Viertes Kapitel

Lange hatten Narzissens Belagerungsversuche das Geheimnis Goldmunds uneröffnet gelassen. Lange hatte er scheinbar vergeblich sich bemüht, ihn zu erwecken, ihn die Sprache zu lehren, in der das Geheimnis mitteilbar wäre. Was der Freund ihm von seiner Herkunft und Heimat erzählt hatte, hatte kein Bild ergeben. Es war da ein schattenhafter, gestaltloser, aber verehrter Vater, und dann die Sage von einer schon vor langer Zeit verschollenen oder umgekommenen Mutter, die nur noch ein blasser Name war. Allmählich hatte Narziß, im Seelenlesen bewandert, erkannt, daß sein Freund zu den Menschen gehöre, welchen ein Stück aus ihrem Leben verlorengegangen ist, welche unter dem Druck irgendeiner Not oder Bezauberung sich dazu verstehen mußten, einen Teil ihrer Vergangenheit zu vergessen. Er sah ein, daß bloßes Befragen und Belehren hier unnütz sei; er sah auch, daß er allzusehr an die Macht der Vernunft geglaubt und viel vergebens geredet habe.

Nicht vergeblich aber war die Liebe geblieben, die ihn mit dem Freunde verband, und die Gewohnheit vielen Zusammenseins. Trotz aller tiefen Verschiedenheit ihrer Wesen hatten sie beide viel voneinander gelernt; es war zwischen ihnen neben der Vernunftsprache allmählich eine Seelen- und Zeichensprache entstanden, so wie zwischen zwei Wohnstätten zwar eine Straße sein mag, auf welcher Wagen fahren und Reiter reiten können, daneben aber noch viele kleine Spielwege, Nebenwege, Schleichwege entstehen: Wegchen für Kinder, Pfade für Verliebte, kaum bemerkbare Wege von Hund und Katze. Allmählich hatte Goldmunds beseelte Einbildungskraft auf manchen magischen Wegen sich in des Freundes Gedanken und ihre Sprache eingeschlichen, und dieser wieder hatte manches von Goldmunds Sinn und Art ohne Worte verstehen und mitfühlen gelernt. Langsam reiften, im Licht der Liebe, neue Verbindungen von Seele zu Seele, hinterher erst kamen die Worte. So kam eines Tages, von keinem erwartet, ein Gespräch zwischen den Freunden zustande, an einem schulfreien Tage in der Bibliothek – ein Gespräch, das sie mitten in den Kern und Sinn ihrer Freundschaft stellte und weithin neue Lichter warf.

Sie hatten über Astrologie gesprochen, welche im Kloster nicht getrieben wurde und verboten war, und Narziß hatte gesagt, Astrologie sei ein Versuch, in die vielen verschiedenen Arten von Menschen, Schicksalen und Bestimmungen Ordnung und System zu bringen. Hier setzte Goldmund ein: »Immer sprichst du von den Verschiedenheiten – ich habe allmählich erkannt, daß dies deine besonderste Eigenschaft ist. Wenn du von dem großen Unterschied sprichst, der zum Beispiel zwischen dir und mir bestehe, dann will mir scheinen, der Unterschied bestehe in nichts anderem als eben in deinem merkwürdigen Versessensein auf das Finden von Unterschieden!«

Narziß: »Gewiß, du triffst damit den Nagel auf den Kopf. In der Tat: dir sind die Unterschiede nicht sehr wichtig, mir aber scheinen sie das einzig Wichtige zu sein. Ich bin meinem Wesen nach Gelehrter, meine Bestimmung ist die Wissenschaft. Und Wissenschaft ist, um dein Wort zu zitieren, gar nichts anderes als eben das ‚Versessensein auf das Finden von Unterschieden’. Man könnte ihr Wesen gar nicht besser bezeichnen. Für uns Wissenschaftsmenschen ist nichts wichtig als das Feststellen von Verschiedenheiten, Wissenschaft heißt Unterscheidungskunst. Zum Beispiel an jedem Menschen die Merkmale finden, die ihn von den andern unterscheiden, heißt ihn erkennen.«

Goldmund: »Nun ja. Einer hat Bauernschuhe an und ist ein Bauer, ein anderer hat eine Krone auf und ist ein König. Das sind allerdings Unterschiede. Sie werden aber auch von den Kindern gesehen, ohne alle Wissenschaft.«

