Endlich war das Ziel erreicht, und Goldmund betrat die ersehnte Stadt durch dasselbe Tor, durch das er einst, vor so viel Jahren, zum erstenmal geschritten war, um seinen Meister zu suchen. Manche Nachricht aus der Bischofsstadt hatte ihn schon unterwegs im Näherkommen erreicht; er wußte, daß auch dort die Pest gewesen war und vielleicht noch immer herrschte, man hatte ihm von Unruhen und Volksaufständen erzählt und daß ein kaiserlicher Statthalter gekommen sei, um Ordnung zu schaffen, Notgesetze zu geben und Gut und Leben der Bürger zu schützen. Denn der Bischof hatte die Stadt gleich nach dem Ausbruch der Seuche verlassen und residierte fern in einem seiner Schlösser auf dem Lande. An allen diesen Nachrichten hatte der Wanderer wenig teilgenommen. Wenn nur die Stadt noch stand und die Werkstätte, wo er arbeiten wollte! Alles andere war ihm nicht wichtig. Als er ankam, war die Pest erloschen, man erwartete die Rückkehr des Bischofs und freute sich auf den Abzug des Statthalters und die Wiederkehr des gewohnten friedlichen Lebens.
Als Goldmund die Stadt wiedersah, zog ihm eine nie zuvor erlebte Woge von Wiedersehen und Heimatgefühl durchs Herz, und er schnitt ein ungewohnt strenges Gesicht, um sich zu bemeistern. Oh, dies alles war noch da: die Tore, die schönen Brunnen, der alte klotzige Turm der Kathedrale und der schlanke neue der Marienkirche, das helle Geläut von Sankt Lorenz, der große strahlende Marktplatz! O wie gut, daß das alles auf ihn gewartet hatte! Hatte er nicht unterwegs einmal geträumt, daß er hier ankomme und alles fremd und verändert vorfinde, teils zerstört und in Trümmern, teils unkenntlich durch neue Bauten und wunderliche unerfreuchliche Zeichen? Die Tränen waren ihm nahe, während er durch die Gassen ging, Haus um Haus wiedererkennend. Waren am Ende nicht doch die Seßhaften zu beneiden, in ihren hübschen sicheren Häusern, in ihrem befriedeten Bürgerleben, in ihrem beruhigenden und stärkenden Gefühl von Heimathaben, von Zuhausesein in Stube und Werkstatt, zwischen Weib und Kind, Gesinde und Nachbarschaft?
Es war Spätnachmittag, und an der Sonnseite der Gasse standen die Häuser, die Wirts- und Zunftschilder, die geschnitzten Türen und die Blumentöpfe warm bestrahlt, nichts erinnerte daran, daß auch in dieser Stadt der wütende Tod und der irre Angstwahn der Menschen regiert habe. Kühl, hellgrün und hellblau strömte unter den tönenden Gewölben der Brücke der klare Fluß; Goldmund setzte sich eine Weile auf die Brüstung der Ufermauer, noch immer glitten unten im grünen Kristall die dunklen schattenhaften Fische hin oder standen regungslos, die Nasen gegen die Strömung gekehrt, noch immer blinkte aus den Dämmerungen der Tiefe hier und dort jenes schwache Goldleuchten herauf, das soviel verspricht und das Träumen so sehr begünstigt. Auch in anderen Wassern gab es das, und auch andere Brücken und Städte waren hübsch anzuschauen, und doch schien ihm, er habe seit sehr langer Zeit dergleichen nicht mehr gesehen und Ähnliches nicht mehr gefühlt.
Zwei Metzgerburschen trieben lachend ein Kalb vorüber, sie wechselten Blicke und Späße mit einer Magd, die über ihnen in einer Laube Wäsche abnahm. Wie schnell doch alles vorüberging! Vor kurzem noch hatten hier die Pestfeuer gebrannt und die scheußlichen Spittelknechte gewaltet, und jetzt lief das Leben wieder weiter, man lachte und machte Spaße; und ihm selbst ging es nicht anders, da saß er und war entzückt vom Wiedersehen und fühlte sich dankbar und hatte sogar ein Herz für die Seßhaften, als ob es kein Elend und keinen Tod, keine Lene und keine Judenprinzessin gegeben hätte. Lächelnd stand er auf und ging weiter, und erst als er sich der Gasse des Meisters Niklaus näherte und den Weg wieder ging, den er vor Zeiten jahrelang jeden Tag zu seiner Arbeit gegangen war, begann sein Herz beklommen und unruhig zu werden. Er ging schneller, er wollte heut noch beim Meister vorsprechen und Bescheid wissen, es ertrug keinen Aufschub mehr, es hätte ihm ganz unmöglich geschienen, noch bis morgen zu warten. Sollte der Meister ihm etwa noch böse sein? Das war so lange her, es konnte keine Bedeutung mehr haben; und wenn es doch so sein sollte, so würde er es überwinden. Wenn der Meister nur noch da war, er und die Werkstatt, dann war alles gut. Eilig, als ob er noch in letzter Stunde etwas versäumen könnte, schritt er auf das wohlbekannte Haus zu, faßte nach dem Türgriff und erschrak heftig, als er das Tor geschlossen fand. Konnte das Böses bedeuten? Früher war es nie vorgekommen, daß diese Tür am hellen Tag verschlossen gehalten wurde. Dröhnend ließ er den Klopfer fallen und wartete. Es war ihm plötzlich sehr bang ums Herz geworden.
