Elftes Kapitel

Neue Bilder umgaben Goldmund hier in der Stadt, und ein neues Leben begann für ihn. So wie dies Land und diese Stadt ihn heiter, verlockend und üppig empfangen hatten, so empfing ihn dies neue Leben mit Freudigkeit und vielen Versprechungen. Blieb auch der Grund von Trauer und Wissen in seiner Seele unangetastet, so spielte ihm doch an der Oberfläche das Leben in allen Farben. Es war die fröhlichste und unbeschwerteste Zeit in Goldmunds Leben, die jetzt begann. Von außen kam ihm die reiche Bischofsstadt mit allen Künsten, mit Frauen, mit hundert angenehmen Spielen und Bildern entgegen; von innen beschenkte ihn sein erwachendes Künstlertum mit neuen Empfindungen und Erfahrungen. Er fand mit Hilfe des Meisters Unterkunft im Haus eines Vergolders am Fischmarkt und lernte beim Meister sowohl wie beim Vergolder die Kunst, mit Holz und Gips, mit Farben, Firnis und Blattgold umzugehen.

Goldmund gehörte nicht zu jenen unseligen Künstlern, welche wohl hohe Gaben haben, zu ihrer Äußerung aber nie die rechten Mittel finden. Es gibt ja manche solche Menschen, welchen es gegeben ist, die Schönheit der Welt tief und groß zu empfinden und in ihrer Seele hohe, edle Bilder zu tragen, welche aber nicht den Weg finden, sich dieser Bilder wieder zu entäußern und sie zur Freude der andern herauszustellen und mitzuteilen. Goldmund litt nicht an diesem Mangel. Es fiel ihm leicht und machte ihm Spaß, seine Hände zu brauchen und die Griffe und Fertigkeiten des Handwerks zu lernen, ebenso wie es ihm leichtfiel, am Feierabend bei einigen Kameraden das Spielen der Laute zu lernen und am Sonntag auf den Tanzplätzen der Dörfer das Tanzen. Es lernte sich leicht, es ging von selber. Wohl mußte er sich mit dem Holzschnitzen immerhin ernstlich mühen, mußte Schwierigkeiten und Enttäuschungen finden, mußte dies und jenes hübsche Stück Holz zuschanden hauen und sich mehrmals tüchtig in die Finger schneiden. Aber er kam rasch über die Anfänge hinweg und erwarb Geschicklichkeit. Dennoch war der Meister oft sehr unzufrieden mit ihm und sagte ihm etwa: »Es ist gut, daß du nicht mein Lehrling oder Geselle bist, Goldmund. Es ist gut, daß wir wissen: du kommst von der Landstraße und aus den Wäldern und wirst eines Tages wieder zu ihnen zurückkehren. Wer dies nicht wüßte, daß du kein Bürger und Handwerker bist, sondern ein Heimatloser und Bummler, der könnte leicht in Versuchung kommen, dies und jenes von dir zu verlangen, was jeder Meister von seinen Leuten verlangt. Du bist ein ganz guter Arbeiter, wenn es deine Laune gerade so will. Aber letzte Woche hast du zwei Tage gebummelt. Gestern hast du in der Hofwerkstatt, wo du die zwei Engel polieren solltest, den halben Tag geschlafen.«

Er hatte recht mit seinen Vorwürfen, und Goldmund hörte sie auch schweigend an, ohne sich zu rechtfertigen. Er wußte selbst, daß er kein zuverlässiger und fleißiger Mensch sei. Solange eine Arbeit ihn fesselte, ihm schwierige Aufgaben stellte oder ihn seiner Fertigkeit bewußt und froh werden ließ, war er ein eifriger Arbeiter. Schwere Handarbeit tat er ungern, und jene nicht schwierigen, aber Zeit und Fleiß fordernden Arbeiten, deren viele zum Handwerk gehören und die mit Treue und Geduld getan sein wollen, waren ihm oft ganz unleidlich. Er wunderte sich selbst manchmal darüber. Hatten die paar Jahre Wanderschaft genügt, um ihn faul und unzuverlässig zu machen? War es die Erbschaft der Mutter, die in ihm wuchs und Überhand nahm? Oder woran denn fehlte es? Er erinnerte sich sehr wohl an seine ersten Klosterjahre, wo er ein so eifriger und guter Lerner gewesen war. Warum denn hatte er damals so viel Geduld aufgebracht, die ihm jetzt fehlte, warum war es ihm gelungen, sich der lateinischen Syntax so unermüdlich hinzugeben und alle diese griechischen Aoriste zu erlernen, die ihm im Herzensgrunde doch wirklich nicht wichtig waren? Er dachte manchmal daran herum. Es war die Liebe gewesen, die ihn damals gestählt und beflügelt hatte; sein Lernen war nichts anderes gewesen als ein inständiges Werben um Narziß, und dessen Liebe war nur auf dem Wege der Achtung und Anerkennung zu erwerben gewesen. Damals konnte er für einen anerkennenden Blick des geliebten Lehrers stunden- und tagelang sich mühen. Dann war das ersehnte Ziel erreicht, Narziß war sein Freund geworden, und merkwürdigerweise war gerade der gelehrte Narziß es gewesen, der ihm seine Untauglichkeit zum Gelehrten gezeigt und das Bild der verlorenen Mutter in ihm beschworen hatte. Statt Gelehrsamkeit, Mönchsleben und Tugend waren mächtige Urtriebe seines Wesens seine Herren geworden: Geschlecht, Frauenliebe, Drang nach Unabhängigkeit, Wanderschaft. Nun aber hatte er jene Marienfigur des Meisters gesehen, hatte einen Künstler in sich entdeckt, hatte einen neuen Weg betreten und war wieder seßhaft geworden. Wie stand es nun? Wo ging sein Weg weiter? Woher kamen die Hemmnisse?

