Wieder trieb das Eis die Flüsse hinab, wieder duftete es unterm faulen Laub nach Veilchen, wieder lief Goldmund durch die bunten Jahreszeiten, trank mit unersättlichen Augen die Wälder, Berge und Wolken in sich ein, wanderte von Hof zu Hof, von Dorf zu Dorf, von Frau zu Frau, saß manchen kühlen Abend beklommen und mit Weh im Herzen zu Füßen eines Fensters, hinter dem Licht brannte und aus dessen rotem Schein ihm hold und unerreichbar alles strahlte, was es an Glück, an Heimat, an Frieden auf Erden geben mochte. Alles kam wieder und wieder, was er nun schon so wohl zu kennen glaubte, alles kam wieder und war doch jedesmal anders: das lange Wandern über Feld und Heide oder auf steiniger Straße, das sommerliche Schlafen im Walde, das Schlendern in Dörfern, hinter den Reihen der jungen Mädchen her, die Hand in Hand vom Heuwenden oder vom Hopfenlesen heimkamen, das erste Schauern des Herbstes, die bösen ersten Fröste – alles kam wieder, einmal, zweimal, endlos lief das bunte Band vor seinen Augen hin.
Mancher Regen und mancher Schnee war auf Goldmund gefallen, als er eines Tages durch einen lichten, aber schon hellgrün knospenden Buchenwald bergaufwärts stieg und oben vom Kamm des Berges aus eine neue Landschaft vor sich liegen sah, die seine Augen froh machte und in seinem Herzen eine Flut von Ahnungen, Begierden und Hoffnungen erregte. Seit Tagen wußte er sich dieser Gegend nahe und erwartete sie, nun überraschte sie ihn in dieser Mittagsstunde, und was er von ihr bei dieser ersten Begegnung durchs Auge empfing, das bestätigte und bestärkte seine Erwartungen. Er sah zwischen den grauen Stämmen und dem sacht wehenden Gezweige in ein braun und grünes Tal hinab, in dessen Mitte ein breiter Strom bläulichglasig schimmerte. Nun, so wußte er, war es für lange Zeit zu Ende mit dem Wandern ohne Straße, durch Gegenden voll Heide, Wald und Einsamkeit, wo nur selten ein Hof oder ein armes Dörfchen anzutreffen war. Da unten strömte der Fluß, und den Fluß entlang führte eine der schönsten und berühmtesten Straßen des Reichs, da lag ein reiches fettes Land, da fuhren Flöße und Boote, und die Straße führte zu schönen Dörfern, Burgen, Klöstern und reichen Städten, und wer wollte, der konnte auf dieser Straße viele Tage und Wochen reisen und brauchte nicht zu besorgen, daß sie wie die elenden Bauernsträßchen plötzlich irgendwo in einem Walde oder im feuchten Ried sich verliere. Es kam etwas Neues, und er freute sich darauf.
Schon am Abend dieses Tages war er in einem schönen Dorf, das lag zwischen dem Strom und den roten Rebenhängen an der großen Fahrstraße, an den Giebelhäusern war das hübsche Balkenwerk rot gestrichen, es gab gewölbte Einfahrtstore und steinerne Treppengäßchen, eine Schmiede warf roten Feuerschein auf die Straße und helles Amboßgeläute. Neugierig trieb sich der Ankömmling in allen Gassen und Winkeln herum, schnupperte an Kellertoren den Fässer- und Weingeruch und am Flußufer den kühlen fischigen Wasserduft, betrachtete Gotteshaus und Friedhof und unterließ nicht, sich nach einer günstigen Scheune umzusehen, wo man vielleicht für die Nacht einsteigen könnte. Vorher aber wollte er es im Pfarrhaus mit der Bitte um Zehrung versuchen. Da war ein feister rotköpfiger Pfarrer, der ihn ausfragte und dem er mit einigen Verschweigungen und einigem Fabulieren seinen Lebenslauf erzählte; darauf wurde er freundlich aufgenommen und mußte den Abend, mit gutem Essen und Wein versorgt, in langen Gesprächen mit dem Herrn hinbringen. Andern Tags reiste er auf der Straße weiter, die dem Strome folgte. Er sah Flöße und Lastkähne fahren, er überholte Fuhrwerke, manches nahm ihn eine Strecke weit mit, schnell und übervoll von Bildern liefen die Frühlingstage weg, Dörfer und kleine Städtchen nahmen ihn auf, Frauen lächelten hinter Gartenzäunen oder knieten im braunen Erdreich und steckten Pflanzen, Mädchen sangen auf abendlichen Dorfgassen.