Es kam dieselbe alte Magd, die ihn einst beim ersten Eintritt in dies Haus empfangen hatte. Sie war nicht häßlicher geworden, aber älter und unfreundlicher, und sie erkannte Goldmund nicht. Mit banger Stimme fragte er nach dem Meister. Sie blickte ihn blöde und mißtrauisch an.
»Meister? Es gibt hier keinen Meister. Geht nur weiter, Mann, es wird niemand eingelassen.«
Sie wollte ihn aus dem Tor zurückdrängen, er nahm sie am Arm und sehne auf sie ein: »So rede doch, Margrit, um Gottes willen! Ich bin Goldmund, kennst du mich denn nicht? Ich muß zum Meister Niklaus.«
Aus den weitsichtigen, halb erloschenen Augen schimmerte kein Willkomm.
»Es gibt hier keinen Meister Niklaus mehr«, sagte sie ablehnend, »der ist tot. Machet, daß Ihr weiterkommt, ich kann hier nicht stehen und schwatzen.«
Goldmund, während alles in ihm zusammenstürzte, drückte die Alte beiseite, die schreiend hinter ihm herlief, und eilte durch den dunklen Gang gegen die Werkstatt. Sie war geschlossen. Von der klagenden und schimpfenden Alten gefolgt, lief er die Treppe hinauf, in der Dämmerung sah er im bekannten Räume die Figuren stehen, die Niklaus gesammelt hatte. Mit lauter Stimme rief er nach Jungfer Lisbeth.
Es ging die Stubentür, und es erschien Lisbeth, und als er sie, erst beim zweiten Hinblicken, erkannte, drückte ihm der Anblick das Herz zusammen. War schon alles hier in diesem Hause, seit dem Augenblick, da er zu seinem Schrecken das Tor verschlossen gefunden hatte, gespenstisch und verzaubert und wie in einem beklommenen Traum gewesen, so fuhr ihm jetzt beim Anblick der Lisbeth wirklich ein Schaudern über den Rücken. Aus der schönen stolzen Lisbeth war eine scheue, gebückte Jungfer geworden, mit einem gelben, kränklichen Gesicht, in einem schwarzen schmucklosen Kleid, mit unsicherem Blick und ängstlicher Haltung.
»Verzeihet«, sagte er, »Margrit wollte mich nicht hereinlassen. Kennet Ihr mich nicht? Ich bin doch Goldmund. Ach, sagt mir: ist es denn wahr, daß Euer Vater gestorben ist?« An ihrem Blick sah er, daß sie ihn jetzt erkenne, und sah auch sogleich, daß er hier nicht in gutem Andenken stehe.
»So, Ihr seid Goldmund?« sagte sie, und in der Stimme erkannte er etwas von ihrer früheren hochmütigen Art. »Ihr habet Euch umsonst herbemüht. Mein Vater ist gestorben.«
»Und die Werkstatt?« fuhr es ihm heraus.
»Die Werkstatt? Ist geschlossen. Wenn Ihr Arbeit sucht, müßt Ihr anderswohin gehen.«
Er versuchte, sich zusammenzunehmen.
»Jungfer Lisbeth«, sagte er freundlich, »ich suche keine Arbeit, ich wollte nur Grüßgott sagen, dem Meister und Euch. Es betrübt mich so sehr, daß ich das hören muß! Ich sehe, daß Ihr es schwer gehabt habet. Wenn Euch ein dankbarer Schüler Eures Vaters irgendeinen Dienst tun kann, so sagt es, es wäre mir eine Freude. Ach, Jungfer Lisbeth, es will mir das Herz brechen, daß ich Euch so – so tief im Leid finde.«
Sie zog sich in die Stubentür zurück.
