Siebzehntes Kapitel

»Gelobt sei Jesus Christus«, sagte der Pater und setzte den Leuchter auf den Tisch. Murmelnd responsierte Goldmund, vor sich niederstarrend.

Der Geistliche schwieg. Wartend stand er da und schwieg, bis Goldmund unruhig wurde und seine Augen forschend auf den Mann richtete, der vor ihm stand. Dieser Mann, so sah er jetzt zu seiner Verwirrung, trug nicht nur die Tracht der Patres von Mariabronn, er trug auch die Abzeichen der Abtswürde.

Und nun blickte er dem Abt ins Gesicht. Es war ein hageres Gesicht, fest und klar geschnitten, mit sehr dünnen Lippen. Es war ein Gesicht, das er kannte. Wie verzaubert blickte Goldmund in dies Gesicht, das ganz von Geist und Wille geformt schien. Mit unsicherer Hand griff er nach dem Leuchter, hob ihn auf und näherte ihn dem fremden Gesicht, um die Augen darin sehen zu können. Er sah sie, und der Leuchter zitterte in seiner Hand, als er ihn zurückstellte.

»Narziß!« flüsterte er kaum hörbar. Es begann sich alles um ihn im Kreis zu drehen.

»Ja, Goldmund, ich bin einst Narziß gewesen, ab, er ich habe den Namen schon vor sehr langer Zeit abgelegt, du hast es wohl vergessen. Seit meiner Einkleidung heiße ich Johannes.«

Goldmund war bis ins Herz erschüttert. Plötzlich hatte sich die ganze Welt verändert, und das plötzliche Zusammenstürzen seiner übermenschlichen Anspannung drohte ihn zu ersticken, er zitterte, und Schwindelgefühl ließ ihn seinen Kopf wie eine leere Blase empfinden, sein Magen zog sich zusammen. Hinter den Augen brannte es wie andrängendes Schluchzen. Aufschluchzen und zusammensinken, in Tränen, in Ohnmacht – das war es, wonach alles in ihm in diesem Augenblick begehrte.

Aber es stieg aus der durch Narzissens Anblick beschworenen Tiefe der Jugenderinnerung eine Mahnung in ihm auf: einmal, als Knabe, hatte er vor diesem schönen strengen Antlitz, vor diesen dunklen allwissenden Augen geweint und sich gehen lassen. Er durfte das nicht wieder tun. Da erschien nun wie ein Gespenst im wunderlichsten Augenblick seines Lebens dieser Narziß wieder, wahrscheinlich, um ihm das Leben zu retten – und nun sollte er wieder vor ihm in Schluchzen ausbrechen oder in Ohnmacht fallen? Nein, nein, nein. Er hielt sich. Er bändigte sein Herz, er zwang seinen Magen, er jagte den Schwindel aus seinem Kopf. Er durfte jetzt keine Schwäche zeigen. Mit künstlich beherrschter Stimme gelang es ihm zu sagen: »Du mußt mir erlauben, dich noch immer Narziß zu nennen.«

»Nenne mich so, Lieber. Und willst du mir nicht die Hand geben?«

Wieder zwang sich Goldmund. Mit einem knabentrotzigen und leicht spöttischen Ton, ganz wie manchmal in den Schülerzeiten, brachte er seine Antwort heraus.

»Entschuldige, Narziß«, sagte er kühl und ein wenig blasiert. »Ich sehe, du bist Abt geworden. Ich aber bin noch immer ein Landstreicher. Und außerdem wird unsere Unterhaltung, so erwünscht sie mir ist, leider nicht lange dauern dürfen. Denn schau, Narziß, ich bin zum Galgen verurteilt, und in einer Stunde, oder früher, werde ich wohl gehängt sein. Ich sage es nur, um dir die Situation klarzumachen.«

Narziß verzog keine Miene. Das bißchen Knaben- und Renommistentum in des Freundes Haltung machte ihm großen Spaß und rührte ihn zugleich. Der Stolz aber, der dahinterstand und der es Goldmund verbot, ihm weinend an die Brust zu sinken, den verstand und billigte er zuinnerst. Wahrlich, auch er hatte sich das Wiedersehen anders vorgestellt, aber er war mit dieser kleinen Komödie innig einverstanden. Mit nichts hätte Goldmund sich rascher wieder in sein Herz schmeicheln können.

