Die Scharlachrote Pest

I

Der Weg war früher einmal der Bahndamm einer Eisenbahnstrecke gewesen. Aber seit vielen Jahren fuhr kein Zug mehr darauf. Der Wald zu beiden Seiten erstreckte sich über die Hänge des Bahndamms und zog in einer grünen Welle aus Bäumen und Büschen darüber hinweg. Der Pfad dort oben war so schmal wie der Körper eines Menschen und nicht mehr als ein Fluchtweg für wilde Tiere. Gelegentlich kündete ein Stück rostiges Eisen, das aus dem Waldboden herausragte, davon, daß die Bahnschwellen und die Schienen noch immer vorhanden waren. An einer Stelle hatte ein zehn Zoll starker Baum an einer Verbindungsstelle den Boden durchstoßen und das Ende einer Schiene deutlich sichtbar angehoben. Die Schwelle war augenscheinlich an der Schiene haften geblieben, mit ihr verbunden durch einen Bolzen, der lange genug gehalten hatte, damit das Schienenbett mit Schotter und modrigen Blättern gefüllt werden konnte, so daß sich jetzt das morsche Holz zu einer eigenartigen Schräge aufgeworfen hatte. So alt wie diese Bahnlinie war, stand es fest, daß es sich um einen eingleisigen Schienenstrang handeln mußte.

Ein alter Mann und ein Junge zogen diesen Wildpfad entlang. Sie kamen recht langsam voran, denn der Mann war sehr alt, eine sich abzeichnende Gicht ließ seine Bewegungen flattrig und unsicher geraten, und er stützte sich schwer auf seinen Stock. Eine grob gearbeitete Kappe aus Ziegenleder schützte seinen Kopf vor der Sonne. Unter der Kappe schaute ein schmutzigweißer Haarkranz hervor. Eine Krempe, geschickt aus einem Blatt gefertigt, schirmte seine Augen ab, und darunter hervorschauend verfolgte er den Weg seiner Füße auf dem Pfad. Sein Bart, der ebenfalls weiß hätte sein müssen, war vom Wetter zerzaust und vom Kampieren verschmutzt wie sein Haar, er fiel in einer dichten verfilzten grauen Masse fast bis zu seiner Taille herab. Über seine Brust und seine Schultern hing als einziges Kleidungsstück eine Decke aus Ziegenfell. Seine Arme und Beine, ausgezehrt und mager, bezeugten ein hohes Alter, ebenso wie ihre Sonnenbräune, ihre Schrammen und Narben davon kündeten, daß sie schon lange Jahre den Naturgewalten ausgesetzt waren.

Der Junge, der den Weg bahnte und der den Bewegungsdrang seiner Muskeln zügeln und sich dem langsamen Schritt des Älteren anpassen mußte, trug ebenfalls nur ein Kleidungsstück: ein ausgefranstes Stück Bärenfell mit einem Loch in der Mitte, um den Kopf durchzustecken. Er konnte nicht älter als zwölf Jahre sein. Verwegen hatte er sich einen frisch abgetrennten Schweineschwanz hinter das eine Ohr geklemmt. In einer Hand hielt er einen Bogen von mittlerer Größe und einen Pfeil. Auf dem Bücken trug er einen Köcher voller Pfeile. Aus einer Scheide, die, an einem schmalen Gurt befestigt, an seinem Hals hing, schaute der beschädigte Griff eines Jagdmessers hervor. Der Junge war braun wie eine Beere, und er lief leicht, mit einem fast katzenartigen Gang. In scharfem Kontrast zu seinem sonnengebräunten Gesicht standen seine Augen - blau, tiefblau waren sie, aber wachsam und scharf wie Luchsaugen. Gewohnheitsmäßig, so hatte es den Anschein, durchforschten sie alles, was ihn umgab. Während er so dahinschritt, nahm er auch Gerüche wahr, seine geweiteten, bebenden Nasenflügel leiteten seinem Gehirn eine endlose Folge von Botschaften aus der Außenwelt zu. Auch sein Gehör war scharf, und es war so geschult, daß es selbsttätig arbeitete. Ohne bewußte Anstrengung hörte er all die sachten Geräusche in der scheinbaren Stille - hörte und unterschied diese Laute und ordnete sie ein, ob sie nun vom Wind kamen, der die Blätter rascheln ließ, vom Summe» der Bienen und Mücken, vom fernen Grollen des Meeres, das selbst bei Windstille zu ihm herüberzog, oder von dem Ziesel direkt unter seinem Fuß, der einen Batzen Erde in den Eingang seines Erdlochs schob.

Plötzlich spannte sich der Körper des Jungen aufmerksam. Ohr, Auge und Nase hatten ihm gleichzeitig ein Warnsignal gegeben. Seine Hand glitt zurück zu dem alten Mann, berührte ihn, und die beiden standen reglos. Voraus, auf der einen Seite der Bahndammkrone, erhob sich ein krachender Lärm, und der Blick des Jungen war auf die Spitzen der zitternden Büsche gerichtet. Dann stürzte ein riesiger Bär, ein Grizzly, heraus ins Blickfeld und blieb seinerseits beim Anblick der Menschen jäh stehen. Er mochte sie nicht und brummte mürrisch. Langsam spannte der Junge den Pfeil in dem Bogen, und Stück für Stück zog er die Sehne straff. Dabei wendete er seine Augen jedoch nicht von dem Bären ab. Der Greis spähte unter seinem Blatt hervor und stand so bewegungslos da wie der Junge. Einige Sekunden dauerte dieses gegenseitige Mustern noch an, dann, als sich der Bär gereizt zeigte, deutete der Junge dem Alten mit einer Kopfbewegung an, er solle beiseite treten und den Bahndamm hinuntergehen. Der Junge tat es ihm gleich, indem er rückwärts ging, den Bogen immer noch gespannt und schußbereit. Sie warteten, bis ein Rascheln zwischen den Büschen auf der gegenüberliegenden Seite des Bahndamms ihnen sagte, daß der Bär sich davongemacht hatte. Der Junge grinste, als er wieder auf den Pfad hinaufstieg.

,,’n Großer, Granser“, sagte er und kicherte dabei. Der alte Mann schüttelte den Kopf.

„Die werden jeden Tag größer“, klagte er mit einer dünnen, brüchigen Falsettstimme. „Wer hätte gedacht, daß ich die Zeiten erleben würde, wo ein Mann auf dem Weg zum Cliff house um sein Leben fürchten muß. Als ich ein Junge war, Edwin, kamen Männer und Frauen und kleine Kinder an schönen Tagen aus San Francisco zu Zehntausenden hier heraus. Und da gab’s überhaupt keine Bären. Nein, Sir. Sie zahlten sogar Geld, um sie in Käfigen anzuschauen, so rar waren die.“

„Was ist Geld, Granser?“

Ehe der Alte antworten konnte, besann sich der Junge und schob triumphierend seine Hand in einen Beutel unter seinem Bärenfell und zog einen zerkratzten und matten Silberdollar daraus hervor. Die Augen des Greises leuchteten, als er die Münze dicht davor hielt.

„Ich kann nicht sehen“, murmelte er. „Guck du drauf und versuch das Datum zu erkennen, Edwin.“ Der Junge lachte.

„Du bist mir schon einer, Granser“, rief er belustigt aus, „immer willst du einem einreden, die kleinen Zeichen da bedeuten irgendwas.“

Der alte Mann zeigte, daß er sich über die Worte des Jungen zum wiederholten Male ärgerte, als er die Münze nahe vor seine Augen führte.

Dann kreischte er und fiel in ein groteskes Gackern. „Das war das Jahr, in dem Morgan V. vom Rat der Magnaten zum Präsidenten der Vereinigten Staaten ernannt wurde. Es muß eine der letzten geprägten Münzen sein, denn der Scharlachrote Tod kam . Gott! Gott! Denk doch nur! Vor sechzig Jahren, und ich bin der einzige Mensch, der zu jener Zeit lebte und heute noch am Leben ist. Wo hast du sie gefunden, Edwin?“

Der Junge, der ihn mit der nachsichtigen Neugier betrachtet hatte, die man dem kindischen Geschwätz der Schwachsinnigen entgegenbringt, antwortete ohne Zögern. „Ich hab sie von Hoo-Hoo gekriegt. Der fand sie, als er letzten Frühling bei San Jose unten Ziegen hütete. Hoo-Hoo hat gesagt, es sei Geld. Bist du nicht hungrig, Granser?“

Der Alte packte seinen Stab mit festem Griff und hastete den Wildpfad entlang, wobei seine Augen gierig funkelten.

„Ich hoffe, Hare-Lip* hat ‘ne Krabbe gefunden, oder sogar zwei“, brummelte er. „Die lassen sich gut essen, diese Krabben, lassen sich mächtig gut essen, wenn man keine Zähne mehr hat, dafür aber Enkel, die ihren alten Großvater lieben und Krabben für ihn fangen. Als ich ein Junge war.“

Edwin indessen, der plötzlich stehengeblieben war, weil er irgend etwas gesehen hatte, spannte die Sehne seines Bogens, auf der ein Pfeil bereit lag. Er hatte am Rande einer Erdspalte im Bahndamm halt gemacht. Eine alte Abflußleitung war hier ausgewaschen worden, und der Wasserlauf, nun ohne Begrenzung, hatte den Wall durchbrochen. Auf der gegenüberliegenden Seite zeigte sich das Ende einer Schiene, die ein Stück überhing. Es lugte rostfarben aus den rankenden Weinstöcken hervor, die sich darüber hinwegstreckten. Dahinter, neben einem Busch hockend, schaute ein zitternder Hase unschlüssig zu dem Jungen hinüber. Volle fünfzig Fuß betrug die Entfernung, aber der Pfeil flog blitzschnell und genau, und der durchbohrte Hase, der in seinem Entsetzen einen Schmerzens-laut ausstieß, schleppte sich mühsam ins Gebüsch. Der Junge aber war ein einziger Blitz aus brauner Haut und wehendem Fell, als er die steile Wand der Erdspalte hinunter- und auf der anderen Seite wieder hinaufsprang. Seine unscheinbaren Muskeln waren wie Stahlfedern, die anmutig und wirkungsvoll in Aktion traten. Hundert Fuß weiter, in einem Gestrüpp, holte er die verwundete Kreatur ein und schlug deren Kopf gegen einen Ast, Dann übergab er sie Granser. der sie tragen sollte, „Hase ist gut, sehr gut“, stammelte der Greis, „aber als schmackhafte Delikatesse ziehe ich Krabben doch vor, Als ich ein Junge war.“

„Warum sagst du so viel, was überhaupt keinen Sinn hat?“ unterbrach Edwin ungeduldig des anderen Geschwätzigkeit.

Das waren zwar nicht genau die Worte, die der Junge benutzte, aber etwas, das ihnen entfernt ähnlich war, das allerdings kehliger, mehr nach Verschlußlauten klang, und seine Redeweise war äußerst verknappt. Seine Sprache wies eine entfernte Verwandtschaft mit der des Alten auf, und dessen Sprache wiederum war in etwa ein Englisch, das ein Schlammbad eines verfälschenden Gebrauchs durchgemacht hatte.

„Was ich wissen will, ist, warum du zu Krabben ,eine schmackhafte Delikatesse’ sagst? Krabbe ist Krabbe, oder etwa nicht? Ich hab nie gehört, daß einer das so komisch nennt.“

Der alte Mann seufzte, antwortete aber nicht, und sie setzten ihren Weg schweigend fort. Die Brandung wurde plötzlich lauter, als sie aus dem Wald auf einen Streifen von Sanddünen hinaustraten, der die See begrenzte. Ein paar Ziegen weideten zwischen den kleinen, sandigen Hügeln, und ein in Fell gekleideter Junge, dem ein wölfisch aussehender Hund, der nur schwach an einen Collie erinnerte, zur Seite stand, bewachte sie. Mit dem Dröhnen der Brandung vermischt, war ein anhaltendes, tiefes Bellen oder Brüllen zu vernehmen, das von einer Gruppe gezackter Felsen, hundert Yard von der Küste entfernt, her tönte. Dort hievten sich gewaltige Seelöwen herauf, um in der Sonne zu liegen oder miteinander Kämpfe auszutragen. Unmittelbar vor ihnen stieg der Rauch eines Feuers empor, das von einem zweiten, verwildert aussehenden Jungen ge- schürt wurde. Etliche Wolfshunde, ähnlich dem, der die Ziegen bewachte, waren in seiner Nähe zusammengekrochen.

Der alte Mann mäßigte seinen Schritt, und indem er sich dem Feuer näherte, schnupperte er begierig.

„Muscheln!“ rief er entzückt. „Muscheln! Und ist das nicht eine Krabbe, Hoo-Hoo? Ist das nicht eine Krabbe? du meine Güte, ihr Jungs meint es wirklich gut mit eurem alten Großvater.“

Hoo-Hoo, der scheinbar im selben Alter war wie Edwin, grinste. „Alles was du willst, Granser. Ich hab vier.“

Die zittrige Gier des Greises war mitleiderregend. So schnell es ihm seine steifen Glieder erlaubten, hockte er sich in den Sand und klaubte mit dem Schürhaken eine große Felsmuschel aus den Kohlen heraus. Die Hitze hatte die Schalen auseinandergetrieben, und das lachsfarbene Fleisch war gut durchgegart. In erregter Hast griff er die Muschel mit Daumen und Zeigefinger und führte sie zum Mund. Aber sie war zu heiß, und augenblicklich spie er sie wieder aus. Die Worte, die der Alte in seinem Schmerz ausstieß, sprudelten nur so hervor, und Tränen liefen ihm die Wangen hinab.

