Eine lange Weile schon war Goldmund gewandert, selten ein zweites Mal am selben Ort zur Nacht, überall von Frauen begehrt und beglückt, von der Sonne braungebrannt, vom Wandern und von schmaler Kost gemagert. Viele Frauen hatten in der Morgenfrühe von ihm Abschied genommen und waren gegangen, manche mit Tränen, und manches Mal hatte er gedacht: »Warum bleibt keine bei mir? Warum, wenn sie schon mich lieben und einer Liebesnacht wegen die Ehe brechen – warum kehren sie alle sofort zu ihren Männern zurück, von denen sie meistens Prügel zu fürchten haben?« Keine hatte ihn ernstlich gebeten dazubleiben, keine einzige hatte ihn je gebeten, sie mitzunehmen, und war aus Liebe bereit gewesen, Freude und Not der Wanderschaft mit ihm zu teilen. Er hatte zwar keine dazu eingeladen, hatte keiner diesen Gedanken nahegelegt; wenn er sein Herz befragte, so sah er, daß seine Freiheit ihm lieb war, und er konnte sich keiner Geliebten erinnern, nach der die Sehnsucht ihn nicht in den Armen der nächsten verlassen hätte. Aber dennoch war es ihm wunderlich und ein wenig traurig, daß überall Liebe so sehr vergänglich schien, die der Frauen wie seine eigene, daß sie ebenso schnell satt war wie entflammt. War das richtig? War das immer und überall so? Oder lag es an ihm selbst, war er vielleicht so beschaffen, daß die Weiber ihn zwar begehrten und schön fanden, aber keine Gemeinschaft mit ihm verlangten als die kurze, wortlose im Heu oder auf dem Moos? Lag es daran, daß er auf Wanderschaft lebte und daß die Seßhaften vor dem Leben der Heimatlosen ein Grauen fühlten? Oder lag es allein an ihm, an seiner Person, daß die Frauen ihn wie eine hübsche Puppe begehrten und an sich drückten, dann aber alle zu ihren Männern zurückliefen, auch wenn dort Schläge sie erwarteten? Er wußte es nicht.
Von den Frauen zu lernen wurde er nicht müde. Zwar zog es ihn mehr zu den Mädchen, zu den ganz Jungen, die noch keine Männer hatten und nichts wußten, in sie konnte er sich sehnlich verlieben; aber meistens waren die Mädchen unerreichbar, die geliebten, die schüchternen und wohlbehüteten. Aber auch von den Frauen lernte er gern. Jede ließ ihm etwas zurück, eine Gebärde, eine Art von Kuß, ein besonderes Spiel, eine besondere Art von Sichgeben oder von Sichwehren. Goldmund ging auf alles ein, er war unersättlich und biegsam wie ein Kind, er stand jeder Verführung offen: nur dadurch war er selbst so verführend. Seine Schönheit allein hätte nicht genügt, ihm die Frauen so leicht zuzuführen; es war diese Kindlichkeit, dies Offenstehen, diese neugierige Unschuld der Begierde, diese vollkommene Bereitschaft zu allem, was eine Frau irgend von ihm begehren mochte. Er war, ohne es selbst zu wissen, bei jeder Geliebten gerade so, wie sie ihn wünschte und erträumte, bei der einen zart und abwartend, bei der andern rasch und zupackend, einmal kindlich wie ein zum erstenmal eingeweihter Knabe, einmal künstlich und unterrichtet. Er war zum Spielen bereit und zum Kämpfen, zum Seufzen und zum Lachen, zur Scham und zur Schamlosigkeit; er tat einer Frau nichts, was sie nicht begehrte, nichts, was nicht sie aus ihm hervorlockte. Das war es, was jede Frau von klugen Sinnen rasch in ihm witterte, dies machte ihn zu ihrem Liebling. Er aber lernte. Er lernte nicht nur in kurzer Zeit viele Liebesarten und Liebeskünste und nahm die Erfahrungen von vielen Geliebten in sich auf. Er lernte auch, die Frauen in ihrer Mannigfaltigkeit zu sehen, zu fühlen, zu tasten, zu riechen; er bekam ein zartes Ohr für jede Art von Stimme und lernte bei manchen Frauen schon aus deren Klang unfehlbar ihre Art und den Umfang ihrer Liebesfähigkeit erraten; er betrachtete mit immer neuem Entzücken die unendlich verschiedenen Arten, wie ein Kopf auf einem Halse sitzen, eine Stirn sich vom Haarwuchs sondern, eine Kniescheibe sich bewegen konnte. Er lernte im Dunkeln, mit geschlossenen Augen, mit zart prüfenden Fingern eine Art Frauenhaar von der andern unterscheiden, eine Art von Haut und Flaum von der andern. Er begann zu merken, schon früh, daß vielleicht hierin der Sinn seiner Wanderschaft liege, daß er vielleicht deshalb von einer Frau zur andern getrieben werde, damit er diese Fähigkeit des Kennens und Unterscheidens immer feiner, immer vielfältiger und tiefer erlerne und übe. Vielleicht war das seine Bestimmung: die Frauen und die Liebe auf tausend Arten und in tausend Verschiedenheiten bis zur Vollkommenheit kennenzulernen, so wie manche Musikanten nicht nur ein Instrument zu spielen wissen, sondern drei, vier, viele. Wozu freilich dies gut ist, wohin es führe, wußte er nicht; er spürte nur, daß er auf dem Wege sei. Mochte er für Latein und Logik zwar fähig, aber nicht in besonderer, erstaunlicher, seltener Weise begabt sein – für die Liebe, für das Spiel mit den Frauen war er es, hier lernte er ohne Mühe, hier vergaß er nichts, hier häuften und ordneten die Erfahrungen sich von selbst.
Einst, nachdem er schon ein Jahr oder zwei unterwegs gewesen war, kam Goldmund auf den Hof eines wohlhabenden Ritters mit zwei schönen jungen Töchtern. Es war im Frühherbst, bald würden die Nächte kühl werden, im vergangenen Herbst und Winter hatte er das gekostet, nicht ohne Sorge dachte er an die kommenden Monate, im Winter war die Wanderschaft schwer. Er fragte um Essen und Nachtlager. Man nahm ihn artig auf, und als der Ritter hörte, der Fremde habe studiert und könne Griechisch, ließ er ihn vom Tisch der Dienstboten an den seinen herüberkommen und behandelte ihn beinah wie seinesgleichen. Die beiden Töchter hielten die Augen gesenkt, die Ältere war achtzehn, die Kleine kaum sechzehn Jahre alt, Lydia und Julie.
Andern Tages wollte Goldmund weiter. Es bestand keine Hoffnung für ihn, eines dieser schönen blonden Fräulein gewinnen zu können, und andere Frauen waren nicht da, um derentwillen er hätte bleiben mögen. Da nahm ihn nach dem Morgenessen der Ritter beiseite und führte ihn in eine Kammer, die er sich für besondere Zwecke eingerichtet hatte. Bescheiden sprach der alte Mann zu dem Jüngling von seiner Liebhaberei für Gelehrsamkeit und Bücher, zeigte ihm eine kleine Truhe voll Schriften, die er gesammelt, zeigte ihm ein Schreibepult, das er sich hatte bauen lassen, und einen Vorrat von schönstem Papier und Pergament. Dieser fromme Ritter war, wie Goldmund später allmählich erfuhr, in seiner Jugend auf Schulen gewesen, hatte sich dann aber ganz dem Kriegs- und Weltleben ergeben, bis in schwerer Krankheit eine göttliche Mahnung ihn veranlaßt hatte, als Pilger auszuziehen und seine sündige Jugend zu bereuen. Er war nach Rom und sogar bis nach Konstantinopel gekommen, hatte nach der Heimkehr seinen Vater tot und das Haus leer gefunden, hatte sich da niedergelassen, geheiratet, die Frau verloren, die Töchter auferzogen, und jetzt im Beginn seines Alters hatte er sich hingesetzt und darangemacht, einen ausführlichen Bericht über seine einstige Pilgerreise aufzuschreiben. Er hatte auch mehrere Kapitel zustande gebracht, aber – wie er dem Jüngling gestand – sein Latein war recht mangelhaft und hemmte ihn überall. Er bot nun Goldmund ein neues Kleid und freie Unterkunft an, wenn dieser ihm das bisher Geschriebene korrigieren und ins Reine schreiben sowie bei der Fortsetzung behilflich sein wolle.