Narziß: »Wenn der Bauer und der König aber beide gleiche Kleider anhaben, dann kennt das Kind sie nicht mehr auseinander.«

Goldmund: »Die Wissenschaft auch nicht.«

Narziß: »Vielleicht doch. Sie ist ja nicht klüger als das Kind, das sei zugegeben, aber sie ist geduldiger, sie merkt sich nicht bloß die gröbsten Kennzeichen.«

Goldmund: »Das tut jedes kluge Kind auch. Es wird den König am Blick erkennen oder an der Haltung. Und kurz gesagt: ihr Gelehrte seid hochmütig, ihr haltet uns andere stets für dümmer. Man kann ohne alle Wissenschaft sehr klug sein.«

Narziß: »Es freut mich, daß du das einzusehen beginnst. Nun wirst du bald auch einsehen, daß ich nicht die Klugheit meine, wenn ich vom Unterschied zwischen dir und mir rede. Ich sage ja nicht: du bist klüger oder dümmer, besser oder schlechter. Ich sage nur: du bist anders.«

Goldmund: »Das ist leicht zu verstehen. Du sprichst aber nicht nur von Unterschieden der Merkmale, du sprichst oft auch von Unterschieden des Schicksals, der Bestimmung. Warum zum Beispiel solltest du eine andere Bestimmung haben als ich? Du bist wie ich ein Christ, du bist wie ich zum Klosterleben entschlossen, du bist wie ich ein Kind des guten Vaters im Himmel. Unser beider Ziel ist dasselbe: die ewige Seligkeit. Unsere Bestimmung ist dieselbe: die Rückkehr zu Gott.«

Narziß: »Sehr gut. Im Lehrbuch der Dogmatik ist freilich ein Mensch genau wie der andere, im Leben aber nicht. Mir scheint: der Lieblingsjünger des Erlösers, an dessen Brust er ruhte, und jener andere Jünger, der ihn verriet – die haben doch wohl beide nicht dieselbe Bestimmung gehabt?«

Goldmund: »Du bist ein Sophist, Narziß! Auf diesem Wege kommen wir einander nicht näher.«

Narziß: »Wir kommen auf keinem Wege einander näher.«

Goldmund: »Sprich nicht so!«

Narziß: »Es ist mein Ernst. Es ist nicht unsere Aufgabe, einander näherzukommen, sowenig wie Sonne und Mond zueinander kommen oder Meer und Land. Wir zwei, lieber Freund, sind Sonne und Mond, sind Meer und Land. Unser Ziel ist nicht, ineinander überzugehen, sondern einander zu erkennen und einer im andern das sehen und ehren zu lernen, was er ist: des andern Gegenstück und Ergänzung.«

Betroffen hielt Goldmund den Kopf gesenkt, sein Gesicht war traurig geworden.

Endlich sagte er: »Ist es darum, daß du meine Gedanken so oft nicht ernst nimmst?«

Narziß zauderte ein wenig mit der Antwort. Dann sagte er mit heller, harter Stimme: »Es ist darum. Du mußt dich daran gewöhnen, lieber Goldmund, daß ich nur dich selbst ernst nehme. Glaube mir, ich nehme jeden Ton deiner Stimme, jede deiner Gebärden, jedes Lächeln von dir ernst. Aber deine Gedanken, die nehme ich weniger ernst. Ich nehme an dir das ernst, was ich als wesentlich und notwendig erfinde. Warum willst du denn gerade deinen Gedanken besondere Beachtung zugewendet sehen, da du so viele andere Gaben hast?«

Goldmund lächelte bitter: »Ich sagte es ja, du hast mich immer bloß für ein Kind gehalten!«

Narziß blieb fest. »Einen Teil deiner Gedanken halte ich für Kindergedanken. Erinnere dich, wir sprachen vorher davon, daß ein kluges Kind durchaus nicht dümmer zu sein brauche als ein Gelehrter. Wenn aber das Kind über Wissenschaft mitreden will, wird der Gelehrte es eben nicht ernst nehmen.«

Heftig rief Goldmund: »Auch wenn wir nicht über Wissenschaft reden, belächelst du mich! Du tust zum Beispiel immer so, als sei meine ganze Frömmigkeit, meine Bemühungen um Fortschritte im Lernen, mein Wunsch nach dem Mönchtum bloß Kinderei!«

