Ist das wirklich unsere Margot?“

Und recht hatte er. Ein wahrhaft reines und braves Mädchen macht als Braut den Eindruck, als ob es eine ganz andere sei.

Blücher ließ sie nicht völlig herankommen, sondern er schritt in einer Haltung und mit einer Courtoisie auf sie zu, als ob sie die Prinzessin eines königlichen Hauses sei. Er zog ihre Hand galant an seine Lippen, blickte ihr liebevoll in die Augen, als ob er ihr Vater und sie seine Tochter sei und sagte dann mit sichtlicher Rührung:

„Fräulein, wissen Sie, daß der alte Blücher nicht mehr lange leben wird? Wenn ich es mir auch nicht anmerken lasse, aber ich bin überzeugt, daß dieser armselige Klapperbein doch so langsam seine Hand nach mir ausstreckt. Es ist mir nicht viel Vergnügen mehr beschert, und so sage ich Ihnen aufrichtig, daß die Freude, welche ich gegenwärtig empfinde, wohl die beste und reinste sein wird, die ich noch genieße.“



Diese Worte des alten Helden machten einen eigentümlichen, tiefen Eindruck, den er aber bald durch einige seiner jovialen, derben Scherzworte wieder zu verwischen trachtete. Es gelang ihm dies auch recht gut.

Es hatte sich ganz von selbst herumgesprochen, daß Blücher sich ausgebeten habe, bei Königsaus Hochzeit der Führer der Braut zu sein. Daher kam es, daß in der Kirche ein so dichtgedrängtes Publikum vorhanden war, als ob Gottesdienst gehalten werde. Die anwesenden jungen Männer beneideten den Lieutenant um die schöne Französin, welche er sich als Kriegsbeute mitgebracht hatte, und alle Damen gönnten dem schönen, hochgewachsenen und mit einer solchen Narbe geschmückten Mann das Glück, welches er sich erobert hatte. Und sie alle, ohne Ausnahme, freuten sich darüber, daß Blücher um eines einfachen und armen Lieutenants willen die stolzen Regeln der hohen Gesellschaft verletzt hatte und nur seinem Herzen gefolgt war.

Als die Trauung vorüber war und die beiden Glücklichen den Segen des Priesters empfangen hatten, nahm Blücher Königsau bei der Hand und sagte:

„Junge, nun ist sie deine Frau. Halte sie wert wie den größten Edelstein, den es auf der Erde gibt. Tue mir das zu Gefallen!“

Und Margot drückte er einen leisen Kuß auf die Stirn, bevor er ihre Hand ergriff und ihr sagte:

„Mein Kind, er ist ein tüchtiger Kerl. Mache es ihm leicht, wenn das Leben ihm verweigert, was er verdient hat. Der warme Blick einer Frau macht alles Unrecht und alle Kränkung gut!“

Er hatte ganz unwillkürlich, so wie es in seiner Gewohnheit lag, so laut gesprochen, daß man es durch die ganze Kirche hörte. Seine einfachen, schlichten Worte brachten eine tiefe Rührung hervor, tiefer als die Rede des Geistlichen es vermocht hatte. Es gab unter ihnen allen kein Paar, dem ein derartiger Mann eine solche Traurede gehalten hatte.

Aber dann später, als die Festgäste beim Mahl saßen, floß mancher Witz aus dem Mund des Alten, welcher noch das Herz und Gemüt eines Kindes und den Mut und die Lebenslust eines Jünglings besaß. Hier und das war auch ein Wort zu hören, welches nicht ganz im Einklang mit der Subordination stand; er aber überhörte das. Endlich stand er auf und sagte:

„Kinder, wir haben heute schon die ganze Zahl von Toasten gebracht, welche an einem solchen Tage notwendig sind. Was ich jetzt bringen will, ist kein Toast, sondern eine Bitte. Komm her, Königsau, mein Junge, schenke mir noch einmal ein! So! Und nun hört, ihr Leute, der alte Blücher ist heutzutage ein berühmter Mann, woraus er sich aber den Teufel macht. Man wird von ihm reden und die Scriblifexers werden Geschichten von ihm erzählen, allerhand Wahres und Falsches; ja, in den Schulen wird es Weltgeschichtsbücher geben, in denen auch sein Name steht; aber was bringt das ihm für einen Nutzen? Keinen. Er weiß doch, daß alles, was er mit dem Säbel mit Hilfe Gottes und seiner Soldaten zustandegebracht hat, durch die Federfuchser wieder verdorben wird. Nach jedem Delirium tritt eine Abspannung ein, und einem Jahr der Begeisterung pflegt ein Jahr der Reaktion zu folgen. So wird es auch hier sein. Was wir mit Blut errungen haben, wird durch Tinte wieder futsch gehen. Man wird nicht halten, was man versprochen hat. Aber ich sage euch, daß der liebe Gott doch weiß, was er will. Das Blut eines Volkes ist ein kostbarer und fruchtbarer Samen, welcher sicher früher oder später Früchte bringen muß. So wird auch einst die Zeit kommen, in denen Deutschlands große Ernte beginnt. Ich erlebe sie nicht, ihr aber könnt es wohl noch wachsen und reifen sehen. Wenn dann an dem Baum unserer Taten die Früchte hängen, welche uns leider für dieses Mal von den Diplomatenwürmern und Politikermaden abgefressen werden, dann denkt an euren alten Blücher. Und solltet ihr es nicht erleben, so sagt es euren Kindeskindern, daß sie dann, wenn der Deutsche wieder dreingehauen hat und es kein solches Ungeziefer mehr gibt, das Glas zur Hand nehmen und es leeren auf das Andenken des alten Marschalls Vorwärts, der am liebsten den ganzen Wiener Kongreß ebenso zusammengehauen hätte wie die Franzmänner jenseits des Rheins! Es ist das letzte Glas, welches ihr in diesem Leben mit dem Gebhard Leberecht trinkt!“

Die Wirkung dieser Worte und der Eindruck, welchen sie hervorbrachten, läßt sich gar nicht beschreiben. Die Versammlung war auf das Tiefste ergriffen. Der Alte hatte seiner Erbitterung hier einmal Luft gemacht; er hatte dann gesprochen wie ein Prophet des Alten Testaments, welcher dem Volk Gottes den Vorhang der Zukunft öffnet, und endlich war sein letzter Wunsch für sie ein Vermächtnis geworden, welches sie auf Kinder und Kindeskinder zu vererben hatten. Es war ein Augenblick, so feierlich wie bei solchen Gelegenheiten selten einer. Die Gläser wurden still und wortlos geleert, als ob man sich scheue, die Heiligkeit dieses Moments zu entweihen.

Blücher aber war es selbst, welcher es unternahm, die vorige fröhliche Stimmung wieder hervorzurufen. Er sagte nämlich, auf eine Seitentafel zeigend, auf welcher man die Hochzeitsgeschenke geordnet hatte:

„Aber jetzt schaut einmal dorthin, Kinder. Was werdet ihr sagen? Ihr werdet meinen, der alte Isegrim könne wohl Reden halten, aber die Hauptsache habe er vergessen. Da irrt ihr euch jedoch. So etwas lasse ich mir nicht nachsagen. Ich bin kein reicher Kerl, und ihr wißt, Spiel und Wein haben mich immer ein Heidengeld gekostet. Wenn unser König nicht ein Einsehen gehabt hätte, so wäre ich oftmals bankrott gewesen. Große Gaben kann ich nicht bringen, ein Schuft gibt mehr als er hat; aber etwas bringe ich doch. Da, Margot, nehmen Sie es hin, und geben Sie es Ihrem jungen Mann, wenn ich jetzt ausgerissen sein werde.“

Er zog aus der Tasche seines Waffenrocks ein großes Kuvert, welches er Margot überreichte. Sie nahm es zögernd entgegen und öffnete bereits die Lippen, um einen Dank und sonstiges auszusprechen; er aber ließ sie gar nicht zu Worte kommen, sondern fiel ihr schnell ein:

„Halt! Still, kleines Plappermäulchen! Ich mag nichts hören! Ich will nur verraten, daß der König herzlich gelacht hat, nachdem er ein gewisses Abschiedsgesuch gelesen hatte, und die gute Stimmung, in welcher sich die Majestät infolgedessen befand, hat euer alter Freund klugerweise benutzt, um von einem gewissen Lieutenant Königsau zu erzählen. Das ist alles, was ihr zu wissen braucht. Und nun lebt wohl! Seid so glücklich, wie ich es euch wünsche, und tut mir den kleinen Gefallen, mich nicht allzu rasch zu vergessen!“

Er schob seinen Stuhl zur Seite und war, ehe sie es sich versahen oder es zu hindern vermochten, zur Tür hinaus. Hugo eilte ihm zwar nach, aber der Alte entging ihm mit fast jugendlicher Schnelligkeit. Nicht weit vom Haus hielt ein Wagen, in welchen er stieg, um schnell davonzukommen. Hugo merkte, daß der alte Haudegen sich diesen Wagen zur bestimmten Zeit bestellt haben müsse.

Als er wieder zu seinen Hochzeitsgästen zurückkehrte, fand er diese voller Wißbegierde, was das Kuvert wohl enthalten werde. Ihnen zu Gefallen und weil er selbst auch eine gleich große Neugierde empfand, öffnete er es. Es enthielt zwei königliche Schreiben. Er las das erste durch und reichte es dann Margot hin.

„Mein Abschied“, sagte er unter einem eigentümlichen Lächeln.

In diesem Lächeln war eine gewisse Freude nicht zu verkennen, obgleich sich in demselben auch der Schmerz um eine verlorene Lebensstellung, welche er mit Begeisterung auszufüllen bestrebt gewesen war, aussprach.

Sie blickte ihm mit einer gewissen Besorgnis in die Augen.

„Lies nur, liebes Herz!“ nickte er aufmunternd zu.

Sie tat es. Als sie fertig war, sagte sie mit unverkennbarer Genugtuung:

„Allerdings dein Abschied, mein Lieber, aber in den allergnädigsten Ausdrücken.“

„Und mit einer Art von Avancement“, fügte er hinzu.

„Als Rittmeister, also Hauptmann, mit der Erlaubnis, die Uniform zu tragen. Das ist selbst in der Entsagung eine Freude.“

Alle Anwesenden beglückwünschten ihn mit aufrichtigem Herzen.

„Und nun das andere!“ bat Frau Richemonte.

Königsau öffnete auch das zweite Schreiben. Als er es rasch überflogen hatte, erheiterte sich sein Gesicht zusehends.

„Da, liebe Margot“, sagte er. „Das haben wir unserem guten, alten Marschall zu verdanken.“

Sie griff nach dem Papier und las die Zeilen.

„Ist das möglich?“ fragte sie, auf das freudigste überrascht.

„Was? Was?“ ertönte es rund im Kreise.

„Ein Geschenk“, antwortete sie, „ein königliches Geschenk, wie wir es uns gar nicht träumen lassen konnten.“

„Wohl gar eine Dotation?“

„So etwas Ähnliches. Seine Majestät macht für im Kriege geleistete wichtige Dienste meinen Hugo zum Besitzer des Gutes Breitenheim.“

Das machte Aufsehen. Man fragte nach diesen wichtigen Diensten, und Königsau erzählte, wie er Napoleon und seine Marschälle belauscht habe und dadurch in den Stand gesetzt worden sei, Blücher und Wellington über die Absichten und Pläne des Kaisers auf das genaueste zu unterrichten. Und dann fügte er hinzu:

„Das ist ein Geschenk, welches alle Sorgen von uns fern hält, liebe Margot. Wir müssen um eine Audienz nachsuchen, um uns bei dem Könige persönlich zu bedanken. So viel habe ich nicht verdient. Wir haben das, wie bereits gesagt, nur Blücher zu verdanken. Ich hätte höchstens an ein Avancement gedacht. Aber weißt du, was dieses Geschenk besonders wertvoll für uns macht?“

„Nun, mein Lieber?“

„Das ist der Umstand, daß Breitenheim mit meinem Gut zusammengrenzt. Ich glaube, beide, der König sowohl wie der Marschall, haben das mit in Erwägung gezogen. Mein Abschied machte mich trauriger, als ich es euch merken ließ. Nun aber bin ich versöhnt. Ich habe jetzt ein neues Feld, ein Gebiet, auf welchem ich mit Segen für mich und andere wirken kann.“

Die Zukunft zeigte, daß dies ein wahres Wort gewesen sei.