Er konnte es vorerst nicht erkennen. Er konnte nur dies einsehen: daß er den Meister Niklaus zwar sehr bewundere, aber keineswegs in der Weise liebe, wie er einst Narziß geliebt hatte, ja daß es ihm zuweilen Freude mache, ihn zu enttäuschen und zu ärgern. Es hing, so schien es, mit dem Zwiespalt in des Meisters Wesen zusammen. Die Figuren von Niklaus' Hand, wenigstens die besten von ihnen, waren für Goldmund verehrte Vorbilder, der Meister selbst aber war kein Vorbild für ihn.

Neben dem Künstler, der jene Mutter Gottes mit dem schmerzlichsten und schönsten Munde geschnitzt hatte, neben dem Seher und Wissenden, dessen Hände tiefe Erfahrungen und Ahnungen zu sichtbaren Gebilden umzuzaubern vermochten, wohnte in Meister Niklaus noch ein zweiter: ein etwas strenger und ängstlicher Hausvater und Zunftmeister, ein Witwer, der mit der Tochter und einer häßlichen Magd ein stilles und etwas geducktes Leben in seinem stillen Hause führte, ein Mann, der sich gegen Goldmunds stärkste Triebe heftig wehrte, der sich in ein stilles, gemäßigtes, sehr geordnetes und anständiges Leben bequemt hatte.

Obwohl Goldmund seinen Meister verehrte, obwohl er sich niemals erlaubt hätte, andere über ihn auszufragen oder vor andern über ihn zu urteilen, wußte er nach einem Jahre doch bis ins kleinste alles, was irgend über Niklaus zu wissen war. Dieser Meister war ihm wichtig, er liebte ihn und haßte ihn ebenso, er ließ ihm keine Ruhe, und so drang der Schüler mit Liebe und mit Mißtrauen, mit immer wacher Wißbegierde in die Verborgenheiten seiner Art und seines Lebens ein. Er sah, wie Niklaus weder Lehrling noch Gesellen bei sich im Hause wohnen hatte, wo doch Raum genug war. Er sah, wie er nur sehr selten ausging und ebenso selten Gäste zu sich einlud. Er beobachtete, wie er seine schöne Tochter rührend und eifersüchtig liebte und sie vor jedermann zu verbergen suchte. Er wußte auch, daß hinter der strengen und frühalten Enthaltsamkeit des Witwers noch lebendige Triebe spielten, daß er, wenn ein auswärtiger Auftrag ihn bisweilen auf Reisen führte, manchmal für einige Reisetage sich wunderlich verwandeln und verjüngen konnte. Und einmal hatte er auch das beobachtet, wie Niklaus in einem fremden Städtchen, wo sie eine geschnitzte Kanzel aufstellten, eines Abends im Verborgenen eine käufliche Dirne besucht hatte und nachher tagelang unruhig und böser Laune gewesen war.

Mit der Zeit gab es außer dieser Wißbegierde auch noch etwas anderes, was Goldmund in des Meisters Hause festhielt und ihm zu schaffen gab. Es war die schöne Tochter, Lisbeth, die ihm sehr gefiel. Er bekam sie selten zu Gesichte, sie betrat nie die Werkstatt, und er konnte nicht ergründen, ob ihre Sprödigkeit und Männerscheu ihr nur vom Vater auf gedrungen sei oder auch ihrer eigenen Natur entspreche. Daß der Meister ihn niemals wieder mit sich zu Tische nahm und ihm jede Begegnung mit ihr zu erschweren suchte, war nicht zu übersehen. Lisbeth war eine sehr kostbare und behütete Jungfer, so sah er, und für eine Liebe ohne Heirat gab es bei ihr keine Hoffnung; auch wer sie heiraten wollte, mußte erst noch guter Leute Kind und Mitglied einer der oberen Zünfte sein, womöglich auch noch Geld und Haus besitzen.