Ernst blickte Narziß ihn an: »Ich nehme dich ernst, wenn du Goldmund bist. Du bist aber nicht immer Goldmund. Ich wünsche mir nichts anderes, als daß du ganz und gar Goldmund würdest. Du bist kein Gelehrter, du bist kein Mönch – einen Gelehrten oder einen Mönch kann man aus geringerem Holz machen. Du glaubst, du seiest mir zu wenig gelehrt, zu wenig Logiker, oder zu wenig fromm. O nein, aber du bist mir zu wenig du selbst.«

Hatte sich auch Goldmund nach diesem Gespräch betroffen und sogar verletzt zurückgezogen, schon nach wenigen Tagen zeigte er dennoch selbst Verlangen nach seiner Fortsetzung. Diesmal nun gelang es Narziß, ihm ein Bild von den Unterschieden ihrer Naturen zu geben, das er besser annehmen konnte.

Narziß hatte sich warm geredet, er fühlte, daß Goldmund heute seine Worte offener und williger in sich einließe, daß er Macht über ihn habe. Er ließ sich durch den Erfolg verführen, mehr zu sagen, als er beabsichtigt hatte, er ließ sich von seinen eigenen Worten hinreißen.

»Schau«, sagte er, »es gibt nur einen einzigen Punkt, in dem ich dir überlegen bin: ich bin wach, während du nur halbwach bist und zuweilen völlig schläfst. Wach nenne ich den, der mit dem Verstand und Bewußtsein sich selbst, seine innersten unvernünftigen Kräfte, Triebe und Schwächen kennt und mit ihnen zu rechnen weiß. Daß du das lernst, das ist der Sinn, den die Begegnung mit mir für dich haben kann. Bei dir, Goldmund, sind Geist und Natur, Bewußtsein und Traumwelt sehr weit auseinander. Du hast deine Kindheit vergessen, aus den Tiefen deiner Seele wirbt sie um dich. Sie wird dich so lange leiden machen, bis du sie erhörst. – Genug davon! Im Wachsein, wie gesagt, bin ich stärker als du, hier bin ich dir überlegen und kann dir darum nützen. In allem andern, Lieber, bist du ja mir überlegen – vielmehr du wirst es sein, sobald du dich selbst gefunden hast.«

Goldmund hatte staunend zugehört, aber bei dem Wort »Du hast deine Kindheit vergessen« zuckte er auf wie von einem Pfeil getroffen, ohne daß Narziß es beachtete, der nach seiner Art während des Sprechens die Augen oft lange geschlossen hielt oder vor sich hinstarrte, als fände er die Worte so besser. Er sah nicht, wie Goldmunds Gesicht plötzlich zuckte und zu verwelken begann.

»Überlegen – ich dir!« stammelte Goldmund, nur um etwas zu sagen, er war wie von einer Starre befallen.

»Gewiß«, sprach Narziß weiter. »Die Naturen von deiner Art, die mit den starken und zarten Sinnen, die Beseelten, die Träumer, Dichter, Liebenden, sind uns andern, uns Geistmenschen, beinahe immer überlegen. Eure Herkunft ist eine mütterliche. Ihr lebet im Vollen, euch ist die Kraft der Liebe und des Erlebenkönnens gegeben. Wir Geistigen, obwohl wir euch andere häufig zu leiten und zu regieren scheinen, leben nicht im Vollen, wir leben in der Dürre. Euch gehört die Fülle des Lebens, euch der Saft der Früchte, euch der Garten der Liebe, das schöne Land der Kunst. Eure Heimat ist die Erde, unsere die Idee. Eure Gefahr ist das Ertrinken in der Sinnenwelt, unsere das Ersticken im luftleeren Raum. Du bist Künstler, ich bin Denker. Du schläfst an der Brust der Mutter, ich wache in der Wüste. Mir scheint die Sonne, dir scheinen Mond und Sterne, deine Träume sind von Mädchen, meine von Knaben …«

Mit weit offenen Augen hatte Goldmund zugehört, wie Narziß in einer gewissen rednerischen Selbstberauschung sprach. Mehrere seiner Worte hatten ihn getroffen wie Schwerter; bei den letzten Worten wurde er blaß und schloß die Augen, und als Narziß es merkte und erschrocken fragte, sagte der tief Erbleichte mit erloschener Stimme: »Es ist mir einmal passiert, daß ich vor dir zusammenbrach und weinen mußte – du erinnerst dich. Es darf nicht wieder passieren, ich würde es mir nie verzeihen – und auch dir nicht! Geh jetzt schnell fort und laß mich allein, du hast mir furchtbare Worte gesagt.«

Narziß war sehr betreten. Die Worte hatten ihn mitgerissen, er hatte das Gefühl gehabt, besser als sonst zu sprechen. Nun sah er mit Bestürzung, daß irgendeines dieser Worte den Freund tief erschüttert habe, daß er irgendwo ins Lebendige getroffen habe. Es fiel ihm schwer, ihn in diesem Augenblick allein zu lassen, er zögerte sekundenlang, Goldmunds Stirnrunzeln mahnte ihn, und verwirrt lief er davon, um dem Freunde das Alleinsein zu gönnen, dessen er bedurfte.

