Siebentes Kapitel

Während es über den Feldern kühl wurde und von Stunde zu Stunde der Mond höher rückte, ruhten die Liebenden auf ihrem sanft beschienenen Lager, in ihre Spiele verloren, gemeinsam entschlummernd und schlafend, im Erwachen sich neu zueinander wendend und einander entzündend, aufs neue ineinander verstrickt, aufs neue entschlafend. Nach der letzten Umarmung lagen sie erschöpft, Lise hatte sich tief ins Heu gepreßt und atmete schmerzlich, Goldmund lag auf dem Rücken, regungslos, und starrte lang in den bleichen Mondhimmel; in beiden stieg die große Traurigkeit empor, der sie in den Schlaf entflohen. Sie schliefen tief und verzweifelt, schliefen gierig, als sei es zum letztenmal, als seien sie zu ewigem Wachsein verurteilt und müßten in diesen Stunden vorher noch allen Schlaf der Welt in sich eintrinken.

Beim Erwachen sah Goldmund Lise mit ihren schwarzen Haaren beschäftigt. Er sah ihr eine Weile zu, zerstreut und erst halb wach geworden.

»Du bist schon wach?« sagte er schließlich. Sie wandte sich mit einem Ruck ihm zu, wie erschrocken.

»Ich muß jetzt fortgehen«, sagte sie, etwas bedrückt und verlegen. »Ich wollte dich nicht wecken.«

»Nun bin ich ja wach. Müssen wir denn schon weiter? Wir! sind doch heimatlos.«

»Ich, ja«, sagte Lise. »Du gehörst doch ins Kloster.«

»Ich gehöre nicht mehr ins Kloster, ich bin wie du, ich bin ganz allein und habe kein Ziel. Ich werde mit dir gehen, natürlich.«

Sie blickte zur Seite. »Goldmund, du kannst nicht mit mir kommen. Ich muß jetzt zu meinem Mann; er wird mich schlagen, weil ich die Nacht ausgeblieben bin. Ich sage, ich hätte mich verlaufen. Aber natürlich glaubt er es nicht.«

In diesem Augenblick erinnerte sich Goldmund, daß Narziß ihm dies vorausgesagt habe. Also so stand es nun. Er stand auf und gab ihr die Hand.

»Ich habe mich verrechnet«, sagte er, »ich hatte geglaubt, wir beide würden beisammen bleiben. – Aber hast du mich wirklich schlafen lassen wollen und ohne Abschied fortlaufen?«

»Ach, ich dachte, du würdest böse werden und mich vielleicht schlagen. Daß mein Mann mich schlägt, nun ja, das ist so, es ist in Ordnung. Aber ich wollte nicht auch noch von dir Schläge bekommen.«

Er hielt ihre Hand fest.

»Lise«, sagteer, »ich schlage dich nicht, heute nicht und niemals. Willst du nicht lieber mit mir gehen statt mit deinem Mann, wenn er dich doch prügelt?«

Sie zog heftig, um ihre Hand loszubekommen.

»Nein, nein, nein«, rief sie, mit einer weinerlichen Stimme. Und weil er wohl fühlte, daß ihr Herz von ihm fortstrebe, und daß sie lieber von dem andern Schläge wolle als von ihm gute Worte, ließ er die Hand los, und jetzt fing sie an zu weinen. Aber zugleich lief sie. Die Hände vor die nassen Augen haltend, lief sie davon. Er sagte nichts mehr und sah ihr nach. Sie tat ihm leid, wie sie da über die gemähten Wiesen fortstrebte, von irgendeiner Macht gerufen und gezogen, einer unbekannten Macht, über welche er sich Gedanken machen mußte. Sie tat ihm leid, und auch er selbst tat sich ein wenig leid; er hatte da kein Glück gehabt, schien es, allein und etwas dumm saß er da, verlassen, sitzengeblieben. Indessen war er noch immer müde und schlaflüstern, noch nie war er so erschöpft gewesen. Es war später noch Zeit, unglücklich zu sein. Schon schlief er wieder und kam erst wieder zu sich, als ihm die schon hochgestiegene Sonne heiß machte.