»Nun ja«, sagte er und spielte ebenfalls den Gleichmütigen. »Übrigens kann ich dich wegen des Galgens beruhigen. Du bist begnadigt. Ich habe Auftrag, dir das mitzuteilen und dich mitzunehmen. Denn hier in der Stadt darfst du nicht bleiben. Wir werden also Zeit genug haben, einander dies und jenes zu erzählen. Aber wie ist das nun: willst du mir jetzt die Hand geben?«

Sie gaben sich die Hände und hielten sie lange fest und drückten sie und fühlten sich tief bewegt, in ihren Worten aber dauerte die Sprödigkeit und Komödie noch eine ganze Weile an.

»Gut, Narziß, so werden wir also dieses wenig ehrbare Obdach verlassen, und ich werde mich deinem Gefolge anschließen. Reisest du nach Mariabronn zurück? Ja? Sehr schön. Und wie? Zu Pferde? Ausgezeichnet. Es wird sich also darum handeln, auch für mich ein Pferd zu bekommen.«

»Wir werden es bekommen, amice, und werden schon in zwei Stunden reisen. Oh, aber wie sehen deine Hände aus! Um Gottes willen, alles zerschunden und verschwollen und voller Blut! O Goldmund, wie ist man mit dir umgegangen!«

»Laß gut sein, Narziß. Ich habe mir selbst die Hände so zugerichtet. Ich war ja gebunden und mußte mich befreien. Ich sage dir, es ging nicht leicht. Übrigens war es recht mutig von dir, daß du so ohne Geleit zu mir hereingekommen bist.«

»Warum mutig? Es war ja keine Gefahr.«

»Oh, es war nur die kleine Gefahr, von mir erschlagen zu werden. Nämlich so hatte ich mir die Sache ausgedacht. Es war mir gesagt worden, daß ein Priester komme. Den hätte ich dann umgebracht und wäre in seinen Kleidern geflohen. Ein guter Plan.«

»Du wolltest also nicht sterben? Du wolltest dich dagegen wehren?«

»Gewiß wollte ich das. Daß gerade du der Priester sein würdest, nun, das konnte ich ja freilich nicht ahnen.«

»Immerhin«, sagte Narziß zögernd, »es war eigentlich ein recht häßlicher Plan. Hättest du wohl wirklich einen Priester, der als Beichtvater zu dir kam, totschlagen können?«

»Dich nicht, Narziß, natürlich nicht, und vielleicht auch keinen von deinen Patres, wenn er die Mariabronner Kutte trug. Aber einen beliebigen anderen Priester, o ja, verlaß dich drauf.«

Plötzlich wurde seine Stimme traurig und dunkel. »Es wäre nicht der erste Mensch gewesen, den ich umgebracht hätte.«

Sie schwiegen. Es war beiden peinlich zumute.

»Also über diese Sachen«, sagte Narziß mit kühler Stimme, »sprechen wir ja später. Du kannst mir einmal beichten, wenn du magst. Oder du kannst mir sonst von deinem Leben erzählen. Auch ich habe dir dies und das zu erzählen. Ich freue mich darauf. – Wollen wir gehen?«

»Noch einen Augenblick, Narziß! Etwas ist mir eingefallen, nämlich, daß ich dich doch schon einmal Johannes genannt habe.« »Ich verstehe dich nicht.«

»Nein, natürlich nicht. Du weißt ja noch nichts. Es ist schon vor manchen Jahren gewesen, da habe ich dir einmal den Namen Johannes gegeben, und er wird dir für immer bleiben. Ich bin nämlich früher ein Bildhauer und Figurenschnitzer gewesen, und ich denke es wieder zu werden. Und die beste Figur, die ich damals gemacht habe, ein Jüngling aus Holz, in natürlicher Größe, die ist dein Bildnis, aber sie heißt nicht Narziß, sondern Johannes. Es ist ein Jünger Johannes unter dem Kreuz.«

Er stand auf und ging gegen die Tür.

»Du hast also noch an mich gedacht?« fragte Narziß leise.

Ebenso leise gab Goldmund Antwort: »O ja, Narziß, ich habe an dich gedacht. Immer, immer.«

Heftig stieß er das schwere Tor auf, der fahle Morgen blickte herein. Sie sprachen nichts mehr. Narziß nahm ihn mit sich in sein Gastzimmer. Ein junger Mönch, sein Begleiter, war dort damit beschäftigt, das Reisegepäck fertigzumachen. Goldmund bekam zu essen, seine Hände wurden gewaschen und etwas verbunden. Bald schon wurden die Pferde vorgeführt.