Lisbeths Schönheit, so anders als die der Landfahrerinnen und Bauernweiber, hatte Goldmunds Augen schon an jenem ersten Tage auf sich gezogen. Es war etwas in ihr, das ihm noch unbekannt geblieben war, etwas Sonderbares, das ihn heftig anzog und doch zugleich mißtrauisch machte, ja ärgerte: eine große Ruhe und Unschuld, eine Zucht und Reinheit, und dennoch keine Kindlichkeit, sondern hinter aller Artigkeit und Sitte eine versteckte Kälte, ein Hochmut, so daß ihre Unschuld ihn nicht rührte und wehrlos machte (er hätte niemals ein Kind verführen können), sondern ihn reizte und herausforderte. Kaum war ihre Gestalt ihm als inneres Bild ein wenig vertraut geworden, so fühlte er den Wunsch, von ihr einmal eine Figur zu schaffen, nicht aber so wie sie jetzt war, sondern mit erwachten, sinnlichen und leidenden Zügen, keine kleine Jungfrau, sondern eine Magdalena. Oft ging sein Begehren danach, dieses ruhige, schöne und unbewegte Gesicht, sei es in Wollust oder in Schmerzen, einmal sich verzerren und aufblättern und sein Geheimnis preisgeben zu sehen.

Außerdem gab es noch ein anderes Gesicht, das in seiner Seele wohnte und ihm doch nicht ganz angehörte, das er einmal einzufangen und als Künstler darzustellen sehnlich begehrte, das sich ihm aber immer wieder entzog und verhüllte. Es war das Gesicht der Mutter. Dies Gesicht war schon seit langer Zeit nicht mehr dasselbe, wie es ihm einst, nach den Gesprächen mit Narziß, aus verlorenen Erinnerungstiefen wieder erschienen war. In den Tagen der Wanderung, in den Liebesnächten, in den Zeiten der den Zeiten der Lebensgefahr und Todesnähe hatte das Muttergesicht sich langsam verwandelt und bereichert, war tiefer und vielfältiger geworden; es war nicht mehr das Bild seiner eigenen Mutter, sondern aus dessen Zügen und Farben war nach und nach ein nicht mehr persönliches Mutterbild geworden, das Bild einer Eva, einer Menschenmutter. So wie Meister Niklaus in einigen Madonnen das Bild der schmerzlichen Gottesmutter mit einer Vollkommenheit und Stärke des Ausdrucks dargestellt hatte, welche Goldmund unübertreffbar schien, so hoffte er selbst einst, wenn er reifer und des Könnens sicherer sei, das Bild der weltlichen, der Eva-Mutter so zu gestalten, wie es als ältestes und geliebtestes Heiligtum in seinem Herzen stand. Aber dies innere Bild, einst nur Erinnerungsbild seiner eigenen Mutter und seiner Liebe zu ihr, war in beständigem Wandel und Wachstum begriffen. Es hatten die Züge der Zigeunerin Lise, die Züge der Ritterstochter Lydia und manche andere Frauengesichter Eingang in jenes ursprüngliche Bild gefunden, und nicht nur hatten alle Gesichter von geliebten Frauen an dem Bilde weitergeschaffen, es hatte auch jede Erschütterung, jede Erfahrung und jedes Erlebnis an ihm gebildet und ihm Züge mitgegeben. Denn diese Gestalt, wenn es ihm später einst gelänge, sie sichtbar zu machen, sollte ja nicht eine bestimmte Frau darstellen, sondern das Leben selbst als Urmutter. Oft glaubte er es zu sehen, manchmal erschien es ihm im Traum. Aber er hätte über jedes Evagesicht und über das, was es ausdrücken sollte, nichts sagen können, als daß es die Lebenswollust in ihrer innigen Verwandtschaft mit dem Schmerz und dem Tode zeigen sollte.

Im Laufe eines Jahres hatte Goldmund viel gelernt. Im Zeichnen war er schnell zu großer Sicherheit gekommen, und neben dem Holzschnitzen ließ ihn Niklaus gelegentlich auch das Modellieren in Ton versuchen. Sein erstes gelungenes Werk war eine Tonfigur, gut zwei Spannen hoch, es war die süße verführerische Gestalt der kleinen Julie, der Schwester Lydias. Der Meister lobte diese Arbeit, aber Goldmunds Wunsch, sie in Metall gießen zu lassen, erfüllte er nicht; ihm war die Figur zu unkeusch und weltlich, als daß er ihr hätte als Pate dienen mögen. Dann kam die Arbeit an der Figur des Narziß, Goldmund führte sie in Holz aus, und zwar als Jünger Johannes; denn Niklaus wollte sie, wenn sie gelänge, in eine Kreuzigungsgruppe stellen, die er in Auftrag hatte und an der die beiden Gehilfen seit langer Zeit ausschließlich arbeiteten, um die letzte Ausführung dann dem Meister zu überlassen.

An der Narzißfigur arbeitete Goldmund mit tiefer Liebe, in dieser Arbeit fand er sich selbst, seine Künstlerschaft und seine Seele wieder, sooft er aus dem Geleise gekommen war, und das geschah nicht selten: Liebschaften, Tanzfeste, Zechereien mit Kameraden, Würfelspiel und häufig auch Raufhändel rissen ihn heftig mit, daß er für einen oder mehrere Tage die Werkstatt mied oder verstört und verdrossen bei der Arbeit stand. An seinem Jünger Johannes aber, dessen geliebte sinnende Gestalt ihm immer reiner aus dem Holz entgegentrat, arbeitete er nur in den Stunden der Bereitschaft, mit Hingabe und Demut. In diesen Stunden war er weder froh noch traurig, wußte weder von Lebenslust noch von Vergänglichkeit; es kehrte ihm jenes ehrfürchtige, lichte und rein gestimmte Gefühl im Herzen wieder, mit dem er einst dem Freunde hingegeben und seiner Führung froh gewesen war. Nicht er war es, der da stand und aus eigenem Willen ein Bildnis schuf; vielmehr war es der andere, es war Narziß, der sich seiner Künstlerhände bediente, um aus der Vergänglichkeit und Veränderlichkeit des Lebens herauszutreten und das reine Bild seines Wesens darzustellen.

