Der Sommer ging hin, Mohn und Kornblume, Rade und Sternblume welkte und schwand, still wurden die Frösche im Weiher, und die Störche flogen hoch und bereiteten sich zum Abschied. Da kam Goldmund wieder!
Er kam an einem Nachmittag, bei leisem Regen, und trat nicht ins Kloster, er ging vom Tore sofort nach seiner Werkstatt. Er war zu Fuß gekommen, ohne Pferd.
Erich erschrak, als er ihn eintreten sah. Zwar erkannte er ihn auf den ersten Blick, und sein Herz schlug ihm entgegen, und doch schien es ein ganz anderer Mensch zu sein, der da zurückgekommen war: ein falscher Goldmund, um viele Jahre älter, mit einem halb erloschenen, staubigen, grauen Gesicht, mit eingefallenen Zügen, kranken, leidenden Zügen, in denen aber doch kein Schmerz geschrieben stand, sondern eher ein Lächeln, ein gutmütiges, altes, geduldiges Lächeln. Er ging mühsam, er schleppte sich, und er schien krank und sehr müde zu sein.
Wunderlich blickte dieser veränderte, fremde Goldmund seinem jungen Gehilfen in die Augen. Er machte kein Aufhebens von seiner Rückkehr, er tat, als käme er nur aus dem Nebenzimmer und sei eben noch dagewesen. Er gab die Hand und sagte nichts, keinen Gruß, keine Frage, keine Erzählung. Er sagte nur: »Ich muß schlafen«, furchtbar müde schien er zu sein. Er schickte Erich fort und ging in seine Kammer neben der Werkstatt. Da zog er die Mütze ab und ließ sie fallen, zog die Schuhe aus und trat gegen die Bettstatt. Hinten im Räume sah er unter Tüchern seine Madonna stehen; er nickte ihr zu, aber er ging nicht, die Tücher abzunehmen und sie zu begrüßen. Statt dessen schlich er ans Fensterchen, sah draußen den betretenen Erich warten und rief ihm zu: »Erich, du brauchst niemand zu sagen, daß ich gekommen bin. Ich bin sehr müde. Es hat Zeit bis morgen.« Dann legte er sich in den Kleidern aufs Bett. Nach einiger Zeit, da er noch keinen Schlaf gefunden hatte, stand er auf, ging schwerfällig zur Wand, wo ein kleiner Spiegel hing, und schaute hinein. Aufmerksam blickte er den Goldmund an, der ihm aus dem Spiegel entgegensah: einen müden Goldmund, einen müd und alt und welk gewordenen Mann, mit stark grau gewordenem Bart. Es war ein alter, etwas verwahrloster Mann, der ihm aus der kleinen trüben Spiegelfläche entgegenblickte, ein wohlbekanntes Gesicht, aber ein fremd gewordenes, es schien nicht recht gegenwärtig zu sein, es schien ihn wenig anzugehen. Es erinnerte ihn an dies und jenes Gesicht, das er gekannt hatte, ein wenig an den Meister Nikilaus, ein wenig an den alten Ritter, der ihm einst ein Pagenkleid hatte machen lassen, ein wenig auch an den heiligen Jakob in der Kirche, an den alten bärtigen Sankt Jakob, der unter seinem Pilgerhut so uralt und grau und doch eigentlich heiter und gut aussah.
Mit Sorgfalt las er in dem Spiegelgesicht, als sei ihm daran gelegen, über diesen fremden Menschen Auskunft zu bekommen. Er nickte ihm zu und kannte es wieder: ja, es war er selber, es entsprach dem Gefühl, das er von sich selber hatte. Ein sehr müder und etwas stumpf gewordener alter Mann war da von der Reise zurückgekommen, ein unscheinbarer Mann, es war mit ihm kein Staat zu machen, und doch hatte er nichts gegen ihn, und doch gefiel er ihm: er hatte etwas im Gesicht, was der frühere hübsche Goldmund nicht gehabt hatte, in aller Müdigkeit und Zerfallenheit einen Zug von Zufriedenheit oder doch von Gleichmut. Er lachte leise vor sich hin und sah das Spiegelbild mitlachen: einen schönen Kerl hatte er da von der Reise mit nach Hause gebracht! Schön zerschlissen und abgebrannt kam er da von seinem kleinen Ausritt wieder heim, und nicht nur sein Roß und seine Reisetasche und seine Taler hatte er eingebüßt, es war ihm auch anderes abhanden gekommen und hatte ihn verlassen: die Jugend, die Gesundheit, das Selbstvertrauen, das Rot im Gesicht und die Kraft im Blick. Dennoch gefiel ihm das Bild: dieser alte schwache Kerl im Spiegel war ihm lieber als der Goldmund, der er so lang gewesen war. Er war älter, schwächer, kläglicher, aber er war harmloser, er war zufriedener, es war besser mit ihm auszukommen. Er lachte und zog eins der faltig gewordenen Augenlider herunter. Dann legte er sich wieder aufs Bett und schlief nun ein.