Als sie aufstiegen, sagte Goldmund: »Ich habe noch eine Bitte. Laß uns dern Weg über den Fischmarkt nehmen, ich habe dort noch etwas zu besorgen.«

Sie ritten ab, und Goldmund blickte zu allen Fenstern des Schlosses hinan, ob vielleicht Agnes in einem zu sehen sei. Er bekam sie nicht mehr zu sehen. Sie ritten über den Fischmarkt, Marie war sehr in Sorge um ihn gewesen. Er nahm von ihr und ihren Eltern Abschied, dankte ihnen tausendmal, versprach, einmal wiederzukommen, und ritt weg. Unter der Haustür blieb Marie stehen, bis die Reiter verschwunden waren. Langsam hinkte sie ins Haus zurück.

Sie ritten zu vieren; Narziß, Goldmund, der junge Mönch und ein bewaffneter Reitknecht.

»Kannst du dich noch an mein Rößchen Bleß erinnern«, fragte Goldmund, das in eurem Klosterstall stand?«

»Gewiß. Das findest du nicht mehr und hast es wohl auch nicht erwartet. Es ist wohl sieben oder acht Jahre her, seit wir es abtun mußten.«

»Daß du dich dessen erinnerst!«

»O ja, ich erinnere mich.«

Goldmund war nicht traurig über Bleßleins Tod. Er war froh darüber, daß Narziß so gut um Bleß Bescheid wußte, er, der sich nie um Tiere gekümmert und sicher niemals ein anderes Klosterpferd beim Namen gekannt hatte. Sehr froh war er darüber.

»Du wirst mich auslachen«, fing er wieder an, »daß das erste Wesen in eurem Kloster, nach dem ich fragte, das arme Pferdchen war. Es war nicht hübsch von mir. Eigentlich hatte ich nach ganz anderem fragen wollen, vor allem nach unserem Abt Daniel. Aber ich konnte mir ja denken, daß er gestorben ist, du bist ja sein Nachfolger. Und von lauter Todesfällen zu sprechen, das wollte ich fürs erste vermeiden. Ich bin auf den Tod zur Zeit nicht gut zu sprechen, wegen dieser vergangenen Nacht, und auch wegen der Pest, von der ich allzuviel gesehen habe. Aber nun sind wir schon dabei, und einmal muß es ja doch sein. Sage mir, wann und wie Abt Daniel gestorben ist, ich habe ihn sehr verehrt. Und sage mir auch, ob die Patres Anselm und Martin noch am Leben sind. Ich bin auf alles Schlimme gefaßt. Aber da wenigstens dich die Pest verschont hat, bin ich zufrieden. Zwar habe ich nie gedacht, du könntest gestorben sein, ich habe fest an unser Wiedersehen geglaubt. Aber der Glaube kann täuschen, das habe ich leider erfahren. Auch meinen Meister Niklaus, den Bildschnitzer, konnte ich mir nicht tot vorstellen, ich zählte bestimmt darauf, ihn wiederzufinden und aufs neue bei ihm zu arbeiten. Und doch war er tot, als ich kam.«

»Es ist rasch berichtet«, sagte Narziß. »Abt Daniel ist schon vor acht Jahren gestorben, ohne Krankheit und Schmerzen. Ich bin nicht sein Nachfolger, ich bin erst seit einem Jahr Abt. Sein Nachfolger wurde Pater Martin, einst unser Schulvorsteher, er starb im vergangenen Jahr, nicht ganz siebzig Jahre alt. Und Pater Anselm ist auch nicht mehr da. Er hatte dich gern, er sprach noch oft von dir. In seiner letzten Zeit konnte er gar nicht mehr gehen, und das Liegen war ihm eine große Qual; er ist an der Wassersucht gestorben. Ja, und die Pest war auch bei uns, es sind viele gestorben. Sprechen wir nicht davon! Hast du noch mehr zu fragen?«

»Gewiß, sehr viel. Vor allem: wie kommst du hierher in die Bischofsstadt und zum Statthalter?«