Die Jungen waren echte Wilde, und so war ihnen auch der grausame Humor der Wilden eigen. Für sie war der Zwischenfall ungemein spaßig, und sie brachen in lautes Gelächter aus. Hoo-Hoo sprang auf und ab, während Edwin sich ausgelassen auf dem Boden wälzte. Der Junge bei den Ziegen kam angelaufen, um an dem Spaß teilzuhaben.

„Laß sie kalt werden, Edwin, laß sie kalt werden“, bat der Alte flehentlich in seinem Kummer, wobei er nicht versuchte, die Tränen, die ihm immer noch über das Gesicht liefen, wegzuwischen. „Und hol auch eine Krabbe aus dem Feuer, Edwin. Du weißt doch, daß dein alter Großvater Krabben mag.“

Zwischen den Kohlen erhob sich ein mächtiges Zischen, das von den vielen Muscheln hervorgebracht wurde, deren Schalen aufplatzten und die Feuchtigkeit austreten ließen. Sie waren große Schalentiere und brachten es auf eine Länge von drei bis sechs Zoll. Die Jungs angelten sie mit Stöcken heraus und legten sie zum Abkühlen auf ein großes Stück Treibholz.

„Als ich ein Junge war, haben wir nicht über alte Menschen gelacht. Wir hatten Respekt vor ihnen.“

Die Jungs scherten sich nicht darum, und Granser brabbelte weiter in ununterbrochenem Redefluß seine Beschwerden und Tadel. Diesmal war er vorsichtiger beim Essen und verbrannte sich nicht den Mund. Alle begannen zu essen, wozu sie nichts anderes als ihre Hände benutzten und laute Kau- und Schmatzgeräusche machten. Der zweite Junge, der Hare-Lip genannt wurde, streute verstohlen Sand auf eine Muschel, die der Alte zum Mund führte, und als die Sandkörnchen in Schleimhaut und Gaumen des alten Mannes schnitten, brandete abermals Gelächter auf. Granser war sich nicht bewußt, daß man ihm einen Streich gespielt hatte, und er spuckte und würgte, bis Edwin ihm mitleidig eine Kürbisflasche mit frischem Wasser gab, damit er sich den Mund ausspülen konnte.

„Wo sind die Krabben, Hoo-Hoo?“ verlangte Edwin zu wissen. „Granser ist ganz scharf auf einen Happen.“

Wieder funkelten Gransers Augen vor Begierde, als man ihm eine große Krabbe reichte. Schalen und Beine, alles war vollständig, aber das Fleisch hatte sich bereits gelöst. Mit fahrigen Fingern und Wortfetzen, die seiner Vorfreude auf den bevorstehenden Genuß Ausdruck gaben, brach der Alte ein Bein ab, aber er fand es lediglich mit Luft gefüllt.

„Die Krabben, Hoo-Hoo?“ jammerte er. „Die Krabben?“

„Ich hab dich reingelegt, Granser. Es gibt keine Krabben. Ich hab gar keine gefunden.“

Die Jungen wußten sich nicht zu lassen vor Vergnügen beim Anblick der Tränen, die dem Alten in seiner greisenhaften Enttäuschung von den Wangen tropften. Dann ver- tauschte Hoo-Hoo unbemerkt die leere Schale mit einer frisch gegarten Krabbe, Bereits zerlegt, sandte das weiße Fleisch der aufgeknackten Beine eine kleine, würzig duftende Dampfwolke aus. Das reizte die Nase des alten Mannes, und er sah verwundert nach unten. Augenblicklich war seine betrübte Stimmung verflogen. Er schnupperte und murmelte und murmelte; fast kam es einem leisen Freudengesang gleich, als er zu essen begann. Die Jungen beachteten das kaum, denn es war ein gewohntes Schauspiel. Sie achteten auch nicht auf seine gelegentlichen Ausrufe und Worte, die für sie nichts bedeuteten, so zum Beispiel, wenn er sich die Lippen leckte, geräuschvoll mit der Zunge am Gaumen schnalzte und dabei flüsterte: „Mayonnaise! Denkt euch doch - Mayonnaise! Und dabei ist es sechzig Jahre her, seit die letzte hergestellt wurde! Zwei Generationen und niemals Mayonnaise probiert! Nun, damals servierte man sie in jedem Restaurant zu Krabben.“

Als der alte Mann nicht mehr essen konnte, seufzte er, wischte sich an den nackten Beinen die Hände ab und schaute aufs Meer hinaus. Mit einem vollen Magen gab er sich seinen Erinnerungen hin.

„Man sollte es nicht glauben! Ich habe diesen Strand an schönen Sonntagen bevölkert gesehen von Männern, Frauen und Kindern. Und es gab auch keine Bären, die sie auffressen konnten. Und genau hier oben auf dem Felsen war ein großes Restaurant, wo man alles essen konnte, was man nur wollte. Vier Millionen Menschen lebten damals in San Francisco. Jetzt sind es in der ganzen Stadt und in der Umgebung alles in allem nicht mal vierzig. Da draußen auf dem Meer konnte man noch und noch Schiffe sehen, die zum Golden Gate fuhren oder von dort kamen. Und Luftschiffe am Himmel - Ballons und Flugzeuge. Sie konnten zweihundert Meilen in der Stunde zurücklegen. Die Postverträge mit der New York und San Francisco Limited sahen das als Minimum vor. Es gab da einen Burschen, einen Franzosen, seinen Namen habe ich vergessen, der schaffte sogar dreihundert; aber die Sache war riskant, zu riskant für vorsichtige Leute. Aber er war auf dem richtigen Weg, und er hätte es auch hingekriegt, wäre nicht die Große Pest gewesen. Als ich ein Junge war, lebten noch Männer, die sich daran erinnerten, wie die ersten Flugzeuge aufkamen, und nun war ich nur auf der Welt, um die letzten Flugzeuge zu sehen, und das ist auch schon sechzig Jahre her.“

Der alte Mann plapperte weiter, ignoriert von den Jungen, die sich längst an seine Geschwätzigkeit gewöhnt hatten, und in deren Wortschatz außerdem der größte Teil der Worte, die Granser verwendete, fehlte. Es fiel auf, daß sein Englisch in diesen ausschweifenden Monologen wieder auflebte, was sich in einem besseren Satzbau und einer genaueren Ausdrucksweise äußerte. Wenn er aber direkt mit den Jungen sprach, verfiel er größtenteils in ihre ungeschliffenen und simpleren Sprachformen.

„Aber es gab in jenen Tagen nicht viele Krabben“, setzte der alte Mann seine Gedanken fort. „Sie wurden gefischt und waren eine große Delikatesse. Die Jagdzeit war auch nur einen Monat lang. Und jetzt kann man das ganze Jahr über Krabben haben. Stellt euch das vor - so viel Krabben fangen, wie man will und wann man will, und das in der Brandung des Cliff-House-Strandes!“

Ein plötzlicher Tumult unter den Ziegen brachte die Jungs auf die Beine. Die Hunde, die am Feuer lagen, beeilten sich, ihrem knurrenden Gefährten beizuspringen, der die Ziegen bewachte, während diese in wilder Flucht auf ihre menschlichen Beschützer zujagten. Ein halbes Dutzend Gestalten, schlank und grau, huschten auf den Sandhügeln dahin oder standen den Hunden gegenüber, deren Fell sich sträubte. Edwin schoß einen Pfeil ab, der jedoch sein Ziel verfehlte. Aber Hare-Lip schleuderte mit Hilfe einer Schlinge, so wie David sie gegen Goliath in den Kampf führte, einen Stein durch die Luft, der von der Geschwindigkeit seines Fluges pfiff. Er fiel mitten unter die Wölfe und brachte es zuwege, daß sie in die finsteren Tiefen des Eukalypthuswaldes davonschlichen.

Die Jungen lachten und legten sich wieder in den Sand, während Granser schwerfällig seufzte. Er hatte zuviel gegessen.

Die Hände über den Bauch gelegt und die Finger verschränkt, nahm er seine umherirrenden Gedanken wieder auf.

„Die vergänglichen Organismen zerfallen wie Schaum“, murmelte er - offensichtlich ein Zitat. „So ist es - Schaum, Vergänglichkeit. Alle Mühen, alle Plagen des Menschen auf diesem Planeten waren größtenteils Schaum. Er zähmte die nützlichen Tiere, vernichtete die schädlichen und räumte die wuchernde Vegetation aus dem Wege. Dann verging er, und die Woge des ursprünglichen Lebens rollte wieder zurück, schwemmte die Arbeit seiner Hände hinweg. Das Unkraut und der Wald überwucherten seine Felder, Raubtiere fielen über seine Herden her, und nun gibt es Wölfe am Strand von Cliff House.“ Dieser Gedanke machte ihn betroffen. „Wo vier Millionen Menschen einst ihr Vergnügen fanden und sich ergötzten, streifen heutzutage wilde Wölfe herum, und die unzivilisierte, unseren Lenden entsprungene Nachkommenschaft verteidigt sich mit prähistorischen Waffen gegen die mit Zähnen bewehrten Plünderer. Stellt euch das nur vor! Und alles wegen des Scharlachroten Todes.“

Das Adjektiv war an Hare-Lips Ohr gedrungen.

„Das sagt er immerzu“, wandte er sich an Edwin. “Was ist scharlachrot?“

„Das Scharlachrot des Feldahorns kann mich ebenso erschüttern wie der Ruf der vorüberziehenden Jagdhörner“, zitierte der alte Mann.

„Eis ist einfach rot“, beantwortete Edwin die Frage.

„Und ihr wißt es nicht, denn ihr gehört zum Chauffeurstamm. Die wußten nie etwas, keiner von ihnen. Scharlachrot ist rot -ich weiß es.“

„Rot ist rot, oder etwa nicht?“ nörgelte Hare-Lip. „Wozu soll denn das taugen, sich so affig zu haben und dazu scharlachrot zu sagen? Granser, warum sagst du immer so viel, was niemand kennt?“ fragte er. „Scharlachrot is überhaupt nichts, aber rot is rot. Warum sagst du dann nicht rot?“

„Rot ist nicht das richtige Wort“, kam die Antwort. „Die Pest war scharlachfarben. Das ganze Gesicht und der Körper verfärbten sich innerhalb einer Stunde scharlachrot. Ich muß es doch wohl wissen! Habe ich es nicht zur Genüge gesehen? Und ich sage euch, daß es scharlachrot war. eben weil es scharlachrot war. Es gibt kein anderes Wort dafür.“

„Für mich is rot gut genug“, murrte Hare-Lip starrsinnig. „Mein Vater sagt zu rot rot, und er muß es wissen. Er sagt, alle sind an dem Roten Tod gestorben.“

„Dein Vater ist ein ganz ordinärer Bursche, und er stammt von genauso einem ordinären Kerl ab“, entgegnete Granser aufgebracht. „Kenne ich etwa nicht die Anfänge der Chauffeurs? Dein Großvater war ein Chauffeur, ein Diener, und ohne jede Bildung. Er arbeitete für andere Leute. Aber deine Großmutter war von vornehmer Herkunft, nur kamen die Kinder leider nicht nach ihr. Erinnere ich mich etwa nicht daran, wie ich sie das erstemal beim Fischen am Lake Temescal getroffen habe?“

„Was ist Bildung?“ fragte Edwin.

„Das is, wenn man zu rot scharlachrot sagt“, höhnte Hare-Lip, dann fuhr er fort, Granser zu attackieren. „Mein Dad hat mir erzählt - und er hat’s von seinem Dad, ehe der abkratzte -i, daß deine Frau ‘ne Santa Rosa war, und daß die nicht gerade ‘n Treffer war. Er sagte, die war vorm Roten Tod ‘ne Hascheemamsell, wenn ich auch nicht weiß, was ‘ne Hascheemamsell is. Kannst mir’s ja sagen, Edwin.“

Aber Edwin gab mit einem Kopfschütteln zu verstehen, daß er es nicht wußte.

„Es stimmt, sie war eine Kellnerin“, bestätigte Granser.

„Aber sie war eine gute Frau, und deine Mutter war ihre Tochter. Frauen waren mächtig rar in der Zeit nach der Pest. Sie war die einzige Frau, die ich finden konnte, auch wenn sie eine Hascheemamsell war, wie dein Vater es nennt. Aber es ist nicht anständig, so von unseren Erzeugern zu reden.“

„Dad sagt, daß die Frau vom ersten Chauffeur ‘ne Lady war.“

„Was is ‘ne Lady?“ wollte Hoo-Hoo wissen.

„‘ne Lady is ‘ne Chauffeursquaw“, war die flinke Antwort Hare-Lips.

„Der erste der Chauffeurs war Bill, ein ordinärer Bursche, wie ich schon sagte“, erläuterte der Alte. „Seine Frau aber war eine vollendete Lady. Vor dem Scharlachroten Tod war sie die Frau van Wardens. Er war der Präsident des Rates der Industriemagnaten, und er war einer des Dutzends Männer, die Amerika regierten. Er war eine Billion schwer - achthundert Millionen Dollar, Münzen wie du sie in deinem Beutel hast, Edwin. Dann kam der Scharlachrote Tod, und seine Frau wurde die Frau von Bill, dem ersten der Chauffeurs. Er schlug sie. Ich habe das selbst mit angesehen.“

Hoo-Hoo, der auf dem Bauch lag und träge mit seinen Zehen im Sand bohrte, schrie auf und untersuchte sofort seinen Zehennagel, dann das kleine Loch, das er ausgehoben hatte. Die anderen beiden Jungen gesellten sich zu ihm und schaufelten im Nu mit den Händen den Sand beiseite, bis dort drei Skelette freigelegt waren. Zwei stammten von erwachsenen Personen, das dritte von einem halbwüchsigen Kind. Der Greis rutschte auf dem Boden zu ihnen heran und besah sich den Fund.