Andern Tages saß er in seiner Kammer über den Tisch gebückt und versuchte ein wenig zu zeichnen, da kam Narziß, ihn zu besuchen. In der Tür blieb er stehen und sagte: »Man hat mir erzählt, du seiest zurückgekommen. Gott sei Dank, meine Freude ist groß. Da du mich nicht aufgesucht hast, komme ich zu dir. Störe ich dich in der Arbeit?«
Er kam näher; Goldmund richtete sich von seinem Papier auf und streckte ihm die Hand entgegen. Obwohl Erich ihn vorbereitet hatte, erschrak er bis ins Herz über den Anblick seines Freundes. Der lächelte ihm freundlich entgegen.
»Ja, ich bin wieder da. Sei gegrüßt, Narziß, wir haben uns eine Weile nicht gesehen. Entschuldige, daß ich dich noch nicht besucht habe.«
Narziß sah ihm in die Augen. Auch er sah nicht nur die Erloschenheit und jämmerliche Welke dieses Gesichts, er sah auch das andere, diesen wunderlich angenehmen Zug von Gleichmut, ja Gleichgültigkeit, von Ergebung und guter Greisenlaune. Im Lesen von Menschengesichtern erfahren, sah er auch, daß dieser so fremd gewordene und veränderte Goldmund nicht mehr ganz gegenwärtig sei, daß entweder seine Seele sich weit von der Wirklichkeit entfernt habe und auf Traumwegen gehe oder daß sie schon bei der Pforte stehe, die ms Jenseits führt.
»Bist du krank?« fragte er behutsam.
»Ja, krank bin ich auch. Ich wurde schon im Anfang meiner Reise krank, schon in den ersten Tagen. Aber du begreifst, daß ich nicht gleich wieder heimkehren mochte. Ihr hättet mich schön ausgelacht, wenn ich so schnell wieder angerückt wäre und meine Reitstiefel wieder ausgezogen hätte. Nein, das mochte ich also nicht. Ich bin weitergegangen und habe mich noch ein bißchen herumgetrieben, ich schämte mich, weil die Reise mir mißglückt war. Ich hatte das Maul zu voll genommen. Gut, also ich schämte mich. Nun ja, du begreifst es schon, du bist ein so kluger Mensch. Verzeih, hast du etwas gefragt? Es ist wie verhext, ich vergesse immer wieder, um was es sich eigentlich handelt. Aber das mit meiner Mutter, das hast du gut gemacht. Es hat recht weh getan, aber …«
Sein Gemurmel erlosch in einem Lächeln.
»Wir werden dich wieder gesund machen, Goldmund, es soll dir an nichts fehlen. Aber daß du nicht gleich wieder umgekehrt bist, als es dir anfing schlecht zu gehen! Du brauchst dich doch wahrlich vor uns nicht zu schämen. Du hättest sofort umkehren sollen.«
Goldmund lachte.
»Ja, jetzt weiß ich wieder. Ich traute mich nicht, so einfach wieder umzukehren. Es wäre ja eine Schande gewesen. Aber jetzt bin ich gekommen. Es geht mir jetzt wieder gut.«
»Hast du viel Schmerzen gehabt?«
»Schmerzen? Ja, Schmerzen habe ich genug. Aber schau, die Schmerzen sind ganz gut, sie haben mich zur Vernunft gebracht. Ich schäme mich jetzt nicht mehr, auch vor dir nicht. Damals, als du mich im Gefängnis besucht hast, um mir das Leben zu retten, da mußte ich sehr auf die Zähne beißen, weil ich mich vor dir schämte. Das ist jetzt ganz vergangen.«
Narziß legte ihm die Hand auf den Arm, sofort schwieg er und schloß lächelnd die Augen. Er schlief friedlich ein. Verstört lief der Abt und holte den Arzt des Hauses, Pater Anton, daß er nach dem Kranken sehe. Als sie zurückkamen, saß Goldmund schlafend an seinem Zeichentisch. Sie brachten ihn zu Bette, der Arzt blieb bei ihm. Er fand ihn hoffnungslos krank. Man brachte ihn in eines der Krankenzimmer, Erich wurde ihm zur ständigen Wache gegeben.