»Das ist eine lange Geschichte, und sie wäre dir langweilig, es handelt sich um Politik. Der Graf ist ein Günstling des Kaisers und in manchen Fragen sein Bevollmächtigter, und es ist zur Zeit zwischen dem Kaiser und unserem Orden mancherlei zu schlichten. Der Orden hat mich einer Abordnung zugewiesen, die mit dem Grafen zu verhandeln hatte. Der Erfolg war gering.«

Er schwieg, und Goldmund fragte nicht weiter. Er brauchte ja auch nicht zu erfahren, daß gestern abend, als Narziß beim Grafen um Goldmunds Leben bat, dies Leben mit einigen Konzessionen an den harten Grafen hatte bezahlt werden müssen.

Sie ritten; Goldmund fühlte sich bald müde und hielt sich mit Mühe im Sattel.

Nach einer langen Weile fragte Narziß: »Ist es denn wahr, daß du wegen Diebstahls festgenommen warst? Der Graf behauptete, du hättest dich ins Schloß und in die inneren Gemächer geschlichen und hättest dort gestohlen.«

Goldmund lachte. »Nun, es hatte wirklich den Anschein, als sei ich ein Dieb. Ich hatte aber mit des Grafen Geliebten eine Zusammenkunft; ohne Zweifel hat er das auch gewußt. Es wundert mich sehr, daß er mich doch laufen ließ.«

»Nun, er ließ mit sich reden.«

Sie konnten die geplante Tagesstrecke nicht bewältigen, Goldmund war zu sehr erschöpft, seine Hände konnten die Zügel nicht mehr halten. Sie nahmen in einem Dorf Quartier; er wurde zu Bett gebracht und fieberte ein wenig und blieb auch noch den nächsten Tag dort liegen. Dann aber konnte er weiterreiten. Und als in Bälde seine Hände wieder gesund waren, begann er das Reisen zu Pferde sehr zu genießen. Wie lange war er nicht mehr geritten! Er lebte auf, er wurde jung und lebhaft, er ritt manche Strecke mit dem Reitknecht um die Wette und bestürmte in Stunden der Mitteilsamkeit seinen Freund Narziß mit hundert ungeduldigen Fragen. Gelassen und doch freudig ging Narziß darauf ein; er war wieder von Goldmund bezaubert, er liebte seine so heftigen, so kindlichen Fragen, die so voll unbegrenzten Vertrauens, zu des Freundes Geist und Klugheit waren.

»Eine Frage, Narziß: habt ihr auch einmal Juden verbrannt?«

»Juden verbrannt? Wie sollten wir? Es gibt ja bei uns keine Juden.«

»Richtig. Aber sage: wärest du imstande, Juden zu verbrennen? Kannst du dir den Fall als möglich denken?«

»Nein, warum sollte ich es tun? Hältst du mich für einen Fanatiker?«

»Versteh mich, Narziß! Ich meine: kannst du dir denken, daß du in irgendeinem Fall den Befehl zum Umbringen von Juden geben würdest oder doch deine Einwilligung dazu? Es haben ja so viele Herzöge, Bürgermeister, Bischöfe und andere Obrigkeiten solche Befehle gegeben.«

»Ich würde einen Befehl dieser Art nicht geben. Dagegen ist der Fall wohl denkbar, daß ich eine solche Grausamkeit mit ansehen und dulden müßte.«

»Du würdest es also dulden?«

»Gewiß, wenn mir nicht die Macht gegeben wäre, es zu verhindern. – Du hast wohl einmal eine Judenverbrennung gesehen, Goldmund?«

»Ach ja.«

»Nun, und hast du sie verhindert? – Nein? – Siehst du.«

Goldmund erzählte ausführlich die Geschichte Rebekkas, er wurde dabei warm und leidenschaftlich.

»Und nun«, schloß er heftig, »was ist das für eine Welt, in der wir da leben müssen? Ist es nicht eine Hölle? Ist es nicht empörend und scheußlich?«

»Gewiß. Die Welt ist nicht anders.«

»So!« rief Goldmund böse. »Und wie oft hast du mir früher behauptet, die Welt sei göttlich, sie sei eine große Harmonie von Kreisen, in deren Mitte der Schöpfer thront, und das Existierende sei gut, und so weiter. Du sagtest, es stehe im Aristoteles, oder beim heiligen Thomas. Ich bin begierig, deine Erklärung des Widerspruchs zu hören.«

Narziß lachte.