Jetzt war er ausgeruht; rasch erhob er sich, lief zum Bach, wusch sich und trank. Viele Erinnerungen kamen ihm jetzt, aus den Liebesstunden dieser Nacht dufteten wie fremde Blumen viele Bilder, viele holde zärtliche Empfindungen herauf. Ihnen sann er nach, während er rüstig zu wandern begann, fühlte alles nochmals, schmeckte, roch und tastete alles noch einmal und noch einmal. Wieviel Träume hatte ihm das fremde braune Weib erfüllt, wieviel Knospen zum Blühen gebracht, wieviel Neugierde und Sehnsucht gestillt und wieviel neue erweckt!

Und vor ihm lag Feld und Heide, lag vertrocknetes Brachfeld und dunkler Wald, dahinter mochten Höfe liegen und Mühlen, ein Dorf, eine Stadt. Zum erstenmal lag die Welt offen vor ihm, offen und wartend, bereit, ihn aufzunehmen, ihm wohlzutun und wehzutun. Er war kein Schüler mehr, der die Welt durchs Fenster sieht, seine Wanderung war kein Spaziergang mehr, dessen Ende unweigerlich die Rückkehr war. Diese große Welt war jetzt wirklich geworden, er war ein Teil von ihr, in ihr ruhte sein Schicksal, ihr Himmel war der seine, ihr Wetter das seine. Klein war er in dieser großen Welt, klein lief er wie ein Hase, wie ein Käfer durch ihre blau und grüne Unendlichkeit. Da rief keine Glocke zum Aufstehen, zum Kirchgang, zur Lektion, zum Mittagstisch.

O wie hungrig er war! Ein halber Laib Gerstenbrot, eine Schüssel Milch, eine Mehlsuppe – was waren das für zauberhafte Erinnerungen! Wie ein Wolf war sein Magen erwacht. An einem Kornfeld kam er vorüber, die Ähren waren halbreif, er enthülste sie mit Fingern und Zähnen, mahlte die kleinen glitschigen Körner mit Gier, holte immer neue, stopfte sich die Taschen mit Ähren voll. Und dann fand er Haselnüsse, noch sehr grüne, und biß mit Lust in die krachenden Schalen; auch von ihnen nahm er Vorrat mit.

Nun begann wieder Wald, Fichtenwald mit Eichen und Eschen dazwischen, und hier gab es Heidelbeeren in unendlicher Menge, da hielt er Rast und aß und kühlte sich. Zwischen dem dünnen harten Waldgras standen blaue Glockenblumen, braune sonnige Falter flogen auf und verschwanden launisch in zackigem Flug. In einem solchen Walde hatte die heilige Genoveva gewohnt, ihre Geschichte hatte er immer geliebt. O wie gern wäre er ihr begegnet! Oder es mochte etwa eine Einsiedelei im Walde sein, mit einem alten bärtigen Pater in einer Höhle oder Rindenhütte. Vielleicht hausten auch Köhler in diesem Walde, gern hätte er sie begrüßt. Es mochten selbst Räuber sein, ihm hätten sie wohl nichts getan. Schön wäre es, Menschen anzutreffen, irgendwelche. Aber er wußte freilich: vielleicht konnte er lang im Walde weitergehen, heut und morgen und noch manchen Tag, ohne jemand zu begegnen. Auch das mußte hingenommen werden, wenn es ihm so bestimmt war. Man durfte nicht viel denken, man mußte alles kommen lassen, wie es mochte.