Die ganze Geschichte seiner letzten Reise kam nie zutage. Einzelnes erzählte er, manches ließ sich erraten. Oft lag er teilnahmslos, manchmal fieberte er und redete verwirrt, manchmal war er klar, und dann wurde jedesmal Narziß gerufen, dem diese letzten Gespräche mit Goldmund sehr wichtig wurden.
Einige Bruchstücke aus Goldmunds Berichten und Bekenntnissen hat Narziß überliefert, andere der Gehilfe.
»Wann die Schmerzen begonnen haben? Es war noch am Anfang meiner Reise. Ich ritt im Wald, und ich bin samt dem Gaul gestürzt und bin in einen Bach gefallen und bin eine ganze Nacht im kalten Wasser gelegen. Da drinnen, wo ich mir die Rippen gebrochen habe, da sind seither die Schmerzen. Damals war ich noch nicht sehr weit von hier, aber ich mochte nicht umkehren, es war kindisch, aber ich dachte, es würde komisch aussehen. Ich ritt also weiter, und als ich nicht mehr reiten konnte, weil es so weh tat, habe ich das Pferdchen verkauft, und dann bin ich lange Zeit in einem Hospital gelegen.
Ich bleibe jetzt hier, Narziß, es ist nichts mehr mit dem Reiten. Es ist nichts mehr mit dem Wandern. Es ist nichts mehr mit dem Tanzen und mit den Weibern. Ach, sonst wäre ich noch lang ausgeblieben, noch jahrelang. Aber wie ich denn sah, daß es da draußen keine Freude mehr für mich gibt, da dachte ich mir: ehe ich hinunter muß, will ich noch ein wenig zeichnen und ein paar Figuren machen, irgendeine Freude will man doch haben.«
Narziß sagte ihm: »Ich bin so froh, daß du wiedergekommen bist. Du hast mir so sehr gefehlt, ich habe jeden Tag an dich gedacht, und oft hatte ich Angst, du würdest nie mehr wiederkommen wollen.«
Goldmund schüttelte den Kopf: »Nun, der Verlust wäre nicht groß gewesen.«
Narziß, das Herz vor Weh und Liebe brennend, bückte sich langsam zu ihm herab, und nun tat er, was er in den vielen Jahren ihrer Freundschaft niemals getan hatte, er berührte Goldmunds Haar und Stirn mit seinen Lippen. Verwundert zuerst, dann ergriffen, merkte Goldmund, was geschehen sei.