Diesmal löste die Überspannung in Goldmunds Seele sich nicht in Tränen auf. Mit einem Gefühl tiefsten und hoffnungslosen Verwundetseins, als habe der Freund ihm plötzlich ein Messer mitten in die Brust gestoßen, blieb er stehen, schwer atmend, mit einem tödlich zusammengepreßten Herzen, wachsbleich im Gesicht, mit abgestorbenen Händen. Es war wieder das Elend von damals, nur um einige Grade verstärkt, es war wieder das Würgen im Innern, das Gefühl, etwas Furchtbarem ms Auge sehen zu müssen, etwas schlechterdings Unerträglichem. Aber kein erlösendes Schluchzen half diesmal das Elend überstehen. Heilige Mutter Gottes, was war denn nur? War denn etwas geschehen? Hatte man ihn gemordet? Hatte er getötet? Was war da Furchtbares gesagt worden?

Keuchend stieß er den Atem von sich, wie ein Vergifteter war er bis zum Zerreißen erfüllt von dem Gefühl, sich von etwas Tödlichem befreien zu müssen, das tief in ihm innen stecke. Mit Bewegungen wie ein Schwimmender stürzte er aus der Stube, floh unbewußt in die stillsten, menschenleersten Bezirke des Klosters, durch Gänge, über Treppen, und ins Freie, an die Luft. Er war in die innerste Zuflucht des Klosters, in den Kreuzgang geraten, über den paar grünen Beeten stand klar der sonnige Himmel, durch die kühle steinerne Kellerluft zog in süßen zögernden Fäden der Duft von Rosen.

Ahnungslos hatte Narziß in dieser Stunde das getan, was zu tun schon lange sein ersehntes Ziel war: er hatte den Dämon, von dem sein Freund besessen war, bei Namen gerufen, er hatte ihn gestellt. Von irgendeinem seiner Worte war das Geheimnis in Goldmunds Herzen angerührt worden und hatte sich in rasendem Schmerz aufgebäumt. Lange irrte Narziß durchs Kloster und suchte den Freund, fand ihn aber nirgends.

Goldmund stand unter einem der runden schweren Steinbogen, die aus den Gängen ins Kreuzgärtchen führten, von den Säulen des Bogens blickten je drei Tierköpfe, steinerne Köpfe von Hunden oder Wölfen, glotzend auf ihn herab. Schauerlich wühlte in ihm die Wunde, ohne Weg zum Licht, ohne Weg zur Vernunft. Todesangst schnürte ihm Kehle und Magen. Mechanisch aufblickend sah er über sich einen der Säulenknäufe mit den drei Tierköpfen, und alsbald war ihm, als säßen, glotzten, bellten die drei wilden Köpfe innen in seinen Eingeweiden.

»Gleich muß ich sterben«, empfand er ergrausend. Und gleich darauf, zitternd vor Angst, empfand er: »Jetzt verliere ich den Verstand, jetzt fressen mich die Tiermäuler.« Zuckend sank er am Fuße der Säule nieder, der Schmerz war zu groß, er hatte die äußerste Grenze erreicht. Eine Ohnmacht umhüllte ihn; er entschwand, mit einsinkendem Gesicht, in ein ersehntes Nichtmehrsein.