»Danke«, sagte sie zögernd. »Ihr könnet ihm keinen Dienst mehr tun und mir auch nicht. Margrit wird Euch hinausführen.«
Schlecht klang ihre Stimme, halb böse, halb ängstlich. Er spürte: hätte sie Mut gehabt, sie hätte ihn schimpflich hinausgewiesen.
Schon war er unten, schon hatte die Alte das Haustor hinter ihm zugeschlagen und die Riegel gestoßen. Er hörte das harte Anschlagen der beiden Riegel noch, es klang ihm wie das Zuschlagen eines Sargdeckels. Langsam kehrte er zu der Ufermauer zurück und setzte sich wieder an den alten Platz überm Flusse. Die Sonne war untergegangen, kalt zog es vom Wasser herauf, kalt war der Stein, auf dem er saß. Die Ufergasse war still geworden, am Brückenpfeiler rauschte die Strömung auf, dunkel lag die Tiefe, kein Goldschimmer blinkte mehr herauf. Oh, dachte er, daß ich jetzt über die Mauer fiele und im Fluß verschwände! Wieder war die Welt voll von Tod. Eine Stunde verging, und die Dämmerung war Nacht geworden. Endlich konnte er weinen. Er saß und weinte, über die Hände und Knie fielen ihm die warmen Tropfen. Er weinte um den toten Meister, er weinte um die verlorene Schönheit Lisbeths, er weinte um Lene, um Robert, um das Judenmädchen, um seine verwelkte, vergeudete Jugend.
Spät fand er sich in einer Weinschenke ein, wo er einst oft mit Kameraden gezecht hatte. Die Wirtin erkannte ihn, er bat um ein Stück Brot, sie gab es ihm und gab ihm freundlich auch einen Becher Wein. Er brachte weder Brot noch Wein hinunter. Auf einer Bank in der Schenke schlief er die Nacht. Die Wirtin weckte ihn am Morgen, er sagte Dank und ging, unterwegs aß er das Stück Brot.
Er ging zum Fischmarkt, da stand das Haus, in dem er damals seine Kammer gehabt hatte. Neben dem Brunnen hielten ein paar Fischweiber ihre lebende Ware feil, er starrte in die Bottiche zu den schönen schimmernden Tieren hinein. Oft hatte er dies früher gesehen, es fiel ihm wieder ein, daß er oft mit den Fischen Mitleid gehabt hatte und wütend auf die Weiber und Käufer gewesen war. Einstmals, so erinnerte er sich, hatte er sich auch einen Morgen hier so herumgetrieben, hatte die Fische bewundert und bemitleidet und war sehr traurig gewesen, es war viel Zeit seitdem vergangen und viel Wasser den Fluß hinabgeronnen. Er war sehr traurig gewesen, das wußte er noch wohl, aber was es war, worüber er so traurig gewesen war, wußte er nicht mehr. So war es: auch das Traurige verging, auch die Schmerzen und Verzweiflungen vergingen, ebenso wie die Freuden, sie gingen vorüber, verblaßten, verloren ihre Tiefe und ihren Wert, und schließlich kam eine Zeit, da konnte man sich nicht mehr darauf besinnen, was es gewesen war, das einem einmal so weh getan hatte. Auch die Schmerzen verblühten und verwelkten. Würde auch sein heutiger Schmerz einmal verwelken und wertlos sein, seine Verzweiflung darüber, daß der Meister tot und im Groll gegen ihn gestorben war und daß keine Werkstatt ihm offenstand, um das Glück des Schaffens zu kosten und sich die Bilderlast von der Seele zu wälzen? Ja, ohne Zweifel würde auch dieser Schmerz, auch diese bittere Not alt werden und müde werden, auch sie würde er vergessen. Nichts hatte Bestand, auch nicht das Leid.
Indem er auf die Fische starrte und diesen Gedanken hingegeben war, hörte er eine leise Stimme freundlich seinen Namen sagen.
»Goldmund«, rief es schüchtern, und als er hinschaute, stand da ein etwas zartes und kränkliches junges Mädchen, aber mit schönen dunklen Augen, das ihn angerufen hatte. Er kannte es nicht.
»Goldmund! Du bist es doch?« sagte die schüchterne Stimme. »Seit wann bist du wieder in der Stadt? Kennst du mich nicht mehr? Ich bin doch Marie.«
Aber er kannte sie nicht.