„Pestopfer“, verkündete er, „So starben sie überall in den letzten Tagen. Das hier war sicher eine Familie, die vor der ansteckenden Krankheit geflohen und hier am Strand umgekommen ist. Sie. Was tust du da, Edwin?“

Diese Frage war in unmittelbarer Bestürzung gestellt, als Edwin, den Rücken seines Jagdmessers benutzend, begann, aus den Kiefern der Totenschädel die Zähne herauszuschlagen. „Will se mir auffädeln“, gab Edwin zurück. Die drei Jungs legten nun tüchtig los, und ein Klopfen und Hämmern hub an, in das hinein Granser unbeachtet weiterschwatzte.

„Ihr seid echte Barbaren. Jetzt ist es schon Brauch geworden, Menschenzähne um den Hals zu tragen. Eine Generation weiter, und ihr werdet euch Nasen und Ohren durchbohren und Schmuck aus Knochen und Gerippen tragen. Ich weiß, daß es so sein wird. Der menschlichen Rasse ist es vorausbestimmt, weiter und weiter in das Dunkel der Barbarei zurückzusinken, ehe sie erneut ihren blutigen Aufstieg zur Zivilisation beginnt. Wenn unsere Zahl wächst und uns bewußt wird, daß es uns an Platz mangelt, werden wir fortfahren, einander zu töten. Und dann, vermute ich, werdet ihr menschliche Skalpe an der Hüfte tragen, so wie du, Edwin, der du doch der liebenswerteste von meinen Enkeln bist, es schon mit diesem Schweineschwanz tust. Wirf ihn weg, Junge, wirf ihn weg.“

„Was für ein Palaver der alte Trottel macht“, ließ sich Hare-Lip vernehmen, nachdem nun alle Zähne herausgebrochen waren und sie den Versuch unternahmen, die Beute gerecht zu verteilen.

Sie waren sehr flink und hastig in allem, was sie taten, und in den Augenblicken ihrer hitzigen Debatten um die Aufteilung der besseren Zähne war ihre Sprache wirklich ein einziges Geschnatter. Sie sprachen einsilbig und in kurzen, abgehackten Sätzen. Das alles glich eher einem Kauderwelsch als einer wirklichen Sprache. Und dennoch gab es hin und wieder Andeutungen von grammatischen Konstruktionen, tauchten Rudimente der in einer höheren Kultur gebräuchlichen Konjugation auf. Selbst Gransers Sprache war so verunstaltet, daß sie dem Leser - wäre sie buchstabengetreu hier wiedergegeben -als ein ziemlicher Unsinn erscheinen würde. Das war jedoch nur so, wenn er mit den Jungen redete. Wenn er seinen Selbstgesprächen freien Lauf ließ, läuterte sich seine Sprache allmählich, bis sie reines Englisch wurde. Die Sätze waren dann länger und wurden mit einem Rhythmus und einer Ungezwungenheit vorgetragen, wie sie einst von einem Rednerpodium gekommen waren.

„Erzähl uns über den Roten Tod, Granser“, verlangte Hare-Lip, als die Geschichte mit den Zähnen zufriedenstellend geregelt war.

„Den Scharlachroten Tod“, korrigierte ihn Edwin.

„Und geh uns nicht wieder mit diesem komischen Gequassel auf die Nerven“, fuhr Hare-Lip fort. „Sprich vernünftig, Granser, so wie ein Santa Rosa sprechen soll. Andere von den Santa Rosas sprechen nicht so wie du.“

II

Der alte Mann zeigte sich erfreut darüber, daß man sich solcherart an ihn gewandt hatte. Er räusperte sich und begann.

„Vor zwanzig oder dreißig Jahren war meine Geschichte sehr gefragt, aber heutzutage ist niemand mehr interessiert.“

„Geht das schon wieder los!“ schrie Hare-Lip aufgebracht. „Laß das blöde Zeug weg und rede vernünftig. Was is denn interessiert? Du quatscht wie’n Baby, was noch nicht weiß, wie’s reden soll.“

„Laß ihn in Ruhe“, forderte Edwin ihn auf, „oder er wird gleich wütend werden und überhaupt nichts mehr erzählen. Vergiß die komischen Stellen. Wir werden schon was davon mitkriegen, was er uns erzählt.“

„Laß sie doch, Granser“, ermutigte Hoo-Hoo den Alten, denn der murmelte bereits etwas von Mißachtung der Älteren und davon, daß all jene Menschen, die von einer hohen Kulturstufe in urzeitliche Bedingungen zurückfallen, auch wieder der Grausamkeit anheim gegeben sind. Und der Alte begann zu erzählen.

„In jenen Tagen lebten auf der Welt sehr viele Menschen, allein in San Francisco vier Millionen. “

„Was ist Millionen?“ unterbrach ihn Edwin. Granser sah ihn freundlich an. „Ich weiß, ihr könnt nicht weiter als bis zehn zählen, also werde ich es euch sagen. Haltet beide Hände hoch. An beiden habt ihr zusammengenommen zehn Finger. Sehr gut. Ich nehme jetzt dieses Sandkorn. Halt es, Hoo-Hoo.“



Er ließ das Sandkorn auf die Handfläche des Jungen fallen und machte weiter. „Dieses Sandkorn soll nun für die zehn Finger von Edwin stehen. Ich füge ein weiteres Sandkorn hinzu. Das sind noch einmal zehn Finger. Und so gebe ich noch eins und noch eins und noch eins dazu, bis ich so viele Sandkörner dazugetan habe wie Edwin Finger hat.

Das macht einhundert. Merkt euch dieses Wort - einhundert.

Jetzt lege ich diesen Kieselstein in Hare-Lips Hand. Er steht für zehn Sandkörner oder für zehn mal zehn Finger oder für einhundert Finger. Ich lege zehn Kieselsteine hinein. Sie stehen für tausend Finger. Ich nehme ein Muschelgehäuse, und es steht für zehn Kieselsteine oder einhundert Sandkörner oder eintausend Finger. “

Und so mühte er sich - Schritt für Schritt und mit ständigen Wiederholungen - , in ihren Köpfen eine ungefähre Vorstellung von Zahlen aufzubauen. Als die Menge immer größer wurde, ließ er die Jungen verschiedene Zahlensymbole in den Händen halten. Für die noch höheren Summen legte er die Symbole auf das Stück Treibholz. Und was ihm sehr schwer fiel: Er war gezwungen, als Symbol für Millionen die Zähne von den Totenschädeln zu benutzen und für Milliarden die Krabbenschalen. Hier hielt er inne, denn die Jungs zeigten Anzeichen von Müdigkeit.

„Es gab vier Millionen Menschen in San Francisco, vier Zähne.“

Die Augen der Jungen wanderten von den Zähnen weiter von einer Hand zur anderen, über die Kieselsteine und Sandkörner hinweg zu Edwins Finger. Und dann wanderten sie, in dem Bestreben, solch unvorstellbare Zahlenmengen fassen zu können, wieder zurück über die immer größer werdenden Zahlenfolgen.

„Das war’n ‘ne ganz schöne Menge Leute“, wagte Edwin schließlich zu äußern.

„Wie der Sand am Strand hier, wie Sand am Strand, jedes Sandkorn ein Mann oder eine Frau oder ein Kind. Ja, mein Junge, all diese Menschen lebten genau hier in San Francisco. Hin und wieder kamen sie an eben diesen Strand hier - mehr Menschen als es Sandkörner gibt. Mehr - mehr - mehr. Und San Francisco war eine feine Stadt. Auf der anderen Seite der

Bucht, dort, wo wir letztes Jahr unser Lager aufgeschlagen hatten, lebten sogar noch mehr Menschen; von Point Richmond angefangen, auf dem flachen Land und auf den Bergen, den ganzen Weg weiter bis San Leandro - eine einzige große Stadt mit sieben Millionen Menschen. Sieben Zähne. hier, so, sieben Millionen.“

Wieder streiften die Augen der Jungen auf und ab - von Edwins Fingern bis zu den Zähnen auf dem Holzstück.

„Die Welt war voll von Menschen. Die Volkszählung von gab die Weltbevölkerung mit acht Milliarden an, acht Krabbenschalen, ja, acht Milliarden. Es war nicht so wie heute. Die Menschheit wußte eine ganze Menge mehr darüber, wie man Nahrung beschaffte. Je mehr Nahrung es gab, um so mehr Menschen gab es. Im Jahre lebten allein in Europa einhundertsiebzig Millionen. Hundert Jahre später - ein Sandkorn, Hoo-Hoo - , einhundert Jahre später, um , gab es fünfhundert Millionen Menschen in Europa - fünf Sandkörner, Hoo-Hoo, und dieser Zahn hier. Das zeigt, wie einfach es war, für Nahrung zu sorgen, und wie sich die Menschheit vergrößerte. Und im Jahre , da gab es fünfzehnhundert Millionen in Europa, und überall in den anderen Teilen der Welt war es ebenso. Acht Krabbenschalen, ja, acht Milliarden Menschen lebten auf der Erde, als der Scharlachrote Tod seinen Anfang nahm.

Ich war ein junger Mann, als die Pest kam, siebenundzwanzig Jahre alt. Ich lebte auf der anderen Seite der San Francisco Bay, in Berkeley. Du erinnerst dich doch noch an diese großen Steinhäuser, Edwin, als wir von Contra Costa die Berge herunterkamen? Dort habe ich gelebt, in diesen Steinhäusern. Ich war Professor für englische Literatur.“

Vieles davon war zu anspruchsvoll für den Verstand der Jungen, aber sie mühten sich, diese Geschichte aus der Vergangenheit - wenn auch nur schemenhaft - zu erfassen.

„Zu was waren denn die Steinhäuser da?“ erkundigte sich Hare-Lip.

„Erinnerst du dich daran, als dein Dad dich das Schwimmen lehrte?“ Der Junge nickte. „Nun, in der University of California, das ist der Name, den wir den Häusern gegeben hatten, lehrten wir die jungen Männer und Frauen denken, gerade wie ich euch eben mit Hilfe von Sand und Kieselsteinen beigebracht habe zu erkennen, wie viele Menschen damals lebten. Die jungen Männer und Frauen, die wir unterrichteten, nannte man Studenten. Wir hatten große Räume, in denen wir unterrichteten. Ich sprach zu ihnen - vierzig oder fünfzig insgesamt - , so wie ich jetzt zu euch spreche. Ich erzählte ihnen von Büchern, die andere Männer vor unserer Zeit geschrieben hatten, manchmal auch in unserer Zeit.“

„War das alles, was du gemacht hast? Bloß reden, reden, reden?“ wollte Hoo-Hoo wissen. „Wer hat denn für euch gejagt und die Ziegen gemolken und Fische gefangen?“

„Eine kluge Frage, Hoo-Hoo, eine kluge Frage. Wie ich euch schon sagte, war in jener Zeit die Nahrungsmittelbeschaffung einfach. Wir wußten sehr viel. Einige wenige Menschen sorgten für die Nahrung vieler Menschen. Die übrigen taten andere Dinge. Wie du schon sagst, ich redete. Ich redete die ganze Zeit, und dafür erhielt ich Essen - viel Essen, gutes Essen, wunderbares Essen, wie ich es sechzig Jahre nicht geschmeckt habe und niemals wieder essen werde. Manchmal denke ich, die wundervollste Errungenschaft unserer ungeheuren Zivilisation war das Essen, sein unvorstellbarer Überfluß, seine unbegrenzte Vielfalt, seine unglaubliche Köstlichkeit. meine Enkelsöhne, das Leben war noch Leben in jener Zeit, als wir solche wundervollen Sachen zu essen hatten.“

Das ging über die Vorstellungskraft der Jungen hinaus, und sie nahmen die Worte und Gedanken als senile Abschweifungen von der Erzählung.

„Unsere Nahrungsmittelbeschaffer nannten wir Freimänner. Das war ein Witz. Wir von der herrschenden Klasse besaßen das gesamte Land, alle Maschinen, einfach alles. Diese Nahrungsbeschaffer waren unsere Sklaven. Wir nahmen fast das gesamte Essen, das sie besorgten, und ließen ihnen nur wenig, damit sie arbeiten konnten - und mehr Nahrung für uns beschaffen.“

„Ich wäre in den Wald gegangen und hätte mir selbst etwas zu essen geholt“, verkündete Hare-Lip. „Wenn dann irgend jemand versucht hätte, mir das wegzunehmen, hätte ich ihn kalt gemacht.“ Der alte Mann lachte.

„Habe ich euch nicht gesagt, daß als herrschende Klasse uns das ganze Land gehörte, der Wald, einfach alles? Einen Nahrungsbeschaffer, der uns nicht mit Speisen versorgt hätte, den hätten wir bestraft und gezwungen, sich zu Tode zu hungern. Nur sehr wenige ließen es darauf ankommen. Sie zogen es vor, uns Nahrung zu bringen, uns Kleidung anzufertigen und uns tausend - eine Muschelschale, Hoo-Hoo - , tausend Freuden und Behaglichkeiten zu bereiten. Ich war damals Professor Smith - Professor James Howard Smith. Meine Vorlesungsreihen waren sehr beliebt, das heißt, daß sehr viele von den jungen Männern und Frauen mir gern zuhörten, wenn ich über die Bücher sprach, die andere Menschen geschrieben hatten.