Auf diese Art, fühlte Goldmund manchmal mit einem Schauder, entstanden die echten Werke. So war des Meisters unvergeßliche Madonna entstanden, die er seitdem an manchem Sonntag im Kloster wieder aufgesucht hatte. So, auf diese geheimnisvolle und heilige Art, waren die paar besten von jenen alten Figuren entstanden, die der Meister oben in der Diele stehen hatte. So würde einst auch jenes Bild entstehen, jenes andere, jenes einzige, das ihm noch geheimnisvoller und ehrwürdiger war, das Bild der Menschenmutter. Ach, daß aus Menschenhänden doch einzig solche Kunstwerke hervorgehen möchten, solche heilige, notwendige, von keinem Wollen und keiner Eitelkeit befleckte Bilder! Aber es war nicht so, er wußte es längst. Man konnte auch andere Bilder schaffen, hübsche und entzückende Sachen, mit großer Meisterschaft gemacht, die Freude der Kunstliebhaber, der Schmuck der Kirchen und Ratssäle – schöne Dinge, ja, aber nicht heilige, nicht echte Seelenbilder. Er kannte nicht nur von Niklaus und anderen Meistern manche solche Werke, die bei aller Anmut der Erfindung und aller Sorgfalt der Arbeit doch eben nur Spielereien waren. Er wußte es, zu seiner Beschämung und Trauer, auch schon im eigenen Herzen, hatte es in seinen eigenen Händen gespürt, wie ein Künstler solche hübsche Dinge in die Welt stellen kann, aus Lust am eigenen Können, aus Ehrgeiz, aus Tändelei.

Als ihm diese Erkenntnis zum ersten Male kam, wurde er todestraurig. Ach, um hübsche Engelsfigürchen oder andern Tand zu machen, und sei er noch so hübsch, lohnte es sich nicht, Künstler zu sein. Für andere vielleicht, für Handwerker, für Bürger, für stille zufriedene Seelen mochte es sich lohnen, für ihn aber nicht. Für ihn waren Kunst und Künstlerschaft wertlos, wenn sie nicht brannten wie Sonne und Gewalt hatten wie Stürme, wenn sie nur Behagen brachten, nur Angenehmes, nur kleines Glück. Er suchte anderes. Eine zierlich wie Spitzenwerk gebaute Marienkrone schön mit blankem Blattgold zu vergolden war keine Arbeit für ihn, auch wenn es gut bezahlt wurde. Warum nahm Meister Niklaus alle diese Aufträge an? Warum hielt er sich zwei Gehilfen? Warum hörte er stundenlang diese Ratsherren oder Pröpste an, wenn sie ein Portal oder eine Kanzel bei ihm bestellten, mit dem Ellenmaß in der Hand? Er tat es aus zwei Gründen, zwei schäbigen Gründen: weil er darauf hielt, ein berühmter und mit Aufträgen überhäufter Künstler zu sein, und weil er Geld anhäufen wollte, Geld nicht für große Unternehmungen oder Genüsse, sondern Geld für seine Tochter, die schon längst ein reiches Mädchen war, Geld für ihre Aussteuer, für Spitzenkragen und Brokatkleider und für ein nußbaumenes Ehebett voll kostbarer Decken und Leinenzeuge! Als ob das schöne Mädchen die Liebe nicht auf jedem Heuboden ebensogut erfahren könnte!

Tief rührte sich in den Stunden solcher Betrachtungen das Blut der Mutter in Goldmund, der Stolz und die Verachtung des Heimatlosen gegen die Seßhaften und Besitzenden. Zuweilen war ihm das Handwerk und der Meister zuwider wie fädige Bohnen, oft war er nahe am Davonlaufen.