Es war Herbst, Goldmund wußte, was das für einen Landfahrer bedeute. Das neue Gewand war ebenfalls wünschenswert. Vor allem aber gefiel dem Jüngling die Aussicht, noch lange Zeit im selben Hause mit den beiden schönen Schwestern zu bleiben. Er sagte ohne Besinnen ja. Schon nach wenigen Tagen mußte die Beschließerin den Tuchschrank öffnen, es fand sich ein schönes braunes Tuch, von dem wurde ein Anzug und eine Mütze für Goldmund m Arbeit gegeben. Der Ritter zwar hatte an Schwarz gedacht und an eine Art Magisterkleid, aber davon wollte sein Gast nichts wissen und wußte es ihm auszureden, und es entstand nun eine hübsche Tracht, halb Page, halb Jäger, die ihm sehr gut zu Gesicht stand.
Auch mit dem Latein ging es nicht übel. Sie gingen das bisher Geschriebene gemeinsam durch, und Goldmund berichtigte nicht nur die vielen ungenauen und mangelnden Vokabeln, sondern baute da und dort auch des Ritters kurze unbeholfene Sätze zu hübschen lateinischen Perioden um, mit soliden Konstruktionen und einer sauberen consecutio temporum. Dem Ritter machte es viel Vergnügen, er war mit Lob nicht sparsam. Jeden Tag brachten sie mindestens zwei Stunden mit dieser Arbeit hin.
In der Burg – sie war ein etwas befestigter geräumiger Bauernhof – fand Goldmund manchen Zeitvertreib. Er beteiligte sich an der Jagd und lernte mit der Armbrust zu schießen beim Jäger Hinrich, befreundete sich mit den Hunden und konnte reiten, soviel er wollte. Selten sah man ihn allein; entweder war es ein Hund oder Gaul, mit dem er sprach, oder Hinrich, oder die Beschließerin Lea, eine dicke Alte mit einer Männerstimme und vieler Geneigtheit zu Spaß und Gelächter, oder der Hundejunge, oder ein Schäfer. Mit der Frau des Müllers, in nächster Nachbarschaft, wäre es leicht gewesen, eine Liebschaft zu pflegen, er hielt sich aber zurück und spielte den Unerfahrenen.
Von den beiden Töchtern des Ritters war er sehr entzückt. Die Jüngere war die schönere, aber so spröde, daß sie kaum ein Wort mit Goldmund sprach. Er trat beiden mit der größten Rücksicht und Höflichkeit gegenüber, aber beide empfanden seine Nähe wie eine unaufhörliche Werbung. Die Junge verschloß sich ganz, aus Schüchternheit trotzig. Die Ältere, Lydia, fand gegen ihn einen besonderen Ton, indem sie ihn halb ehrfürchtig, halb spöttisch wie ein Wundertier von einem Gelehrten behandelte, ihm viele neugierige Fragen stellte, sich nach dem Leben im Kloster erkundigte, aber stets wieder etwas Spöttisches und damenhaft Überlegenes gegen ihn herauskehrte. Er ging auf alles ein, er behandelte Lydia wie eine Dame, Julie wie eine kleine Nonne, und wenn es ihm gelang, durch sein Gespräch die Mädchen länger als sonst nach dem Abendessen am Tische festzuhalten, oder wenn in Hof oder Garten Lydia ihn einmal anredete und sich eine Neckerei erlaubte, war er zufrieden und fühlte einen Fortschritt.
Lange hielt sich in diesem Herbst das Laub an den hohen Eschen im Hof, lange gab es im Garten noch Astern und Rosen. Da kam eines Tages Besuch, ein Gutsnachbar mit seiner Frau und einem Reitknecht kamen geritten, der milde Tag hatte sie zu einem ungewohnt großen Ausflug verlockt, nun waren sie da und baten um Nachtquartier. Man empfing sie sehr artig, und alsbald wurde Goldmunds Bett aus dem Gastzimmer in die Schreibstube verbracht und das Zimmer für die Besuche hergerichtet, wurden einige Hühner geschlachtet und nach der Mühle um Fische geschickt. Goldmund nahm mit Vergnügen an der festlichen Aufregung teil und spürte sofort, wie die fremde Dame auf ihn aufmerksam war. Und kaum hatte er, an ihrer Stimme und an etwas in ihrem Blick, ihr Gefallen und Begehren bemerkt, so bemerkte er auch, mit vermehrter Spannung, wie Lydia sich veränderte, wie sie still und verschlossen wurde und ihn und die Dame zu beobachten begann. Als beim festlichen Nachtmahl der Fuß der Dame unterm Tisch mit Goldmunds Fuß zu spielen anfing, entzückte ihn nicht dieses Spiel allein, sondern noch viel mehr die finstere und verschwiegene Spannung, mit welcher Lydia das Spiel aus neugierigen und lodernden Augen beobachtete. Schließlich ließ er absichtlich ein Messer zu Boden fallen, bückte sich danach unter den Tisch und berührte den Fuß und das Bein der Dame mit liebkosender Hand, sah Lydia blaß werden und auf die Lippen beißen und fuhr fort Klosteranekdoten zu erzählen, indem er fühlte, wie die Fremde weniger den Geschichten als seiner werbenden Stimme innig zuhörte. Auch die andern hörten ihm zu, sein Patron mit Wohlwollen, der Gast mit unbewegtem Gesicht, aber auch er von dem Feuer berührt, das in dem Jüngling brannte. Niemals hatte Lydia ihn so sprechen hören, er war aufgeblüht, Lust schwang in der Luft, seine Augen blitzten, in seiner Stimme sang Glück, flehte Liebe. Die drei Frauen fühlten es, jede anders, die kleine Julie mit heftiger Gegenwehr und Ablehnung, die Frau des Ritters mit strahlender Genugtuung, Lydia mit einem schmerzlichen Wogen des Herzens, das aus inniger Sehnsucht, leisem Sichwehren und heftigster Eifersucht gemischt war und das ihr Gesicht schmal und ihre Augen brennen machte. Alle diese Wogen fühlte Goldmund, wie geheime Antworten auf seine Werbungen kamen sie zu ihm zurückgeflutet, wie die Vögel umflogen ihn die Liebesgedanken, die sich hingebenden, die sich widersetzenden, die miteinander kämpfenden.