»Dein Gedächtnis ist erstaunlich, und doch hat es dich ein wenig getäuscht. Ich habe den Schöpfer stets als vollkommen verehrt, aber niemals die Schöpfung. Ich habe das Übel in der Welt nie geleugnet. Daß das Leben auf Erden harmonisch und gerecht und daß der Mensch gut sei, dies, mein Lieber, hat noch nie ein echter Denker behauptet. Daß vielmehr das Dichten und Trachten des Menschenherzens übel sei, steht ausdrücklich in der Heiligen Schrift, und wir sehen es jeden Tag bestätigt.«

»Sehr gut. Ich sehe nun endlich, wie ihr Gelehrte das meint. Also der Mensch ist böse, und das Leben auf Erden ist voll Gemeinheit und Schweinerei, das gebet ihr zu. Aber dahinter irgendwo, in euren Gedanken und Lehrbüchern, gibt es Gerechtigkeit und Vollkommenheit. Sie sind vorhanden, man kann sie beweisen, nur aber macht man keinen Gebrauch davon.«

»Du hast viel Groll gegen uns Theologen angesammelt, lieber Freund! Aber du bist noch immer kein Denker geworden, du wirfst alles durcheinander. Du wirst einiges hinzulernen müssen. Aber warum denn sagst du, wir machten von der Idee der Gerechtigkeit keinen Gebrauch? Jeden Tag und jede Stunde tun wir es. Ich zum Beispiel bin Abt und habe ein Kloster zu leiten, und in diesem Kloster geht es ebensowenig vollkommen und sündlos zu wie in der Welt draußen. Dennoch setzen wir der Erbsünde beständig und immer wieder die Idee der Gerechtigkeit entgegen und suchen unser unvollkommenes Leben an ihr zu messen und suchen das Böse zu korrigieren und unser Leben in beständige Beziehung zu Gott zu setzen.«

»Ach ja, Narziß. Ich meine ja nicht dich und daß du etwa kein guter Abt seiest. Aber ich denke an Rebekka, an die verbrannten Juden, an die Massengräber, an das große Sterben, an die Gassen und Stuben, in denen die Pestleichen lagen und stanken, an diese ganze grauenhafte Wüstenei, an die verwahrlosten, allein zurückgebliebenen Kinder, an die in ihren Ketten verhungerten Hofhunde – und wenn ich an das alles denke und diese Bilder vor mir sehe, dann tut das Herz mir weh, und es will mir scheinen, unsere Mütter hätten uns in eine hoffnungslos grausame und teuflische Welt hinein geboren, und es wäre besser, sie hätten es nicht getan und Gott hätte diese schreckliche Welt nicht erschaffen und der Heiland hätte sich nicht unnütz für sie ans Kreuz schlagen lassen.«

Freundlich nickte Narziß dem Freunde zu.

»Du hast ganz recht«, sagte er warm, »sprich es nur aus, sage mir alles. Aber in einem täuschest du dich sehr: du hältst das, was du da sprichst, für Gedanken. Es sind aber Gefühle! Es sind die Gefühle eines Menschen, dem das Grauen des Daseins zu schaffen macht. Nun vergiß aber nicht, daß diesen traurigen und verzweifelten Gefühlen ganz andere gegenüberstehen! Wenn du dich auf deinem Roß wohlfühlst und durch eine schöne Gegend reitest oder wenn du, leichtsinnig genug, dich am Abend ins Schloß einschleichst, um der Geliebten des Grafen den Hof zu machen, dann sieht die Welt für dich ganz anders aus, und alle Pesthäuser und alle verbrannten Juden können dich durchaus nicht hindern, deine Lust zu suchen. Ist es nicht so?«

»Gewiß, es ist so. Weil die Welt so voll von Tod und Grauen ist, darum suche ich immer wieder mein Herz zu trösten und die schönen Blumen zu pflücken, die es inmitten dieser Hölle gibt. Ich finde Lust, und ich vergesse für eine Stunde das Grauen. Darum ist es nicht minder da.«

»Du hast es sehr gut formuliert. Also du findest dich in der Welt von Tod und Grauen umgeben, und daraus entfliehst du in die Lust. Aber die Lust ist ohne Dauer, sie entläßt dich wieder in die Wüste.«