In einer Mühle eine junge Magd gefiel ihm so sehr, daß er zwei Tage in der Gegend blieb und sie umstrich; sie lachte und schwatzte gerne mit ihm, ihm schien, er wäre am liebsten ein Müllerbursch und bliebe immer dort. Er saß bei den Fischern, er half den Fuhrleuten beim Füttern und Striegeln, bekam Brot und Fleisch dafür und durfte mitfahren. Nach langem Alleinsein diese gesellige Reisewelt, nach langem Grübeln die Heiterkeit zwischen gesprächigen und vergnügten Menschen, nach langem Darben das tägliche Sattwerden an reichlicher Speise tat ihm wohl, gern ließ er sich von der frohen Welle tragen. Sie nahm ihn mit, und je mehr er sich der Bischofsstadt näherte, desto voller und heiterer wurde die Landstraße.
In einem Dorfe ging er, als es eben nachtete, unter schon belaubten Bäumen am Wasser lustwandeln. Still und mächtig strömte der Fluß, unter den Baumwurzeln rauschte und seufzte die Strömung, über den Hügel kam der Mond herauf, warf Lichter auf den Fluß und Schatten unter die Bäume. Da fand er ein Mädchen sitzen und weinen, sie hatte Streit mit ihrem Liebsten gehabt, nun war er fort und hatte sie allein gelassen. Goldmund setzte sich zu ihr und hörte ihre Klagen an, er streichelte ihre Hand, erzählte ihr vom Wald und von den Rehen, tröstete sie ein wenig, brachte sie ein wenig zum Lachen, und sie ließ sich einen Kuß gefallen. Aber da kam ihr Schatz wieder gegangen, sie zu suchen; er hatte sich beruhigt und den Zank bereut. Als er Goldmund bei ihr sitzen fand, warf er sich alsbald über ihn und schlug mit beiden Fäusten auf ihn ein, Goldmund hatte Mühe, sich zu erwehren, schließlich wurde er doch mit ihm fertig, fluchend lief der Bursche ins Dorf, das Mädchen war längst fortgeflohen. Goldmund aber, dem Frieden nicht trauend, ließ sein Nachtlager im Stich und wanderte die halbe Nacht im Mondschein weiter, durch eine silberne schweigende Welt, sehr zufrieden, seiner starken Beine froh, bis der Tau ihm den weißen Staub von den Schuhen wusch und er, plötzlich müd geworden, sich unter den nächsten Baum legte und einschlief. Längst war es Tag, da weckte ihn ein Kitzeln im Gesicht, er scheuchte schlaftrunken mit tappender Hand darüber, schlief wieder ein, wurde bald vom selben Kitzeln aufs neue geweckt; da stand eine Bauernmagd, die sah ihn an und kitzelte ihn mit der Spitze einer Weidengerte. Er taumelte auf, lächelnd nickten sie einander zu, und sie führte ihn in einen Schuppen, wo es besser zu schlafen sei. Sie schliefen eine Weile dort, beide beieinander, dann lief sie fort und kam wieder mit einem Eimerchen voll Milch, noch warm von der Kuh. Er schenkte der Magd ein blaues Haarband, das er kürzlich auf der Gasse gefunden und zu sich gesteckt hatte, und sie küßten sich noch einmal, ehe er weiterging. Sie hieß Franziska, es tat ihm leid, sie zu verlassen.