Er hörte einen Specht klopfen und versuchte ihn zu beschleichen; lange gab er sich vergeblich Mühe, ihn zu Gesicht zu bekommen, endlich gelang es ihm doch, und er sah ihm eine Weile zu, wie er einsam am Baumstamm klebte und hämmerte und den fleißigen Kopf hin und her bewegte. Schade, daß man nicht mit den Tieren sprechen konnte! Es wäre schön gewesen, den Specht anzurufen und ihm etwas Freundliches zu sagen und vielleicht etwas von seinem Leben in den Bäumen zu erfahren, von seiner Arbeit und seiner Freude. Oh, daß man sich verwandeln könnte! Es fiel ihm ein, wie er in Mußestunden manchmal gezeichnet hatte, wie er mit dem Griffel auf seiner Schreibtafel Figuren gezogen hatte, Blumen, Blätter, Bäume, Tiere, Menschenköpfe. Damit hatte er oft lange gespielt, und manchmal hatte er wie ein kleiner Herrgott Kreaturen nach seinem Willen erschaffen, er hatte in einen Blumenkelch Augen und einen Mund gezeichnet, er hatte ein aus dem Zweig sprossendes Blätterbündel zu Figuren gestaltet, er hatte einem Baum einen Kopf aufgesetzt. Bei diesem Spiel war er oft eine Stunde lang glücklich und verzaubert gewesen, hatte zaubern können, hatte Linien gezogen und sich selbst davon überraschen lassen, ob aus der begonnenen Gestalt das Blatt eines Baumes, die Schnauze eines Fisches, der Schwanz eines Fuchses, die Augenbraue eines Menschen werde. So sollte man verwandlungsfähig sein, dachte er jetzt, wie es damals die spielerischen Linien auf seinem Täfelchen gewesen waren! Goldmund wäre so gerne ein Specht geworden, vielleicht für einen Tag, vielleicht für einen Monat, hätte in den Wipfeln gewohnt, wäre hoch an den glatten Stämmen gelaufen, hätte mit starkem Schnabel in die Rinde gepickt und sich mit den Schwanzfedern gegengestemmt, hätte Spechtsprache gesprochen und gute Sachen aus der Rinde geholt. Süß und kernig klang das Spechtgehämmer im klingenden Holz.

Viele Tiere traf Goldmund unterwegs im Walde. Er traf manche Hasen, die schossen plötzlich aus dem Gehölz, wenn er nahe kam, starrten ihn an, wandten sich und jagten davon, die Ohren niedergelegt, hell unterm Schwanz. In einer kleinen Lichtung fand er eine lange Schlange liegen, die lief nicht davon, es war keine lebendige Schlange, nur ihre leere Haut, er nahm sie und betrachtete sie, grau und braun lief ein schönes Muster über ihren Rücken, und die Sonne schien durch sie hindurch, sie war dünn wie Spinnweb. Schwarze Amseln mit gelben Schnäbeln sah er, die blickten starr und eng aus schwarzen ängstlichen Augenkugeln und flohen in niedrigem Fluge der Erde nah davon. Rotbrüstchen und Finken gab es viele. An einem Ort im Walde war ein Loch, ein Tümpel voll mit grünem, dickem Wasser, auf dem liefen langbeinige Spinnen eifrig und wie besessen durcheinander, einem unverständlichen Spiel hingegeben, und darüber flogen ein paar Wasserjungfern mit tief dunkelblauen Flügeln. Und einmal, schon gegen den Abend, sah er etwas – vielmehr er sah nichts als bewegtes durchwühltes Laub und hörte Zweige brechen und feuchte Erde aufklatschen und ein großes, kaum sichtbares Tier mit gewaltiger Wucht durchs Gestrüpp rennen und brechen, vielleicht ein Hirsch, vielleicht eine Sau, er wußte es nicht. Lange stand er noch, vom Schrecken aufatmend, tief erregt lauschte er der Bahn des Tieres nach, lauschte noch mit Herzklopfen, als längst alles still geworden war.