Auch der Meister hatte es schon manches Mal ärgerlich bereut, daß er sich auf diesen schwierigen und unzuverlässigen Burschen eingelassen habe, der seine Geduld oft auf schwere Proben stellte. Was er vom Lebenswandel Goldmunds erfuhr, von seiner Gleichgültigkeit gegen Geld und Besitz, seiner Verschwendungslust, seinen vielen Liebschaften, seinen häufigen Raufereien, konnte ihn nicht milder stimmen; er hatte da einen Zigeuner, einen unvertrauten Gesellen bei sich aufgenommen. Auch war ihm nicht entgangen, mit welchen Augen dieser Vagabund seine Tochter Lisbeth betrachtete. Wenn er dennoch für ihn mehr Geduld aufbrachte, als ihm leichtfiel, so tat er es nicht aus Pflichtgefühl und Ängstlichkeit, sondern des Jüngers Johannes wegen, dessen Figur er entstehen sah. Mit einem Gefühl von Liebe und Seelenverwandtschaft, das er sich nicht ganz eingestand, sah der Meister zu, wie dieser aus den Wäldern ihm zugelaufene Zigeuner aus jener so rührenden, so schönen und doch so ungeschickten Zeichnung, deretwegen er ihn damals bei sich behalten hatte, nun langsam und launisch, aber zäh und unfehlbar seine hölzerne Jüngerfigur bildete. Sie würde, daran zweifelte der Meister nicht, trotz allen Launen und Unterbrechungen einmal fertig werden, und dann würde sie ein Werk sein, wie es keiner seiner Gesellen je machen konnte, wie es auch großen Meistern nicht viele Male glückt. So vieles dem Meister an seinem Schüler mißfiel, so manchen Tadel er ihm spendete, so oft er wütend über ihn war – über den Johannes sagte er ihm nie ein Wort. Der Rest von Jünglingsanmut und knabenhafter Kindlichkeit, wegen deren Goldmund so vielen Wohlgefallen hatte, war ihm in diesen Jahren allmählich verlorengegangen. Er war ein schöner und starker Mann geworden, sehr begehrt von den Frauen, bei den Männern wenig beliebt. Auch sein Gemüt, sein inneres Antlitz hatte sich sehr verändert, seit Narziß ihn aus dem holden Schlaf seiner Klosterjahre erweckt hatte, seit Welt und Wanderschaft ihn geknetet hatten. Aus dem hübschen, sanften, bei allen beliebten, frommen und dienstwilligen Klosterschüler war längst ein ganz anderer Mensch geworden. Narziß hatte ihn erweckt, die Frauen hatten ihn wissend gemacht, die Wanderschaft hatte den Flaum von ihm gestreift. Freunde hatte er nicht, sein Herz gehörte den Frauen. Die konnten ihn leicht gewinnen, ein verlangender Blick war schon genug. Er konnte einer Frau nicht leicht widerstehen, er gab auf die leiseste Werbung Antwort. Und er, der eine sehr zarte Empfindung für Schönheit hatte und stets am meisten die ganz jungen Mädchen im Flaum ihres Frühlings liebte, er ließ sich dennoch auch von wenig schönen und nicht mehr jungen Frauen rühren und verführen. Auf dem Tanzboden blieb er zuweilen an irgendeinem ältlichen und mutlosen Mädchen hängen, das keiner begehrte und das ihn auf dem Wege des Mitleids gewann, und nicht nur des Mitleids, sondern auch einer ewig wachen Neugierde. Sobald er sich einem Weibe hinzugeben begann – mochte das nun Wochen oder bloß Stunden dauern –, dann war sie schön für ihn, dann gab er sich ganz. Und die Erfahrung lehrte ihn, daß jede Frau schön sei und zu beglücken vermöge, daß die Unscheinbare und von den Männern Mißachtete einer unerhörten Glut und Hingabe, die Verblühte einer mehr als mütterlichen, trauernd süßen Zärtlichkeit fähig sei, daß jede Frau ihr Geheimnis und ihren Zauber habe, dessen Erschließung selig machte. Darin waren alle Frauen gleich. Jeder Mangel an Jugend oder Schönheit wurde durch irgendeine besondere Gebärde aufgewogen. Nur allerdings vermochte nicht jede ihn gleich lange zu fesseln. Er war gegen die Jüngste und Schönste um keinen Grad liebevoller oder dankbarer als gegen eine Unschöne, er liebte niemals halb. Aber es gab Frauen, die ihn nach drei oder nach zehn Liebesnächten erst recht an sich banden, und andere, die schon nach dem erstenmal erschöpft waren und vergessen wurden.

Die Liebe und Wollust schien ihm das einzige zu sein, wodurch das Leben wahrhaft erwärmt und mit Wert erfüllt werden könne. Unbekannt war ihm Ehrgeiz, Bischof oder Bettler galt ihm gleich; auch Erwerb und Besitz vermochte ihn nicht zu fesseln, er verachtete sie, er hätte ihnen nie das kleinste Opfer gebracht und warf das Geld, das er zu manchen Zeiten reichlich verdiente, sorglos weg. Die Liebe der Frauen, das Spiel der Geschlechter, das stand ihm obenan, und der Kern seiner häufigen Neigung zu Traurigkeit und Überdruß wuchs aus der Erfahrung von der Flüchtigkeit und Vergänglichkeit der Wollust. Das rasche, flüchtige, entzückende Auflodern der Liebeslust, ihr kurzes sehnliches Brennen, ihr rasches Erlöschen – dies schien ihm den Kern alles Erlebens zu enthalten, dies wurde ihm zum Bilde für alle Wonne und alles Leid des Lebens. Jener Trauer und jenem Vergänglichkeitsschauer konnte er sich mit ebensolcher Hingabe überlassen wie der Liebe, und auch diese Schwermut war Liebe, auch sie war Wollust. So wie die Liebeswonne im Augenblick ihrer höchsten, seligsten Spannung sicher ist, mit dem nächsten Atemzug hinschwinden und wiederum sterben zu müssen, so war auch die innigste Einsamkeit und Hingabe an die Schwermut sicher, plötzlich verschlungen zu werden vom Verlangen, von neuer Hingabe an die lichte Seite des Lebens. Tod und Wollust waren eines. Die Mutter des Lebens konnte man Liebe oder Lust nennen, man konnte sie auch Grab und Verwesung nennen. Die Mutter war Eva, sie war die Quelle des Glücks und die Quelle des Todes, sie gebar ewig, tötete ewig, in ihr waren Liebe und Grausamkeit eins, und ihre Gestalt wurde ihm zum Gleichnis und heiligen Sinnbild, je länger er sie in sich trug.