Die Audienz beim König wurde bereits an einem der nächsten Tage erlangt. Natürlich begab sich das junge Ehepaar auch zu Blücher, um ihm Dank zu sagen. Bei dieser Gelegenheit wurde von der Anzeige gegen Kapitän Richemonte gesprochen. Der Marschall hatte diesen Gegenstand bereits auf der Hochzeit zur Sprachen bringen wollen, dies aber wegen der Anwesenheit der Gäste unterlassen.

„Soll ich ihn gerichtlich verfolgen lassen?“ fragte er.

„Er hat es zehnfach verdient“, antwortete Königsau.

„Aber Sie, Frau von Königsau? Er ist Ihr Bruder.“

Margot zögerte eine Weile; dann antwortete sie:

„Wird es hart erscheinen, wenn ich ihn verdamme?“

„Nicht im geringsten. Wie aber denkt Ihre Frau Mutter?“

„Geradeso wie ich. Er ist der böse Geist unseres Lebens gewesen, und wir haben ihn noch heute zu fürchten. Ich bin überzeugt, daß er Gelegenheit suchen wird, unser Glück nicht nur zu stören, sondern sogar zu vernichten.“

„Gut, so wollen wir ihn unschädlich machen. Ich werde noch heute zu dem französischen Gesandten fahren, um ihm den Fall vorzustellen.“

Er tat dies auch, und der Gesandte versprach ihm, das Gehörte schleunigst weiter zu verfolgen. Doch kam es anders, als sowohl Blücher, wie auch Königsau es sich gedacht hatten.

Der letztere erhielt eine Vorladung vor Gericht, wo er seine Auslagen zu Protokoll zu geben und Börse nebst Brieftasche, sowie auch das damals in der Schlucht abgefaßte Schriftstück zu deponieren hatte.

„Wo befindet sich Richemonte?“ fragte er.

„In Straßburg in Gewahrsam“, lautete die Antwort.

„Ist dieses Gewahrsam sicher?“

„Jedenfalls. Man pflegt wenigstens bei uns einen Mörder nicht so leicht einzuschließen.“

„In diesem Fall aber kommt die Anzeige vom Ausland, und die Deutschen werden von den Franzosen gehaßt.“

„Sie mögen recht haben, obgleich ich das in meiner amtlichen Stellung allerdings nicht zuzugeben habe. Wünschen Sie, daß ich eine darauf bezügliche Bemerkung anfüge?“

„Sehr! Ich bitte, die Straßburger Behörde darauf aufmerksam zu machen, daß Richemonte ein höchst gefährlicher und auch unternehmender Mann sei, dem eine gewaltsame Flucht sehr wohl zuzutrauen ist.“

„Ich werde das tun, obgleich ich nicht glaube, daß er zu fliehen so sehr nötig hat.“

„Ah, sie meinen, daß man ihn von selbst entlassen werde?“

„Hm! Ich kann nur sagen, daß alles möglich ist, sobald es nur gilt, uns zu zeigen, wie gern sie uns zu Diensten sind.“

Es zeigte sich allerdings im Verlauf der nächsten Monate, daß der Beamte ganz richtig vermutet hatte. Königsau hörte, daß Richemonte unter Bedeckung nach Sedan, und von da in die Berge geführt worden sei. Hugo hatte mit Sicherheit erwartet, daß man ihn dazu rufen werde; allein dies geschah nicht. Man schrieb dem Berliner Gericht, daß die Angaben des Anklägers vollständig hinreichend seien, den Ort zu finden, an welchem der Baron de Reillac eingescharrt worden sei.

Kurze Zeit später wurde Königsau zur Amtsstelle zitiert. Es wurde ihm da mitgeteilt, daß Richemonte keineswegs getan habe, als ob er in der Schlucht unbekannt sei. Er hatte ganz im Gegenteil selbst und aus freien Stücken den Ort angegeben, an welchem er vor der Leiche Reillacs gestanden hatte. Und nun kam die Pointe, welche Hugo nicht wenig in Bestürzung brachte. Richemonte hatte nämlich den Spieß umgedreht und ausgesagt, der deutsche Lieutenant und Spion sei es gewesen, welcher den Baron ermordet und beraubt habe; er trage mit allem Nachdrucke darauf an, diesen festzunehmen, um ihm den Prozeß zu machen.