Nach der Mahlzeit zog Julie sich zurück, es war längst Nacht, mit ihrer Kerze im irdenen Leuchter verließ sie den Söller, kühl wie eine kleine Klosterfrau. Die andern saßen noch eine Stunde auf, und während die beiden Männer von der Ernte, vom Kaiser und Bischof sprachen, hörte Lydia glühend zu, wie zwischen Goldmund und der Dame ein lässiges Geplauder über nichts gesponnen wurde, zwischen dessen lockeren Fäden aber ein dichtes, süßes Netz von Hin und Her, von Blicken, von Betonungen, von kleinen Gebärden entstand, deren jede mit Bedeutung überladen, mit Wärme überheizt war. Das Mädchen sog die Atmosphäre mit Lüsternheit und auch mit Abscheu ein, und wenn sie sah oder fühlte, wie Goldmunds Knie unterm Tisch das der Fremden berührte, empfand sie die Berührung am eigenen Leibe und zuckte auf. Nachher schlief sie nicht und horchte die halbe Nacht mit Herzklopfen, überzeugt, daß die beiden zusammenkommen würden. Sie vollzog, was jenen versagt war, in ihrer Einbildung, sie sah die beiden sich umschlingen, hörte ihre Küsse, dabei zitterte sie zugleich vor Erregung, indem sie ebenso fürchtete wie wünschte, es möge der hintergangene Ritter die Liebenden überraschen und dem scheußlichen Goldmund sein Messer ins Herz stoßen.
Andern Morgens war der Himmel bezogen, es ging ein feuchter Wind, und der Gast, alle Einladungen zu längerem Bleiben abwehrend, drang auf raschen Aufbruch. Lydia stand dabei, als die Gäste zu Pferde stiegen, sie drückte Hände und sprach Abschiedsworte, aber sie wußte nichts davon, alle ihre Sinne waren in dem Blick, mit dem sie zusah, wie die Rittersfrau beim Aufsteigen ihren Fuß in Goldmunds dargebotene Hände setzte, und wie seine Rechte breit und fest um den Schuh griff und den Frauenfuß einen Augenblick kräftig umspannte.
Die Fremden waren weggeritten, Goldmund mußte m die Schreibstube und arbeiten. Nach einer halben Stunde hörte er unten Lydias befehlende Stimme, hörte ein Pferd vorführen, sein Herr trat ans Fenster und schaute hinab, lächelnd und kopfschüttelnd, dann sahen sie beide Lydia nach, wie sie aus dem Hofe ritt. Sie kamen heute weniger vorwärts in ihrer lateinischen Schriftstellerei, Goldmund war zerstreut; freundlich entließ ihn sein Herr, früher als sonst.
Unbemerkt brachte Goldmund sich und sein Pferd aus dem Hofe, dem kühlfeuchten Herbstwind entgegen ritt er in die verfärbte Landschaft, rascher und rascher trabend fühlte er das Pferd unter sich warm werden und sein eigenes Blut sich befeuern. Über Stoppelfelder und Brachland, über Heide und über Moorstellen, mit Schachtelhalm und Riedgras bewachsen, ritt er aufatmend durch den grauen Tag, durch kleine Erlentäler, durch modrigen Fichtenwald, und wieder über bräunliche leere Heide.
Auf einem hohen Hügelkamm, scharf gegen den lichtgrauen Wolkenhimmel, entdeckte er Lydias Gestalt, hoch saß sie auf langsam trabendem Pferd. Er stürmte zu ihr; kaum sah sie sich verfolgt, trieb sie ihren Gaul an und floh davon. Bald verschwand sie, bald war sie sichtbar mit wehenden Haaren. Wie einer Beute jagte er ihr nach, sein Herz lachte, mit kleinen zärtlichen Rufen ermunterte er sein Pferd, las mit frohen Augen im Hinfliegen die Kennzeichen der Landschaft ab, die hingeduckten Felder, das Erlengehölz, die Ahorngruppen, die lehmigen Ufer der Tümpel, ließ immer wieder den Blick zu seinem Ziel zurückkehren, der schönen Fliehenden. Bald mußte er sie erreichen. Als Lydia ihn nahe wußte, gab sie die Flucht auf und ließ das Tier im Schritt gehen. Sie wandte sich nicht nach dem Verfolger um. Stolz, scheinbar gleichmütig ritt sie vor sich hin, als wäre nichts gewesen, als wäre sie allein. Er trieb sein Pferd neben ihres, dicht nebeneinander schritten friedlich die beiden Rosse, aber Tier und Reiter waren erhitzt vom Jagen.
»Lydia!« rief er leise. Sie gab keine Antwort.
»Lydia!«
Sie blieb stumm.
»Wie schön war das, Lydia, dich von fern reiten zu sehen, wie ein goldener Blitz flog dein Haar hinter dir her. Wie schön war das! Ach, wie wunderbar, daß du vor mir geflohen bist! Da sah ich erst, daß du mich ein wenig liebhast. Ich hatte es nicht gewußt, noch gestern abend war ich im Zweifel. Erst da, als du mir zu entfliehen versucht hast, habe ich plötzlich verstanden. Schöne, Liebe, du mußt müde sein, laß uns absteigen!«
Er sprang rasch vom Pferde und faßte im selben Augenblick ihre Zügel, daß sie nicht nochmals ausrisse. Schneeweiß blickte ihr Gesicht zu ihm herab, und als er sie vom Pferde hob, brach sie in Weinen aus. Behutsam führte er sie ein paar Schritte, ließ sie ins verdorrte Gras niedersitzen und kniete neben ihr. Da saß sie und kämpfte mit dem Schluchzen, tapfer kämpfte sie und wurde Herr darüber.
»Ach, daß du so schlecht bist!« fing sie an, als sie sprechen konnte. Kaum brachte sie die Worte heraus.
»Bin ich so schlecht?«
»Du bist ein Frauenverführer, Goldmund. Laß mich vergessen, was du mir da vorher gesagt hast, es waren unverschämte Worte, es ziemt sich nicht für dich, so mit mir zu reden. Wie kannst du glauben, ich hätte dich lieb? Laß uns das vergessen! Aber wie soll ich vergessen, was ich gestern abend habe sehen müssen?«
»Gestern abend? Was hast du denn da gesehen?«
»Ach, tu nicht so, lüge doch nicht so! Es war gräßlich und schamlos, wie du da vor meinen Augen dieser Frau schön getan hast! Hast du denn keine Scham? Sogar das Bein hast du ihr gestreichelt, unterm Tisch, unter unserem Tisch! Vor mir, vor meinen Augen! Und jetzt kommst du, wo sie fort ist, und stellst mir nach! Du weißt wirklich nicht, was Scham ist.«
Goldmund hatte längst schon die Worte bereut, die er ihr gesagt hatte, ehe er sie vom Pferd holte. Wie dumm war das gewesen, Worte waren in der Liebe entbehrlich, er hätte schweigen sollen.
Er sagte nichts mehr. Er kniete neben ihr, und da sie ihn so schön und unglücklich ansah, steckte ihr Leid ihn an; er fühlte selbst, daß da etwas zu beklagen war. Aber trotz allem, was sie da gesagt hatte, sah er in ihrem Auge doch Liebe, und auch der Schmerz auf ihren zuckenden Lippen war Liebe. Er glaubte ihrem Auge mehr als ihren Worten. Aber sie hatte eine Antwort erwartet. Da sie nicht kam, machte Lydia ihre Lippen noch herber, sah ihn aus den etwas verweinten Augen an und wiederholte: »Hast du denn wirklich keine Scham?«
»Verzeih«, sagte er demütig, »wir sprechen da von Sachen, über die man nicht sprechen sollte. Es ist meine Schuld, verzeih mir! Du fragst, ob ich keine Scham habe. Ja, Scham habe ich wohl. Aber ich habe dich doch lieb, du, und die Liebe weiß nichts von Scham. Sei nicht böse!«
Sie schien kaum zu hören. Sie saß und machte diesen bitteren Mund und blickte darüber weg in die Ferne, als wäre sie ganz allein. Nie war er in einer solchen Lage gewesen. Es kam vom Sprechen.