Sie mußte ihm erzählen, daß sie die Tochter seiner einstigen Hauswirte sei und daß sie einst, in jener Morgenfrühe vor seiner Abreise, ihm in der Küche eine Milch gekocht habe. Sie wurde rot, als sie es erzählte. Ja, es war Marie, es war das dürftige Kind mit dem kranken Hüftgelenk, das damals so lieb und schüchtern für ihn gesorgt hatte. Er wußte nun alles wieder: sie hatte am kühlen Morgen auf ihn gewartet und war so traurig über seine Abreise gewesen, sie hatte ihm Milch gekocht, und er hatte ihr einen Kuß gegeben, den hatte sie so still und feierlich empfangen wie ein Sakrament. Nie mehr hatte er an sie gedacht. Damals war sie noch ein Kind gewesen. Jetzt war sie groß geworden und hatte sehr schöne Augen, aber sie hinkte noch immer und sah etwas verkümmert aus. Er gab ihr die Hand. Es freute ihn, daß doch jemand in dieser Stadt ihn noch kannte und liebhatte.
Marie nahm ihn mit, er wehrte sich nur schwach. Bei ihren Eltern in der Stube, wo sein Bild noch hing und sein rotes Rubinglas überm Kamin auf dem Bord stand, mußte er zu Mittag essen und wurde eingeladen, ein paar Tage dazubleiben, man freue sich, ihn einmal wiederzusehen. Hier erfuhr er auch, was im Haus seines Meisters geschehen war. Niklaus war nicht an der Pest gestorben, sondern die schöne Lisbeth war es, die die Pest bekam, sie lag todkrank, und ihr Vater pflegte sich an ihr zu Tode, er starb, noch eh sie ganz genesen war. Sie wurde gerettet, nur aber war ihre Schönheit dahin.
»Die Werkstatt steht leer«, sagte der Hausherr, »und für einen tüchtigen Bildschnitzer wäre da eine schöne Heimat bereit und Geld genug. Überleg dir das, Goldmund! Sie würde nicht nein sagen. Sie hat keine Wahl mehr.«
Er erfuhr auch dies und jenes andere aus der Pestzeit, daß der Pöbel zuerst ein Spital angezündet und später einige Häuser von Reichen erstürmt und geplündert habe, eine Weile sei keine Ordnung und Sicherheit mehr in der Stadt gewesen, da der Bischof geflohen sei. Da habe der Kaiser, der gerade in der Nähe war, einen Statthalter hergeschickt, den Grafen Heinrich. Nun ja, es sei ein schneidiger Herr, er habe mit seinen paar Reitern und Soldaten Ordnung in der Stadt geschafft. Aber nun sei es wohl Zeit, daß sein Regiment aufhöre, man erwarte den Bischof zurück. Der Graf habe der Bürgerschaft manches zugemutet, und auch von seiner Kebse habe man genug, der Agnes, die sei schon ein richtiger Teufelsbraten. Na, bald werden sie abziehen, der Gemeinderat habe es längst satt, statt seines guten Bischofs so einen Hof- und Kriegsmann auf dem Halse zu haben, der des Kaisers Günstling sei und beständig Gesandtschaften und Abordnungen empfange wie ein Fürst.
Nun wurde auch der Gast nach seinen Erlebnissen gefragt. »Ach«, sagte er traurig, »davon spricht man nicht. Ich bin gewandert und gewandert, und überall war die Seuche und lagen die Toten herum, und überall waren die Leute verrückt und böse vor Angst. Ich bin am Leben geblieben, vielleicht vergißt man das alles einmal wieder. Nun komme ich zurück, und mein Meister ist tot! Laßt mich ein paar Tage bleiben und ausruhen, dann geh ich weiter.«
Er blieb nicht des Ausruhens wegen. Er blieb, weil er enttäuscht und unentschlossen war, weil Erinnerungen an glücklichere Zeiten ihm die Stadt lieb machten und weil die Liebe der armen Marie ihm wohltat. Er konnte sie nicht erwidern, er konnte ihr nichts geben als Freundlichkeit und Mitleid, aber ihre stille, demütige Anbetung wärmte ihn doch. Mehr aber als alles dieses hielt ihn an diesem Ort das brennende Bedürfnis fest, einmal wieder Künstler zu sein, sei es auch ohne Werkstatt, sei es auch nur mit Notbehelfen. Ein paar Tage lang tat Goldmund nichts anderes als zeichnen. Marie hatte ihm Papier und Feder verschafft, nun saß er in seiner Kammer und zeichnete Stunde um Stunde, füllte die großen Bogen bald mit eilig gekritzelten, bald mit liebevoll zarten Figuren, ließ das überfüllte Bilderbuch seines Innern hinüberwandern aufs Papier. Er zeichnete viele Male das Gesicht Lenes, wie es nach dem Tod jenes Landstreichers voll Befriedigung, Liebe und Mordlust gelächelt hatte, und das Gesicht Lenes, wie es in ihrer