Abt Daniel hatte einen wenig erfreulichen Tag gehabt, zwei von den älteren Mönchen waren heut zu ihm gekommen, aufgeregt, keifend, anklägerisch wegen uralter eifersüchtiger Nichtigkeiten wieder einmal wütend verzankt. Er hatte sie angehört, allzulange, hatte sie ermahnt, doch erfolglos, hatte sie schließlich streng entlassen, jeden mit einer ziemlich harten Strafe belegt, und hatte im Herzen das Gefühl behalten, sein Tun sei nutzlos gewesen. Erschöpft hatte er sich in die Kapelle der Unterkirche zurückgezogen, hatte gebetet, war unerfrischt wieder aufgestanden. Jetzt trat er, vom leise herziehenden Rosenduft angezogen, für einen Augenblick, um Luft zu schöpfen, in den Kreuzgang. Da fand er den Schüler Goldmund ohnmächtig auf den Fliesen liegen. Traurig sah er ihn an, über die Blässe und Erloschenheit des sonst so hübschen jungen Antlitzes erschrocken. Es war kein guter Tag heute, nun auch dies noch! Er versuchte, den Jüngling aufzuheben, war aber der Last nicht gewachsen. Tief seufzend ging er weg, der alte Mann, um zwei von den jüngeren Brüdern zu rufen, daß sie ihn hinauftrügen, und schickte auch noch den Pater Anselm hin, der ein Heilkünstler war. Zugleich schickte er nach Narziß, der bald gefunden wurde und vor ihm erschien.

»Weißt du schon?« frage er ihn.

»Wegen Goldmund? Ja, gnädiger Vater, ich habe soeben gehört, er sei krank oder verunglückt, man habe ihn getragen gebracht.«

»Ja, ich fand ihn im Kreuzgang hegen, wo er ja eigentlich nichts zu suchen hat. Er ist nicht verunglückt, er ist ohnmächtig. Es gefällt mir nicht. Es scheint mir, daß du mit der Sache zu tun haben müssest, oder doch etwas darüber wissen, er ist ja dein Intimus. Darum rief ich dich. Sprich.«

Narziß, wie immer mit beherrschter Haltung und Sprache, gab einen kurzen Bericht über sein heutiges Gespräch mit Goldmund, und wie überraschend heftig es auf diesen gewirkt habe. Der Abt schüttelte den Kopf, nicht ohne Unmut.

»Merkwürdige Gespräche sind das«, sagte er und zwang sich zur Ruhe. »Was du mir da geschildert hast, ist ein Gespräch, das man einen Eingriff in eine fremde Seele nennen könnte, es ist, möchte ich sagen, ein seelsorgerliches Gespräch. Du bist aber nicht Goldmunds Seelsorger. Du bist überhaupt nicht Seelsorger, du hast die Weihen noch nicht. Wie kommt es, daß du mit einem Schüler im Ton des Beraters über Dinge sprichst, die bloß den Seelsorger angehen? Die Folgen, wie du siehst, sind üble gewesen.«

»Die Folgen«, sagte Narziß mit sanftem Ton, aber bestimmt, »kennen wir noch nicht, gnädiger Vater. Ich war etwas erschreckt über die heftige Wirkung, aber ich zweifle nicht daran, daß die Folgen unseres Gesprächs gute für Goldmund sein werden.«

»Wir werden die Folgen sehen. Ich rede jetzt nicht von ihnen, sondern von deinem Tun. Was hat dich veranlaßt, solche Gespräche mit Goldmund zu führen?«

»Wie Ihr wißt, ist er mein Freund. Ich habe zu ihm eine besondere Zuneigung, und ich glaube ihn besonders gut zu verstehen. Ihr nennt mein Verhalten gegen ihn seelsorgerlich. Ich habe mir keinerlei geistliche Autorität angemaßt, nur glaubte ich ihn etwas besser zu kennen, als er selbst sich kennt.«

Der Abt zuckte die Achseln.

»Ich weiß, dies ist deine Spezialität. Hoffen wir, daß du damit nichts Schlimmes angerichtet hast. – Ist Goldmund denn krank? Ich meine, fehlt ihm irgend etwas? Ist er schwächlich? Schläft er schlecht? Ißt er nichts? Hat er irgendwelche Schmerzen?«

»Nein, bis heute war er gesund. Am Leibe gesund.«

»Und sonst?«

»An der Seele ist er allerdings krank. Ihr wißt, er ist im Alter, wo die Kämpfe mit dem Geschlechtstrieb beginnen.«

»Ich weiß. Er ist siebzehn?«

»Er ist achtzehn.«

»Achtzehn. Nun ja. Spät genug. Aber diese Kämpfe sind ja etwas Natürliches, was jeder durchmachen muß. Darum kann man ihn doch nicht krank an der Seele nennen.«