»Ja, so ist es.«

»Es geht den meisten Menschen so, nur empfinden es wenige mit solcher Stärke und Heftigkeit wie du, und wenige haben das Bedürfnis, dieser Empfindungen bewußt zu werden. Aber sage doch: außer diesem verzweifelten Hin und Her zwischen Lust und Grauen, außer dieser Schaukel zwischen Lebenslust und Todesgefühl – hast du nicht außerdem noch irgendeinen Weg probiert?«

»O ja, natürlich. Ich habe es mit der Kunst probiert. Ich sagte dir ja schon, daß ich unter anderem auch Künstler geworden bin. Eines Tages, ich war vielleicht drei Jahre in der Welt draußen und beinahe die ganze Zeit auf Wanderschaft gewesen, fand ich in einer Klosterkirche eine hölzerne Mutter Gottes stehen, die war so schön, und ihr Anblick ergriff mich so sehr, daß ich nach dem Meister fragte und suchte, der sie gemacht hatte. Ich fand ihn, es war ein berühmter Meister; ich wurde sein Schüler und habe einige Jahre bei ihm gearbeitet.«

»Du wirst mir davon später noch mehr erzählen. Aber was war es denn, was die Kunst dir gebracht und bedeutet hat?«

»Es war die Überwindung der Vergänglichkeit. Ich sah, daß aus dem Narrenspiel und Totentanz des Menschenlebens etwas übrigblieb und überdauerte: die Kunstwerke. Auch sie vergehen ja wohl irgendeinmal, sie verbrennen oder verderben oder werden wieder zerschlagen. Aber immerhin überdauern sie manches Menschenleben und bilden jenseits des Augenblicks ein stilles Reich der Bilder und Heiligtümer. Daran mitzuarbeiten scheint mir gut und tröstlich, denn es ist beinahe ein Verewigen des Vergänglichen.«

»Das gefällt mir sehr, Goldmund. Ich hoffe, du werdest noch viele schöne Werke machen, mein Vertrauen auf deine Kraft ist groß, und ich hoffe, du werdest in Mariabronn lange Zeit mein Gast sein und mir erlauben, dir eine Werkstatt einzurichten; unser Kloster hat seit langem keinen Künstler mehr gehabt. Aber ich glaube, du hast das Wunderbare der Kunst mit deiner Definition noch nicht erschöpft. Ich glaube, die Kunst besteht nicht bloß dann, daß durch Stein, Holz und Farben etwas Vorhandenes, aber Sterbliches dem Tod entrissen und zu längerer Dauer gebracht wird. Ich habe manches Kunstwerk gesehen, manchen Heiligen und manche Madonna, von denen ich nicht glaube, daß sie bloß treue Abbilder irgendeines einzelnen Menschen sind, der einmal gelebt hat und dessen Formen oder Farben der Künstler aufbewahrt hat.«

»Da hast du recht«, rief Goldmund eifrig, »ich hätte gar nicht geglaubt, daß du über die Kunst so gut Bescheid wüßtest! Das Urbild eines guten Kunstwerks ist nicht eine wirkliche, lebende Gestalt, obwohl sie der Anlaß dazu sein kann. Das Urbild ist nicht Fleisch und Blut, es ist geistig. Es ist ein Bild, das in der Seele des Künstlers seine Heimat hat. Auch in mir, Narziß, sind solche Bilder lebendig, die ich einmal darzustellen und dir zu zeigen hoffe.«

»Wie schön! Und jetzt, mein Lieber, hast du dich, ohne es zu wissen, mitten in die Philosophie begeben und hast eines ihrer Geheimnisse ausgesprochen.«

»Du machst dich über mich lustig.«

»O nein. Du hast von den ‚Urbildern’ gesprochen, von Bildern also, die nirgends vorhanden sind als im schöpferischen Geist, die aber in der Materie verwirklicht und sichtbar gemacht werden können. Lang ehe eine Kunstgestalt sichtbar wird und Wirklichkeit gewinnt, ist sie schon vorhanden, als Bild in der Seele des Künstlers! Dieses Bild nun, dies ‚Urbild’ ist aufs Haar genau das, was die alten Philosophen eine ‚Idee’ nennen.«