»Goldmund«, flüsterte ihm der Freund ins Ohr, »verzeih, daß ich es dir nicht früher habe sagen können. Ich hätte es dir sagen sollen, als ich dich damals in deinem Gefängnis aufsuchte, in der Bischofsresidenz, oder als ich deine ersten Figuren zu sehen bekam, oder irgendeinmal. Laß es mich dir heute sagen, wie sehr ich dich liebe, wieviel du mir immer gewesen bist, wie reich du mein Leben gemacht hast. Es wird dir nicht sehr viel bedeuten. Du bist an Liebe gewöhnt, sie ist für dich nichts Seltenes, du bist von so vielen Frauen geliebt und verwöhnt worden. Für mich ist es anders. Mein Leben ist arm an Liebe gewesen, es hat mir am Besten gefehlt. Unser Abt Daniel sagte mir einst, daß er mich für hochmütig halte, wahrscheinlich hat er recht gehabt. Ich bin nicht ungerecht gegen die Menschen, ich gebe mir Mühe, gerecht und geduldig mit ihnen zu sein, aber geliebt habe ich sie nie. Von zwei Gelehrten im Kloster ist der Gelehrtere mir lieber; nie habe ich etwa einen schwachen Gelehrten trotz seiner Schwäche liebgehabt. Wenn ich trotzdem weiß, was Liebe ist, so ist es deinetwegen. Dich habe ich lieben können, dich allein unter den Menschen. Du kannst nicht ermessen, was das bedeutet. Es bedeutet den Quell in einer Wüste, den blühenden Baum in einer Wildnis. Dir allein danke ich es, daß mein Herz nicht verdorrt ist, daß eine Stelle in mir blieb, die von der Gnade erreicht werden kann.«
Goldmund lächelte froh und etwas verlegen. Mit der leisen ruhigen Stimme, die er in seinen klaren Stunden hatte, sagte er: »Als du mich damals vom Galgen befreit hattest und wir heimritten, fragte ich dich nach meinem Pferde Bleß, und du gabst mir Auskunft. Damals sah ich, daß du, der du sonst Pferde kaum auseinanderkennst, dich um das Rößchen Bleß bekümmert hattest. Ich verstand, daß du es meinetwegen getan hattest, und war sehr froh darüber. Jetzt sehe ich, daß es wirklich so war und daß du mich wirklich liebhast. Auch ich habe dich immer liebgehabt, Narziß, die Hälfte meines Lebens ist ein Werben um dich gewesen. Ich wußte, daß auch du mich gern hattest, aber nie hätte ich gehofft, daß du es mir einmal sagen würdest, du stolzer Mensch. Jetzt hast du es mir gesagt, in diesem Augenblick, wo ich nichts anderes mehr habe, wo Wanderschaft und Freiheit, Welt und Weiber mich im Stich gelassen haben. Ich nehme es an, ich danke dir dafür.«
Die Lydia-Madonna stand in der Kammer und sah zu.
»Du denkst immer ans Sterben?« fragte Narziß.
»Ja, ich denke daran und an das, was aus meinem Leben geworden ist. Als Jüngling, als ich noch dein Schüler war, hatte ich den Wunsch, ein so geistiger Mensch zu werden wie du. Du hast mir gezeigt, daß ich nicht dazu berufen war. Dann warf ich mich auf die andere Seite des Lebens, auf die Sinne, und die Frauen haben es mir leicht gemacht, dort meine Lust zu finden, sie sind so willig und gierig. Doch möchte ich ja nicht verächtlich von ihnen sprechen und auch nicht von der Sinnenlust, ich bin oft sehr glücklich gewesen. Und ich habe auch das Glück gehabt zu erleben, daß die Sinnlichkeit beseelt werden kann. Daraus entsteht die Kunst. Jetzt aber sind beide Flammen erloschen. Ich habe das tierische Glück der Wollust nicht mehr – und ich hätte es auch nicht, wenn die Frauen mir noch heute nachliefen. Und Kunstwerke zu schaffen, ist auch nicht mehr mein Wunsch, ich habe genug Figuren gemacht, es kommt auf die Zahl nicht an. Darum ist es für mich Zeit zu sterben. Ich bin willig dazu und bin neugierig darauf.«
»Warum neugierig?« fragte Narziß.
»Nun, es ist wohl etwas dumm von mir. Aber ich bin wirklich neugierig darauf. Nicht auf das Jenseits, Narziß, darüber mache ich mir wenig Gedanken, und wenn ich es offen sagen darf, ich glaube nicht mehr daran. Es gibt kein Jenseits. Der verdorrte Baum ist tot für immer, der erfrorene Vogel kommt nie wieder zum Leben und ebensowenig der Mensch, wenn er gestorben ist. Man mag noch eine Weile an ihn denken, wenn er fort ist, aber auch das dauert ja nicht lange. Nein, neugierig auf das Sterben bin ich nur darum, weil es noch immer mein Glaube oder mein Traum ist, daß ich unterwegs zu meiner Mutter bin. Ich hoffe, der Tod werde ein großes Glück sein, ein Glück, so groß wie das der ersten Liebeserfüllung. Ich kann mich von dem Gedanken nicht trennen, daß statt des Todes mit der Sense es meine Mutter sein wird, die mich wieder zu sich nimmt und in das Nichtsein und in die Unschuld zurückführt.«
Bei einem seiner letzten Besuche, nachdem Goldmund mehrere Tage nichts mehr gesprochen hatte, fand Narziß ihn wieder wach und gesprächig.