»Nein, gnädiger Vater, darum allein nicht. Aber Goldmund war schon vorher seelenkrank, schon lange, darum sind diese Kämpfe für ihn gefährlicher als für andere. Er leidet, wie ich glaube, daran, daß er einen Teil seiner Vergangenheit vergessen hat.«

»So? Was ist das für ein Teil?«

»Es ist seine Mutter und alles, was mit ihr zusammenhängt. Auch ich weiß darüber nichts, ich weiß nur, daß dort die Quelle seiner Krankheit liegen muß. Goldmund nämlich weiß angeblich nichts von seiner Mutter, als daß er sie früh verloren hat. Es macht aber den Eindruck, als schäme er sich ihrer. Und doch muß sie es sein, von der er die meisten seiner Gaben geerbt hat; denn was er über seinen Vater zu sagen hat, läßt diesen Vater nicht als den Mann erscheinen, der einen so hübschen, vielbegabten und eigenartigen Sohn hat. Ich weiß dies alles nicht aus Berichten, ich schließe es aus Anzeichen.«

Der Abt, der anfangs diese Reden als altklug und überheblich in sich etwas belächelt hatte und dem die ganze Sache lästig und bemühend war, begann nachzudenken. Er erinnerte sich an Goldmunds Vater, an jenen etwas geschraubten und unverdaulichen Mann, und erinnerte sich jetzt auch, da er danach suchte, plötzlich wieder einiger Worte, die er damals über Goldmunds Mutter zu ihm geäußert hatte. Sie habe ihm Schande gemacht und sei ihm davongelaufen, hatte er gesagt, und er habe sich Mühe gegeben, in dem Söhnchen die Erinnerung an die Mutter und die etwaigen von ihr vererbten Laster zu unterdrücken. Dies sei auch wohl gelungen, und der Knabe sei willens, zur Sühnung dessen, was die Mutter gefehlt, sein Leben Gott darzubringen.

Nie hatte Narziß dem Abt so wenig gefallen wie heute. Und dennoch – wie gut hatte dieser Grübler geraten, wie gut schien er in der Tat Goldmund zu kennen!

Zum Schlüsse nochmals über die heutigen Vorgänge befragt, sagte Narziß: »Die heftige Erschütterung, in welche Goldmund heute geraten ist, war nicht von mir beabsichtigt. Ich habe ihn daran erinnert, daß er sich selbst nicht kennt, daß er seine Kindheit vergessen hat und seine Mutter. Irgendeines meiner Worte muß ihn getroffen haben und in das Dunkel gedrungen sein, gegen das ich schon so lange kämpfe. Er war wie entgeistert, er sah mich an, als kenne er mich und sich selbst nicht mehr. Ich habe ihm oft gesagt, er schlafe, er sei nicht richtig wach. Jetzt ist er geweckt worden, daran zweifle ich nicht.«

Er wurde entlassen, ohne Rüge, doch mit dem vorläufigen Verbot, den Kranken aufzusuchen.

Inzwischen hatte Pater Anselm den Ohnmächtigen auf ein Bett legen lassen und saß bei ihm. Ihn durch gewaltsame Mittel ins Bewußtsein zurückzuschrecken, schien ihm nicht geraten. Der Junge sah allzu schlecht aus. Wohlwollend blickte der alte Mann aus dem faltigen guten Gesicht auf den Jüngling. Vorläufig untersuchte er den Puls und horchte am Herzen. Gewiß, dachte er, hatte der Bursche irgend etwas Unmögliches gegessen, einen Haufen Sauerklee oder sonst etwas Dummes, man kannte das ja. Die Zunge konnte er nicht sehen. Er mochte Goldmund gern, aber seinen Freund, diesen frühreifen allzu jungen Lehrer, konnte er nicht leiden. Da hatte man es nun. Sicher war Narziß an dieser dummen Geschichte mitschuldig. Was brauchte auch so ein frischer, helläugiger Junge, so ein liebes Naturkind sich ausgerechnet mit diesem hochmütigen Gelehrten einzulassen, mit diesem eitlen Grammatiker, dem sein Griechisch wichtiger war als alles Lebendige auf der Welt! Als nach langer Zeit die Tür sich öffnete und der Abt hereinkam, saß der Pater noch immer und starrte in das Gesicht des Ohnmächtigen. Was war das für ein liebes, junges, argloses Gesicht, und da saß man nun daneben, sollte helfen und würde es wahrscheinlich nicht können. Gewiß, die Ursache konnte eine Kolik sein, er würde Glühwein verordnen, vielleicht Rhabarber. Aber je länger er in das grünbleiche, verzogene Gesicht blickte, desto mehr neigte sich sein Verdacht nach einer anderen Seite, einer bedenklicheren. Pater Anselm hatte Erfahrung. Mehrmals im Laufe seines langen Lebens hatte er Besessene gesehen. Er zögerte damit, den Verdacht auch nur vor sich selbst auszusprechen. Er würde warten und beobachten. Aber, dachte er grimmig, wenn dieser arme Junge wirklich verhext worden war, so würde man den Schuldigen wohl nicht weit zu suchen haben, und es sollte ihm nicht gut gehen. Der Abt trat näher, sah sich den Kranken an, hob ihm sachte ein Augenlid etwas in die Höhe.