Ich war sehr glücklich, und ich hatte herrliche Leckerbissen zu essen. Meine Hände waren weich, weil ich mit ihnen keine schweren Arbeiten verrichtete, und mein Körper war ganz und gar sauber, und ich war mit den feinsten Sachen bekleidet.“ Mit Ekel musterte er sein schäbiges Ziegenfell. „So etwas haben wir nicht getragen. Selbst die Sklaven hatten bessere Kleidung. Und wir waren äußerst sauber. Wir wuschen unser Gesicht und unsere Hände mehrmals am Tag. Ihr Jungs wascht euch niemals, es sei denn, ihr fallt ins Wasser oder geht schwimmen.“

„Du wäschst dich ja auch nicht, Granser“, gab Hoo-Hoo zurück.

„Ich weiß, ich weiß, ich bin ein verdreckter alter Mann. Aber die Zeiten haben sich geändert. Niemand wäscht sich heutzutage, und es gibt keine Bequemlichkeiten. Es ist sechzig Jahre her, daß ich ein Stück Seife zu Gesicht bekommen habe. Ihr wißt gar nicht, was Seife ist, und ich sag’s euch auch nicht, denn ich erzähle jetzt die Geschichte des Scharlachroten Todes. Ihr wißt, was Übelkeit ist. Wir nannten es Krankheit. Sehr viele dieser Krankheiten entstanden durch die sogenannten Bazillen. Merkt euch das Wort - Bazillen. Ein Bazillus ist ganz winzig. Er ist wie eine Zecke, so wie ihr sie im Frühjahr auf den Hunden finden könnt, wenn sie in den Wald laufen. Nur ist ein Bazillus eben sehr klein. Er ist so klein, daß ihr ihn nicht einmal sehen könnt.“

Hoo-Hoo begann zu lachen.

„Du bist komisch, Granser, redest über Sachen, die du nicht sehen kannst. Wie kannst du denn etwas kennen, was du nicht sehen kannst?“

„Eine gute Frage, eine sehr gute Frage, Hoo-Hoo. Aber wir konnten sie sehen, einige zumindest. Wir hatten Geräte, die nannten wir Mikroskope und Ultramikroskope, und die hielten wir uns ans Auge und sahen so die Dinge größer, als sie in Wirklichkeit waren, und vieles hätten wir ohne die Mikroskope überhaupt nicht entdecken können. Unsere besten Ultramikroskope konnten einen Bazillus vierzigtausendfach vergrößern. Eine Muschelschale steht für tausend Finger. Nehmt vierzig Muschelschalen, und so viele Male größer war dann der Bazillus, wenn wir ihn durch das Mikroskop betrachteten. Und dann hatten wir noch weitere Möglichkeiten, indem wir laufende Bilder - so nannten wir’s - einsetzten. Damit konnten wir den vierzigtausendfach vergrößerten Bazillus noch viele, viele tausend Male größer machen. Auf diese Weise sahen wir all die Dinge, die unser bloßes Auge nicht wahrnehmen konnte. Nehmt ein Sandkorn und spaltet es in zehn Teile. Nehmt ein Teil davon und spaltet es noch mal in zehn Teile. Zerlegt dann eins von diesen Teilen wieder in zehn andere und dann das gleiche noch mal und noch mal und noch mal und tut das den ganzen Tag, und bei Sonnenuntergang werdet ihr dann so ein winziges Stück haben, daß es der Größe eines Bazillus entspricht.“

Es war offenkundig, daß die Jungen das nicht glaubten. Hare-Lip rümpfte verächtlich die Nase und grinste höhnisch, und Hoo-Hoo kicherte, bis Edwin ihnen durch einen Rippenstoß zu verstehen gab, sie sollten still sein.

„Die Zecke saugt das Blut des Hundes, aber der Bazillus geht, weil er so klein ist, direkt ins Blut, und dort vermehrt er sich. Damals befanden sich etwa eine Milliarde - eine Krabbenschale bitte mal - , etwa so viele wie diese Krabbenschale hier im Körper eines Menschen. Wir nannten die Bazillen auch Mikroorganismen. Wenn sich einige Millionen oder eine Milliarde davon in einem Menschen fanden, war er krank. Diese Bazillen waren eine Krankheit. Es gab viele verschiedene Arten von ihnen - mehr Arten als Sandkörner an diesem Strand. Uns waren nur einige der Arten bekannt. Die Welt der Mikroorganismen war eine unsichtbare Welt, eine Welt, die wir nicht sehen konnten und über die wir sehr wenig wußten. Aber einiges war uns immerhin bekannt. Es gab den Bazillus anthracis; dann war da der Micrococcus, weiterhin gab es das Bacterium termo und das Bacterium lactis - das sind die Bakterien, die die Ziegenmilch sauer werden lassen, sogar jetzt noch, Hare-Lip; und es gab unzählige Schizomyceten und viele andere Sorten.“

Hier holte der alte Mann aus zu einer Abhandlung über Bazillen und ihre Beschaffenheit, wobei er Worte und Sätze von solch außergewöhnlicher Länge und Bedeutungslosigkeit verwendete, daß die Jungen einander angrinsten und hinausschauten auf den verlassenen Ozean, bis sie darüber vergaßen, daß der Alte noch immer weiterschwatzte.

„Aber der Scharlachrote Tod, Granser“, warf Edwin ungeduldig ein.

Granser besann sich, gab sich einen Ruck und riß sich von dem Rednerpult des Vorlesungssaales los, wo er vor sechzig Jahren einem Zuhörerkreis aus einer anderen Welt die neueste Theorie über Bazillen und die von ihnen hervorgerufenen Erkrankungen dargelegt hatte.

„Ja, ja, Edwin. Das hatte ich ganz vergessen. Manchmal überfällt mich die Erinnerung an die Vergangenheit mit solcher Macht, und dann vergesse ich, daß ich ein schmutziger alter Mann bin, mit einem Ziegenfell bekleidet, und mit meinen wild aufgewachsenen Enkelsöhnen, die Ziegenhirten sind, durch eine vorzeitliche Wildnis wandere. ,Die vergänglichen Organismen zerfallen wie Schaum’, und so zerfiel auch unsere glorreiche, gewaltige Zivilisation. Ich bin Granser, ein müder, alter Mann. Ich gehöre zum Stamm der Santa Rosas. Ich habe in diesen Stamm hineingeheiratet. Meine Söhne und Töchter haben in die Chauffeurs, die Sacramentos und die Palo-Altos eingeheiratet. Du, Hare-Lip, stammst von den Chauffeurs ab, du, Edwin, von den Sacramentos und du, Hoo-Hoo, von den Palo-Altos. Dein Stamm hat seinen Namen von einer Stadt, die nicht weit entfernt war von einer anderen großen Lehreinrichtung. Die nannte sich Stanford University. Ja, ich erinnere mich jetzt. Es ist alles völlig klar. Ich habe euch vom Scharlachroten Tod erzählt. Wo war ich stehengeblieben?“

„Du hast über Bazillen erzählt, diese Dinger, die man nicht sehen kann und die Menschen krank machen können“, antwortete Edwin prompt.

„Ja, da war ich stehengeblieben. Wenn nur ein paar von diesen Bazillen in den Körper eindrangen, merkte das ein Mensch zuerst gar nicht. Aber jeder Bazillus teilte sich, und so wurden daraus zwei Bazillen, und so ging das sehr geschwind immer weiter, so daß sich in kurzer Zeit viele Millionen von ihnen in dem Körper befanden. Dann war der Mensch krank. Er hatte eine Krankheit, und diese Krankheit war nach der Art des Bazillus benannt, der sie hervorrief. Es konnten die Masern sein, eine Erkältung, oder es konnte sich auch um Gelbfieber handeln, es konnte jede von Tausenden und aber Tausenden Krankheitsarten sein. Nun ist das aber eine merkwürdige Angelegenheit mit diesen Bazillenarten. Es entstehen nämlich immer neue im Körper des Menschen. Vor langer, langer Zeit, als es nur wenige Menschen auf der Welt gab, existierten auch nur wenige Krankheiten. Aber indem die Menschen sich vermehrten und dicht beieinander lebten in den großen Städten und Zivilisationen, brachen neue Krankheiten aus, neue Arten von Bazillen erreichten die Körper der Menschen. Auf diese Weise kamen unzählige Millionen und Milliarden von Menschen um. Und je enger die Menschen sich zusammendrängten, um so schrecklicher waren die neuen Krankheiten, die auftauchten.

Lange vor meiner Zeit, im Mittelalter, gab es die Schwarze Pest, die über Europa hinwegfegte. Sie zog viele Male über Europa dahin. Dann gab es die Tuberkulose, die in das Innere der Menschen gelangte, wo immer sie dicht zusammengepfercht waren. Hundert Jahre vor meiner Zeit gab es die Beulenpest, und in Afrika war die Schlafkrankheit verbreitet. Die Bakteriologen bekämpften all diese Krankheiten und tilgten sie aus, ebenso wie ihr Jungen die Wölfe bekämpft, um sie von den Ziegen fernzuhalten oder wie ihr die Moskitos zerquetscht, die euch plagen. Die Bakteriologen. “

„Aber Granser, was ist ein. na, wie nennst du ihn?“ unterbrach ihn Edwin.

„Du, Edwin, bist ein Ziegenhirt. Deine Aufgabe ist es, auf die Ziegen achtzugeben. Du weißt eine Menge über Ziegen. Ein Bakteriologe gibt auf die Bazillen acht. Das ist seine Aufgabe, und er weiß ebenfalls eine Menge über sie. Wie ich schon sagte: Die Bakteriologen bekämpften die Bazillen und vernichteten sie - manchmal. Da war zum Beispiel die Lepra, eine scheußliche Krankheit. Hundert Jahre ehe ich geboren wurde, entdeckten die Bakteriologen den Leprabazillus. Sie wußten alles über ihn. Sie machten Fotos von ihm. Ich habe diese Bilder gesehen. Aber sie haben nie einen Weg gefunden, ihn auszurotten. gab es die Pantoblastpest, eine Krankheit, die in einem Land aus- brach, das Brasilien hieß. Sie tötete Millionen Menschen. Die Bakteriologen entdeckten jedoch den Erreger und fanden einen Weg, ihn zu vernichten, so daß die Pantoblastpest eingedämmt wurde. Sie stellten etwas her, das sie Serum nannten, und das führten sie in den menschlichen Körper ein. Es tötete die Pantoblastbazillen ab, ohne jedoch den Menschen selbst zu töten. hatten wir die Pellagra und auch den Hakenwurm. Diese konnten von den Bakteriologen leicht beseitigt werden. Aber trat eine neue Krankheit auf, die niemals zuvor festgestellt worden war. Sie befiel den Körper von Babys, die nicht einmal zehn Monate alt waren, und machte sie unfähig, ihre Hände und Füße zu bewegen oder zu essen oder was sonst auch immer. Die Bakteriologen arbeiteten elf Jahre, um zu ermitteln, wie der entsprechende Bazillus abgetötet und die Babys gerettet werden könnten.

Trotz all dieser Krankheiten und all der neuen, die im Laufe der Zeit auftraten, gab es mehr und mehr Menschen auf der Welt. Das war vor allem deshalb so, weil es genug Nahrung gab. Je leichter es war, sie zu ernähren, um so mehr Menschen gab es; je mehr Menschen es, gab, um so dichter lebten sie zusammen, und je dichter sie zusammenlebten, um so mehr Bazillenarten bildeten sich und riefen neue Krankheiten hervor. Warnungen gab es schon. Soldervetzsky erklärte den Bakteriologen bereits , daß sie gegen einige neue Krankheiten keine Sicherheiten hätten, Krankheiten, die tausendmal vernichtender wären als alle bislang bekannten; sie würden sich verbreiten und Hunderte von Millionen, ja sogar eine Milliarde Menschen töten. Ihr seht, die Welt der Mikroorganismen blieb bis zum Ende ein Rätsel. Sie wußten zwar, daß es solch eine Welt gab und daß von Zeit zu Zeit ganze Heerscharen neuer Bazillen aus ihr hervorgingen, um die Menschen auszulöschen. Und das war auch alles, was sie darüber wußten. Nach allem, wovon sie Kenntnis hatten, konnte es in dieser unsichtbaren Welt der Mikroorganismen so viele verschiedene Arten Bazillen geben, wie es an diesem Strand Sandkörner gibt. Ebenso war es in dieser unsichtbaren Welt möglich, daß neue Bazillenarten entstanden. Es konnte sein, daß das Leben dort seinen Ursprung hatte - ,die unergründliche Fruchtbarkeit’ umschrieb Soldervetzsky das, wobei er die Worte anderer Männer verwendete, die vor ihm darüber geschrieben hatten. “

In diesem Moment sprang Hare-Lip auf, einen Ausdruck äußerster Verachtung auf dem Gesicht.

„Granser“, sagte er freiheraus, „du machst mich ganz krank mit deinem Geschwafel. Warum erzählst du nicht über den Roten Tod? Wenn du nicht darüber reden willst» dann sag’s doch, dann machen wir uns eben auf den Weg ins Lager.“

Der alte Mann schaute ihn an und begann dann still zu weinen. Die schwachen Greisentränen rollten ihm die Wangen herab, und all, die Gebrechlichkeit seiner siebenundachtzig Jahre spiegelte sich in seinem kummergepeinigten Antlitz.

„Setz dich hin“, riet Edwin beschwichtigend. „Granser ist schon in Ordnung. Er kommt ja gleich zum Scharlachroten Tod, stimmt’s, Granser? Jetzt gleich wird er uns darüber erzählen. Setz dich, Hare-Lip. Rede weiter, Granser.“

III

Der alte Mann wischte die Tränen von seinem unansehnlichen, knochigen Gesicht und nahm den Faden der Geschichte mit zittriger, verdrießlicher Stimme erneut auf, die sich jedoch, als er in den Rhythmus der Erzählung hineinfand, wieder festigte.