Sanft legte er sein Gesicht auf ihr Knie, und sogleich tat die Berührung ihm wohl. Doch war er etwas ratlos und traurig, und auch sie schien noch immer traurig zu sein, sie saß regungslos, schwieg und sah ins Weite. Wieviel Verlegenheit, wieviel Traurigkeit! Aber das Knie nahm das Anschmiegen seiner Wange freundlich an, es wies ihn nicht zurück. Mit geschlossenen Augen lag sein Gesicht auf ihrem Knie, langsam nahm es dessen edle, lange Form in sich auf. Goldmund dachte mit Freude und Rührung, wie sehr dies Knie in seiner vornehmen und jugendlichen Form ihren langen, schönen, straff gewölbten Fingernägeln entspreche. Dankbar schmiegte er sich an das Knie, ließ Wange und Mund mit ihm sprechen.
Jetzt spürte er ihre Hand, die sich zaghaft und vogelleicht auf sein Haar legte. Liebe Hand, fühlte er und spürte, wie sie leise und kindlich sein Haar streichelte. Ihre Hand hatte er oft schon genau betrachtet und bewundert, er kannte sie beinah wie seine eigene, die langen schlanken Finger mit den langen, schön gewölbten, rosigen Hügeln der Fingernägel. Nun sprachen die langen zarten Finger schüchtern mit seinen Locken. Ihre Sprache war kindlich und bange, aber sie war Liebe. Dankbar schmiegte er seinen Kopf in ihre Hand, fühlte mit dem Nacken, mit den Wangen ihre Handfläche.
Da sagte sie: »Es ist Zeit, wir müssen fort.«
Er hob den Kopf und sah sie zärtlich an, sanft küßte er ihre schlanken Finger.
»Bitte, steh auf«, sagte sie, »wir müssen nach Haus.«
Er gehorchte sofort, sie standen auf, sie stiegen auf ihre Pferde, sie ritten.
Goldmunds Herz war voll Glück. Wie schön war Lydia, wie kindlich rein und zart! Noch nicht einmal geküßt hatte er sie, und war doch so beschenkt und von ihr erfüllt. Sie ritten scharf, und erst bei der Heimkehr, dicht vor der Einfahrt des Hofes, erschrak sie und sagte: »Wir hätten nicht beide zugleich ankommen sollen. Wie töricht wir sind!« Und noch im letzten Augenblick, als sie von den Pferden stiegen und schon ein Reitknecht gelaufen kam, flüsterte sie ihm rasch und glühend ins Ohr: »Sag mir, ob du heut nacht bei diesem Weib gewesen bist!« Er schüttelte den Kopf viele Male und machte sich daran, das Pferd abzuzäumen.
Am Nachmittag, als ihr Vater ausgegangen war, fand sie sich in der Schreibstube ein.
»Ist es auch wahr?« fragte sie sofort mit Leidenschaft, und er wußte alsbald, was sie meinte.
»Warum hast du dann so mit ihr gespielt, so abscheulich, und sie verliebt gemacht?«
»Es galt dir«, sagte er. »Glaube mir, tausendmal lieber hätte ich deinen Fuß gestreichelt als den ihren. Aber nie ist dein Fuß unterm Tisch zu mir gekommen und hat mich gefragt, ob ich dich liebhabe.«
»Hast du mich wirklich lieb, Goldmund?«
»O ja.«
»Aber was soll daraus werden?«
»Ich weiß es nicht, Lydia. Es kümmert mich auch nicht. Es macht mich glücklich, dich zu lieben – was daraus werden wird, daran denke ich nicht. Ich bin froh, wenn ich dich reiten sehe, und wenn ich deine Stimme höre, und wenn deine Finger mir das Haar streicheln. Ich werde froh sein, wenn ich dich küssen darf.«
»Man darf nur seine Braut küssen, Goldmund. Hast du daran nie gedacht?«
»Nein, ich habe nie daran gedacht. Warum sollte ich? Du weißt so gut wie ich, daß du nicht meine Braut werden kannst.«
»So ist es. Und weil du nicht mein Mann werden und immer bei mir bleiben kannst, darum war es sehr unrecht von dir, mir von Liebe zu sprechen. Hast du geglaubt, daß du mich verführen könntest?«
»Ich habe nichts geglaubt und gedacht, Lydia, ich denke überhaupt viel weniger, als du meinst. Ich wünsche nichts, als daß du mich einmal küssen möchtest. Wir sprechen so viel. Liebende tun das nicht. Ich glaube, du hast mich nicht lieb.«
»Heut morgen hast du das Gegenteil gesagt.«
»Und du hast das Gegenteil getan!«
»Ich? Wie meinst du das?«
»Zuerst bist du vor mir davongeritten, als du mich kommen sahst. Da glaubte ich, du liebest mich. Dann hast du weinen müssen, und ich glaubte, es sei, weil du mich liebhättest. Dann lag mein Kopf auf deinem Knie, und du hast mich gestreichelt, und ich glaubte, das sei Liebe. Aber jetzt tust du nichts Liebes mit mir.«
»Ich bin nicht so wie die Frau, deren Fuß du gestern gestreichelt hast. Du scheinst an solche Frauen gewöhnt zu sein.«
»Nein, Gott sei Dank bist du viel schöner und feiner als sie.«
»Ich meine nicht das.«
»Oh, es ist aber so. Weißt du denn, wie schön du bist?«
»Ich habe einen Spiegel.«
»Hast du darin einmal deine Stirn gesehen, Lydia? Und dann die Schultern, und dann die Fingernägel, und dann die Knie? Und hast du gesehen, wie das alles einander gleicht und sich aufeinander reimt, wie das alles die gleiche Form hat, eine lange, gestreckte, feste und sehr schlanke Form? Hast du es gesehen?«
»Wie du sprichst! Ich habe es eigentlich nie gesehen, aber jetzt, wo du es sagst, weiß ich doch, was du meinst. Höre, du bist doch ein Verführer, jetzt versuchst du es, mich eitel zu machen.«
»Schade, ich kann es dir nicht recht machen. Aber warum soll mir denn daran gelegen sein, dich eitel zu machen? Du bist schön, und ich möchte dir zeigen, daß ich dafür dankbar bin. Du zwingst mich, es dir mit Worten zu sagen; ich könnte es dir tausendmal besser sagen als mit Worten. Mit Worten kann ich dir nichts geben! Mit Worten kann ich auch nichts von dir lernen und du nichts von mir.«
»Was soll ich denn von dir lernen?«
»Ich von dir, Lydia, und du von mir. Aber du willst ja nicht. Du willst ja nur den liebhaben, dessen Braut du sein wirst. Er wird lachen, wenn er sieht, daß du nichts gelernt hast, nicht einmal küssen.«
»So, also im Küssen möchtest du mir Unterricht geben, Herr Magister?«
Er lächelte ihr zu. Gefielen auch ihre Worte ihm nicht, so konnte er doch hinter ihrem etwas heftigen und unechten Klugreden ihr Mädchentum spüren, wie es von der Lüsternheit ergriffen war und sich angstvoll dagegen wehrte. Er gab keine Antwort mehr. Er lächelte ihr zu, hielt ihren unruhigen Blick mit seinen Augen fest und gefangen, und während sie sich, nicht ohne Widerstand, dem Bann ergab, näherte er langsam sein Gesicht dem ihren, bis die Lippen sich berührten. Leise streifte er ihren Mund, der gab ihm mit einem kleinen Kinderkuß Antwort und öffnete sich wie in schmerzlichem Erstaunen, als er ihn nicht wieder losließ. Sanft werbend folgte er ihrem zurückfliehenden Munde, bis er zögernd wieder entgegenkam, und lehrte die Bezauberte ohne Gewalt das Nehmen und Geben des Kusses, bis sie erschöpft ihr Gesicht auf seine Schulter drückte. Er ließ es ruhen, roch beglückt an ihrem starken blonden Haar, murmelte zärtliche und beruhigende Töne in ihr Ohr und erinnerte sich in diesen Augenblicken daran, wie er, ein ahnungsloser Schüler, einst durch die Zigeunerin Lise m das Geheimnis eingeweiht worden war. Wie schwarz war ihr Haar gewesen, wie braun ihre Haut, wie hatte die Sonne gebrannt und das welke Johanniskraut geduftet! Und wie weit lag das schon, aus welcher Ferne schon blitzte es herüber. So schnell ward alles welk, was kaum noch blühte!