»Ja, das klingt ganz glaubhaft.«

»Nun, und indem du dich zu Ideen bekennst und zu Urbildern, begibst du dich in die geistige Welt, in unsere Philosophen- und Theologenwelt, und gibst zu, daß mitten in dem verwirrten und schmerzlichen Schlachtfeld des Lebens, mitten in diesem endlosen und sinnlosen Totentanz des leiblichen Daseins der schöpferische Geist vorhanden ist. Schau, an diesen Geist in dir habe ich mich stets gewendet, seit du als Knabe zu mir kamst. Dieser Geist ist bei dir nicht der eines Denkers, er ist der eines Künstlers. Aber er ist Geist, und er ist es, der dir den Weg zeigen wird aus dem trüben Wirrwarr der Sinnenwelt, aus dem ewigen Schaukeln zwischen Lust und Verzweiflung. Ach Lieber, ich bin glücklich, dies Bekenntnis von dir gehört zu haben. Ich habe darauf gewartet – seit damals, seit du deinen Lehrer Narziß verlassen hast und den Mut fandest, du selbst zu sein. Jetzt können wir aufs neue Freunde sein.«

In dieser Stunde schien es Goldmund, als habe sein Leben einen Sinn gewonnen, als übersähe er es wie von oben, sähe deutlich seine drei großen Stufen: die Abhängigkeit von Narziß und ihre Lösung – die Zeit der Freiheit und des Wanderns – und die Rückkehr, die Einkehr, den Beginn der Reife und Ernte.

Die Vision verlor sich wieder. Aber zu Narziß hatte er nun das Verhältnis gefunden, das ihm zukam, kein Verhältnis der Abhängigkeit mehr, sondern eines der Freiheit und Gegenseitigkeit. Nun konnte er ohne Demütigung bei seinem überlegenen Geist zu Gaste sein, da der andere in ihm den Ebenbürtigen, den Schöpfer erkannt hatte. Sich ihm zu zeigen, ihm in Bildwerken seine innere Welt sichtbar zu machen, darauf freute er sich mit wachsender Sehnsucht während dieser Reise. Manchmal aber kamen ihm auch Bedenken.

»Narziß«, warnte er, »ich fürchte, du weißt nicht, wen du da eigentlich mit in dein Kloster bringst. Ich bin kein Mönch und will auch keiner werden. Ich kenne ja die drei großen Gelübde, und mit der Armut bin ich gern einverstanden, aber ich liebe weder die Keuschheit noch den Gehorsam; diese Tugenden scheinen mir auch nicht so recht männlich zu sein. Und von Frömmigkeit ist bei mir gar nichts mehr übriggeblieben, ich habe seit Jahren nicht gebeichtet noch gebetet noch kommuniziert.«

Narziß blieb gelassen. »Du scheinst ein Heide geworden zu sein. Aber davor haben wir keine Angst. Auf deine vielen Sünden brauchst du nicht weiter stolz zu sein. Du hast das übliche Weltleben geführt, du hast wie der verlorene Sohn die Säue gehütet, du weißt nicht mehr, was Gesetz und Ordnung ist. Gewiß würde ein sehr schlechter Mönch aus dir werden. Aber ich lade dich ja gar nicht dazu ein, in den Orden zu treten; ich lade dich bloß ein, unser Gast zu sein und dir bei uns eine Werkstatt einzurichten. Und noch eines: vergiß nicht, daß damals in unsern Jünglingsjahren ich es gewesen bin, der dich aufgeweckt hat und ins Weltleben hinaus hat ziehen lassen. Es mag aus dir Gutes oder Schlechtes geworden sein, nächst dir selbst trage dafür ich die Verantwortung. Ich will sehen, was aus dir geworden ist; du wirst es mir zeigen, in Worten, im Leben, in deinen Werken. Wenn du es gezeigt haben wirst und wenn ich dann etwa finden sollte, daß unser Haus keine Stätte für dich ist, so werde ich der erste sein, der dich bitten wird, es wieder zu verlassen.«