»Der Pater Anton meint, du müssest oft große Schmerzen haben. Wie machst du es, Goldmund, daß du sie so ruhig erträgst? Mir scheint, du habest jetzt den Frieden gefunden.«
»Meinst du den Frieden mit Gott? Nein, den habe ich nicht gefunden. Ich will keinen Frieden mit ihm. Er hat die Welt schlecht gemacht, wir brauchen sie nicht zu preisen, und ihm wird ja auch wenig daran gelegen sein, ob ich ihn lobpreise oder nicht. Schlecht hat er die Welt gemacht. Aber mit den Schmerzen in meiner Brust habe ich Frieden geschlossen, das ist richtig. Früher konnte ich Schmerzen nicht gut ertragen, und obwohl ich manchmal der Meinung war, das Sterben würde mir leichtfallen, so war das doch ein Irrtum. Als es damit Ernst werden sollte, in jener Nacht im Gefängnis des Grafen Heinrich, hat es sich ja gezeigt: ich konnte einfach nicht sterben, ich war noch viel zu stark und zu wild, sie hätten jedes Glied von mir zweimal totschlagen müssen. Jetzt aber ist es anders.«
Das Sprechen ermüdete ihn, seine Stimme wurde schwächer. Narziß bat ihn, sich zu schonen.
»Nein«, sagte er, »ich will es dir erzählen. Früher hätte ich mich geschämt, es dir zu sagen. Du wirst lachen müssen. Nämlich als ich damals meinen Gaul bestieg und von hier weggeritten bin, geschah es nicht ganz ins Blaue hinein. Ich hatte ein Gerücht gehört, der Graf Heinrich sei wieder im Lande und seine Geliebte sei wieder bei ihm, die Agnes. Nun gut, dir scheint das nicht wichtig, und auch mir scheint es heut nicht wichtig. Aber damals brannte mich die Nachricht gewaltig, und ich dachte an nichts mehr als an Agnes; sie war die schönste Frau, die ich gekannt und geliebt habe, ich wollte sie wiedersehen, ich wollte noch einmal mit ihr glücklich sein. Ich ritt, und nach einer Woche fand ich sie. Dort, in jener Stunde, ist die Veränderung mit mir geschehen. Ich fand also die Agnes, sie war nicht weniger schön geworden, ich fand sie und fand Gelegenheit, mich ihr zu zeigen und mit ihr zu sprechen. Und denke, Narziß: sie wollte nichts mehr von mir wissen! Ich war ihr zu alt, ich war ihr nicht mehr hübsch und vergnügt genug, sie versprach sich nichts mehr von mir. Damit war meine Reise eigentlich zu Ende. Ich ritt aber weiter, ich mochte nicht so enttäuscht und lächerlich zu euch zurückkommen, und wie ich so ritt, hatte mich die Kraft und die Jugend und die Klugheit schon ganz verlassen, denn ich fiel mit meinem Pferd eine Schlucht hinab und in einen Bach und brach mir die Rippen und blieb im Wasser liegen. Damals habe ich zuerst richtige Schmerzen kennengelernt. Ich spürte gleich beim Fall in meiner Brust innen etwas brechen, und das Brechen machte mir Freude, ich hörte es gern, ich war damit zufrieden. Ich lag da im Wasser und sah, daß ich sterben müsse, aber es war alles ganz anders als damals im Gefängnis. Ich hatte nichts dagegen, das Sterben schien mir nicht mehr schlimm. Ich spürte diese heftigen Schmerzen, die ich seither oft gehabt habe, und ich hatte dazu einen Traum oder ein Gesicht, wie du es nennen willst. Ich lag, und in meiner Brust tat es brennend weh, und ich wehrte mich und schrie, aber da hörte ich eine Stimme lachen – eine Stimme, die ich seit meiner Kindheit nicht mehr gehört hatte. Es war die Stimme meiner Mutter, eine tiefe Frauenstimme, voll von Wollust und Liebe. Und da sah ich denn, daß sie es war, daß die Mutter bei mir war und mich auf dem Schoß hatte und daß sie mir die Brust geöffnet und ihre Finger tief in der Brust zwischen meinen Rippen hatte, um mir das Herz herauszulösen. Als ich das gesehen und verstanden hatte, tat es nicht mehr weh. Auch jetzt, wenn diese Schmerzen wiederkommen, sind es nicht Schmerzen, es sind nicht Feinde; es sind die Finger der Mutter, die mir das Herz herausnehmen. Fleißig ist sie daran. Manchmal drückt sie zu und stöhnt wie in Wollust. Manchmal lacht sie und brummt zärtliche Töne. Manchmal ist sie nicht bei mir, sondern am Himmel oben, zwischen den Wolken seh ich ihr Gesicht, groß wie eine Wolke, da schwebt sie und lächelt traurig, und ihr trauriges Lächeln saugt an mir und zieht mir das Herz aus der Brust.« Immer wieder sprach er von ihr, von der Mutter.