Er fand nicht aus dem Walde heraus, er mußte darin übernachten. Während er eine Schlafstätte aussuchte und ein Moosbett aufbaute, suchte er sich auszudenken, wie das sein würde, wenn er nie mehr aus den Wäldern fände und für immer darin bleiben müßte. Und er fand, daß dies ein großes Unglück sein würde. Von Beeren leben, das war am Ende möglich, und auf Moos schlafen auch, außerdem würde es ihm ohne Zweifel gelingen, sich eine Hütte zu bauen, vielleicht sogar Feuer zu machen. Aber immer und immer allein zu bleiben und zwischen den stillen schlafenden Baumstämmen zu hausen und zwischen den Tieren zu leben, die vor einem davonliefen und mit denen man nicht sprechen konnte, das würde unerträglich traurig sein. Keine Menschen sehen, niemandem guten Tag und gute Nacht sagen, in keine Gesichter und Augen mehr blicken können, keine Mädchen und Frauen mehr ansehen, keinen Kuß mehr spüren, nicht mehr das heimliche holde Spiel der Lippen und Glieder spielen, o das wäre unausdenklich! Wenn ihm das beschieden wäre, dachte er, dann würde er versuchen, ein Tier zu werden, ein Bär oder Hirsch, sei es auch unter Verzicht auf die ewige Seligkeit. Ein Bär zu sein und eine Bärin zu lieben, das wäre nicht schlecht und wäre zumindest sehr viel besser, als seine Vernunft und Sprache und all das zu behalten und damit allein und traurig und ungeliebt dahinzuleben.

In seinem Moosbett, vor dem Einschlafen, hörte er neugierig und ängstlich die vielen unverständlichen, rätselhaften Nachtgeräusche des Waldes. Sie waren jetzt seine Kameraden, mit ihnen mußte er leben, sich an sie gewöhnen, sich mit ihnen messen und vertragen; er gehörte zu den Füchsen und Rehen, zu Tanne und Fichte, mit ihnen mußte er leben, mit ihnen sich in Luft und Sonne teilen, mit ihnen den Tag erwarten, mit ihnen hungern, bei ihnen zu Gast sein.

Dann schlief er und träumte von Tieren und Menschen, war ein Bär und fraß die Lise unter Liebkosungen auf. Mitten in der Nacht wachte er mit tiefem Schrecken auf, wußte nicht warum, fühlte sein Herz unendlich bang und sann lange verstört nach. Es fiel ihm ein, daß er gestern und heute ohne Nachtgebet schlafen gegangen war. Er stand auf, kniete neben seinem Lager nieder und betete seinen Abendspruch zweimal, für gestern und für heut. Bald schlief er wieder.

Verwundert blickte er sich am Morgen im Walde um, er hatte vergessen, wo er war. Die Waldangst begann nun nachzulassen, mit neuer Freude vertraute er sich dem Waldleben an, immer aber weiter wandernd und seinen Weg nach der Sonne richtend. Einmal fand er eine Waldstrecke, die war vollkommen eben, mit wenig Unterholz, und der Wald bestand aus lauter sehr dicken, alten, geraden Weißtannen; als er eine Weile zwischen diesen Säulen gegangen war, begannen sie ihn an die Säulen der großen Klosterkirche zu erinnern, eben jener Kirche, in deren schwarzes Portal er seinen Freund Narziß neulich hatte verschwinden sehen – wann doch? War das wirklich erst vor zwei Tagen gewesen? Erst nach zwei Tagen und zwei Nächten kam er aus dem Walde heraus. Mit Freude erkannte er die Zeichen der Menschennähe: bebautes Land, Streifen Ackers mit Roggen und mit Hafer bestanden, Wiesen, durch welche, da und dort ein Stückchen weit sichtbar, ein schmaler Fußweg getreten war. Goldmund pflückte Roggen und kaute, freundlich blickte das bestellte Land ihn an, menschlich mutete und gesellig nach der langen Waldwildnis alles ihn an, das Wegchen, der Haber, die verblühten weißgewordenen Kornnelken. Nun würde er zu Menschen kommen. Nach einer kleinen Stunde kam er an einem Acker vorüber, an dessen Rande stand ein Kreuz aufgerichtet, er kniete und betete zu seinen Füßen. Um eine vorspringende Hügelnase biegend, stand er plötzlich vor einem schattigen Lindenbaum, hörte entzückt die Melodie eines Brunnens, dessen Wasser aus hölzerner Röhre in einen langen Holztrog fiel, trank kaltes köstliches Wasser und sah mit Freude ein paar Strohdächer aus den Holundern ragen, deren Beeren schon dunkel waren. Tiefer als alle diese freundlichen Zeichen berührte ihn das Brüllen einer Kuh, das klang ihm so wohlig, warm und wohnlich entgegen wie eine Begrüßung und ein Willkomm.