Langsam richtete Lydia sich auf, mit verwandeltem Gesicht, ernst und groß blickten ihre liebenden Augen.
»Laß mich gehen, Goldmund«, sagte sie, »ich war so lange bei dir. O du, o mein Lieber du!«
Sie fanden jeden Tag ihre verschwiegene Stunde, und Goldmund ließ sich ganz von der Liebenden führen, wunderbar beglückte und rührte ihn diese Mädchenliebe. Manches Mal mochte sie eine ganze Stunde lang nichts als seine Hände in ihren halten und in seine Augen sehen und nahm Abschied mit einem Kinderkuß. Andere Male küßte sie hingegeben und unersättlich, duldete aber keine Berührung. Einmal, tief errötend und mit Überwindung, im Willen, ihm eine große Freude zu machen, ließ sie ihn eine ihrer Brüste sehen; schüchtern brachte sie die kleine weiße Frucht aus dem Kleide hervor; als er sie kniend geküßt hatte, verhüllte sie sie wieder mit Sorgfalt und war noch immer rot bis zum Halse. Sie sprachen auch, aber auf eine neue Art, nicht mehr so wie am ersten Tage; sie erfanden Namen füreinander, gern erzählte sie ihm von ihrer Kindheit, ihren Träumen und Spielen. Auch davon sprach sie oft, daß ihre Liebe unrecht sei, da er sie nicht heiraten könne; traurig und ergeben sprach sie davon und schmückte ihre Liebe mit dem Geheimnis dieser Traurigkeit wie mit einem schwarzen Schleier.
Zum erstenmal fühlte sich Goldmund von einer Frau nicht nur begehrt, sondern geliebt.
Lydia sagte einst: »Du bist so hübsch und siehst so heiter aus. Aber in deinen Augen innen ist keine Heiterkeit, da ist lauter Trauer; wie wenn deine Augen wüßten, daß es kein Glück gibt und daß alles Schöne und Geliebte nicht lange bei uns bleibt. Du hast die schönsten Augen, die es geben kann, und die traurigsten. Ich glaube, das ist, weil du heimatlos bist. Du bist aus den Wäldern zu mir gekommen, und einmal wirst du wieder fortgehen und auf Moos schlafen und wandern. – Aber wo ist denn meine Heimat? Wenn du fortgehst, dann habe ich wohl noch einen Vater und eine Schwester und habe eine Kammer und ein Fenster, wo ich sitzen und an dich denken kann; aber Heimat werde ich keine mehr haben.«
Er ließ sie sprechen, manchmal lächelte er dazu, manchmal war er betrübt. Mit Worten tröstete er sie nie, nur mit leisem Streicheln, nur indem er ihren Kopf an seiner Brust hielt und leise sinnlose Zaubertöne summte, wie die Ammen sie zum Trost der Kinder summen, wenn sie weinen. Einmal sagte Lydia: »Ich möchte wohl wissen, Goldmund, was einmal aus dir werden wird, ich denke oft darüber nach. Du wirst kein gewöhnliches Leben haben und kein leichtes. Ach, möchte es dir doch gut ergehen! Manchmal denke ich, du müßtest ein Dichter werden, einer, der Gesichte und Träume hat und sie schön aussprechen kann. Ach, du wirst durch die ganze Welt wandern, und alle Frauen werden dich lieben, und doch wirst du allein bleiben. Geh lieber wieder ins Kloster zu deinem Freund, von dem du mir soviel erzählst! Ich werde für dich beten, daß du nicht einst allein im Walde sterben mußt.«
So konnte sie sprechen, in tiefem Ernst, mit verlorenen Augen. Aber dann konnte sie wieder lachend mit ihm über das spätherbstliche Land reiten oder ihm Scherzrätsel aufgeben und ihn mit welkem Laub und blanken Eicheln bewerfen. Einmal lag Goldmund in seiner Kammer im Bett und wartete auf den Schlaf. Das Herz war ihm schwer, auf eine holde schmerzliche Art, schwer und voll schlug es in seiner Brust, überfüllt mit Liebe, überfüllt mit Trauer und Ratlosigkeit. Er hörte den Novemberwind am Dach rütteln; schon war es eine Gewohnheit geworden, daß er vor dem Einschlafen eine ganze Weile so lag und der Schlaf nicht kam. Leise sprach er, wie es am Abend seine Gewohnheit war, ein Marienlied in sich hinein:
Tota pulchra es, Maria,
et macula originalis non est in te.
Tu laetitia Israel,
tu advocata peccatorum!
Mit seiner sanften Musik sank das Lied in seine Seele, zugleich aber sang draußen der Wind, sang von Unfriede und Wanderung, vom Wald, vom Herbst, vom Leben der Heimatlosen. Er dachte an Lydia und dachte an Narziß und an seine Mutter, voll und schwer war sein unruhiges Herz. Da schreckte er auf und starrte ungläubig: die Kammertür war aufgegangen, im Dunkeln kam eine Gestalt im langen weißen Hemde herein, lautlos kam Lydia mit bloßen Füßen über die Steinfliesen hereingegangen, schloß sachte die Tür und setzte sich auf sein Lager.
»Lydia«, flüsterte er, »mein Rehlein, meine weiße Blume! Lydia, was tust du?«
»Ich komme zu dir«, sagte sie, »bloß für einen Augenblick. Ich will doch einmal sehen, wie mein Goldmund in seinem Bettlein liegt, mein Goldherz.«
Sie legte sich zu ihm, still lagen sie, mit schweren schlagenden Herzen. Sie ließ ihn küssen, sie ließ seine bewundernden Hände an ihren Gliedern spielen, mehr war nicht erlaubt. Nach einer kurzen Weile streifte sie seine Hände sanft von sich, küßte ihn auf die Augen, stand lautlos auf und verschwand. Die Tür knarrte, im Dachstuhl klirrte und drückte der Wind. Alles war verzaubert, voll Geheimnis, voll Bangigkeit, voll Versprechen, voll Drohung. Goldmund wußte nicht, was er denke, was er tue. Als er nach einem unruhigen Schlummer wieder erwachte, war sein Kissen naß von Tränen.