Am Abend jenes Tages fand er in einem Kloster Obdach, wohnte am Morgen der Messe bei; wunderlich wallte es in seinem Herzen von tausend Erinnerungen, ergreifend heimatlich roch ihm die kühle Steinluft der Gewölbe, klang ihm das Klappern der Sandalen auf den Fliesengängen. Als die Messe vorüber und es still in der Klosterkirche geworden war, blieb Goldmund knien, sein Herz war wunderlich bewegt, er hatte nachts viel geträumt. Er empfand den Wunsch, sich irgendwie seiner Vergangenheit zu entledigen, irgendwie sein Leben zu ändern, er wußte nicht warum, vielleicht war es nur die Erinnerung an Mariabronn und an seine fromme Jugend, die ihn bewegte. Er fühlte sich getrieben, eine Beichte abzulegen und sich zu reinigen, viele kleine Sünden, viele kleine Laster waren zu bekennen, schwerer aber als alles lag der Tod Viktors auf ihm, der von seiner Hand gestorben war. Er fand einen Pater, dem legte er Beichte ab, über dies und jenes, besonders aber über die Messerstiche in des armen Viktors Hals und Rücken. O wie lange hatte er nicht gebeichtet! Zahl und Schwere seiner Sünden schien ihm beträchtlich, er wäre bereit gewesen, eine tüchtige Strafe dafür abzubüßen. Aber der Beichtvater schien das Leben der Fahrenden zu kennen, er entsetzte sich nicht, ruhig hörte er zu, ernst und freundlich tadelte er und mahnte, ohne an eine Verdammung zu denken. Erleichtert erhob sich Goldmund, betete nach des Paters Vorschrift am Altar und wollte schon die Kirche wieder verlassen, da fiel ein Sonnenstrahl durch eines der Fenster, dem folgte sein Blick, und da sah er in einer Seitenkapelle eine Figur stehen, die sprach so sehr zu ihm und zog ihn an, daß er sich mit liebenden Augen zu ihr wendete und sie voll Andacht und tiefer Bewegung betrachtete. Es war eine Mutter Gottes aus Holz, die stand so zart und sanft geneigt, und wie der blaue Mantel von ihren schmalen Schultern niederfiel, und wie sie die zarte mädchenhafte Hand ausstreckte, und wie über einem schmerzlichen Mund die Augen blickten und die holde Stirn sich wölbte, das war alles so lebendig, so schön und innig und beseelt, wie er es nie gesehen zu haben meinte. Diesen Mund zu betrachten, diese liebe innige Bewegung des Halses, daran konnte er sich nicht ersättigen. Ihm schien, er sehe da etwas stehen, was er in Träumen und Ahnungen oft und oft schön gesehen, wonach er oft sich gesehnt habe. Mehrmals wandte er sich zum Gehen, und immer zog es ihn wieder zurück.
Da er endlich doch gehen wollte, stand hinter ihm der Pater, dem er vorher gebeichtet hatte. »Du findest sie schön?« fragte er freundlich. »Unaussprechlich schön«, sagte Goldmund. »Manche sagen das«, sagte der Geistliche. »Und wieder andere sagen, das sei keine rechte Mutter Gottes, sie sei viel zu neumodisch und weltlich, und alles sei übertrieben und unwahr. Man hört viel darüber streiten. Dir also gefällt sie, das freut mich. Sie steht erst seit einem Jahr in unserer Kirche, ein Gönner unseres Hauses hat sie gestiftet. Sie ist vom Meister Niklaus gemacht.«
»Meister Niklaus? Wer ist das, wo ist er? Kennt Ihr ihn? O bitte, sagt mir etwas von ihm! Es muß ein herrlicher und begnadeter Mann sein, der so etwas zu schaffen vermag.«
»Ich weiß nicht viel von ihm. Er ist Bildschnitzer in unserer Bischofsstadt, eine Tagreise von hier, und hat als Künstler einen großen Ruf. Künstler pflegen keine Heilige zu sein, und auch er ist wohl keiner, aber ein begabter und hochgesinnter Mann ist er gewiß. Gesehen habe ich ihn manchmal …«
»Oh, Ihr habt ihn gesehen! Oh, wie sieht er aus?«
»Mein Sohn, du scheinst ja ganz bezaubert von ihm zu sein. Nun, so suche ihn auf und sage ihm einen Gruß von Pater Bonifazius.«
Goldmund dankte überschwenglich. Lächelnd ging der Pater davon, er aber stand noch lange vor dieser geheimnisvollen Figur, deren Brust zu atmen schien und in deren Gesicht so viel Schmerz und so viel Süße beisammenwohnte, daß es ihm das Herz zusammenzog.