„Es war der Sommer des Jahres , als die Pest kam. Ich war siebenundzwanzig Jahre alt; nur zu gut erinnere ich mich noch daran. Drahtlose Depeschen. “

Hare-Lip spuckte vernehmlich, um sein Mißfallen kundzutun, und Granser beeilte sich, den Fehler wiedergutzumachen.

„Wir sprachen in jenen Tagen durch die Luft miteinander, viele Tausende Meilen weit. Da kam eines Tages die Kunde von einer eigenartigen Krankheit, die in New York ausgebrochen war. Siebzehn Millionen Menschen lebten dort in der nobelsten aller Städte Amerikas. Niemand dachte sich irgend etwas bei dieser Nachricht. Es war eine unbedeutende Angelegenheit - nur ein paar Tote hatte es gegeben. Es schien jedoch, daß sie sehr schnell gestorben waren und daß eins der ersten Anzeichen der Krankheit war, daß Gesicht und Körper sich rot färbten. Innerhalb von vierundzwanzig Stunden wurde von einem ersten Fall in Chicago berichtet. Und noch am selben Tage wurde bekannt, daß London - nach Chicago die größte Stadt der Welt - in aller Verschwiegenheit schon zwei Wochen lang gegen die Pest gekämpft, die Nachrichten, die nach draußen gingen, jedoch zensiert hatte. Das heißt, es wurde unterbunden, daß die Kunde von der Pest in London in die Welt hinausdrang.

Es sah ernst aus, aber wir hier in Kalifornien, wie überall sonst, waren nicht beunruhigt. Wir waren sicher, daß die Bakteriologen schon ein Mittel finden würden, diesen neuen Bazillus zu besiegen, so wie es ihnen in der Vergangenheit auch mit anderen Bazillen gelungen war. Aber was uns alarmierte, waren die erstaunliche Schnelligkeit, mit der dieser Bazillus menschliche Wesen vernichtete, und die Tatsache, daß jeder menschliche Körper, in den er gelangte, unweigerlich getötet wurde. Nicht einer war wieder genesen. Es gab zum Beispiel die alte asiatische Cholera; da konntest du am Abend mit einem gesunden Mann gegessen haben, und am nächsten Morgen -wenn du zeitig genug aufstandest - konntest du sehen, wie man ihn vor deinem Fenster auf den Totenkarren lud und wegschaffte. Die neue Pest dagegen war schneller, viel schneller. Von dem Moment an, da sich die ersten Anzeichen offenbarten, war der Mensch innerhalb einer Stunde tot. Nur einige hielten ein paar Stunden durch. Viele starben innerhalb von zehn oder fünfzehn Minuten, nachdem sich die ersten Symptome gezeigt hatten.

Das Herz begann schneller zu schlagen, und die Körpertemperatur erhöhte sich. Dann kam der scharlachfarbene Hautausschlag, der sich wie ein Lauffeuer über Gesicht und Körper ausbreitete. Die meisten Leute nahmen die Erhöhung der Körpertemperatur und der Herzfrequenz gar nicht wahr. Sie bemerkten erst etwas, wenn der scharlachrote Ausschlag hervorbrach. Normalerweise bekamen sie zu dem Zeitpunkt, da sich der Hautausschlag zeigte, Krämpfe. Aber diese Krämpfe dauerten nicht lange und waren nicht sehr schlimm. Der, der sie überlebte, wurde vollkommen ruhig, nur daß er eine Art Taubheit spürte, die sich schnell von den Füßen aus den Körper herauf erstreckte. Zuerst wurden die Fußsohlen taub, dann die Beine und Hüften, und wenn diese Fühllosigkeit das Herz erreichte, starb der Mensch. Sie phantasierten nicht und schliefen auch nicht ein. Ihr Verstand blieb klar und ruhig bis zu dem Moment, da ihr Herz erstarrte und aufhörte zu schlagen. Eine weitere seltsame Erscheinung war die Geschwindigkeit, mit der der Körper zerfiel. Sobald die betreffende Person tot war, schien der Leib in Stücke zu zerfallen, wegzuschmelzen, während man zusah. Das war einer der Gründe dafür, daß die Pest sich so geschwind ausbreitete. All die Milliarden Bazillen in einem Körper wurden ja unverzüglich freigesetzt.

Wegen all dieser Dinge war die Chance der Bakteriologen, die Bazillen zu bekämpfen, sehr gering. Sie kamen in ihren Laboratorien um, während sie den Bazillus der Scharlachroten Pest untersuchten. Sie waren Helden. So schnell, wie sie dahinschwanden, traten andere vor und nahmen ihre Plätze ein. In London war es, wo sie den Bazillus zuerst isolierten. Die Neuigkeit wurde überallhin telegrafiert. Trask war der Name des Mannes, dem das gelang, aber innerhalb von dreißig Stunden war er tot. Dann begann in allen Laboratorien der Kampf, ein Mittel zu entdecken, das die Pestbazillen abtöten könnte. Alle Chemikalien versagten. Ihr seht also, das Problem war, ein Medikament oder ein Serum zu finden, das die Bazillen im Körper sterben lassen würde, aber nicht den Körper selbst. Sie versuchten es mit anderen Bazillen, wollten in den Körper eines kranken Menschen Bazillen eingeben, die Feinde der Pesterreger waren.“

„Du kannst diese Bazillendinger nicht mal sehen, Granser“, wandte Hare-Lip ein, „und plapperst und plapperst und plapperst hier über sie, als ob sie wirklich was wären. Dabei sind sie gar nichts. Was du nicht sehen kannst, das gibt’s auch nicht, basta. Irgendwelche Dinger, die überhaupt nicht da sind, mit etwas bekämpfen, was es auch gar nicht gibt! Das müssen doch damals alles Idioten gewesen sein. Darum sind die auch draufgegangen. Ich glaub nicht an solchen Blödsinn, das sag ich dir.“

Augenblicklich begann Granser zu weinen, während Edwin eifrig seine Verteidigung übernahm.

„Hör mal, Hare-Lip, du glaubst doch an ‘ne Menge Dinge, die du nicht sehen kannst.“ Hare-Lip schüttelte den Kopf.

„Du glaubst dran, daß Tote rumlaufen können, dabei hast du noch nie einen Toten rumlaufen gesehen.“

„Und ich sag dir, ich hab welche gesehen, letzten Winter, als ich mit Dad auf der Wolfsjagd war.“

„Na gut, aber du spuckst immer, wenn du über fließendes Wasser gehst“, meinte Edwin herausfordernd.

„Das is, um das Unglück abzuhalten“, verteidigte sich Hare-Lip.

„Glaubst du an Unglück?“

„Klar.“

„Dabei hast du aber nie ‘n Unglück gesehen“, schlußfolgerte Edwin triumphierend. „Du bist nicht besser als Granser mit seinen Bazillen. Du glaubst an Dinge, die du nicht sehen kannst. Mach weiter, Granser.“

Hare-Lip, zerknirscht wegen seiner Niederlage in übersinnlichen Fragen, blieb still, und der alte Mann fuhr fort. Obwohl Gransers Erzählung nicht mit Details belastet werden durfte, wurde seine Geschichte doch immer wieder unterbrochen, weil sich die Jungs stritten. Außerdem tauschten sie beständig mit gesenkter Stimme Erklärungen und Vermutungen aus, während sie sich bemühten, dem alten Mann in seine unbekannte und entschwundene Welt zu folgen.

„Der Scharlachrote Tod brach in San Francisco aus. Der erste Fall trat an einem Montagmorgen auf. Donnerstag schon starben die Menschen in Oakland und San Francisco wie die Fliegen. Sie starben überall: in ihren Betten, bei der Arbeit, beim Spazierengehen auf der Straße. Es war Dienstag, als ich meinen ersten Todesfall sah - Miß Collbran, eine von meinen Studentinnen, die in meinem Vorlesungsraum direkt vor meinen Augen saß. Mir fiel ihr Gesicht auf, während ich sprach. Es war plötzlich scharlachrot geworden. Ich hörte auf zu sprechen und mußte sie immerzu ansehen, denn die Angst vor der Pest hatte sich bereits in uns eingenistet, und wir wußten, daß sie nun gekommen war. Die jungen Frauen schrien und rannten aus dem Raum. Auch die jungen Männer liefen hinaus, alle bis auf zwei. Miß Collbrans Krämpfe waren recht mild und dauerten nur weniger als eine Minute an. Einer der jungen Männer holte ihr ein Glas Wasser. Sie trank nur sehr wenig davon, und plötzlich schrie sie: ,Meine Füße! Ich hab kein Gefühl mehr drin.’ Eine Minute später sagte sie: ,Ich hab keine Füße. Ich spüre nicht mehr, daß ich Füße habe. Und meine Knie sind kalt. Ich kann kaum meine Knie fühlen.“

Sie lag auf dem Boden, einen Packen Hefte unter dem Kopf. Und wir konnten nichts tun. Die Kälte und Fühllosigkeit stiegen über ihre Hüften zu ihrem Herzen empor, und als sie ihr Herz erreicht hatten, war sie tot. Sie war eine sehr schöne, kräftige und gesunde Frau gewesen, und dann waren von den ersten Merkmalen der Pest bis zu ihrem Tode nur fünfzehn Minuten verstrichen! Das zeigt euch, wie schnell der Scharlachrote Tod war. Bereits in jenen paar Minuten, die ich mit der sterbenden Frau zusammen in meinem Seminarraum blieb, hatten sich Schrecken und Bestürzung in der gesamten Universität verbreitet. Die Studenten hatten zu Tausenden die Vorlesungssäle und Labore verlassen. Als ich heraustrat, auf dem Wege, dem Dekan der Fakultät Meldung zu erstatten, fand ich das Universitätsgelände verwaist. Einige Nachzügler eilten über den Campus, um ihr Zuhause zu erreichen. Ich fand Dekan Hoag in seinem Büro, allein, sehr alt und sehr grau aussehend, mit unzähligen Falten im Gesicht, die ich nie zuvor an ihm wahrgenommen hatte. Bei meinem Anblick raffte er sich hoch und torkelte zum hinteren Büroraum, dessen Tür er zuschlug und verschloß. Ihr versteht, er wußte, daß ich der Pest ausgesetzt gewesen war, und er hatte Furcht. Er rief mir durch die Tür zu, ich solle verschwinden. Ich werde nie vergessen, welche Gefühle mich bewegten, als ich die stillen Flure entlangging und hinaus über den verlassenen Campus. Ich verspürte keine Angst. Ich war der Pest preisgegeben gewesen, und ich sah mich bereits als tot an. Ein Gefühl schlimmer Niedergeschlagenheit überkam mich. Alles war zu Ende. Es war wie das Ende der Welt für mich - meiner Welt. Seit meiner Geburt hatten mich der Anblick und die Geräusche der Universität begleitet. Sie war mir vorbestimmt. Mein Vater war vor mir dort Professor gewesen und vor ihm sein Vater. Ein und ein halbes Jahrhundert lang war diese Universität wie eine famose Maschine ständig in Betrieb gewesen, und nun stand sie von einem Moment zum anderen still. Es war so, als sähe man die heilige Flamme auf einem Altar verlöschen. Ich war bestürzt, unsagbar erschrocken.

Als ich zu Hause ankam, schrie meine Haushälterin auf, als ich das Grundstück betrat, und flüchtete vor mir. Als ich klingelte, stellte ich fest, daß das Hausmädchen ebenfalls davongelaufen war. Ich sah mich im Haus um. In der Küche fand ich die Köchin im Aufbruch. Sie schrie ebenfalls auf, und in ihrer Hast ließ sie eine Tasche mit ihren persönlichen Sachen fallen und rannte aus dem Haus und über das Grundstück, immer noch schreiend. Bis heute höre ich sie schreien. Wißt ihr, wir führten uns nicht in so einer Weise auf, wenn uns gewöhnliche Krankheiten heimsuchten. Wir waren immer ganz ruhig bei solchen Sachen und schickten nach Ärzten oder Schwestern, die wußten, was zu tun war. Aber jetzt war es anders. Die Pest schlug so überraschend zu und tötete so schnell, und jeder Schlag traf. Wenn der scharlachrote Hautausschlag auf dem Gesicht eines Menschen erschien, war diese Person vom Tode gezeichnet. Es war kein Fall bekannt, wo jemand wieder gesundet wäre.

Ich war ganz allein in meinem großen Haus. Wie ich euch schon oft erzählt habe, konnten wir durch die Luft miteinander reden. Das Telefon klingelte, und mein Bruder sprach zu mir. Er sagte, er würde nicht nach Hause kommen, denn er habe Angst, sich bei mir die Pest zu holen, und er sagte auch, er habe unsere beiden Schwestern zu Professor Bacon gebracht, damit sie bei ihm im Hause blieben. Er riet mir, dort auszuharren, wo ich war, und abzuwarten, ob ich die Pest hatte oder nicht.

Ich stimmte allem zu, blieb in meinem Haus und versuchte zum erstenmal in meinem Leben zu kochen. Und die Pest kam bei mir nicht zum Vorschein. Mit Hilfe des Telefons konnte ich reden, mit wem ich wollte, und so alle Neuigkeiten erfahren. Es gab auch noch die Zeitungen, und ich bestellte sie alle, so daß ich wußte, was in anderen Teilen der Welt geschah. Ich ließ sie mir vor die Tür werfen.