Er wußte, nicht mit Worten und Bewußtsein, aber mit dem tieferen Wissen des Blutes, daß sein Weg zur Mutter führe, zur Wollust und zum Tode. Die väterliche Seite des Lebens, der Geist, der Wille, war nicht seine Heimat. Dort war Narziß zu Hause, und jetzt erst durchdrang und verstand Goldmund seines Freundes Worte ganz und sah in ihm sein Gegenspiel, und dies bildete er auch in seiner Johannesfigur und machte es sichtbar. Man konnte sich nach Narziß bis zu Tränen sehnen, man konnte wunderbar von ihm träumen – ihn erreichen, werden wie er aber konnte man nicht.

Mit irgendeinem geheimen Sinn ahnte Goldmund auch das Geheimnis seiner Künstlerschaft, seiner innigen Liebe zur Kunst, seines zeitweiligen wilden Hasses gegen sie. Ohne Gedanken, gefühlhaft ahnte er in vielerlei Gleichnissen: die Kunst war eine Vereinigung von väterlicher und mütterlicher Welt, von Geist und Blut; sie konnte im Sinnlichsten beginnen und ins Abstrakteste führen, oder konnte in einer reinen Ideenwelt ihren Anfang nehmen und im blutigsten Fleische enden. Alle jene Kunstwerke, die wahrhaft erhaben und nicht nur gute Gauklerstückchen, sondern vom ewigen Geheimnis erfüllt waren, zum Beispiel jene Mutter Gottes des Meisters, alle jene echten und unzweifelhaften Künstlerwerke hauen dies gefährliche, lächelnde Doppelgesicht, dies Mann-Weibliche, dies Beieinander von Triebhaftem und reiner Geistigkeit. Am meisten aber würde die Eva-Mutter dieses Doppelgesicht einst zeigen, wenn es ihm einst gelänge, sie zu gestalten.

In der Kunst und im Künstlersein lag für Goldmund die Möglichkeit einer Versöhnung seiner tiefsten Gegensätze, oder doch eines herrlichen, immer neuen Gleichnisses für den Zwiespalt seiner Natur. Aber die Kunst war kein reines Geschenk, sie war keineswegs umsonst zu haben, sie kostete sehr viel, sie verlangte Opfer. Mehr als drei Jahre lang hatte Goldmund ihr das Höchste und Unentbehrlichste geopfert, was er nächst der Liebeswollust kannte: die Freiheit. Das Freisein, das Schweifen im Grenzenlosen, die Willkür des Wanderlebens, das Alleinstehen und Unabhängigsein, das alles hatte er weggegeben. Mochten andere ihn launisch, unbotmäßig und selbstherrlich genug finden, wenn er zuweilen Werkstatt und Arbeit wütend vernachlässigte – für ihn selber war dies Leben Sklaverei, die ihn oft bis zur Unerträglichkeit erbitterte. Es war nicht der Meister, dem er gehorchen mußte, noch die Zukunft, noch die Notdurft – es war die Kunst selbst. Die Kunst, diese scheinbar so geistige Göttin, bedurfte so vieler nichtiger Dinge! Sie brauchte ein Dach überm Kopf, sie brauchte Werkzeuge, Hölzer, Ton, Farben, Gold, sie verlangte Arbeit und Geduld. Ihr hatte er die wilde Freiheit der Wälder geopfert, den Rausch der Weite, die herbe Wollust der Gefahr, den Stolz des Elends, und er mußte das Opfer immer von neuem bringen, mit Würgen und Knirschen.

Einen Teil des Geopferten fand er wieder, eine kleine Rache an der sklavenhaften Ordnung und Seßhaftigkeit seines jetzigen Lebens nahm er in gewissen Abenteuern, die mit der Liebe zusammenhingen, in den Raufhändeln mit Nebenbuhlern. Alle eingesperrte Wildheit, alle eingeklemmte Kraft seines Wesens rauchte zu diesem Notloche hinaus, er wurde ein bekannter und gefürchteter Raufbold. Auf dem Weg zu einem Mädchen oder auf dem Heimweg vom Tanze plötzlich in dunkler Gasse angefallen zu werden, ein paar Stockhiebe zu erhalten, sich blitzschnell herumzuwerfen und von der Verteidigung zum Angriff überzugehen, keuchend den keuchenden Feind an sich zu drücken, ihm die Faust unters Kinn zu hauen, ihn am Haar zu schleifen oder tüchtig am Hals zu würgen, das schmeckte ihm gut und heilte seine dunklen Launen für eine Weile. Und den Frauen gefiel es auch.