Verwandelt trat er aus der Kirche, durch eine ganz und gar veränderte Welt trugen ihn seine Schritte. Seit jenem Augenblick vor der süßen, heiligen Figur aus Holz besaß Goldmund etwas, was er noch nie besessen, was er an andern so oft belächelt oder beneidet hatte: ein Ziel! Er hatte ein Ziel, und vielleicht würde er es erreichen, und vielleicht würde dann sein ganzes, zerfahrenes Leben einen hohen Sinn und Wert bekommen. Mit Freude und mit Furcht durchdrang ihn dies neue Gefühl und beflügelte seine Schritte. Diese schöne heitere Landstraße, auf der er ging, war nicht mehr, was sie gestern gewesen war, ein festlicher Tummelplatz und bequemer Aufenthalt, sie war nur noch eine Straße, war der Weg zur Stadt, der Weg zum Meister. Ungeduldig lief er. Noch vor Abend langte er an, sah hinter den Mauern Türme prangen, sah gemeißelte Wappen und gemalte Schilder überm Tor, schritt mit pochendem Herzen hindurch und achtete kaum auf den Lärm und das frohe Gedränge der Gassen, auf die Ritter zu Pferde, auf die Wagen und Karossen. Nicht Ritter noch Wagen, nicht Stadt noch Bischof waren ihm wichtig. Gleich den ersten Menschen unterm Tore fragte er, wo der Meister Niklaus wohne, und war schwer enttäuscht, daß der nichts von ihm wußte.
Er kam auf einen Platz voll stattlicher Häuser, viele waren bemalt oder mit plastischem Bildwerk geschmückt. Über einer Haustür stand groß und prangend die Figur eines Landsknechtes, mit kräftig lachenden Farben. Er war nicht so schön wie die Figur in jener Klosterkirche, aber er stand auf eine Art da und drückte die Waden heraus und streckte das bärtige Kinn in die Welt, daß Goldmund doch dachte, auch diese Gestalt könnte derselbe Meister gemacht haben. Er ging in das Haus hinein, klopfte an Türen, stieg Treppen hinan, stieß endlich auf einen Herrn im pelzbesetzten Sammetrock, den fragte er, wo er den Meister Niklaus finden könne. Was er denn von ihm wolle, fragte der Herr zurück, und Goldmund hatte Mühe, sich zu beherrschen und nur zu sagen, er habe einen Auftrag an ihn. Der Herr nannte ihm nun die Gasse, wo der Meister wohne, und bis Goldmund sich dahin durchgefragt hatte, war es Nacht geworden. Beklommen und doch sehr glücklich stand er vor dem Haus des Meisters, schaute zu den Fenstern hinauf und wäre beinah hineingelaufen. Doch fiel ihm ein, daß es schon spät und daß er verschwitzt und staubig vom Tagesmarsch sei, und er bezwang sich und wartete. Aber er stand noch lange Zeit vor dem Hause. Er sah ein Fenster hell werden, und eben als er sich zum Gehen wandte, sah er eine Gestalt ans Fenster treten, ein sehr schönes blondes Mädchen, durch deren Haar von hinten der sanfte Ampelschimmer floß.
Am andern Morgen, als die Stadt wieder wach und laut geworden war, wusch sich Goldmund in dem Kloster, dessen Nachtgast er gewesen war, Gesicht und Hände, klopfte den Staub von Kleidern und Schuhen, suchte sich in jene Gasse zurück und pochte am Haustor. Es kam eine Magd, die wollte ihn nicht gleich zum Meister führen, aber es gelang ihm, die alte Frau zu erweichen, und sie führte ihn doch hinein. In einem kleinen Saal, der seine Werkstatt war, stand in einer Arbeitsschürze der Meister, ein bärtiger großer Mann von vierzig oder fünfzig Jahren, wie es Goldmund schien. Er sah den Fremden aus hellblauen scharfen Augen an und fragte kurz, was er begehre. Goldmund richtete den Gruß des Paters Bonifazius aus.