Spähend näherte er sich der Hütte, aus der das Kuhgebrüll gekommen war. Vor der Haustür saß im Staube ein kleiner Knabe mit rötlichem Haar und hellblauen Augen, der hatte einen irdenen Topf voll Wasser neben sich stehen, und aus dem Staub und dem Wasser machte er einen Teig, mit dem seine nackten Beine schon überzogen waren. Glücklich und ernsthaft drückte er den nassen Dreck zwischen seinen Händen, sah ihn zwischen den Fingern hervorquellen, machte Kugeln daraus und nahm zum Kneten und Formen auch noch sein Kinn zu Hilfe.

»Grüß Gott, Bub«, sagte Goldmund sehr freundlich. Aber der Kleine, als er aufblickte und einen Fremden sah, riß das Mäulchen auf, verzog das feiste Gesicht und lief plärrend auf allen vieren zur Haustür hinein. Goldmund folgte ihm und kam in die Küche; sie war so dämmerig, daß er, aus dem hellen Mittagsglast hereinkommend, anfangs nichts zu sehen vermochte. Er sprach für alle Fälle einen frommen Gruß, es kam keine Antwort; über dem Geschrei des erschreckten Knaben wurde aber allmählich eine dünne greise Stimme hörbar, die dem Buben tröstend zusprach. Endlich erhob sich im Dunkel und näherte sich eine kleine alte Frau, hielt eine Hand vor die Augen und sah zu dem Gaste auf.

»Grüß dich Gott, Mutter«, rief Goldmund, »und alle lieben Heiligen sollen dein gutes Gesicht segnen; seit drei Tagen habe ich kein Menschengesicht mehr gesehen.«

Blöde schaute das alte Weiblein aus weitsichtigen Augen.

»Was willst denn du?« fragte sie unsicher.

Goldmund gab ihr die Hand und streichelte die ihre ein wenig. »Grüß Gott sagen will ich dir, Großmütterchen, und ein bißchen ausruhen und dir beim Feuermachen helfen. Ein Stück Brot, wenn du mir eins geben willst, verschmähe ich nicht, es hat aber keine Eile damit.«

Er sah eine Bank an die Wand gezimmert, auf die setzte er sich, während die Alte dem Buben ein Stück Brot abschnitt, der jetzt gespannt und neugierig, aber noch jeden Augenblick zum Weinen und Weglaufen bereit, zu dem Fremden hinüberstarrte. Die Alte schnitt noch ein zweites Stück Brot vom Laib und brachte es Goldmund.

»Danke schön«, sagte er, »Gott soll dir's lohnen.«

»Hast du einen leeren Bauch?« fragte das Weib. »Das nicht, er ist voll von Heidelbeeren.«

»Na dann iß! Wo kommst du her?«

»Von Mariabronn, vom Kloster.«

»Bist ein Pfaff?«

»Das nicht. Ein Schüler. Auf Reisen.«

Sie sah ihn an, halb spöttisch, halb blöde, und schüttelte ein wenig den Kopf auf dem hagern faltigen Halse. Sie ließ ein paar Bissen kauen und brachte den Kleinen wieder an die Sonne hinaus. Dann kam sie wieder, neugierig, und fragte:

»Weißt du was Neues?«

»Nicht viel. Kennst du den Pater Anselm?«

»Nein. Was ist mit dem?«

»Krank ist er.«

»Krank? Muß er sterben?«

»Weiß nicht. Es ist in den Beinen. Er kann nicht gut gehen.«

»Muß er sterben?«

»Ich weiß nicht. Vielleicht.«

»Na, laß ihn sterben. Ich muß Suppe kochen. Hilf mir Späne schneiden.«

Sie gab ihm ein Tannenscheit, hübsch am Herd getrocknet,, und ein Messer. Er schnitt Späne, so viel sie wollte, und sah zu, wie sie sie in die Asche steckte und sich darüber bückte und hastete und blies, bis sie Feuer fingen. Nach einer genauen, geheimen Ordnung schichtete sie nun auf, Tannenes und Buchenes, hell strahlte das Feuer auf dem offenen Herd, sie rückte den großen schwarzen Kessel in die Flammen, der an verrußter Kette aus dem Rauchfang hing.

Goldmund holte auf ihren Befehl Wasser am Brunnen, rahmte die Milchschüssel ab, saß in der rauchigen Dämmerung, sah die Flammen spielen und über ihnen das knochige Runzelgesicht der Alten in roten Schimmern erscheinen und verschwinden; er hörte nebenan, hinter bretterner Wand, die Kuh in der Raufe wühlen und stoßen. Es gefiel ihm sehr. Die Linde, der Brunnen, das flackernde Feuer unterm Kessel, das Schnauben und Mahlen der fressenden Kuh und ihre dumpfen Stöße gegen die Wand, der halbdunkle Raum mit Tisch und Bank, das Hantieren der kleinen greisen Frau, das alles war schön und gut, roch nach Nahrung und Frieden, nach Menschen und Wärme, nach Heimat. Auch zwei Ziegen waren da, und von der Alten erfuhr er, man habe auch einen Schweinestall hintenan, und die Alte war des Bauern Großmutter, die Urahne des kleinen Buben. Der hieß Kuno, er kam ab und zu herein, und wenn er auch kein Wörtchen sprach und etwas ängstlich blickte, er weinte doch nicht mehr.

Es kam der Bauer mit seinem Weibe, die waren sehr erstaunt, einen Fremden im Haus zu treffen. Der Bauer wollte schon zu schimpfen anfangen, mißtrauisch zog er den Jüngling am Arm zur Tür, um beim Tageslicht sein Gesicht zu besehen; dann lachte er, schlug ihm wohlmeinend auf die Schulter und lud ihn zum Essen ein. Sie setzten sich, und jeder tauchte sein Brot in die gemeinsame Milchschüssel, bis die Milch zur Neige ging und der Bauer den Rest austrank. Goldmund fragte, ob er bis morgen bleiben und unter ihrem Dach schlafen dürfe. Nein, meinte der Mann, dazu sei kein Raum; aber draußen liege ja überall noch Heu genug, da werde er schon ein Lager finden.

Die Bäuerin hatte den Kleinen neben sich, sie nahm nicht am Gespräch teil; aber während des Essens nahmen ihre neugierigen Augen von dem jungen Fremden Besitz. Seine Locken und sein Blick hatten ihr sogleich Eindruck gemacht, dann nahm sie mit Gefallen auch seinen hübschen weißen Hals, seine vornehmen glatten Hände und deren freie schöne Bewegungen wahr. Ein stattlicher und vornehmer Fremder war das, und so jung! Was sie aber am meisten anzog und verliebt machte, war die Stimme des Fremden, diese heimlich singende, warm ausstrahlende, sanft werbende junge Männerstimme, die wie Liebkosung klang. Noch lang hätte sie dieser Stimme zuhören mögen. Nach dem Essen machte der Bauer sich im Stall zu schaffen; Goldmund war aus dem Hause getreten, hatte sich am Brunnen die Hände gewaschen und saß auf dem niedrigen Brunnenrand, sich kühlend und dem Wasser zuhörend. Unschlüssig saß er; er hatte hier nichts mehr zu suchen, doch tat es ihm leid, schon wieder gehen zu sollen. Da kam die Bäuerin heraus, einen Eimer in der Hand, den stellte sie unter den Strahl und ließ ihn vollaufen. Mit halber Stimme sagte sie: »Du, wenn du heut abend noch in der Nähe bist, will ich dir zu essen bringen. Dort hinüber, hinter dem langen Gerstenfeld, liegt Heu, das wird erst morgen geholt. Wirst du noch da sein?«