Dies alles füllte seine Tage reichlich aus, und alles hatte auch einen Sinn, solange die Arbeit am Jünger Johannes dauerte. Sie zog sich lange hin, und die letzten zarten Modellierungen an Gesicht und Händen geschahen in einer feierlichen und geduldigen Sammlung. In einem kleinen Holzschuppen hinter der Gesellenwerkstatt machte er die Arbeit fertig. Es kam die Morgenstunde, wo die Figur fertig wurde. Goldmund holte einen Besen, kehrte den Schuppen sorgfältig rein, pinselte zart den letzten Holzstaub aus den Haaren seines Johannes und stand dann lange vor ihm, eine Stunde und länger, feierlich erfüllt vom Gefühl eines seltenen großen Erlebnisses, das in seinem Leben sich vielleicht noch einmal wiederholen könnte, vielleicht auch allein und einzig bleiben würde. Ein Mann am Tag seiner Hochzeit oder am Tage des Ritterschlags, eine Frau nach der ersten Geburt mag Ähnliches im Herzen sich bewegen fühlen, eine hohe Weihe, einen tiefen Ernst und zugleich schon eine heimliche Angst vor dem Augenblick, wo auch dies Hohe und Einmalige erlebt und vorüber und eingeordnet sein und vom gewöhnlichen Lauf der Tage verschlungen würde.

Er stand auf und sah seinen Freund Narziß, den Führer seiner Jünglingsjahre, mit lauschend erhobenem Gesichte stehen, bekleidet mit Gewand und Rolle des schönen Lieblingsjüngers, mit einem Ausdruck von Stille, Hingegebenheit und Andacht, der wie die Knospe eines Lächelns war. Diesem schönen, frommen und geistigen Gesicht, dieser schlanken wie schwebenden Gestalt, diesen anmutig und fromm erhobenen, langen Händen waren Schmerz und Tod nicht unbekannt, obwohl sie voll Jugend und innerer Musik waren; aber unbekannt war ihnen Verzweiflung, Unordnung und Auflehnung. Mochte die Seele hinter diesen edlen Zügen froh oder traurig sein, sie war rein gestimmt, sie litt keinen Mißklang.

Goldmund stand und betrachtete sein Werk. Als Andacht vor dem Denkmal seiner ersten Jugend und Freundschaft begann seine Betrachtung, aber sie endete mit einem Sturm von Sorgen und schweren Gedanken. Hier stand nun sein Werk, und der schöne Jünger würde bleiben, und sein zartes Blühen würde nie ein Ende nehmen. Er aber, der es gemacht hatte, mußte jetzt von seinem Werk Abschied nehmen, schon morgen gehörte es nicht mehr ihm, wartete nicht mehr auf seine Hände, wuchs und erblühte nicht mehr unter ihnen, war ihm nicht mehr Zuflucht, Trost und Sinn des Lebens. Leer blieb er zurück. Und, so schien ihm, es wäre am besten, heute nicht bloß von diesem Johannes Abschied zu nehmen, sondern auch gleich vom Meister, von der Stadt und von der Kunst. Er hatte hier nichts mehr zu tun; es waren keine Bilder in seiner Seele, die er hätte gestalten können. Jenes ersehnte Bild der Bilder, die Gestalt der Menschenmutter, war ihm noch nicht erreichbar, noch lange nicht. Sollte er jetzt wieder Engelsfigürchen polieren und Ornamente schnitzen?

Er riß sich los und ging in des Meisters Werkstatt hinüber. Leise trat er ein und blieb bei der Tür stehen, bis Niklaus ihn bemerkte und anrief. »Was ist, Goldmund?«

»Meine Figur ist fertig. Vielleicht kommet Ihr, eh Ihr zu Tische geht, einmal hinüber und seht sie an.«

»Gerne komme ich, gleich jetzt.«

Zusammen gingen sie hinüber und ließen die Tür offenstehen, daß es heller sei. Niklaus hatte seit längerer Weile die Figur nicht mehr gesehen und Goldmund bei der Arbeit ungestört gelassen. Jetzt betrachtete er das Werk mit schweigender Aufmerksamkeit, sein verschlossenes Gesicht wurde schön und hell, Goldmund sah seine strengen blauen Augen froh werden.

»Es ist gut«, sagte der Meister. »Es ist sehr gut. Es ist dein Gesellenstück, Goldmund, du hast jetzt ausgelernt. Ich werde deine Figur denen von der Zunft zeigen und werde verlangen, daß sie dir dafür den Meisterbrief geben, du hast ihn verdient.«

Goldmund legte auf die Zunft wenig Wert, aber er wußte, wieviel Anerkennung die Worte des Meisters bedeuteten, und freute sich.

Indem Niklaus nochmals langsam rund um die Figur des Johannes ging, sagte er mit einem Seufzer: »Diese Gestalt ist voll von Frömmigkeit und Klarheit, sie ist ernst, aber voll Glück und Frieden. Man sollte meinen, es habe sie ein Mensch gemacht, in dessen Herzen es sehr hell und heiter ist.«

Goldmund lächelte.