»Weiter nichts?«
»Meister«, sagte Goldmund mit beengtem Atem, »ich habe Eure Mutter Gottes dort im Kloster gesehen. Ach, schauet mich nicht so unfreundlich an, es ist lauter Liebe und Verehrung, was mich zu Euch führte. Ich bin nicht ängstlich, ich habe lang auf Wanderung gelebt und den Wald und den Schnee und den Hunger geschmeckt, es gibt keinen Menschen, vor dem ich Furcht haben könnte. Aber vor Euch habe ich Furcht. Oh, ich habe einen einzigen, großen Wunsch, von dem ist mein Herz so voll, daß es weh tut.«
»Was ist denn das für ein Wunsch?«
»Ich möchte Euer Lehrling werden und bei Euch lernen.«
»Du bist nicht der einzige, junger Mensch, der diesen Wunsch hat. Ich mag aber keine Lehrlinge, und zwei Gehilfen habe ich schon. Wo kommst du denn her, und wer sind deine Eltern?«
»Ich habe keine Eltern, ich komme nirgends her. In einem Kloster war ich Schüler, da habe ich Latein und Griechisch gelernt, dann lief ich weg, und seit Jahren war ich unterwegs, bis heute.«
»Und warum meinst du, du müssest Bildschnitzer werden? Hast du schon dergleichen versucht? Hast du Zeichnungen?«
»Ich habe viele Zeichnungen gemacht, aber ich habe sie nicht mehr. Aber warum ich diese Kunst lernen möchte, das kann ich Euch wohl sagen. Ich habe mir viele Gedanken gemacht, und ich habe viele Gesichter und Gestalten gesehen und habe über sie nachgedacht, und einige von diesen Gedanken haben mich immer wieder geplagt und mir keine Ruhe gelassen. Es ist mir aufgefallen, wie in einer Gestalt überall eine gewisse Form, eine gewisse Linie wiederkehrt, wie eine Stirn dem Knie, eine Schulter der Hüfte entspricht, und wie das alles im Innersten gleich und eins ist mit dem Wesen und Gemüt des Menschen, der eben ein solches Knie, eine solche Schulter und Stirn hat. Und auch das ist mir aufgefallen, ich sah es in einer Nacht, wo ich bei einer Gebärenden helfen mußte: daß der größte Schmerz und die höchste Wollust einen ganz ähnlichen Ausdruck hat.«
Durchdringend blickte der Meister den Fremden an. »Weißt du, was du da sagst?«
»Ja, Meister, es ist so. Gerade das war es, was ich zu meiner größten Wonne und Bestürzung in Eurer Mutter Gottes ausgedrückt fand, darum bin ich ja gekommen. Oh, da ist auf diesem schönen holden Gesicht so viel Leid, und zugleich ist alles Leid wie zu lauter Glück und Lächeln geworden. Als ich das sah, fuhr es m mich wie Feuer, alle meine jahrelangen Gedanken und Träume schienen mir bestätigt und waren plötzlich nicht mehr nutzlos, und ich wußte sofort, was ich zu tun und wohin ich zu gehen habe. Lieber Meister Niklaus, ich bitte Euch von Herzen, lasset mich bei Euch lernen!«
Niklaus, ohne ein freundlicheres Gesicht zu machen, hatte aufmerksam zugehört.
»Junger Mensch«, sagte er, »du kannst erstaunlich gut über die Kunst reden, und es ist mir auch verwunderlich bei deinen Jahren, daß du so viel über Wollust und Schmerz zu sagen weißt. Es wäre mir ein Vergnügen, mit dir am Abend einmal bei einem Becher Wein über diese Sache zu plaudern. Aber sieh: miteinander angenehm und klug zu sprechen ist nicht dasselbe, als miteinander ein paar Jahre lang zu leben und zu arbeiten. Hier ist eine Werkstatt, und hier wird gearbeitet, nicht geplaudert, und hier gilt nicht das, was einer etwa sich ausgedreht hat und zu sagen weiß, sondern einzig das, was einer mit seinen Händen herzustellen versteht. Es scheint dir Ernst zu sein, ich will dich darum nicht einfach wieder fortschicken. Wir wollen sehen, ob du irgend etwas kannst. Hast du schon aus Lehm oder Wachs etwas geformt?«
Goldmund dachte alsbald an einen Traum, den er vor langer Zeit einmal geträumt hatte, da hatte er kleine Figuren aus Lehm geknetet, die waren aufgestanden und zu Riesen geworden. Doch schwieg er davon und gab Bescheid, daß er noch nie solche Arbeiten versucht habe.