Goldmund war jedesmal voll Bewunderung, wenn sein Freund so sprach, wenn er als Abt auftrat, mit der stillen Sicherheit und diesem Anflug von Spott für Weltleute und Weltleben, denn dann wurde ihm sichtbar, was aus Narziß geworden war: ein Mann. Ein Mann des Geistes zwar und der Kirche, mit zarten Händen und einem Gelehrtengesicht, aber ein Mann voll Sicherheit und Mut, ein Führer, einer, der Verantwortung trug. Dieser Mann Narziß war nicht mehr der Jüngling von damals und nicht mehr der sanfte innige Jünger Johannes, und diesen neuen Narziß, diesen männlichen und ritterlichen, wollte er mit seinen Händen abbilden. Viele Figuren warteten auf ihn: Narziß, der Abt Daniel, der Pater Anselm, der Meister Niklaus, die schöne Rebekka, die schöne Agnes und noch so manche andere, Freunde und Feinde, Lebende und Tote. Nein, er wollte kein Ordensbruder werden, weder ein frommer noch ein gelehrter, er wollte Werke schaffen; und daß seine einstige Jugendheimat die Heimat dieser Werke sein würde, machte ihn glücklich.

Sie ritten durch den kühlen Spätherbst, und eines Tages, an dem morgens die kahlen Bäume dick voll Rauhreif hingen, ritten sie über ein welliges weites Land mit leeren rötlichen Moorgebieten, und die Linien der langen Hügelzüge blickten merkwürdig mahnend und altbekannt, und es kam ein hoher Eschenwald und ein Bachlauf und eine alte Scheuer, bei deren Anblick fing Goldmunds Herz in froher Bangigkeit zu schmerzen an; er erkannte die Hügel, über die er einstmals mit der Ritterstochter Lydia geritten war, und die Heide, über die er einst, vertrieben und tief betrübt, durch den dünnen Schneefall davongewandert war. Es tauchten die Erlengruppen auf, und die Mühle, und die Burg, mit wunderlichem Schmerz erkannte er das Fenster der Schreibstube, in der er damals, in der sagenhaften Jugendzeit, den Ritter von seiner Pilgerfahrt hatte erzählen hören und sein Latein hatte korrigieren müssen. Sie ritten in den Hof, er gehörte zu den vorbestimmten Stationen ihrer Reise. Goldmund bat den Abt, hier seinen Namen nicht zu nennen und ihn mit dem Reitknecht beim Gesinde speisen zu lassen. So geschah es. Es war kein alter Ritter mehr da und keine Lydia, wohl aber noch einige von den Jägern und Knechten, und im Hause lebte und regierte eine sehr schöne, stolze und herrische Edelfrau, Julie, an der Seite eines Ehegatten. Wunderbar schön sah sie noch immer aus, sehr schön und etwas böse; weder von ihr noch vom Gesinde wurde Goldmund erkannt. Nach dem Imbiß in der Abenddämmerung schlich er zum Garten hinüber, sah über den Zaun auf die schon winterlichen Beete, schlich zur Stalltür und schielte zu den Pferden hinein. Mit dem Reitknecht schlief er auf dem Stroh, und die Last der Erinnerungen lag ihm auf der Brust, er erwachte viele Male. O wie zerstückt und unfruchtbar lag hinter ihm sein Leben, an herrlichen Bildern reich, aber in so viele Scherben zerschmissen, so arm an Wert, so arm an Liebe! Morgens beim Wegreiten blickte er bang zu den Fenstern empor, ob er vielleicht Julie noch einmal zu Gesicht bekäme. So hatte er vor kurzem im Hof der Bischofsresidenz umhergeblickt, ob Agnes sich noch einmal zeige. Sie war nicht gekommen, und auch Julie zeigte sich nicht mehr. So war sein ganzes Leben gewesen, schien ihm: Abschiednehmen, Davonfliehen, Vergessenwerden, Dastehen mit leeren Händen und frierendem Herzen. Den ganzen Tag ging es ihm nach, er sprach kein Wort, finster hing er im Sattel. Narziß ließ ihn gewähren.

Nun aber näherten sie sich dem Ziel, und nach einigen Tagen war es erreicht. Kurz ehe Turm und Dächer des Klosters sichtbar wurden, ritten sie über jene steinigen Brachfelder hin, auf denen er, o vor wie langer Zeit, einst Johanniskraut für den Pater Anselm gesucht hatte und von der Zigeunerin Lise zum Mann gemacht worden war. Und nun ritten sie durchs Tor von Mariabronn und stiegen unter dem welschen Kastanienbaum von den Pferden. Zärtlich berührte Goldmund den Stamm und bückte sich nach einer der zersprungenen stacheligen Fruchtschalen, die braun und verwelkt am Boden lagen.

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