letzten Nacht geworden war, begriffen schon im Hinüberschmelzen ins Formlose, in der Rückkehr zur Erde. Er zeichnete einen kleinen Bauernbuben, den er einst tot auf der Schwelle bei seinen Eltern hatte liegen sehen, mit geballten Fäustchen. Er zeichnete einen Karren voll Leichen, drei mühsam ziehende Klepper davor, Schinderknechte mit langen Stangen daneben, die Augen finster aus den Schlitzen schwarzer Pestmasken schielend. Er zeichnete immer wieder Rebekka, das schlanke schwarzäugige Judenkind, ihren schmalen stolzen Mund, ihr Gesicht voll Schmerz und voll Entrüstung, ihre holde junge Gestalt, die so sehr zur Liebe geschaffen schien, ihren hochmütigen bitteren Mund. Er zeichnete sich selbst, als Wanderer, als Liebenden, als Flüchtling vor dem mähenden Tod, als Tänzer bei den Pestorgien der Lebenshungrigen. Hingegeben hing er überm weißen Papier, strich das hochmütige feste Gesicht der Jungfer Lisbeth hin, so wie er sie früher gekannt hatte, die Fratze der alten Magd Margrit, das geliebte und gefürchtete Gesicht des Meisters Niklaus. Mehrmals auch deutete er mit dünnen, ahnenden Strichen eine große Frauengestalt an, die Erdenmutter, sitzend mit den Händen im Schoß, im Gesicht unter schwermütigen Augen ein Hauch von Lächeln. Unendlich wohl tat ihm dies Strömen, das Gefühl in der zeichnenden Hand, das Herrwerden über die Gesichte. Er zeichnete in wenigen Tagen alle die Bogen voll, die ihm Marie besorgt hatte. Vom letzten Bogen schnitt er ein Stück ab und zeichnete darauf, mit sparsamen Strichen, das Gesicht Maries, mit den schönen Augen, mit dem entsagenden Mund. Das schenkte er ihr. Durch das Zeichnen hatte er das Gefühl von Schwere, Stauung und Uberfülltsein in seiner Seele gelöst und erleichtert. Solang er zeichnete, hatte er nicht gewußt, wo er sei, seine Welt hatte aus nichts bestanden als dem Tisch, dem weißen Papier und abends der Kerze. Jetzt erwachte er, erinnerte sich der jüngsten Erlebnisse, sah unerbittlich neue Wanderschaft vor sich und begann durch die Stadt zu schweifen mit einer wunderlich gespaltenen Empfindung halb von Wiedersehen, halb von Abschiednehmen.
Auf einem dieser Gänge begegnete er einer Frau, deren Anblick allen seinen aus der Ordnung gekommenen Gefühlen eine neue Mitte gab. Es war eine Frau zu Pferde, ein großes hellblondes Weib mit neugierigen, etwas kühlen Blauaugen, mit festen, straffen Gliedern und einem blühenden Gesicht voll Lust zu Genuß und Macht, voll Selbstgefühl und witternder Sinnenneugierde. Etwas herrisch und hochmütig hielt sie sich auf ihrem braunen Pferde, ans Befehlen gewöhnt, doch nicht verschlossen oder abwehrend, sondern unter den etwas kühlen Augen standen bewegliche Nüstern allen Düften der Welt offen, und der große lockere Mund schien des Nehmens und Gebens im höchsten Grade fähig. Im Augenblick, da Goldmund sie sah, wurde er völlig wach und voll Begierde, sich mit diesem stolzen Weib zu messen. Diese Frau zu erobern, schien ihm ein edles Ziel, und auf dem Weg zu ihr den Hals zu brechen, hätte ihm kein übler Tod geschienen. Alsbald empfand er, daß diese blonde Löwin seinesgleichen sei, an Sinnen und Seele reich, allen Stürmen zugänglich, ebenso wild wie zart, aus uralt ererbter Bluterfahrung der Leidenschaften kundig.
Sie ritt vorüber, er sah ihr nach, zwischen krausem Blondhaar und blausamtenem Kragen sah er ihren festen Nacken ragen, stark und stolz und doch von der zartesten Kinderhaut umspannt. Sie war, so wollte ihm scheinen, die schönste Frau, die er gesehen hatte. Diesen Nacken wollte er in seine Hand zu fassen bekommen und ihren Augen das blaukühle Geheimnis entreißen. Wer sie sei, war nicht schwer zu erfragen. Alsbald erfuhr er, sie wohne im Schloß und sei Agnes, die Geliebte des Statthalters; es setzte ihn nicht in Erstaunen, sie hätte die Kaiserin selbst sein können. An einem Brunnenbecken blieb er stehen und suchte sein Spiegelbild. Das Bild paßte brüderlich zum Bild der blonden Frau, nur war es gar sehr verwildert. Noch in derselben Stunde suchte er einen Barbier auf, den er kannte, und brachte ihn mit guten Worten dazu, daß er ihm Haar und Bart kurz schnitt und sauber strählte.