»Gut. So wirst du also etwas zeichnen. Dort ist ein Tisch, siehst du, und Papier und Kohlen. Setz dich hin und zeichne, laß dir Zeit, du kannst bis Mittag oder auch bis zum Abend bleiben. Vielleicht werde ich dann sehen können, zu was du taugst. So, nun ist genug geredet, ich gehe an meine Arbeit; geh du an die deine.«
Im Sessel, den Niklaus ihm bezeichnet hatte, saß nun Goldmund am Zeichentisch. Es eilte ihm nicht mit dieser Arbeit, vorerst saß er wartend und still wie ein ängstlicher Schüler und starrte neugierig und liebevoll zu dem Meister hinüber, der ihm halb den Rücken zuwandte und an einer kleinen Figur aus Ton weiterarbeitete. Aufmerksam sah er sich diesen Mann an, in dessen strengem und schon ein wenig angegrautem Kopf und in dessen harten, aber edlen und beseelten Handwerkerhänden solche holde Zauberkräfte wohnten. Er sah anders aus, als Goldmund ihn sich vorgestellt hatte: älter, bescheidener, nüchterner, viel weniger strahlend und herzgewinnend und gar nicht glücklich. Die unerbittliche Schärfe seines prüfenden Blicks war jetzt seiner Arbeit zugewandt, von ihr befreit nahm Goldmund nun die ganze Gestalt des Meisters sorgfältig in sich auf. Dieser Mann, dachte er, hätte etwa auch ein Gelehrter sein können, ein stiller strenger Forscher, der sich an ein Werk hingegeben hat, das viele Vorgänger vor ihm begonnen haben und das er einmal seinen Nachfolgern würde überlassen müssen, ein zähes, langlebiges, niemals zu Ende kommendes Werk, in dem die Arbeit und Hingabe vieler Menschenalter sich sammelt. So wenigstens las es der Betrachter aus dem Kopf des Meisters; viel Geduld, viel Gelernthaben und Nachdenken, viel Bescheidenheit und Wissen um den zweifelhaften Wert aller Menschenarbeit stand hier geschrieben, aber auch ein Glaube an seine Aufgabe. Anders wieder war die Sprache seiner Hände, zwischen ihnen und dem Kopfe bestand ein Widerspruch. Diese Hände griffen mit festen, aber sehr gefühligen Fingern in den Ton, den sie formten, sie gingen mit dem Ton um wie die Hände eines Liebenden mit der hingegebenen Geliebten: verliebt, voll zart schwingender Empfindung, begehrlich, aber ohne zwischen Nehmen und Geben zu unterscheiden, lüstern zugleich und fromm, und sicher und meisterlich wie aus uralter tiefer Erfahrung. Entzückt und bewundernd sah Goldmund diesen begnadeten Händen zu. Sehr gerne hätte er den Meister gezeichnet, wäre jener Widerspruch zwischen Gesicht und Händen nicht gewesen, der lahmte ihn.
Nachdem er wohl eine Stunde lang dem vor sich hin arbeitenden Künstler zugesehen hatte, voll von suchenden Gedanken über das Geheimnis dieses Mannes, begann in seinem Innern ein anderes Bild sich zu gestalten und vor seiner Seele sichtbar zu werden, das Bild des Menschen, den er am besten von allen kannte, den er sehr geliebt und innig bewundert hatte; und dies Bild war ohne Bruch und Widerspruch, obwohl auch diese Gestalt mannigfaltige Züge trug und an viele Kämpfe erinnerte. Es war das Bild seines Freundes Narziß. Immer dichter rann es zu Einheit und Ganzheit zusammen, immer klarer trat das innere Gesetz dieses geliebten Menschen in seinem Bilde zutag, vom Geist geformt der edle Kopf, vom Dienst am Geist gestrafft und geadelt der schöne beherrschte Mund und das etwas traurige Auge, vom Kampf um Vergeistigung beseelt die hagern Schultern, der lange Hals, die zarten vornehmen Hände. Nie hatte er seit damals, seit dem Abschied vom Kloster, den Freund so klar gesehen, sein Bild so ganz in sich besessen. Wie im Traum, ohne Willen und doch voll von Bereitschaft und Notwendigkeit, begann Goldmund behutsam zu zeichnen, strich mit liebenden Fingern ehrfürchtig um die Gestalt, die in seinem Herzen wohnte, und vergaß den Meister, sich selbst und den Ort, an dem er war. Er sah nicht, daß das Licht im Saale langsam wanderte, sah nicht, daß der Meister mehrmals zu ihm herüberblickte. Wie eine Opferhandlung vollzog er die Aufgabe, die ihm geworden war, die sein Herz ihm gestellt hatte: das Bild des Freundes emporzuheben und so aufzubewahren, wie es heut in seiner Seele lebte. Ohne sich darüber Gedanken zu machen, empfand er sein Tun wie das Abtragen einer Schuld, eines Dankes.
Niklaus trat an den Zeichentisch und sagte: »Es ist Mittagszeit; ich gehe zu Tisch, du kannst auch mitkommen. Laß sehen – du hast etwas gezeichnet?«
Er trat hinter Goldmund und schaute auf das große Blatt, dann schob er ihn beiseite und nahm das Blatt mit Sorgfalt in seine geschickten Hände. Goldmund war aus seinem Traum erwacht und blickte jetzt mit banger Erwartung nach dem Meister. Dieser stand, die Zeichnung mit beiden Händen haltend, und sah sie sehr genau an, mit seinem etwas scharfen Blick aus den strengen lichtblauen Augen.