In New York City und Chicago herrschte das Chaos. Und was sich dort abspielte, geschah in allen großen Städten. Ein Drittel der New-Yorker Polizeibeamten war tot. Der Polizeichef war ebenfalls tot, auch der Bürgermeister.

Gesetz und Ordnung hatten aufgehört zu existieren. Die Leichen lagen auf den Straßen und wurden nicht bestattet. Alle Bahnlinien und Fahrzeuge, die Lebensmittel und dergleichen in die große Stadt beförderten, hatten den Verkehr eingestellt, und Gruppen hungrigen, armen Gesindels plünderten Läden und Warenhäuser. Überall gab es Mord, Diebstahl und Trunkenheit. Schon waren die Menschen zu Millionen aus der Stadt geflohen - zuerst die Reichen in ihren Privatfahrzeugen und Luftschiffen und danach die große Masse der Bevölkerung - zu Fuß, die Pest mit sich tragend. Sie waren am Verhungern und raubten die Farmer aus und alle Städte und Dörfer, die am Wege lagen.

Der Mann, der diese Nachrichten sendete, ein Funker, war mit seinem Funkgerät allein im Dachgeschoß eines hohen Gebäudes. Die Menschen, die in der Stadt blieben - er schätzte ihre Anzahl auf ein paar Hunderttausend - hatten vor Angst und vom vielen Trinken den Verstand verloren. Um ihn herum tobten verheerende Feuer. Er war ein Held, dieser Mann, der bis zuletzt auf seinem Posten blieb - ein unbekannter Zeitungsmann höchstwahrscheinlich.

Seit vierundzwanzig Stunden, so sagte er, sei kein transatlantisches Luftschiff angekommen, und es kämen auch keine Nachrichten mehr aus England. Er berichtete jedoch, daß eine Meldung aus Berlin - das ist in Deutschland - verkündete, daß Hoffmeyer, ein Bakteriologe der Metschnikow-Schule, ein Serum gegen die Pest entdeckt habe. Das war bis zum heutigen Tag die letzte Nachricht, die wir hier in Amerika aus Europa erhielten. Wenn Hoffmeyer das Serum wirklich entdeckt hatte, dann war es bereits zu spät, denn sonst wären schon lange vorher Forscher von Europa gekommen, um nach uns zu sehen. Wir können nur schlußfolgern, daß das, was in Amerika geschehen ist, sich auch in Europa zutrug, und daß im günstigsten Fall einige Dutzend auf dem gesamten Kontinent die Scharlachrote Pest überlebt haben.

Es währte nur noch einen Tag, daß Nachrichten aus New York eintrafen, dann hörte auch das auf. Der Mann, der sie gesendet hatte und oben in seinem hohen Gebäude saß, war entweder an der Pest gestorben oder war in der großen Feuersbrunst, die, wie er es beschrieben hatte, um ihn herum wütete, umgekommen. Und was in New York vorging, vollzog sich haargenau so in allen anderen Städten. Es war das gleiche in San Francisco und Oakland und Berkeley. Bereits Donnerstag starben die Menschen so schnell, daß man der Leichen nicht Herr wurde und überall Tote herumlagen. Donnerstag nacht dann begann der panische Massensturm hinaus auf das Land. Stellt euch das vor, meine Enkel, Menschenmassen, gedrängter als die Lachsschwärme, die ihr im Sommer im Sacramento gesehen habt, ergießen sich wie von Sinnen zu Millionen aus den Städten hinaus aufs Land in dem vergeblichen Versuch, dem allgegenwärtigen Tod zu entkommen. Versteht ihr, sie trugen ja die Bazillen mit sich. Selbst die Luftschiffe der Reichen, die zu Berg- und Wüstenfestungen hin flohen, beförderten sie.

Hunderte von diesen Luftschiffen entkamen nach Hawaii, und sie brachten nicht nur die Pest mit sich, nein, sie mußten feststellen, daß die Pest bereits vor ihnen da war. Das erfuhren wir durch die Funkmeldungen, bis sich dann jegliche Ordnung in San Francisco auflöste und keine Funker mehr auf ihren Posten waren, um zu empfangen oder zu senden. Das war ganz erstaunlich, ganz verblüffend, dieser Verlust an Kommunikation mit der Welt. Es war ganz so, als habe die Welt aufgehört zu bestehen, als sei sie ausgelöscht worden. Sechzig Jahre lang hat diese Welt nicht mehr für mich existiert. Ich weiß, daß es solche Orte wie New York, Kontinente wie Europa, Asien, Afrika geben muß. Aber man hat kein Wort von ihnen gehört -sechzig Jahre nicht. Mit dem Erscheinen des Scharlachroten Todes zerfiel die Welt, endgültig und unwiderruflich. Zehntausend Jahre Kultur und Zivilisation vergingen mit der Schnelligkeit eines Augenzwinkerns, sie verfielen wie Schaum’.

Ich habe von den Luftschiffen der Reichen erzählt. Sie führten die Pest mit sich, und egal, wohin sie flüchteten, sie starben. Ich bin nur einem Überlebenden von ihnen allen begegnet - Mungerson. Er war dann später in Santa Rosa, und er heiratete meine älteste Tochter. Er stieß acht Jahre nach der Pest zu unserer Sippe. Er war damals neunzehn Jahre alt, und er war gezwungen, zwölf weitere Jahre zu warten, ehe er heiraten konnte. Wißt ihr, es gab keine unverheirateten Frauen, und einige der älteren Töchter der Santa Rosas waren bereits jemandem versprochen. So mußte er also warten, bis meine Mary sechzehn Jahre alt war. Es war sein Sohn, Gimp-Leg[1], der letztes Jahr von einem Berglöwen getötet wurde.

Mungerson war zum Zeitpunkt der Pest elf Jahre alt. Sein Vater war einer der Industriemagnaten, ein sehr reicher, mächtiger Mann. In seinem Luftschiff, der Condor, flohen sie mit der ganzen Familie in die unbewohnten Gebiete von British Columbia, was von hier aus sehr weit im Norden liegt. Aber es gab ein Unglück, und sie stürzten in der Nähe des Mount Sha-sta ab. Ihr habt schon von diesem Berg gehört. Er liegt weit im Norden. Unter ihnen brach die Pest aus. Acht Jahre lang war er ganz allein, durchwanderte ein verwüstetes Land und hielt vergeblich nach Menschen Ausschau. Und zuletzt, als er gen Süden zog, stieß er auf uns, die Santa Rosas.

Aber ich greife in meiner Geschichte vor. Als die große Auswanderung aus den Städten um die San Francisco Bay begann, die Telefone aber noch funktionierten, sprach ich mit meinem Bruder. Ich sagte ihm, daß diese Flucht aus den Städten ein Wahnsinn sei und daß sich bei mir keine Symptome der Krankheit zeigten. Was für uns nun zu tun bliebe, sei, uns und unsere Verwandten an einen sicheren Ort zu bringen. Wir entschieden uns für das Chemiegebäude auf dem Gelände der Universität, und wir planten, uns einen Lebensmittelvorrat anzulegen und mit Waffengewalt jede Person daran zu hindern, uns ihre Gesellschaft aufzudrängen, wenn wir uns erst in unsere Zufluchtsstätte zurückgezogen hatten.

Als das so weit arrangiert war, bat mich mein Bruder, ich solle wegen der Möglichkeit, daß sich die Pest in mir eingenistet hatte, noch weitere vierundzwanzig Stunden in meinem Haus bleiben. Ich war einverstanden, und er versprach, mich am nächsten Tag abzuholen. Wir besprachen noch die Details, wie wir uns mit Lebensmitteln eindecken und das Chemiegebäude verteidigen wollten, als das Telefon erstarb. Mitten in unserer Unterhaltung. An jenem Abend gab es kein elektrisches Licht, und ich war in meinem Haus allein in der Dunkelheit. Es wurden keine Zeitungen mehr gedruckt, und so hatte ich keine Ahnung, was draußen vorging. Ich hörte Geräusche von Tumulten und Pistolenschüssen, und von meinem Fenster aus konnte ich sehen, wie der Himmel widerschien von einem gewaltigen Feuer aus Richtung Oakland. Es war eine Nacht des Schrek-kens. Ich tat kein Auge zu. Ein Mann - ich weiß nicht wie und warum - wurde auf dem Bürgersteig vor dem Haus getötet. Ich hörte die rasch aufeinanderfolgenden Schüsse einer automatischen Pistole, und einige Minuten später kroch der verwundete arme Teufel auf meine Tür zu, stöhnend und um Hilfe schreiend. Ich bewaffnete mich mit zwei Automatics und ging zu ihm. Beim Schein eines Streichholzes stellte ich fest, daß er an den Wunden, die die Kugeln ihm zugefügt hatten, starb, gleichzeitig aber auch an der Pest. Ich flüchtete ins Haus, von wo ich ihn noch eine halbe Stunde lang stöhnen und schreien hörte.

Am Morgen kam mein Bruder zu mir. Ich hatte in eine Tasche all die Wertsachen gepackt, die ich mitzunehmen gedachte, aber als ich sein Gesicht sah, war mir klar, daß er mich niemals zum Chemiegebäude begleiten würde. Er hatte die Pest. Er wollte mir die Hand geben, aber ich wich hastig vor ihm zurück.

,Sieh dich im Spiegel an’, forderte ich ihn auf.

Das tat er auch, und beim Anblick seines scharlachroten Gesichts - das sich noch dunkler färbte, als er es erblickte - sank er kraftlos in einen Sessel.

,Mein Gott’, sagte er, ,ich hab sie auch. Komm mir nicht nahe. Ich bin ein toter Mann.’

Dann packten ihn die Krämpfe. Zwei Stunden lag er im Sterben, und er war bis zum Schluß bei Bewußtsein, klagte über die Kälte und das Absterben des Gefühls in seinen Füßen, seinen Waden, seinen Schenkeln, bis schließlich das Herz an der Reihe war und er starb.

Auf diese Weise ging der Scharlachrote Tod vor. Ich griff meine Tasche und lief davon. Überall stolperte man über menschliche Körper.’ Einige waren noch nicht tot. Wo man auch hinsah, konnte man Menschen niedersinken sehen, auf die es der Tod abgesehen hatte. Unzählige Feuer loderten in Berkeley, während anscheinend über Oakland und San Francisco verheerende Feuerstürme hinwegfegten. Der Rauch von Verbranntem erfüllte den Himmel, so daß man mitten am Tage den Eindruck verhangener Dämmerung hatte, und manchmal, wenn der Wind sich drehte, schien matt die Sonne durch - eine träge, rote Kugel. Wahrhaftig, meine Enkel, es war so, als seien die letzten Tage der Welt angebrochen.



Es gab auch jede Menge stehengelassene Autos, was zeigte, daß es kein Benzin in den Werkstätten und keine Ersatzteile mehr gab. Ich erinnere mich an ein solches Auto. Ein Mann und eine Frau lagen tot auf den Sitzen, und auf dem Bürgersteig dicht dabei lagen noch zwei Frauen und ein Kind. Befremdliche und schreckliche Schauspiele boten sich einem allerorten. Leute huschten schweigend und verstohlen vorbei wie Geister. Weißgesichtige Frauen, die Säuglinge im Arm trugen; Väter, die ihre Kinder an der Hand führten - einzeln, zu Paaren oder in Familien, alle flohen aus der Stadt des Todes. Einige trugen Nahrungsvorräte bei sich, andere wiederum Decken und Wertgegenstände, und viele gab es, die gar nichts bei sich trugen.

Es gab da einen Lebensmittelladen - dort wurden Eßwaren verkauft. Der Mann, dem der Laden gehörte - ich kannte ihn gut - , ein stiller, ernsthafter und starrsinniger Kumpan, verteidigte ihn. Die Fenster und Türen waren eingeschlagen worden, aber er dort drin, hinter dem Ladentisch versteckt, feuerte seine Pistole auf etliche Leute draußen auf dem Gehsteig ab, die im Begriff standen hereinzustürmen. Im Eingang lagen mehrere Leichen - Menschen, nahm ich an, die er schon getötet hatte. Gerade, als ich das alles aus einiger Entfernung beobachtete, sah ich, wie einer der Plünderer die Fenster des angrenzenden Ladens einschlug - ein Schuhladen - und ihn vorsätzlich in Brand setzte. Ich tat nichts, um dem Lebensmittelhändler beizustehen. Die Zeit für so etwas war bereits vorbei. Die Zivilisation zerbröckelte, und jeder sorgte nur für sich.“

„Ich eilte hastig weiter, eine Nebenstraße entlang, und an der nächsten Straßenecke wurde ich schon wieder Zeuge einer Tragödie.

Zwei Arbeiter hatten einen Mann, eine Frau und deren beide Kinder ergriffen und raubten sie aus. Ich kannte den Mann vom Sehen, wenn man mich ihm auch nicht vorgestellt hatte. Er war ein Dichter, dessen Verse ich schon lange bewunderte. Dennoch kam ich ihm nicht zu Hilfe, denn in dem Augenblick, als ich auf der Bildfläche erschien, knallte ein Schuß, und ich sah ihn zu Boden sinken. Die Frau schrie auf und wurde durch einen Faustschlag von einem der beiden Scheusale zu Boden gestreckt. Ich rief etwas, um ihnen zu drohen, woraufhin sie auf mich schössen, und so lief ich um die Ecke davon. Hier wurde mir der Weg durch eine vorrückende Feuersbrunst versperrt. Zu beiden Seiten der Straße brannten die Häuser, und alles war voller Rauch und Flammen. Von irgendwo in diesem düsteren Gewölk kam der schrille Hilfeschrei einer Frau. Ich lief jedoch nicht zu ihr. Das Herz eines Menschen wurde zu Eisen unter dem Eindruck solcher Szenen, und man hörte viel zu viele Bitten um Hilfe.