Sie kam nach einigen Tagen wieder, das süße weiße Gespenst, und lag eine Viertelstunde bei ihm, wie das letztemal. Flüsternd sprach sie, von seinen Armen umschlossen, ihm ins Ohr, sie hatte viel zu sagen und zu klagen. Zärtlich hörte er ihr zu, sie lag auf seinem linken Arm, mit der rechten Hand streichelte er ihre Knie.
»Goldmündchen«, sagte sie, mit ganz gedämpfter Stimme dicht an seiner Wange, »es ist so traurig, daß ich nie werde dir gehören dürfen. Es wird nicht lang mehr dauern, unser kleines Glück, unser kleines Geheimnis. Julie hat schon Verdacht, bald wird sie mich zwingen, es ihr zu sagen. Oder der Vater merkt es. Wenn er mich bei dir im Bett fände, mein kleiner Goldvogel, dann ginge es deiner Lydia übel; sie stünde mit verweinten Augen und blickte zu den Bäumen hinauf und sähe ihren Liebsten droben hangen und im Winde wehen. Ach du, lauf lieber fort, lieber jetzt gleich, statt daß der Vater dich binden und aufhängen läßt. Ich habe schon einmal einen hängen sehen, einen Dieb. Ich kann dich nicht hängen sehen, du, lauf lieber davon und vergiß mich; daß du nur nicht sterben mußt, Göldchen, daß nur in deine blauen Augen nicht die Vögel hacken! Aber nein, du Schatz, du darfst nicht fortgehen – ach, was mache ich, wenn du mich allein läßt.«
»Willst du denn nicht mit mir kommen, Lydia? Wir fliehen miteinander, die Welt ist groß!«
»Das wäre sehr schön«, klagte sie, »ach wie schön, mit dir durch die ganze Welt zu laufen! Aber ich kann nicht. Ich kann nicht im Walde schlafen und heimatlos sein und Strohhalme in den Haaren haben, ich kann das nicht. Ich kann auch dem Vater nicht die Schande machen. – Nein, rede nicht, es sind keine Einbildungen. Ich kann nicht! Ich könnte es sowenig, als ich aus einem schmutzigen Teller essen oder im Bett eines Aussätzigen schlafen könnte. Ach, uns ist alles verboten, was gut und was schön wäre, wir beide sind zum Leid geboren. Göldchen, mein armer kleiner Junge, ich werde dich am Ende doch müssen hängen sehen. Und ich, ich werde eingesperrt und dann in ein Kloster geschickt. Liebster, du mußt mich verlassen und wieder bei den Zigeunerinnen und Bauernweibern schlafen. Ach geh, geh, ehe sie dich fangen und binden! Nie werden wir glücklich sein, nie.«
Er streichelte sachte ihre Knie, und indem er ganz zart ihre Scham berührte, bat er: »Blümchen, wir könnten so sehr glücklich sein! Darf ich nicht?«
Sie drängte ohne Unwillen, aber mit Kraft seine Hand beiseite und rückte etwas von ihm weg. »Nein«, sagte sie, »nein, das darfst du nicht. Es ist mir verboten. Du kleiner Zigeuner verstehst das vielleicht nicht. Ich tue ja unrecht, ich bin ein schlechtes Mädchen, ich mache dem ganzen Haus Schande. Aber irgendwo in meiner Seele drinnen bin ich doch noch stolz, dort darf niemand hineinkommen. Du mußt mir das lassen, sonst kann ich nie mehr zu dir in die Kammer kommen.«
Nie hätte er ein Verbot, einen Wunsch, eine Andeutung von ihr mißachtet. Er war selbst verwundert darüber, wieviel Macht sie über ihn hatte. Aber er litt. Seine Sinne blieben ungestillt, und sein Herz wehrte sich oft heftig gegen die Abhängigkeit. Manchmal gab er sich Mühe, davon loszukommen. Manchmal machte er der kleinen Julie mit ausgesuchter Artigkeit den Hof, und allerdings war es ja auch sehr notwendig, mit dieser wichtigen Person in einem guten Verhältnis zu bleiben und sie womöglich zu täuschen. Es ging ihm merkwürdig mit dieser Julie, die oft so sehr kindlich tat und oft so allwissend schien. Kein Zweifel, sie war schöner als Lydia, sie war eine ungewöhnliche Schönheit, und dies war, zusammen mit ihrer etwas altklugen Kinderunschuld, für Goldmund ein großer Reiz; er war oft stark in Julie verliebt. Gerade an diesem starken Reiz, den die Schwester für seine Sinne hatte, erkannte er oft mit Erstaunen den Unterschied zwischen Begierde und Liebe. Anfangs hatte er beide Schwestern mit denselben Augen angeschaut, hatte beide begehrenswert, Julie aber schöner und verführenswerter gefunden, hatte unterschiedlos um beide geworben und beide stets im Auge behalten. Und jetzt hatte Lydia diese Macht über ihn gewonnen! Jetzt liebte er sie so sehr, daß er sogar auf ihren völligen Besitz aus Liebe verzichtete. Ihre Seele war ihm bekannt und lieb geworden, in ihrer Kindlichkeit, Zärtlichkeit und ihrer Hinneigung zur Traurigkeit schien sie seiner eigenen ähnlich; oft war er tief erstaunt und entzückt darüber, wie sehr diese Seele ihrem Leibe entsprach; sie konnte etwas tun, etwas sagen, einen Wunsch oder ein Urteil äußern, und ihr Wort und die Haltung ihrer Seele war vollkommen nach derselben Form geprägt wie der Schnitt ihrer Augen und die Bildung ihrer Finger!
Diese Augenblicke, in denen er die Grundformen und Gesetze zu sehen glaubte, nach denen ihr Wesen, Seele wie Leib, gestaltet war, hatten in Goldmund öfters die Lust erweckt, etwas von dieser Gestalt festzuhalten und nachzubilden, und er hatte auf einigen Blättern, die er sehr geheimhielt, Versuche gemacht, mit Federstrichen den Umriß ihres Kopfes, die Linie ihrer Brauen, ihre Hand, ihr Knie aus dem Gedächtnis zu zeichnen.
Mit Julie war es etwas schwierig geworden. Sie witterte sichtlich die Woge von Liebe, in der ihre ältere Schwester schwamm, und ihre Sinne wandten sich voll Neugierde und Begehrlichkeit dem Paradiese zu, ohne daß ihr eigensinniger Verstand es zugeben wollte. Sie zeigte Goldmund eine übertriebene Kühle und Abneigung und konnte ihn in Augenblicken der Vergessenheit doch mit Bewunderung und lüsterner Neugierde betrachten. Mit Lydia war sie oft sehr zärtlich, suchte sie zuweilen auch im Bette auf und atmete dann mit verschwiegener Gier in der Zone der Liebe und des Geschlechts, streifte mutwillig an das verbotene und ersehnte Geheimnis. Dann wieder ließ sie in beinah verletzender Art merken, daß sie um Lydias geheimes Vergehen wisse und es verachte. Reizend und störend flackerte das schöne und launische Kind zwischen den beiden Liebenden, naschte in durstigen Träumen an ihrer Heimlichkeit, spielte bald die Ahnungslose, bald ließ sie gefährliche Mitwisserschaft merken; schnell war sie aus einem Kinde zu einer Macht geworden. Lydia hatte davon mehr zu leiden als Goldmund, der die Kleine außer bei den Mahlzeiten selten zu Gesichte bekam. Es konnte Lydia auch nicht verborgen bleiben, daß Goldmund gegen Julies Reiz nicht unempfindlich war, manchmal sah sie seinen anerkennenden, genießenden Blick auf ihr ruhen. Sie durfte nichts sagen, alles war so schwierig, alles so voll Gefahr, namentlich durfte Julie nicht verstimmt und beleidigt werden; ach, jeden Tag und jede Stunde konnte das Geheimnis ihrer Liebe entdeckt und ihrem schweren angstvollen Glück ein Ende gemacht werden, vielleicht ein schreckliches.