Zwei Tage dauerte die Verfolgung. Agnes trat aus dem Schloß, und der fremde Blonde stand schon beim Tor und sah ihr bewundernd in die Augen. Agnes ritt ums Bollwerk, und aus den Erlen trat der Fremde. Agnes war beim Goldschmied, und beim Verlassen der Werkstatt begegnete sie dem Fremden. Sie blitzte ihn kurz aus den herrischen Augen an, dabei spielte es bebend um ihre Nasenflügel. Am andern Morgen, da sie ihn beim ersten Ausritt wieder bereitstehen fand, lächelte sie ihm ihre Herausforderung zu. Auch den Grafen sah er, den Statthalter; es war ein stattlicher und kühner Mann, er war ernst zu nehmen; aber er hatte schon Grau im Haar und hatte Sorgen im Gesicht, Goldmund fühlte sich ihm überlegen.
Diese beiden Tage machten ihn glücklich, er strahlte vor wiedergewonnener Jugend. Schön war es, sich dieser Frau zu zeigen und ihr den Kampf anzubieten. Schön war es, seine Freiheit an diese Schöne zu verlieren. Schön und tief aufreizend war das Gefühl, sein Leben auf diesen einen Wurf zu setzen.
Am Morgen des dritten Tages kam Agnes zu Pferde aus dem Schloßtor, von einem berittenen Knecht begleitet. Ihre Augen blickten sogleich nach dem Verfolger aus, kampflustig und etwas unruhig. Richtig, er war schon da. Sie schickte den Knecht mit einem Auftrag fort, allein ritt sie langsam voran, ritt langsam zum untern Brückentor hinaus und über die Brücke. Nur einmal blickte sie zurück. Sie sah den Fremden folgen. Am Weg zur Wallfahrtskirche Sankt Veit, wo es um diese Zeit sehr einsam war, erwartete sie ihn. Sie mußte eine halbe Stunde warten, der Fremde ging langsam, er wollte nicht außer Atem kommen. Frisch und lächelnd kam er gegangen, ein Zweigchen mit einer hellroten Hagebutte im Mund. Sie war abgestiegen und hatte das Pferd angebunden, sie stand an den Efeu der steilen Stützmauer gelehnt und blickte dem Verfolger entgegen. Aug in Auge mit ihr blieb er stehen und zog die Mütze.
»Warum läufst du mir nach?« fragte sie, »was willst du von mir?«
»Oh«, sagte er, »ich möchte dir viel lieber etwas schenken, als etwas von dir annehmen. Ich möchte mich dir zum Geschenk anbieten, schöne Frau, mach dann mit mir, was du willst.«
»Gut, ich will sehen, was sich mit dir machen läßt. Aber wenn du gedacht hast, hier draußen gefahrlos ein Blümchen pflücken zu können, dann hast du dich getäuscht. Ich kann nur Männer lieben, die im Notfall ihr Leben daran wagen.«
»Du hast über mich zu befehlen.«
Langsam nahm sie von ihrem Halse eine dünne Goldkette und reichte sie ihm hin. »Wie heißt du denn?«
»Goldmund.«
»Schön, Goldmund; ich werde schmecken, wie golden dein Mund ist. Hör mir gut zu: du wirst diese Kette gegen Abend im Schloß herzeigen und sagen, du habest sie gefunden. Du gibst sie nicht aus den Händen, ich möchte sie selbst von dir zurückempfangen. Du kommst so, wie du bist, mögen sie dich für einen Bettler halten. Wenn einer vom Gesinde dich anschnauzt, bleibst du ruhig. Du mußt wissen, daß ich nur zwei sichere Leute im Schloß habe: den Reitknecht Max und meine Zofe Berta. Einen von den beiden mußt du erreichen und dich zu mir führen lassen. Gegen alle andern im Schloß, den Grafen eingerechnet, benimm dich vorsichtig, sie sind Feinde. Du bist gewarnt. Es kann dir das Leben kosten.«
Sie streckte ihm die Hand hin, lächelnd nahm er sie, küßte sie sanft, rieb leise seine Wange an ihr. Dann steckte er die Kette zu sich und ging davon, bergabwärts dem Fluß und der Stadt entgegen. Die Weinberge waren schon kahl, von den Bäumen wehte ein gelbes Blatt ums andere. Goldmund schüttelte lächelnd den Kopf, als er, auf die Stadt hinunterblickend, sie so freundlich und liebenswert fand. Vor wenig Tagen noch war er so traurig gewesen, traurig sogar darüber, daß auch Not und Leid vergänglich sind. Und nun waren sie in der Tat schon vergangen, hingesunken wie das goldene Laub vom Ast. Ihm schien, noch niemals habe die Liebe ihm so gestrahlt wie aus dieser Frau, deren hohe Gestalt und blonde lachende Lebensfülle ihn an das Bild seiner Mutter erinnerte, wie er es damals, als Knabe in Mariabronn, im Herzen getragen hatte. Vorgestern noch hätte er es nicht für möglich gehalten, daß ihm noch einmal die Welt so froh ins Auge lachen, daß er noch einmal den Strom des Lebens, der Freude, der Jugend so voll und drängend durch sein Blut könnte strömen fühlen. Welches Glück, daß er noch am Leben war, daß in all diesen grausigen Monaten der Tod ihn verschont hatte!