Als ich zu der Straßenecke zurückkehrte, stellte ich fest, daß die beiden Straßenräuber fort waren. Der Dichter und seine Frau lagen tot auf dem Bürgersteig. Es war ein schockierender Anblick. Die zwei Kinder waren verschwunden - wohin, wußte ich nicht. Aber mir war jetzt klar, warum die Menschen, denen ich begegnete, so geduckt und bleichgesichtig dahinhuschten. Mitten in unseren Slums und Arbeitervierteln hatten wir ein Geschlecht von Barbaren, von Wilden herangezogen, und nun, in unserem Unglück, wandten sich die wilden Bestien, die sie waren, gegen uns und vernichteten uns. Und sie vernichteten auch sich selbst. Sie heizten sich mit starken Getränken an und begingen tausend Abscheulichkeiten, stritten und töteten sich gegenseitig in dem allgemeinen Wahnsinn. Ich sah eine Gruppe Arbeitsleute - welche von den besser gestellten - , die sich zusammengeschart hatten. Frauen und Kinder in ihrer Mitte, die Kranken und Alten auf Tragbahren, bahnten sie sich mit einigen Pferden, die eine Hängerladung Vorräte zogen, ihren Weg aus der Stadt heraus. Sie boten einen vortrefflichen Anblick, wie sie da durch den dahin-driftenden Rauch die Straße herunterkamen, obwohl sie mich fast erschossen hätten, als ich auf ihrem Weg auftauchte. Als sie vorüberzogen, rief einer ihrer Führer mir entschuldigend eine Erklärung für ihr Verhalten zu. Er sagte, sie würden die Straßenräuber und Plünderer töten, die ihnen vor die Augen kämen, und sie hätten sich zusammengetan, weil dies der einzige Weg sei, diesen Wegelagerern zu entkommen.

Und hier beobachtete ich zum erstenmal, was ich später so oft mit ansehen sollte. Einer der mitmarschierenden Männer war unverkennbar von der Pest gezeichnet. Unverzüglich zogen sich die Menschen um ihn herum zurück, und er verließ ohne Widerrede seinen Platz und ließ sie weiterziehen. Eine Frau, höchstwahrscheinlich seine Ehefrau, machte den Versuch, ihm zu folgen. Sie hatte einen kleinen Jungen an der Hand. Ihr Mann jedoch bestand unnachgiebig darauf, daß sie weiterging. Andere ergriffen sie und hinderten sie so daran, ihm nachzugehen.

Das alles habe ich mit angeschaut, und ich sah auch den Mann mit seinem scharlachrot glühenden Gesicht, der in einen Torweg auf der gegenüberliegenden Straßenseite trat. Ich hörte den Knall seiner Pistole und sah ihn leblos zu Boden sinken.

Nachdem ich noch zweimal durch nahende Feuer zur Umkehr gezwungen war, gelang es mir, zur Universität durchzukommen. Am Rande des Campus stieß ich auf eine Gruppe von Universitätsleuten, die in Richtung des Chemiegebäudes gingen. Es waren alles Familienväter, und ihre Angehörigen waren bei ihnen, einschließlich der Kindermädchen und der Diener. Professor Badminton grüßte mich; dabei hatte ich Schwierigkeiten, ihn überhaupt zu erkennen. Er hatte sich irgendwo durch die Flammen geschlagen, und sein Bart war abgesengt. Um den Kopf trug er einen blutigen Verband, und seine Sachen waren verschmutzt. Er erzählte mir, er sei von herumstreifenden Banditen grausam geschlagen worden, und sein Bruder sei vorige Nacht bei der Verteidigung seines Hauses getötet worden.

Auf halbem Weg über den Campus deutete er plötzlich auf Mrs. Swinton. Ihr Gesicht war deutlich scharlachrot. Sofort begannen die Frauen zu schreien und liefen vor ihr davon. Ihr Mann aber, Dr. Swinton, blieb bei ihr.

,Gehen Sie weiter, Smith’, sagte er zu mir. ,Achten Sie auf die Kinder. Was mich angeht, ich werde bei meiner Frau bleiben. Ich weiß, daß sie so gut wie tot ist, aber ich kann sie hier nicht allein zurücklassen. Falls ich davonkomme, werde ich später zum Chemiegebäude stoßen. Halten Sie nach mir Ausschau und lassen Sie mich herein.’

Ich verließ Dr. Swinton, der sich über seine Frau gebeugt hatte und ihr die letzten Augenblicke ihres Lebens zu erleichtern versuchte. Ich indessen lief los, um die Gruppe einzuholen. Wir waren die letzten, die man in das Chemiegebäude einließ. Danach behaupteten wir unsere Isolation mit automatischen Gewehren.

Unseren Plänen gemäß hatten wir uns auf eine Gruppe von sechzig Leuten eingerichtet, die in diesem Versteck bleiben sollten. Stattdessen hatte jeder der ursprünglich Vorgesehenen noch Verwandte, Freunde, ja ganze Familien mitgebracht, bis es mehr als vierhundert Leute waren. Das Chemiegebäude war jedoch groß, und da es etwas abseits stand, war es nicht der Gefahr ausgesetzt, von den großen Feuern, die überall in der Stadt tobten, erfaßt zu werden.

Eine große Menge Vorräte war zusammengetragen worden, und ein Lebensmittelausschuß trug Sorge dafür, indem er täglich den verschiedenen Familien und Gruppen die Rationen zuteilte, die sich untereinander über die Gerichte einigten. Weitere Ausschüsse wurden ernannt, und wir arbeiteten eine sehr sinnvolle und effektive Organisationsstruktur aus. Ich war im Verteidigungsausschuß, wenn auch am ersten Tag noch keine Plünderer in unsere Nähe kamen. Wir konnten sie jedoch von ferne sehen, und ihre Feuer verrieten uns, daß sie mit einigen ihrer Lager eine entlegene Ecke des Campus in Beschlag genommen hatten. Die Trunkenheit grassierte, und oft hörten wir sie zotige Lieder singen oder wie wahnsinnig krakeelen. Während die Welt um sie herum ins Verderben fiel und die Luft ringsum erfüllt war von Rauch, ließen diese niedrigen Kreaturen ihrer Bestialität die Zügel schießen und kämpften und tranken und starben. Aber was machte das schließlich noch aus? Es starb ohnehin jeder - die Guten und die Bösen, die Tüchtigen und die Schwächlinge, die, die das Leben liebten, und jene, die es verachteten. Sie gingen dahin. Alles ging dahin.

Als vierundzwanzig Stunden verstrichen waren und sich keine Anzeichen der Pest bemerkbar gemacht hatten, beglückwünschten wir uns und gingen daran, einen Brunnen zu graben. Ihr habt die großen Eisenrohre gesehen, die damals das Wasser zu allen Stadtbewohnern leiteten. Wir fürchteten, die Feuer in der Stadt könnten die Rohre bersten und die Wasserbehältnisse leerlaufen lassen. So rissen wir den Betonboden des Hofes vor dem Chemiegebäude auf und gruben einen Brunnen. Wir hatten viele junge Männer, Studenten, bei uns, und wir arbeiteten Tag und Nacht an dem Brunnen. Unsere Ängste bestätigten sich. Drei Stunden, ehe wir an das Wasser gelangten, wurden die Rohre trocken.

Weitere vierundzwanzig Stunden vergingen, und noch immer war unter uns kein Pestfall aufgetreten. Wir glaubten, wir seien gerettet. Aber wir alle wußten noch nicht, was auch ich erst später erkannte, nämlich, daß die Inkubationszeit der Pestbazillen im menschlichen Körper mehrere Tage betrug. Sie töteten so schnell, wenn sie erst einmal Fuß gefaßt hatten, daß wir geneigt waren zu glauben, die Inkubationszeit sei gleichermaßen kurz. Da wir also nach zwei Tagen noch unversehrt waren, versetzte uns der Gedanke, wir seien frei von dem Krankheitserreger, in Hochstimmung.

V

Aber der dritte Tag holte uns auf den Boden zurück. Niemals werde ich die Nacht davor vergessen. Ich hatte Dienst als Nachtwache von. acht bis zwölf, und vom Dach des Gebäudes aus verfolgte ich, wie die großartigen Werke der Menschen dahinschwanden. Die örtlichen Feuersbrünste waren so grauenvoll, daß der ganze Himmel in Flammen stand. Man hätte die kleinsten Schriftzeichen bei dem roten, blendenden Schein lesen können. Die ganze Welt schien in Flammen gehüllt zu sein. San Francisco spuckte aus einer Reihe von Brandherden, die aktiven Vulkanen ähnelten, Rauch und Feuer. Oakland, San Leandro, Haywards - all diese Städte brannten; und in nördlicher Richtung, geradewegs bis Point Richmond, taten weitere Brände ihr Werk. Es war ein schmerzliches Schauspiel. Die Zivilisation, meine Enkel, die Zivilisation entschwand in einem Meer aus Flammen und im Atem des Todes.

Am selben Abend um zehn Uhr explodierten in rascher Folge die großen Pulvermagazine am Point Pinole. Die Detonationen waren so gewaltig, daß unser massives Gebäude wie bei einem Erdbeben schwankte, und alle Fensterscheiben zerbrachen. Da verließ ich meinen Posten auf dem Dach, ging die langen Korridore hinunter, von Raum zu Raum, und beruhigte die aufgeregten Frauen, indem ich ihnen erzählte, was sich zugetragen hatte.

Eine Stunde später hörte ich an einem Fenster des Erdgeschosses, wie in den Lagern der Plünderer ein Höllenlärm losbrach. Da waren Schreie und Rufe und Schüsse aus vielen Pistolen. Wie wir später vermuteten, war dieser Kampf ausgelöst worden durch den Versuch einer Gruppe gesunder Menschen, die Kranken zu vertreiben. Auf jeden Fall entkamen ein paar von der Pest befallene Banditen über das Campusgelände bis zu unseren Türen. Wir warnten sie, aber sie beschimpften uns und feuerten einen Kugelhagel aus ihren Pistolen ab. Professor Merryweather, der an einem der Fenster stand, wurde augenblicklich getötet. Die Kugel traf ihn direkt zwischen die Augen. Wir eröffneten nun unsererseits das Feuer, und die Plünderer flüchteten - mit Ausnahme von dreien. Eine Frau war dabei. Sie hatten die Pest, und sie waren hemmungslos. Wie böse Feinde standen sie da in dem roten Glanz, der vom Himmel widerschien, mit flammenden Gesichtern und fuhren fort, uns zu verfluchen und auf uns zu schießen. Einen der Männer habe ich mit eigener Hand erschossen. Daraufhin legten sich der andere Mann und die Frau, die uns noch immer mit Schimpfworten belegten, unter unseren Fenstern nieder, wo wir gezwungen waren mit anzusehen, wie sie an der Pest zugrunde gingen. Die Lage war kritisch. Durch die Explosion waren alle Fenster des Chemiegebäudes zersplittert, so daß wir den Bazillen der Leichen ausgesetzt waren. Der Gesundheitsausschuß wurde aufgefordert, etwas zu unternehmen, und er reagierte vortrefflich. Zwei Männer wurden gebraucht, um hinauszugehen und die Leichen zu entfernen, und das bedeutete voraussichtlich, daß sie ihr eigenes Leben opferten, denn nachdem sie die Aufgabe durchgeführt hatten, war es ihnen nicht gestattet, das Gebäude wieder zu betreten. Einer der Professoren, der ein Junggeselle war, und ein Student meldeten sich freiwillig. Sie verabschiedeten sich von uns und gingen hinaus. Sie waren Helden. Sie gaben ihr Leben dafür, daß vierhundert andere leben konnten. Nachdem sie ihre Arbeit erledigt hatten, standen sie einen Moment lang in einiger Entfernung da und schauten uns wehmütig an. Dann winkten sie uns zum Abschied und gingen langsam über den Campus auf die brennende Stadt zu.

Und doch war alles sinnlos gewesen. Am nächsten Morgen war der erste von uns mit der Pest geschlagen - ein kleines Kindermädchen aus der Familie des Professors Stout. Aber es war nicht die Zeit für schwachherzige und sentimentale Rücksichten. Auf die Möglichkeit hin, sie könne die einzige sein, schoben wir sie aus dem Gebäude hinaus und befahlen ihr, wegzugehen. Sie ging schleppend über den Campus, rang ihre Hände und weinte mitleiderregend. Wir fühlten uns wie Barbaren, aber was hätten wir tun sollen? Wir waren vierhundert, und einzelne mußten geopfert werden.

In einem der Labore hatten sich drei Familien eingerichtet, und an jenem Nachmittag fanden wir unter ihnen nicht weniger als vier Tote und sieben Pestfalle in den verschiedenen Stadien der Krankheit.

Da begann das Entsetzen. Wir ließen die Toten liegen und zwangen die anderen, sich abzusondern und in einen anderen Raum zu gehen. Auch unter den restlichen Leuten brach nun die Pest aus, und sobald sich die Symptome zeigten, schickten wir die Infizierten in die Isolierräume. Wir zwangen sie, selbst dorthin zu gehen, um eine Berührung mit ihnen zu vermeiden. Es war herzzerreißend. Aber die Pest wütete immer weiter unter uns, und Raum für Raum füllte sich mit Toten und Sterbenden. Wir, die wir noch unversehrt waren, zogen uns von einer Etage auf die nächste zurück vor diesem Meer der Toten, das -Raum für Raum und Etage für Etage - das Gebäude überflutete.