Was sollte Hugo antworten? Er war zur Zeit des Mordes wirklich dort gewesen; er hatte sich im Besitz der geraubten Sachen befunden und er war es gewesen, der Reillac begraben hatte. Von den Soldaten, welche dabei gewesen sein sollten, war keiner beizubringen. Seine Aussage klang wie eine Fabel. Sollte er die Kriegskasse in Erwähnung bringen?

Zum Glück hatte er Margot und ihre Mutter, welche seinen Aussagen beitraten. Auch der Kutscher Florian, welcher ihm nach Deutschland gefolgt war und jetzt in seinen Diensten stand, trat als Zeuge für ihn auf. Dennoch aber wären Ungelegenheiten für ihn gar nicht zu vermeiden gewesen, wenn nicht Blücher ein gewichtiges Wort gesprochen hätte, in dessen Folge Königsau keine Unannehmlichkeiten zu erleiden hatte.

Daraufhin erklärte die französische Behörde folgendes: Es sind zwei Verdächtige da, ein Deutscher und ein Franzose. Beide klagen einander an. Der Deutsche ist der bei weitem Verdächtigere. Trotzdem sieht seine Behörde sich nicht veranlaßt, gegen ihn einzuschreiten und nehme ganz einfach an, daß der Fall nicht aufzuklären sei. Die Hinterlassenschaft Reillacs fiel entfernten Verwandten von ihm zu, und Richemonte wurde auf freien Fuß gesetzt.

Man hatte bei ihm nicht eine Spur von Reillacs Testament und auch nicht die kaiserliche Erlaubnis zur Verlobung Margots mit dem Baron gefunden. Er hatte, als seine an Margot gerichteten drei Briefe ihm vorgelegt worden waren, wirklich ausgesagt, daß er dieses Märchen erfunden habe, um seine Schwester zu retten; sie habe nicht die Frau eines Mörders seines Freundes werden sollen.

Gerade um diese Zeit stand Hugo und Margot eine Überraschung bevor. Der junge Baron de Sainte-Marie besuchte sie in Berlin. Berta Marmont, welche heimlich seine Frau geworden war, befand sich bei ihm. Sie hatte ihm ein Söhnchen geschenkt, zu welchem die beiden und Frau Richemonte Pate standen. Daß er eine Mesalliance eingegangen sei, und zwar so ganz und gar gegen den Willen seiner Mutter, konnten die Paten nicht ändern. Sie bemerkten zu ihrer Beruhigung, daß er nicht mittellos sei, und schlossen hieraus, daß er von seiner Mutter freiwillig mit dem Nötigen bedacht worden sei.

Da Königsau für nötig hielt, auf seinen Gütern anwesend zu sein, verließ er Berlin. Auf diese Weise entging ihm, wie unglücklich der Baron mit Berta lebte. Später erhielt er von diesem einen Brief, in welchem er ihm anzeigte, daß Berta mit dem früheren Kapitän Richemonte durchgegangen sei und daß er das Paar schleunigst verfolgte.

So war Richemonte doch in der Nähe gewesen, wohl um Rache zu nehmen. Nur das Zusammentreffen mit Berta hatte ihn davon abgehalten. Eine geraume Zeit später schrieb die Baronin de Sainte-Marie an Frau Richemonte, daß sie ihren Sohn nun auch moralisch verloren habe. Sie hatte in Erfahrung gebracht, daß in Marseille seine arme Frau von ihm ermordet worden sei.

Seit jener Zeit blieb Kapitän Richemonte, ebenso wie der Baron de Sainte-Marie spurlos verschwunden. Der erstere hatte übrigens, meist in Folge davon, daß er wegen Verdachts des Mordes in Untersuchung gesessen hatte, übrigens aber auch aus anderen Gründen, aus der Armee treten müssen. Daß die beiden Genannten sich drüben in Afrika befanden, der eine als Marabut und der andere als Spion, konnte niemand ahnen.

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