Er sah ihr ins sommersprossige Gesicht, sah ihre starken Arme den Eimer rücken, warm blickten ihre hellen großen Augen. Er lächelte ihr zu und nickte, und schon schritt sie mit dem vollen Eimer weg und verschwand im Dunkel der Türe. Dankbar saß er, sehr zufrieden, und hörte dem laufenden Wasser zu. Ein wenig später ging er hinein, suchte den Bauern, gab ihm und der Großmutter die Hand und bedankte sich. Es roch nach Feuer, nach Ruß und nach Milch in der Hütte. Eben war sie noch Obdach und Heimat gewesen, schon ward sie wieder Fremde. Grüßend ging er hinaus. Jenseits der Hütten fand er eine Kapelle stehen, und in ihrer Nähe ein schönes Gehölz, eine Gruppe alter starker Eichen, mit kurzem Grase darunter. Hier im Schatten blieb er und wandelte spazierend zwischen den dicken Stämmen hin und wider. Sonderbar, dachte er, war das mit den Frauen und der Liebe; sie bedurften in der Tat keiner Worte. Eines Wortes hatte die Frau bloß bedurft, um ihm den Ort des Stelldicheins zu bezeichnen, alles andere hatte sie nicht mit Worten gesagt. Womit denn? Mit den Augen, ja, und mit einem gewissen Klang in der etwas belegten Stimme, und noch mit irgend etwas, einem Duft vielleicht, einer zarten, leisen Ausstrahlung der Haut, an welcher Frauen und Männer es sofort erkennen konnten, wenn sie einander begehrten. Merkwürdig war es, wie eine delikate Geheimsprache, und so rasch hatte er diese Sprache gelernt! Er freute sich sehr auf den Abend, er war voll Neugierde, wie diese große blonde Frau sein möchte, was für Blicke und Töne, was für Glieder, Bewegungen und Küsse sie haben würde – gewiß ganz andere als Lise. Wo mochte sie jetzt sein, die Lise, mit ihrem schwarzen straffen Haar, ihrer braunen Haut, ihren kurzen Seufzern? Hatte ihr Mann sie geschlagen? Dachte sie noch an ihn? Hatte sie schon wieder einen neuen Liebhaber gefunden, so wie er heut eine neue Frau gefunden hatte? Wie schnell ging das alles, wie lag überall das Glück am Wege, wie schön und heiß war es und wie sonderbar vergänglich! Es war Sünde, es war Ehebruch, noch vor kurzem hätte er sich lieber töten lassen, als diese Sünde zu begehen. Und jetzt war es schon die zweite Frau, auf die er wartete, und sein Gewissen war still und ruhig. Das heißt, ruhig war es vielleicht doch nicht; aber es war nicht der Ehebruch und die Wollust, wegen der sein Gewissen manchmal unruhig war und Last trug. Es war etwas anderes, er konnte es nicht mit Namen nennen. Es war das Gefühl einer Schuld, die man nicht begangen, sondern schon mit sich zur Welt gebracht hat. Vielleicht war es dies, was in der Theologie Erbsünde genannt wurde? Es mochte wohl sein. Ja, das Leben selbst trug etwas wie Schuld in sich – warum sonst hätte ein so reiner und so wissender Mensch wie Narziß sich Bußübungen unterzogen wie ein Verurteilter? Oder warum hätte er selbst, Goldmund, irgendwo in der Tiefe diese Schuld fühlen müssen? War er denn nicht glücklich? War er nicht jung und gesund, war er nicht frei wie der Vogel m der Luft? Liebten ihn nicht die Frauen? War es nicht schön zu fühlen, wie er als Liebender dieselbe tiefe Lust, die er empfand, dem Weibe geben durfte? Warum also war er dennoch nicht ganz und gar glücklich? Warum konnte in sein junges Glück ebenso wie in Narzissens Tugend und Weisheit zuzelten dieser merkwürdige Schmerz dringen, diese leise Angst, diese Klage um die Vergänglichkeit? Warum mußte er so manchmal grübeln, nachdenken, obwohl er doch wußte, daß er kein Denker sei?