»Ihr wißt, daß ich in dieser Figur nicht mich selber abgebildet habe, sondern meinen liebsten Freund. Er ist es, der die Klarheit und den Frieden in das Bild gebracht hat, nicht ich. Ich war es ja eigentlich nicht, der das Bild gemacht hat, sondern er hat es mir in die Seele gegeben.«

»So mag es sein«, sagte Niklaus. »Es ist ein Geheimnis, auf welche Art solch ein Bild entsteht. Ich bin nicht eben demütig, aber ich muß sagen: ich habe viele Werke gemacht, die weit hinter deinem zurückbleiben, nicht an Kunst und Sorgfalt, aber an Wahrheit. Nun, du weißt wohl selbst, man kann ein solches Werk nicht wiederholen. Es ist ein Geheimnis.«

»Ja«, sagte Goldmund, »als die Figur fertig wurde und ich sie ansah, dachte ich mir: etwas solches kannst du nicht wieder machen. Und darum glaube ich, Meister, ich werde mich in Bälde wieder auf die Wanderschaft machen.«

Verwundert und unwillig blickte Niklaus ihn an, seine Augen waren wieder streng geworden.

»Wir werden darüber noch sprechen. Für dich sollte die Arbeit nun erst recht beginnen, es ist wahrlich jetzt nicht der Augenblick, um davonzulaufen. Aber für heut machst du Feierabend, und zu Mittag bist du mein Gast.«

Um Mittag trat Goldmund gekämmt und gewaschen im Sonntagskleide an. Diesmal wußte er, wieviel es bedeute und welch seltene Gunst es sei, vom Meister zu Tisch geladen zu werden. Als er die Treppe zu der mit Figuren überfüllten Diele hinanstieg, war dennoch sein Herz lange nicht so voll Ehrfurcht und banger Freude wie jenes andere Mal, da er mit klopfendem Herzen in diese schönen stillen Räume getreten war.

Auch Lisbeth war geputzt und trug eine Kette mit Steinen um den Hals, und zu Tische gab es außer dem Karpfen und Wein noch eine Überraschung; der Meister schenkte ihm einen ledernen Geldsäckel, in dem waren zwei Goldstücke, Goldmunds Lohn für die fertig gewordene Figur. Diesmal saß er nicht stumm, während Vater und Tochter sich unterhielten. Beide sprachen ihn an, und es wurde mit den Bechern angestoßen. Goldmunds Augen waren fleißig, er nahm die Gelegenheit wahr, das schöne Mädchen mit dem vornehmen und etwas hochmütigen Gesicht genau zu betrachten, und seine Augen verschwiegen nicht, wie sehr sie ihm gefalle. Sie zeigte sich artig gegen ihn, aber daß sie nicht errötete noch warm wurde, enttäuschte ihn. Wieder wünschte er innig, dies schöne unbewegte Gesicht zum Sprechen zu bringen und zur Preisgabe seines Geheimnisses zu zwingen. Nach Tische bedankte er sich, verweilte ein wenig bei den Schnitzereien der Diele und trieb sich den Nachmittag unentschlossen, ein ratloser Müßiggänger, in der Stadt herum. Er war vom Meister sehr geehrt worden, über alles Erwarten. Warum machte es ihn nicht froh? Warum schmeckte alle diese Ehre so wenig festlich?

Einem Einfall folgend, mietete er ein Pferd und ritt in das Kloster hinaus, wo er einst zum erstenmal ein Werk des Meisters gesehen und seinen Namen gehört hatte. Vor ein paar Jahren war das gewesen und war doch so unausdenklich lange her. In der Klosterkirche besuchte und betrachtete er die Mutter Gottes, und auch heute wieder entzückte und bezwang ihn dieses Werk; es war schöner als sein Johannes, es war ihm gleich an Innigkeit und Geheimnis und war ihm überlegen an Kunst, an freiem, schwerelosem Schweben. Er sah jetzt an dieser Arbeit Einzelheiten, die nur der Künstler sieht, leise zarte Bewegungen im Gewand, Kühnheiten in der Bildung der langen Hände und Finger, feinfühlige Benutzung von Zufälligkeiten in der Struktur des Holzes – alle diese Schönheiten waren zwar nichts im Vergleich mit dem Ganzen, mit der Einfachheit und Innigkeit der Vision, aber sie waren eben doch da, und waren sehr schön, und waren auch dem Begnadeten nur möglich, wenn er das Handwerk aus dem Grunde verstand. Um so etwas machen zu können, mußte einer nicht nur Bilder in seiner Seele hegen, er mußte auch Augen und Hände unsäglich geschult und geübt haben. Vielleicht war es also doch der Mühe wert, sein ganzes Leben in den Dienst der Kunst zu stellen, auf Kosten der Freiheit, auf Kosten der großen Erlebnisse, nur um einmal etwas so Schönes hervorzubringen, das nicht nur erlebt und geschaut und in Liebe empfangen, sondern auch bis ins letzte mit sicherer Meisterschaft gekonnt war? Dies war eine große Frage.

Goldmund kehrte spät in der Nacht auf ermüdetem Pferd in die Stadt zurück. Eine Schenke stand noch offen, dort aß er Brot und trank Wein, dann stieg er in seine Kammer am Fischmarkt hinauf, mit sich selbst uneins, voller Fragen, voller Zweifel.

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