»Kann man ihn erwecken?« fragte er.

»Ich möchte noch warten. Das Herz ist gesund. Wir dürfen niemand zu ihm lassen.«

»Ist Gefahr?«

»Ich glaube nicht. Nirgends Verletzungen, keine Spuren von Schlag oder Sturz. Er ist ohnmächtig, vielleicht war es eine Kolik. Bei sehr starken Schmerzen verliert man das Bewußtsein. Wenn es eine Vergiftung wäre, käme Fieber. Nein, er wird wieder aufwachen und am Leben bleiben.«

»Kann es nicht vom Gemüt her gekommen sein?«

»Ich will es nicht verneinen. Weiß man denn nichts? Hat er vielleicht einen starken Schrecken gehabt? Eine Todesnachricht? Einen heftigen Streit, eine Beleidigung? Dann wäre alles erklärt.«

»Wir wissen es nicht. Traget Sorge, daß niemand zu ihm gelassen wird. Ich bitte Euch, bei ihm zu bleiben, bis er erwacht. Sollte es schlimm werden, so rufet mich, auch wenn es in der Nacht wäre.«

Vor dem Weggehen beugte der Greis sich nochmals über den Kranken; er dachte an dessen Vater und dachte an den Tag, an dem dieser hübsche heitere Blondkopf ihm zugebracht worden war, und wie sie alle ihn gleich gern gehabt hatten. Auch er hatte ihn gern gesehen. Aber darin hatte Narziß wirklich recht: in nichts erinnerte dieser Knabe an seinen Vater! Ach, wieviel Sorgen überall, wie unzulänglich war all unser Tun! Hatte er nicht vielleicht an diesem armen Knaben etwas versäumt? Hatte er den richtigen Beichtvater gehabt? War es in Ordnung, daß niemand im Hause über diesen Schüler so gut Bescheid wußte wie Narziß? Konnte denn der ihm helfen, der noch im Noviziat stand, der weder Bruder war noch die Weihen hatte und dessen Gedanken und Anschauungen alle etwas so unangenehm Überlegenes, ja fast Feindseliges hatten. Weiß Gott, ob nicht auch Narziß seit langem falsch behandelt worden war? Weiß Gott, ob er nicht hinter der Maske des Gehorsams Schlimmes verbarg, vielleicht ein Heide war? Und alles, was aus diesen beiden jungen Menschen einst werden würde, dafür war er mitverantwortlich.

Als Goldmund zu sich kam, war es dunkel. Er fühlte seinen Kopf leer und schwindlig. Er fühlte sich in einem Bett liegen, er wußte nicht, wo er war, er dachte auch nicht darüber nach, es war ihm gleichgültig. Aber wo war er gewesen? Wo kam er her, aus welcher Fremde von Erlebnissen? Er war irgendwo gewesen, sehr weit fort, er hatte etwas gesehen, etwas Außerordentliches, etwas Herrliches, etwas Furchtbares auch und Unvergeßliches – und doch hatte er es vergessen. Wo war es? Was war da vor ihm aufgetaucht, so groß, so schmerzlich, so selig, und war wieder hingeschwunden?

Tief horchte er in sich hinein, dorthin, wo heute etwas aufgebrochen, etwas geschehen war – was war es gewesen? Wüste Bilderknäuel wälzten sich herauf, er sah Hundeköpfe, drei Hundeköpfe, und er roch den Duft von Rosen. O wie weh war ihm gewesen! Er schloß die Augen. O wie furchtbar weh war ihm gewesen! Er schlief wieder ein.