Nun, dennoch war es schön zu leben. Er pflückte im Grase eine kleine violette Blume, hielt sie nah ans Auge, blickte in die kleinen engen Kelche hinein, da liefen Adern und lebten winzige haarfeine Organe; wie im Schoß einer Frau oder wie im Gehirn eines Denkenden schwang da Leben, zitterte da Lust. O warum wußte man so gar nichts? Warum konnte man nicht mit dieser Blume sprechen? Aber es konnten ja nicht einmal zwei Menschen wirklich miteinander sprechen, dazu bedurfte es schon eines Glücksfalles, einer besonderen Freundschaft und Bereitschaft. Nein, es war ein Glück, daß die Liebe keiner Worte bedurfte; sie wäre sonst voll Mißverständnis und Torheit geworden. Ach, wie Lises Auge, das halbgeschlossene, im Übermaß der Wonne wie gebrochen war und nur noch Weißes im Schlitz der zuckenden Lider gezeigt hatte – mit zehntausend gelehrten oder dichterischen Worten war das nicht auszusprechen! Nichts, ach nichts überhaupt ließ sich irgend aussprechen, irgend ausdenken – und dennoch hatte man in sich immer wieder das drängende Bedürfnis zu sprechen, den ewigen Antrieb zu denken!

Er betrachtete die Blätter der kleinen Pflanze, wie sie um den Stengel her so hübsch, so merkwürdig klug geordnet waren. Schön waren die Verse des Vergil, er liebte sie; aber es stand mancher Vers im Vergil, der nicht halb so klar und klug, nicht halb so schön und sinnvoll war wie die spiralige Ordnung dieser winzigen Blättchen am Stengel empor. Welch ein Genuß, welch ein Glück, welch ein entzückendes, edles und sinnvolles Tun wäre es, wenn ein Mensch es vermöchte, eine einzige solche Blume zu erschaffen! Aber keiner vermochte das, kein Held und kein Kaiser, kein Papst und kein Heiliger.

Als die Sonne tief stand, machte er sich auf und suchte den Ort, den ihm die Bäuerin gewiesen hatte. Dort wartete er. Schön war es, so zu warten und zu wissen, daß eine Frau unterwegs war und lauter Liebe mitbrachte. Sie kam mit einem leinenen Tuch, in das hatte sie ein großes Stück Brot und eine Schnitte Speck gebunden. Sie knüpfte es auf und legte es vor ihm dar.

»Für dich«, sagte sie. »Iß!«

»Nachher«, sagte er, »ich bin nicht hungrig nach Brot, ich bin hungrig nach dir. O zeig, was du mir Schönes mitgebracht hast!«

Viel Schönes hatte sie ihm mitgebracht, starke durstige Lippen, starke funkelnde Zähne, starke Arme, die waren rot von der Sonne, aber innen unterm Halse und hinabwärts waren sie weiß und zart. Worte wußte sie wenige, aber in der Kehle sang sie einen holden lockenden Ton, und als sie seine Hände auf sich spürte, so zarte, zärtliche und gefühlige Hände, wie sie nie gespürt hatte, schauerte ihre Haut, und es klang in ihrer Kehle wie in der einer schnurrenden Katze. Sie wußte wenig Spiele, weniger als Lise, aber sie war wunderbar kräftig, sie drückte, als wolle sie ihrem Liebsten den Hals brechen. Kindlich und gierig war ihre Liebe, einfach und in aller Kraft noch schamhaft; Goldmund war sehr glücklich mit ihr.

Dann ging sie, seufzend, schwer riß sie sich los, sie durfte nicht bleiben.

Goldmund blieb allein zurück, glücklich und auch traurig. Spät erst erinnerte er sich des Brotes, des Specks und aß einsam, es war schon ganz Nacht.

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