Am Abend fand er sich im Schlosse ein. Im Schloßhof ging es lebhaft zu, Pferde wurden abgesattelt, Boten liefen, ein kleiner Zug von Priestern und geistlichen Würdenträgern wurde von Dienern durchs innere Tor und die Treppe hinangeführt. Goldmund wollte ihnen nach, der Türsteher hielt ihn zurück. Er holte die Goldkette hervor und sagte, er sei angewiesen, sie niemandem auszuhändigen als der gnädigen Frau selbst oder ihrer Zofe. Man gab ihm einen Diener mit, lange mußte er in den Gängen warten. Endlich erschien eine hübsche behende Frau, die ging an ihm vorbei, fragte leise: »Seid Ihr Goldmund?« und winkte ihm, ihr zu folgen. Still verschwand sie durch eine Tür, erschien nach einer Weile wieder und winkte ihn herein.
Er kam in ein kleines Zimmer, das duftete stark nach Pelz und nach süßem Parfüm und hing voll von Kleidern und Mänteln, Frauenhüte staken auf hölzernen Bolzen, allerlei Schuhwerk stand in einer offenen Truhe. Hier stand er und wartete, wohl eine halbe Stunde, roch an den duftenden Kleidern, fuhr mit der Hand über die Pelze und lächelte neugierig über all das hübsche Zeug, das da herumhing. Endlich ging die innere Tür, und es kam nicht die Zofe, es kam Agnes selbst, in einem hellblauen Kleid, einen weißen Pelzbesatz am Halse. Langsam kam sie auf den Wartenden zugegangen, Schritt für Schritt, ernst blickten ihm die kühlblauen Augen entgegen.
»Du hast warten müssen«, sagte sie leise. »Ich glaube, wir sind jetzt sicher. Es ist eine Abordnung von Geistlichen beim Grafen, er speist mit ihnen und wird wohl noch lange Verhandlungen mit ihnen haben, die Sitzungen mit den Priestern dauern immer lange. Die Stunde gehört dir und mir. Sei willkommen, Goldmund.«
Sie neigte sich ihm entgegen, ihre verlangenden Lippen näherten sich den seinen, schweigend begrüßten sie einander im ersten Kuß. Langsam schloß er seine Hand um ihren Nacken. Sie führte ihn durch die Tür, in ihr Schlafgemach, das war hoch und hell von Kerzen erleuchtet. Auf einem Tische stand eine Mahlzeit gerüstet, sie setzten sich, sorglich legte sie ihm Brot und Butter vor und etwas Fleisch und schenkte ihm weißen Wein in ein schönes bläuliches Glas. Sie aßen, sie tranken beide aus demselben bläulichen Kelch, ihre Hände spielten probend miteinander.