»Wer ist das, den du da gezeichnet hast?« fragte Niklaus nach einer Weile.
»Es ist mein Freund, ein junger Mönch und Gelehrter.«
»Gut. Wasche dir die Hände, dort im Hof läuft der Brunnen. Dann wollen wir essen gehen. Meine Gehilfen sind nicht da, sie arbeiten auswärts.«
Goldmund ging gehorsam, fand den Hof und den Brunnen, wusch sich die Hände und hätte viel darum gegeben, des Meisters Gedanken zu wissen. Als er zurückkam, war dieser fort, er hörte ihn im Nebenraume hantieren; als er erschien, hatte auch er sich gewaschen und trug statt der Schürze einen schönen tuchenen Rock, er sah darin stattlich und feierlich aus. Er ging voran, eine Treppe hinauf, deren Geländerpfosten aus Nußholz kleine geschnitzte Engelsköpfe trugen, durch eine Diele, die voll alter und neuer Figuren stand, und in eine schöne Stube, deren Boden, Wände und Decke aus Hartholz waren und in deren Fensterecke ein gedeckter Tisch stand. Eine Jungfer kam hereingelaufen, Goldmund kannte sie, es war das schöne Mädchen von gestern abend.
»Lisbeth«, sagte der Meister, »du mußt noch ein Gedeck bringen, ich habe einen Gast mitgebracht. Es ist – ja, nun weiß ich wirklich seinen Namen noch gar nicht.«
Goldmund sagte ihn.
»Also Goldmund. Können wir essen?«
»Im Augenblick, Vater.«
Sie holte einen Teller, lief hinaus und kam bald mit der Magd wieder, die das Essen auftrug, Schweinefleisch, Linsen und Weißbrot. Während des Essens sprach der Vater dies und jenes mit dem Mädchen, Goldmund saß schweigend, aß ein wenig und fühlte sich sehr unsicher und bedrückt. Das Mädchen gefiel ihm sehr, eine stattliche schöne Gestalt, beinahe so groß wie ihr Vater, aber sie saß züchtig und höchst unnahbar wie hinter Glas und richtete weder Wort noch Blick an den Fremden.
Als gegessen war, sagte der Meister: »Ich will noch eine halbe Stunde ruhen. Geh du in die Werkstatt oder treibe dich ein wenig draußen herum, nachher wollen wir über die Sache sprechen.«
Mit einem Gruß ging Goldmund hinaus. Eine Stunde oder länger war es her, seit der Meister seine Zeichnung gesehen hatte, und kein Wort hatte er über sie gesagt. Jetzt sollte er nochmals eine halbe Stunde warten! Nun, es war nicht zu ändern, er wartete. In die Werkstatt ging er nicht, er wollte seine Zeichnung jetzt nicht wiedersehen. Er ging in den Hof, setzte sich auf den Brunnentrog und sah dem Wasserfaden zu, der sich unaufhörlich aus der Röhre ergoß, in die tiefe Steinschale fiel, im Niederfallen winzige Wellen schlug und immerzu ein wenig Luft mit sich in die Tiefe riß, die immerzu m weißen Perlen zurück- und emporstrebte. Im dunklen Brunnenspiegel sah er sein eigenes Bild und dachte, daß dieser Goldmund, der ihn aus dem Wasser anblickte, längst nicht mehr der Goldmund des Klosters oder der Goldmund Lydias sei, und auch schon der Goldmund der Wälder war er nicht mehr. Er dachte, daß er und jeder Mensch dahinrinne und sich immerzu verwandle und endlich auflöse, während sein vom Künstler geschaffenes Bild immer unwandelbar das gleiche bleibe.
Vielleicht, dachte er, ist die Wurzel aller Kunst und vielleicht auch alles Geistes die Furcht vor dem Tode. Wir fürchten ihn, wir schauern vor der Vergänglichkeit, mit Trauer sehen wir immer wieder die Blumen welken und die Blätter fallen und spüren im eigenen Herzen die Gewißheit, daß auch wir vergänglich sind und bald verwelken. Wenn wir nun als Künstler Bilder schaffen oder als Denker Gesetze suchen und Gedanken formulieren, so tun wir es, um doch irgend etwas aus dem großen Totentanz zu retten, etwas hinzustellen, was längere Dauer hat als wir selbst. Die Frau, nach der der Meister seine schöne Madonna gebildet hat, ist vielleicht schon verwelkt oder tot, und bald wird auch er tot sein, andere wohnen in seinem Haus, andere essen an seinem Tisch – aber sein Werk bleibt stehen, in der stillen Klosterkirche schimmert es noch nach hundert Jahren und viel länger, und bleibt immer schön, und lächelt immer mit dem gleichen Munde, der ebenso blühend wie traurig ist.