»Weißt du noch?« fragte er an einem der letzten Tage. »Einmal hatte ich meine Mutter vergessen, aber du hast sie wieder beschworen. Auch damals hat es sehr weh getan, wie wenn Tiermäuler in meinen Eingeweiden fräßen. Da waren wir noch Jünglinge, hübsche junge Knaben waren wir. Aber schon damals hat die Mutter mir gerufen, und ich mußte folgen. Sie ist überall. Sie war die Zigeunerin Lise, sie war die schöne Madonna des Meisters Niklaus, sie war das Leben, die Liebe, die Wollust, sie war auch die Angst, der Hunger, der Trieb. Jetzt ist sie der Tod, sie hat ihre Finger in meiner Brust.«
»Sprich nicht zu viel, Lieber«, bat Narziß, »warte bis morgen.«
Goldmund blickte ihm mit seinem Lächeln in die Augen, mit diesem neuen Lächeln, das er von seiner Reise mitgebracht hatte, das so alt und so gebrechlich aussah und das manchmal ein wenig schwachsinnig zu sein schien, manchmal wie lauter Güte und Weisheit blickte.
»Mein Lieber«, flüsterte er, »ich kann nicht bis morgen warten. Ich muß Abschied von dir nehmen, und zum Abschied muß ich dir noch alles sagen. Höre mir noch einen Augenblick zu. Ich wollte dir von der Mutter erzählen, und daß sie ihre Finger um mein Herz geschlossen hält. Es ist seit manchen Jahren mein liebster und geheimnisvollster Traum gewesen, eine Figur der Mutter zu machen, sie war mir das heiligste von allen Bildern, immer trug ich es in mir herum, eine Gestalt voll Liebe und voll Geheimnis. Vor kurzem noch wäre es mir ganz unerträglich gewesen zu denken, daß ich sterben könnte, ohne ihre Figur gemacht zu haben; mein Leben wäre mir unnütz erschienen. Und nun sieh, wie wunderlich es mir mit ihr gegangen ist: statt daß meine Hände sie formen und gestalten, ist sie es, die mich formt und gestaltet. Sie hat ihre Hände um mein Herz und löst es los und macht mich leer, sie hat mich zum Sterben verführt, und mit mir stirbt auch mein Traum, die schöne Figur, das Bild der großen Eva-Mutter. Noch sehe ich es, und wenn ich Kraft in den Händen hätte, könnte ich es gestalten. Aber sie will das nicht, sie will nicht, daß ich ihr Geheimnis sichtbar mache. Lieber will sie, daß ich sterbe. Ich sterbe gern, sie macht es mir leicht.«
Bestürzt hörte Narziß den Worten zu, er mußte sich tief über seines Freundes Gesicht hinabbücken, um sie noch verstehen zu können. Manche hörte er nur undeutlich, manche hörte er wohl, doch blieb ihr Sinn ihm verborgen. Und nun schlug der Kranke nochmals die Augen auf und blickte lang in seines Freundes Gesicht. Mit den Augen nahm er Abschied von ihm. Und mit einer Bewegung, als versuche er den Kopf zu schütteln, flüsterte er: »Aber wie willst denn du einmal sterben, Narziß, wenn du doch keine Mutter hast? Ohne Mutter kann man nicht lieben. Ohne Mutter kann man nicht sterben.«
Was er später noch murmelte, war nicht mehr verständlich. Die beiden letzten Tage saß Narziß an seinem Bett, Tag und Nacht, und sah zu, wie er erlosch. Goldmunds letzte Worte brannten in seinem Herzen wie Feuer.