Manchmal wunderte sich Goldmund darüber, daß er nicht längst auf und davon gegangen war. Es war schwer, so zu leben, wie er jetzt lebte: geliebt, aber ohne Hoffnung, weder auf ein erlaubtes und dauerndes Glück, noch auf die leichten Erfüllungen, an welche seine Liebeswünsche bisher gewohnt waren; mit ewig gereizten und hungrigen, nie gestillten Trieben, dabei in beständiger Gefahr. Warum blieb er hier und ertrug das alles, alle diese Verwicklungen und verwirrten Gefühle? Waren das nicht Erlebnisse, Gefühle und Gewissenszustände für Seßhafte, für Legitime, für Leute in geheizten Stuben? Hatte er nicht das Recht des Heimatlosen und Anspruchslosen, sich diesen Zartheiten und Kompliziertheiten zu entziehen und ihrer zu lachen? Ja, dies Recht hatte er, und er war ein Narr, daß er hier etwas wie Heimat suchte und es mit so viel Schmerzen, so viel Verlegenheiten bezahlte. Und dennoch tat und litt er es, litt es gerne, war heimlich glücklich dabei. Es war dumm und schwierig, es war kompliziert und anstrengend, auf eine solche Art zu lieben, aber es war wunderbar. Wunderbar war die dunkelschöne Traurigkeit dieser Liebe, ihre Narrheit und Hoffnungslosigkeit; schön waren diese gedankenvollen Nächte ohne Schlaf; schön und köstlich war dies alles wie der Leidenszug auf Lydias Lippen, wie der verlorene, ergebene Klang ihrer Stimme, wenn sie von ihrer Liebe und Sorge sprach. In wenigen Wochen war dieser Leidenszug auf Lydias jungem Gesicht entstanden und heimisch geworden, dessen Linien mit der Feder nachzuzeichnen ihm so schön und wichtig schien, und er fühlte: in diesen wenigen Wochen war auch er selbst anders und sehr viel älter geworden, nicht klüger und dennoch erfahrener, nicht glücklicher und doch viel reifer und reicher in der Seele. Er war kein Knabe mehr.
Mit ihrer sanften, verlorenen Stimme sagte Lydia zu ihm: »Du mußt nicht traurig sein, nicht meinetwegen, ich möchte dich ja nur fröhlich machen und glücklich sehen. Verzeih, ich habe dich traurig gemacht, ich habe dich mit meiner Angst und Betrübnis angesteckt. Ich träume nachts so merkwürdig: immer gehe ich da in einer Wüste, die ist so groß und so dunkel, wie ich nicht sagen kann, da gehe ich und gehe und suche dich, aber du bist nicht da, und ich weiß, ich habe dich verloren und werde immer, immer so gehen müssen, so allein. Dann, wenn ich erwache, denke ich: o wie gut, o wie herrlich ist es, daß er noch da ist und ich ihn sehen werde, vielleicht noch Wochen oder noch Tage, einerlei, aber er ist noch da!«
Eines Morgens erwachte Goldmund bald nach Tagesanbruch in seinem Bette und blieb eine Weile nachsinnend liegen, Bilder aus einem Traume waren noch um ihn, doch ohne Zusammenhang. Er hatte von seiner Mutter geträumt und von Narziß, beide Gestalten konnte er noch deutlich sehen. Als er sich aus den Traumfäden befreit hatte, fiel ein besonderes Licht ihm auf, eine eigentümliche Art von Helligkeit, die heute durchs kleine Fensterloch hereinkam. Er sprang auf und lief zum Fenster, da sah er das Fenstergesimse, das Dach des Pferdestalls, die Hofeinfahrt und die ganze Landschaft jenseits bläulichweiß schimmern, vom ersten Schnee dieses Winters bedeckt. Der Gegensatz zwischen der Unruhe seines Herzens und der stillen, ergebenen Winterwelt machte ihn betroffen: wie ruhig, wie rührend und fromm gab sich Acker und Wald, Hügel und Heide der Sonne, dem Wind, dem Regen, der Dürre, dem Schnee hin, wie schön und sanft leidend trugen Ahorn und Esche ihre Winterlast! Konnte man nicht werden wie sie, konnte man nichts von ihnen lernen? Gedankenvoll ging er auf den Hof hinaus, watete im Schnee und befühlte ihn mit den Händen, ging zum Garten hinüber und blickte über den hoch beschneiten Zaun in die vom Schnee hinabgebogenen Rosenstämme.
Zum Frühstück aß man eine Mehlsuppe, alle sprachen vom ersten Schnee, alle – auch die Mädchen – waren schon draußen gewesen. Der Schnee kam spät in diesem Jahr, schon war die Weihnacht nahe. Der Ritter erzählte von den südlichen Landern, wo es keinen Schnee gebe. Das aber, was diesen ersten Wimertag für Goldmund unvergeßlich machte, begab sich erst, als es längst Nacht geworden war. Die beiden Schwestern hatten heut einen Zank gehabt, von dem Goldmund nichts wußte. Nachts, als es still und dunkel im Hause geworden war, kam Lydia zu ihm, in ihrer gewohnten Art, sie legte sich schweigend zu ihm und den Kopf an seine Brust, um sein Herz schlagen zu hören und sich an seiner Nähe zu trösten. Sie war betrübt und änstlich, sie fürchtete von Julie Verrat, doch konnte sie sich nicht entschließen, mit dem Liebsten davon zu sprechen und ihm Sorge zu bringen. So lag sie still an seinem Herzen, hörte ihn zuweilen ein Kosewort flüstern und spürte seine Hand in ihren Haaren.
Plötzlich aber – sie war noch nicht lange so gelegen – erschrak sie furchtbar und richtete sich mit weitaufgerissenen Augen hoch auf. Und auch Goldmund erschrak nicht wenig, als er die Kammertür offen und eine Gestalt hereintreten sah, die er im Schrecken nicht sofort erkannte. Erst als die Erscheinung dicht am Bette stand und sich darüber neigte, sah er mit beklommenem Herzen, daß es Julie war. Sie schlüpfte aus einem Mantel, den sie übers bloße Hemd geworfen hatte, und ließ den Mantel zu Boden fallen. Mit einem Wehlaut, als hätte sie einen Messerstich empfangen, sank Lydia zurück und klammerte sich an Goldmund. Mit einem Ton von Hohn und Schadenfreude, aber doch mit unsicherer Stimme, sagte Julie: »Ich mag nicht so allein in der Kammer liegen. Entweder ihr nehmet mich zu euch und wir liegen zu dreien, oder ich gehe und wecke den Vater.«
»Ja, dann komm nur«, sagte Goldmund und schlug die Decke zurück. »Du erfrierst dir ja die Füße.« Sie stieg ein, und er hatte Mühe, ihr auf dem schmalen Lager etwas Raum zu schaffen, denn Lydia hatte das Gesicht ins Kissen vergraben und lag regungslos. Endlich lagen sie alle drei, auf jeder Seite Goldmunds ein Mädchen, und einen Augenblick konnte er sich des Gedankens nicht erwehren, wie sehr diese Lage noch vor kurzer Zeit allen seinen Wünschen entsprochen hätte. Mit wunderlichem Bangen, und doch heimlich entzückt, spürte er Julies Hüfte an seiner Seite.