Er hörte den Meister die Treppe herabkommen und lief in die Werkstatt. Meister Niklaus ging auf und ab, blickte wiederholt auf Goldmunds Zeichnung, blieb endlich am Fenster stehen und sagte in seiner etwas zögernden und trockenen Weise: »Der Brauch bei uns ist so, daß ein Lehrling mindestens vier Jahre lernt und daß sein Vater dem Meister dafür ein Lehrgeld bezahlt.«
Da er eine Pause machte, dachte Goldmund, der Meister fürchte, von ihm kein Lehrgeld zu bekommen. Blitzschnell zog er sein Messer aus der Tasche, trennte die Naht um den verborgenen Dukaten auf und fischte ihn heraus. Erstaunt sah Niklaus ihm zu und fing an zu lachen, als Goldmund ihm das Goldstück darreichte.
»Ah, so ist es gemeint?« lachte er. »Nein, junger Mensch, dein Geldstück sollst du behalten. Höre nun zu. Ich sagte dir, wie es in unserer Zunft mit den Lehrlingen gehalten zu werden pflegt. Aber weder bin ich ein gewöhnlicher Lehrmeister, noch bist du ein gewöhnlicher Lehrling. Nämlich ein solcher pflegt seine Lehrzeit mit dreizehn, vierzehn oder höchstens fünfzehn Jahren anzutreten, und die Hälfte der Lehrzeit hindurch muß er Handlangerdienste tun und den Pudel machen. Du aber bist ja schon ein ausgewachsener Bursche und könntest dem Alter nach längst Geselle oder sogar schon Meister sein. Einen Lehrling mit einem Bart hat man in unserer Zunft noch nie gesehen. Auch sagte ich dir ja schon, daß ich in meinem Haus keinen Lehrling halten will. Du siehst auch gar nicht aus wie jemand, der sich befehlen und herumschicken läßt.«
In Goldmund war die Ungeduld aufs höchste gestiegen, jedes der bedächtigen Worte des Meisters spannte ihn auf die Folter und schien ihm abscheulich langweilig und schulmeisterlich zu sein. Heftig rief er: »Warum saget Ihr mir das alles, wenn Ihr doch gar nicht daran denket, mich in die Lehre zu nehmen?«
Der Meister fuhr unerschüttert in seiner alten Weise fort: »Ich habe über dein Anliegen eine Stunde lang nachgedacht, nun mußt du auch die Geduld haben, mich anzuhören. Ich habe deine Zeichnung gesehen. Sie hat Fehler, aber sie ist dennoch schön. Wäre sie das nicht, so hätte ich dir einen halben Gulden geschenkt und dich entlassen und vergessen. Mehr will ich über die Zeichnung nicht sagen. Ich möchte dir helfen, ein Künstler zu werden, vielleicht bist du dazu bestimmt. Aber Lehrling kannst du also nicht mehr werden. Und wer nicht Lehrling war und die Lehrzeit abgedient hat, der kann in unserer Zunft auch nicht Gesell und Meister werden. Das sei dir im voraus gesagt. Aber einen Versuch sollst du machen. Wenn es dir möglich ist, eine Zeitlang hier in der Stadt zu bleiben, so kannst du zu mir kommen und einiges lernen. Es geschieht ohne Verpflichtung und Vertrag, du kannst zu jeder Stunde wieder gehen. Du kannst bei mir ein paar Schnitzmesser zerbrechen und ein paar Holzklötze verderben, und wenn es sich zeigt, daß du kein Holzschnitzer bist, mußt du dich eben zu anderem wenden. Bist du damit zufrieden?«
Mit Beschämung und Rührung hatte Goldmund zugehört. »Ich danke Euch von Herzen«, rief er. »Ich bin heimatlos und werde mich hier in der Stadt ebenso durchzubringen wissen wie draußen in den Wäldern. Ich verstehe, daß Ihr nicht Sorge und Verantwortung für mich wie für einen Lehrbuben übernehmen wollet. Ich halte es für ein großes Glück, bei Euch lernen zu dürfen. Von Herzen danke ich Euch, daß Ihr das an mir tun wollt.«