Wieder erwachte er, und eben noch im Entschwinden der eilig weggleitenden Traumwelt sah er es, fand das Bild wieder und zuckte wie in schmerzlicher Wollust zusammen. Er sah, er war sehend geworden. Er sah Sie. Er sah die Große, Strahlende, mit dem voll blühenden Munde, mit den leuchtenden Haaren. Er sah seine Mutter. Zugleich meinte er eine Stimme zu hören: »Du hast deine Kindheit vergessen.«

Wessen Stimme war doch dies? Er horchte, er sann und fand. Es war Narziß. Narziß? Und in einem Augenblick, mit einem jähen Ruck war alles wieder da: er erinnerte sich, er war wissend. O Mutter, Mutter! Berge von Schutt, Meere von Vergessenheit waren weg, waren verschwunden; aus königlichen, hellblauen Augen blickte die Verlorene ihn wieder an, die unsäglich Geliebte.

Pater Anselm, der im Lehnstuhl neben dem Bett eingeschlummert war, erwachte. Er hörte den Kranken sich bewegen, hörte ihn atmen. Vorsichtig erhob er sich.

»Ist jemand da?« fragte Goldmund.

»Ich bin es, sei ohne Sorge. Ich mache Licht.«

Er brachte die Ampel zum Brennen, der Schein fiel über sein faltiges wohlwollendes Gesicht.

»Bin ich denn krank?« fragte der Jüngling.

»Du bist ohnmächtig gewesen, mein Söhnchen. Gib mir die Hand, wir wollen nach dem Puls sehen. Wie fühlst du dich?«

»Gut. Ich danke Euch, Pater Anselm, Ihr seid sehr gütig. Es fehlt mir nichts mehr, ich bin nur müde.«

»Natürlich bist du müde. Bald wirst du wieder schlafen. Nimm vorher einen Schluck heißen Wein, er steht bereit. Wir wollen einen Becher miteinander leeren, mein Junge, auf gute Kameradschaft.«

Sorglich hatte er ein Krüglein Glühwein bereit gehalten und in ein Gefäß mit heißem Wasser gestellt.

»Da haben wir also beide eine ganze Weile geschlafen«, lachte der Arzt. »Ein feiner Krankenwärter, wirst du denken, der sich nicht munter halten kann. Na ja, wir sind Menschen. Jetzt trinken wir ein wenig von diesem Zaubertrank, mein Kleiner, nichts Hübscheres als so eine kleine heimliche Zecherei in der Nacht. Also Prosit!«

Goldmund lachte, stieß an und kostete. Der warme Wein war mit Zimmet und Nelken gewürzt und mit Zucker gesüßt, das hatte er noch nie getrunken. Es fiel ihm ein, daß er schon einmal krank gewesen sei, da hatte Narziß sich seiner angenommen. Diesmal war es Pater Anselm, der lieb mit ihm war. Es gefiel ihm sehr, es war höchst angenehm und wunderlich, beim Lämpchenschein dazuliegen und mitten in der Nacht mit dem alten Pater einen Becher süßen warmen Wein zu trinken.

»Hast du Bauchweh?« fragte der Alte.

»Nein.«

»Ja, ich dachte, du müßtest Kolik haben, Goldmund. Also damit ist es nichts. Zeig deine Zunge. Na, es ist gut, euer alter Anselm hat wieder einmal nichts gewußt. Du bleibst morgen hübsch liegen, ich komme dann und untersuche dich. Und mit dem Wein bist du schon fertig? Recht so, es möge dir wohl bekommen. Laß mich sehen, ob noch etwas da ist. Zu einem halben Becher für jeden von uns reicht es noch, wenn wir redlich teilen. – Du hast uns schön erschreckt, Goldmund! Liegst da im Kreuzgang wie eine Kinderleiche. Hast du wirklich kein Bauchweh?«

Sie lachten und teilten redlich den Rest des Krankenweins, der Pater machte seine Spaße, und Goldmund blickte ihn dankbar und belustigt aus den wieder hell gewordenen Augen an. Dann ging der Alte fort, um sich zu Bett zu legen. Goldmund lag noch eine Weile wach, langsam traten die Bilder wieder aus seinem Innern hervor, flammten die Worte seines Freundes wieder auf, und nochmals erschien in seiner Seele die blonde strahlende Frau, die Mutter; wie Föhnwind ging ihr Bild durch ihn hin, wie eine Wolke von Leben, von Wärme, von Zärtlichkeit und inniger Mahnung. O Mutter? O wie war es möglich gewesen, daß er sie hatte vergessen können!

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