»Ich mußte doch einmal sehen«, fing sie wieder an, »wie es sich denn in deinem Bette liegt, das meine Schwester so gern aufsucht.«
Goldmund, um sie zur Ruhe zu bringen, rieb sachte seine Wange an ihrem Haar und streichelte mit leiser Hand ihre Hüften und Knie, wie man einer Katze schön tut, und sie gab sich schweigend und neugierig in seine tastende Hand, fühlte benommen und andächtig den Zauber, bot keinen Widerstand. Während dieser Beschwörung aber bemühte er sich zugleich um Lydia, summte ihr leise vertraute Liebestöne ins Ohr und brachte sie langsam dazu, wenigstens das Gesicht zu erheben und ihm zuzuwenden. Lautlos küßte er ihr Mund und Augen, während seine Hand drüben die Schwester im Bann hielt und die Peinlichkeit und Verschrobenheit der ganzen Lage ihm bis zur Unerträglichkeit bewußt wurde. Seine linke Hand war es, die ihn belehrte; während sie mit den schönen, still wartenden Gliedern Julies bekannt wurde, empfand er zum erstenmal nicht nur die Schönheit und tiefe Hoffnungslosigkeit seiner Liebe zu Lydia, sondern auch ihre Lächerlichkeit. Er hätte, so schien es ihm jetzt, während seine Lippen bei Lydia waren und seine Hand bei Julien, er hätte Lydia entweder zur Hingabe zwingen oder seines Weges weiterziehen müssen. Sie zu lieben und ihr doch zu entsagen, war ein Unsinn und ein Unrecht gewesen.
»Mein Herz«, flüsterte er Lydien ins Ohr, »wir leiden unnütze Leiden. Wie glücklich könnten wir jetzt alle dreie sein! Laß uns doch tun, was unser Blut verlangt!«
Da sie zurückschaudernd sich entzog, flüchtete seine Begierde zur andern, und seine Hand tat ihr so wohl, daß sie mit einem langen bebenden Seufzer der Wollust antwortete. Als Lydia diesen Seufzer hörte, zog Eifersucht ihr Herz zusammen, als wäre Gift hineingetropft. Sie setzte sich unversehens auf, riß die Decke vom Bett, sprang auf die Füße und rief: »Julie, laß uns gehen!«
Julie zuckte zusammen; schon die unbedachte Heftigkeit dieses Rufs, der sie alle verraten konnte, zeigte ihr die Gefahr, und sie erhob sich schweigend.
Goldmund aber, in allen seinen Trieben beleidigt und betrogen, umschlang schnell die sich aufrichtende Julie, küßte ihr beide Brüste und flüsterte ihr brennend ins Ohr: »Morgen, Julie, morgen!«
Lydia stand im Hemde und barfuß, auf dem Steinboden krümmten sich ihre Zehen vor Kälte. Sie hob Julies Mantel vom Boden auf und hing ihn ihr um, mit einer leidenden und demütigen Gebärde, die jener auch im Dunkeln nicht entging und die sie rührte und versöhnte. Leise huschten die Schwestern aus der Kammer und davon. Voll widerstreitender Gefühle horchte Goldmund ihnen nach und atmete auf, als es im Hause totenstill blieb.
So waren die drei jungen Menschen aus einem sonderbaren und unnatürlichen Zusammensein in nachdenkliche Einsamkeit verwiesen, denn auch die beiden Schwestern, nachdem sie ihre Schlafstube erreicht hatten, fanden sich nicht zu einer Aussprache, sondern lagen jede einsam, schweigend und trotzig in ihrem Bette wach. Ein Geist des Unglücks und Widerspruchs, ein Dämon der Sinnlosigkeit, Vereinsamung und Seelenverwirrung schien sich des Hauses bemächtigt zu haben. Erst nach Mitternacht entschlief Goldmund, erst gegen den Morgen Julie. Lydia lag wach und gepeinigt, bis überm Schnee der bleiche Tag heraufkam. Sie erhob sich sofort, zog sich an, kniete lang vor ihrem kleinen hölzernen Heiland und betete, und sobald sie auf der Treppe den Schritt ihres Vaters vernahm, ging sie und bat ihn um eine Unterredung. Ohne den Versuch zu machen, zwischen ihrer Sorge um Julies Mädchentugend und ihrer Eifersucht zu unterscheiden, war sie zum Entschluß gekommen, der Sache ein Ende zu machen. Goldmund und Julie schliefen beide noch, als der Ritter schon alles wußte, was Lydia gut befunden hatte, ihm mitzuteilen. Julies Beteiligung an dem Abenteuer hatte sie verschwiegen. Als Goldmund zur gewohnten Stunde in der Schreibstube erschien, sah er den Ritter, der sonst in Hausschuhen und Filzrock seinen Schreibereien obzuliegen pflegte, gestiefelt, im Wams, das Schwert umgehängt, und wußte alsbald, was das bedeute.
»Setz deine Mütze auf«, sagte der Ritter, »ich habe einen Gang mit dir zu tun.«
Goldmund nahm seine Mütze vom Nagel und folgte seinem Herrn die Treppe hinab, über den Hof und zum Tor hinaus. Ihre Sohlen knirschten hell im leicht überfrorenen Schnee, am Himmel war noch Morgenrot. Schweigend ging der Ritter voran, der Jüngling folgte und blickte mehrmals nach dem Hof zurück, nach dem Fenster seiner Kammer, nach dem beschneiten steilen Dach, bis es versank und nichts mehr zu sehen war. Nie würde er dies Dach und diese Fenster wiedersehen, nie mehr die Schreibstube und Schlafkammer, nie mehr die beiden Schwestern. Seit langem war der Gedanke an ein plötzliches Scheiden ihm vertraut, dennoch zog sich sein Herz schmerzlich zusammen. Bitter weh tat ihm dieser Abschied.
Eine Stunde lang gingen sie so, der Herr voran, beide ohne zu sprechen. Goldmund begann an sein Schicksal zu denken. Der Ritter war bewaffnet, vielleicht würde er ihn erschlagen. Er glaubte jedoch nicht daran. Die Gefahr war klein; er brauchte nur davonzulaufen, so stand der alte Mann mit seinem Schwerte hilflos. Nein, sein Leben war nicht in Gefahr. Aber dieses Gehen und Schweigen, hinter dem beleidigten feierlichen Manne her, dies stumme Davongeführtwerden wurde ihm von Schritt zu Schritt peinlicher. Endlich blieb der Ritter stehen.
»Du wirst nun«, sagte er mit geborstener Stimme, »allein weitergehen, immer in dieser Richtung, und wirst dein Wanderleben führen, wie du es gewohnt warst. Solltest du dich jemals wieder in der Nähe meines Hauses zeigen, so wirst du abgeschossen. Ich will keine Rache an dir nehmen; ich hätte klüger sein und einen so jungen Menschen nicht in die Nähe meiner Töchter kommen lassen sollen. Solltest du es aber wagen zurückzukommen, so ist dein Leben verloren. Geh nun, möge dir Gott verzeihen!«
Er blieb stehen, im fahlen Schneemorgenlicht sah sein graubärtiges Gesicht wie erloschen aus. Wie ein Gespenst blieb er stehen und wich nicht von der Stelle, bis Goldmund über den nächsten Hügelkamm verschwunden war. Die rötlichen Schimmer am Wolkenhimmel hatten sich verloren, keine Sonne kam hervor, es begann langsam in dünnen, zögernden Flocken zu schneien.