»Wo kommst du denn hergeflogen«, fragte sie ihn, »mein schöner Vogel? Bist du ein Krieger, oder ein Spielmann, oder bist du bloß ein armer Landfahrer?«
»Ich bin alles, was du willst«, lachte er leise, »ich bin ganz der Deine. Ich bin ein Spielmann, wenn du willst, und du bist meine süße Laute, und wenn ich die Finger um deinen Hals lege und auf dir spiele, hören wir die Engel singen. Komm, Herz, ich bin nicht gekommen, um deine guten Kuchen zu essen und deinen weißen Wein zu trinken, ich bin nur deinetwegen gekommen.«
Leise zog er ihr den weißen Pelz vom Halse und schmeichelte ihr die Kleider vom Leibe. Mochten draußen die Höflinge und Pfaffen ihre Beratungen abhalten, mochten die Diener schleichen und der dünne Sichelmond vollends hinter die Bäume hinabschwimmen, die Liebenden wußten nichts davon. Ihnen blühte das Paradies, zueinander gezogen und ineinander verschlungen verloren sie sich in seine duftende Nacht, sahen seine weißen Blumengeheimnisse dämmern, pflückten mit zärtlichen und dankbaren Händen seine ersehnten Früchte. Noch nie hatte der Spielmann auf einer solchen Laute gespielt, noch nie hatte die Laute unter so starken und kundigen Fingern geklungen.
»Goldmund«, flüsterte sie ihm glühend ins Ohr, »oh, was bist du für ein Zauberer! Von dir, du süßer Goldfisch, möchte ich ein Kind haben. Und noch lieber möchte ich an dir sterben. Trink mich aus, Geliebter, schmilz mich, töte mich!«
Tief in seiner Kehle summte ein Ton des Glückes, als er die Härte in ihren kühlen Augen hinschmelzen und schwach werden sah. Wie ein zärtliches Zittern und Sterben flog der Schauer in der Tiefe ihrer Augen vorüber, erlöschend wie der Silberschauder auf der Haut eines sterbenden Fisches, mattgolden wie das Aufblinken jener Zauberschimmer tief im Flusse. Alles nur irgend dem Menschen erlebbare Glück schien ihm in diesen Augenblick zusammengeronnen.
Gleich darauf, während sie mit geschlossenen Augen bebend lag, erhob er sich leise und schlüpfte in seine Kleider. Mit einem Seufzer sagte er ihr ins Ohr: »Mein schöner Schatz, ich verlasse dich. Ich mag nicht sterben, ich mag nicht von diesem Grafen totgeschlagen werden. Erst will ich noch einmal dich und mich so selig machen, wie wir es heut gewesen sind. Noch einmal, noch viele Male!«
Schweigend blieb sie liegen, bis er angekleidet war. Nun schlug er sachte die Decke über sie und küßte ihre Augen.
»Goldmund«, sagte sie, »oh, daß du fortgehen mußt! Komm morgen wieder! Wenn Gefahr ist, dann lasse ich dich warnen. Komm wieder, komm morgen wieder!«
Sie zog an einem Glockenstrang. In der Tür zur Kleiderkammer empfing ihn die Zofe und brachte ihn aus dem Schloß. Gern hätte er ihr ein Goldstück gegeben; er schämte sich einen Augenblick seiner Armut.
Gegen Mitternacht stand er auf dem Fischmarkt und sah am Hause empor. Es war spät, niemand mehr würde wach sein, wahrscheinlich würde er die Nacht draußen bleiben müssen. Zu seinem Erstaunen fand er die Haustür offen. Leise schlich er hinein und schloß hinter sich das Tor. Der Weg zu seiner Kammer führte durch die Küche. Dort war Licht. Bei einem winzigen Öllämpchen saß Marie am Küchentisch. Eben war sie eingenickt, nachdem sie zwei, drei Stunden gewartet hatte. Sie erschrak und sprang auf, als er eintrat.
»Oh«, sagte er, »Marie, bist denn du noch auf?«
»Ich bin auf«, sagte sie. »Sonst hättest du das Haus verschlossen gefunden.«
»Es tut mir leid, Marie, daß du gewartet hast. Es ist so spät geworden. Sei mir nicht böse.«
»Ich bin dir nie böse, Goldmund. Ich bin nur ein wenig traurig.«
»Traurig sollst du nicht sein. Warum denn traurig?«
»Ach, Goldmund, ich möchte wohl, daß ich gesund und schön und stark wäre. Dann müßtest du nicht in der Nacht in fremde Häuser gehen und andere Frauen liebhaben. Dann würdest du wohl auch einmal bei mir bleiben und mit mir ein wenig lieb sein.«
Keine Hoffnung klang in ihrer sanften Stimme, und keine Bitterkeit, nur Trauer. Verlegen stand er bei ihr, sie tat ihm so leid, er wußte nichts zu sagen. Mit vorsichtiger Hand faßte er nach ihrem Kopf und streichelte ihr Haar, und sie stand und hielt still, fühlte schauernd seine Hand auf ihrem Haar, weinte ein wenig, richtete sich wieder auf und sagte schüchtern:
»Geh nun zu Bett, Goldmund. Ich habe dummes Zeug gesprochen, ich war so schläfrig. Gute Nacht.«