Der Ort wurde zu einem Leichenhaus, und mitten in der Nacht flohen die Überlebenden, wobei sie nichts weiter mitnahmen als Waffen und Munition und einen tüchtigen Vorrat an Büchsennahrung. Wir schlugen auf der den Plünderern gegenüberliegenden Seite des Campus unser Lager auf, und während einige Wache standen, meldeten sich andere von uns freiwillig, um in die Stadt hineinzuschleichen auf der Suche nach Pferden, Autos, Karren und Lastwagen oder irgend etwas, womit wir unsere Vorräte transportieren könnten und das uns in die Lage setzen würde, es den Arbeitern gleichzutun, die sich zusammengeschlossen hatten und die wir dabei beobachtet hatten, wie sie sich den Weg aufs freie Land hinaus bahnten.

Ich war einer von diesen Kundschaftern, und Dr. Hoyle, der sich daran erinnerte, daß er sein Auto in der Garage bei seinem Haus zurückgelassen hatte, hieß mich, danach zu sehen. Wir zogen in Zweiergruppen aus, und Dombey, ein junger Student, begleitete mich. Wir mußten eine halbe Meile eines Stadtteils durchqueren, um zu Dr. Hoyles Haus zu gelangen. Hier standen die Häuser jedes für sich, umgeben von Bäumen und Rasenflächen, und das Feuer war launenhaft gewesen: Einige Viertel waren ganz abgebrannt, dann wieder hatte das Feuer einige übersprungen, manchmal auch nur ein einziges Haus in einem Viertel ausgelassen. Und auch hier waren die Plünderer am Werk. Wir hielten unsere automatischen Pistolen sichtbar in unseren Händen und sahen fürwahr entschlossen genug aus, um die Banditen davon abzuhalten, uns anzugreifen. Aber bei Dr. Hoyles Haus passierte es dann. Es war vom Feuer bislang unberührt, doch schlugen gerade in dem Augenblick, da wir es erreichten, Flammen heraus.

Der Schurke, der das Feuer gelegt hatte, torkelte die Treppen herunter und die Auffahrt entlang. Aus seinen Manteltaschen lugten Whiskyflaschen hervor, und er war stark angetrunken. Mein erster Impuls war, ihn zu erschießen, und ich bereue noch immer, daß ich es nicht getan habe. Vorwärts stolpernd und vor sich hin brabbelnd, mit blutunterlaufenen Augen und einer offenen Wunde auf der einen Seite seines Säufergesichts, war er alles in allem der widerlichste Prototyp des Niedergangs und der Verkommenheit, der mir je begegnet ist. Ich habe ihn nicht erschossen, und er lehnte sich auf dem Rasen an einen Baum und ließ uns vorbei. Gerade als wir an ihm vorüber waren, zog er plötzlich eine Pistole aus der Tasche und schoß Dombey in den Kopf. Im nächsten Augenblick tötete ich ihn, aber es war zu spät. Dombey schied ohne ein Stöhnen, er war gleich tot. Ich bezweifle, daß ihm überhaupt bewußt wurde, was mit ihm geschehen war.

Die beiden Leichen zurücklassend, rannte ich weiter, an dem brennenden Haus vorbei, und dann fand ich Dr. Hoyles Auto. Die Tanks waren mit Benzin gefüllt, und es war fahrbereit. In diesem Auto durchquerte ich nun die Straßen der zerstörten Stadt und kam zu den Überlebenden auf dem Campusgelände zurück. Die anderen Kundschafter kehrten ebenfalls zurück, aber keiner war so erfolgreich gewesen wie ich. Professor Fairmead hatte ein Shetlandpony gefunden, aber die arme Kreatur, die in einem Stall angebunden und seit Tagen sich selbst überlassen war, war durch den Mangel an Futter und Wasser so schwach, daß sie keine Lasten tragen konnte. Einige der Männer waren dafür, das Tier laufenzulassen, aber ich bestand darauf, daß wir es mit uns nahmen, so daß wir, wenn uns die Nahrung ausging, das Pferd verzehren konnten.

Wir waren siebenundvierzig, als wir aufbrachen, viele davon Frauen und Kinder. Der Dekan der Fakultät, um mit dem alten Mann zu beginnen, hoffnungslos gebrochen durch die schrecklichen Ereignisse der vergangenen Wochen, fuhr im Auto mit einigen kleinen Kindern und der gebrechlichen Mutter von Professor Fairmead. Wathope, ein junger Englischprofessor, der eine schlimme Schußwunde am Bein hatte, steuerte den Wagen. Wir anderen gingen zu Fuß, und Professor Fairmead führte das Pony.

Dies hätte eigentlich ein lichter Sommertag sein sollen, doch der Rauch der in Flammen stehenden Welt bedeckte den Himmel, durch den nur dumpf die Sonne schien, eine matte, leblose Kugel, blutrot und unheilvoll. Aber wir hatten uns schon an diese blutrote Sonne gewöhnt. Mit dem Rauch dagegen war es anders. Er biß uns in Nase und Augen, und es gab keinen unter uns, dessen Augen nicht blutunterlaufen waren. Wir nahmen unseren Weg nach Südosten, endlose Meilen durch die Vorstadtsiedlungen, und zogen dorthin weiter, wo die ersten Erhebungen niedriger Berge aus dem flachen Land der Stadt erwuchsen. Nur auf diesem Weg konnten wir erwarten, die ländlichen Gegenden zu erreichen.

Wir kamen schmerzlich langsam voran. Die Frauen und Kinder konnten nicht schnell laufen. Sie hatten es sich nie träumen lassen zu wandern - so wie wir es heute tun, meine Enkel. Das ist die Wahrheit, niemand von uns wußte, wie man richtig geht. So war der Schritt des Langsamsten unser aller Schritt, denn wegen der herumstreifenden Banditen wagten wir nicht, uns zu trennen. Es gab nicht mehr allzu viele von diesen menschlichen Raubtieren. Die Pest hatte ihre Anzahl stark verringert, aber es waren noch genug am Leben, die eine ständige Bedrohung für uns darstellten. Viele der wunderschönen Wohnhäuser waren noch unangetastet vom Feuer, doch überall gab es auch qualmende Ruinen. Die Plünderer selbst schienen ihr sinnloses Verlangen, alles niederzubrennen, überwunden zu haben, und es wurde seltener, daß wir kürzlich in Brand gesteckte Häuser sahen.

Einige von uns schlichen an die Privatgaragen heran und suchten nach Autos und Benzin. Aber hierin hatten wir kein Glück. Die ersten großen Fluchtwellen aus den Städten hatten solcherlei Gegenstände mit sich weggespült. Calgan, ein netter junger Mann, kam bei der Erfüllung seiner Aufgabe ums Leben. Er wurde von einem Banditen erschossen, als er eine Rasenfläche überquerte. Das war jedoch unser einziger Unglücksfall, obwohl einmal ein betrunkener Wilder das Feuer auf uns eröffnete. Zum Glück feuerte er nur wild herum, und wir erschossen ihn, ehe er irgendein Unheil angerichtet hatte.

In Fruitvale, noch im Zentrum des riesigen Wohngebietes der Stadt, traf uns erneut die Pest. Professor Fairmead war das Opfer. Indem er uns durch Zeichen zu verstehen gab, daß seine Mutter nichts erfahren sollte, ging er seitlich zu einem Grundstück mit einem schönen herrschaftlichen Haus hinüber. Er setzte sich hilflos auf die Stufen der Veranda, und ich, der ich noch gezögert hatte und zurückgeblieben war, winkte ihm ein letztes Lebewohl. In jener Nacht, etliche Meilen hinter Fruitvale, aber noch immer in der Stadt, schlugen wir unser Lager auf. Zweimal mußten wir unseren Rastplatz verlegen, um von unseren Toten wegzukommen. Am Morgen waren wir nur noch dreißig. Nie werde ich den Dekan der Fakultät vergessen. Während des Morgenmarsches tauchten bei seiner Frau die verhängnisvollen Symptome auf, und als sie beiseite trat und uns weiterziehen ließ, bestand er darauf, bei ihr zu bleiben.

In jener Nacht - es war die zweite auf unserem Marsch - lagerten wir in Haywards, wo die ländliche Gegend begann. Am nächsten Morgen lebten noch elf von uns. In jener Nacht ließ uns auch Wathope, der Professor mit dem verwundeten Bein, im Stich - mit dem Auto. Er hatte seine Schwester mitgenommen, seine Mutter und den größten Teil unserer Büchsenvorräte.

Es war am Nachmittag, als wir am Wegesrand rasteten, da sah ich das letzte Luftschiff, das ich jemals gesehen hatte. Der Rauch war viel dünner hier auf dem Land, und ich war der erste, der das Schiff sichtete, wie es in einer Höhe von zweitausend Fuß hilflos dahinschlingerte. Ich hatte keine Erklärung dafür, was geschehen war, aber während wir zusahen, senkte sich sein Bug tiefer und tiefer. Wahrscheinlich waren die Schotten der verschiedenen Gaskammern zerborsten, denn es stürzte fast senkrecht - wie ein Bleigewicht - auf die Erde. Von diesem Tag an bis heute habe ich kein Luftschiff mehr gesehen. Wieder und wieder habe ich in den folgenden Jahren den Himmel nach ihnen abgesucht, entgegen aller Hoffnung glaubend, daß irgendwo in der Welt die Zivilisation überlebt habe. Aber es sollte nicht sein. Was mit uns in Kalifornien geschehen war, mußte sich demnach überall zugetragen haben und allen Menschen widerfahren sein.

Noch einen Tag weiter - und in Niles waren wir nur noch vier. Hinter Niles, mitten auf der Fernstraße, fanden wir Wathope. Das Auto war kaputtgegangen, und auf Decken, die auf dem Boden ausgebreitet waren, lagen die Leichen seiner Mutter und seiner Schwester. Erschöpft von der ungewohnten körperlichen Anstrengung durch das ununterbrochene Laufen, schlief ich in jener Nacht ganz fest. Am Morgen war ich allein auf der Welt. Canfield und Parsons, meine letzten Gefährten, waren an der Pest gestorben. Von den vierhundert Menschen, die Schutz gesucht hatten in dem Chemiegebäude, und von den siebenundvierzig, die den Marsch begonnen hatten, war nur ich übriggeblieben - ich und das Shetlandpony.

Warum dies so hatte sein sollen, dafür gibt es keine Erklärung. Ich bin eben von der Pest nicht befallen worden, das ist alles. Ich war einfach der einzige unter einer Million, der Glück gehabt hatte - so wie jeder Überlebende einer von einer Million war oder vielmehr von mehreren Millionen, denn so waren letzten Endes die Proportionen.“

„Zwei Tage lang kroch ich in einem schönen Waldstück unter, wo es keine Toten gegeben hatte. An diesen beiden Tagen war ich sehr niedergeschlagen und glaubte jeden Moment, jetzt wäre die Reihe an mir. Dennoch erholte ich mich und kam wieder zu Kräften. So war es auch mit dem Pony. Am dritten Tag lud ich den geringen Büchsenvorrat, den ich noch besaß, dem Pony auf und machte mich auf den Weg quer über sehr einsames Land.

Nicht einem lebenden Mann, einer Frau oder einem Kind begegnete ich, aber überall lagen Tote. Nahrung gab es jedoch reichlich. Damals war das Land nicht, wie es heute ist. Bäume und Büsche waren gerodet, und das Land war bebaut. Das Essen für Millionen Münder wuchs da heran, reifte und würde verderben. Auf den Feldern und in den Obstgärten sammelte ich Gemüse, Früchte und Beeren. Rund um die verwaisten Farmhäuser fand ich Eier; ich fing Hühner, und regelmäßig stieß ich in den Lagerräumen auf Vorräte an Büchsennahrung.

Was mit all den Haustieren vorging, war sehr merkwürdig. Sie wurden wild und begannen, sich gegenseitig zu fressen. Die Hühner und Enten waren die ersten, die vernichtet wurden, indessen waren die Schweine die ersten, die verwilderten, gefolgt von den Katzen. Auch die Hunde brauchten nicht lange, um sich den veränderten Bedingungen anzupassen. Es gab eine wahre Hundeplage. Sie verschlangen die Leichen, bellten und jaulten nachts, und tagsüber schlichen sie in einiger Entfernung umher. Mit der Zeit bemerkte ich eine Änderung in ihrem Verhalten. Zuerst hielten sie sich voneinander fern, waren sehr mißtrauisch und darauf aus, zu kämpfen. Aber nach nicht sehr langer Zeit begannen sie, sich zusammenzutun und in Rudeln rumzulaufen. Der Hund, wißt ihr, war immer ein geselliges Tier, das galt auch schon für die Zeit, bevor es von den Menschen zum Haustier gemacht wurde. In den letzten Tagen der Welt, ehe die Pest kam, gab es sehr viel verschiedene Arten von Hunden. Hunde, die unbehaart waren und Hunde mit dichtem Fell, Hunde, so klein, daß sie gerade einen Happen abgegeben hätten für andere, die wiederum so groß waren wie Berglöwen. Nun, alle die kleinen Hunde und die schwachen Arten wurden von ihren Gefährten getötet. Andererseits konnten sich auch die sehr großen Hunde dem wilden Leben nicht anpassen und starben aus. Das Ergebnis war, daß die vielen unterschiedlichen Arten verschwanden, und übrig blieben die mittelgroßen, wölfischen Hunde, die in Rudeln herumziehen -so wie ihr sie heute kennt.“

„Aber die Katzen laufen nicht in Rudeln herum, Granser“, wandte Hoo-Hoo ein.

„Die Katze war nie ein geselliges Tier. Wie ein Schriftsteller des neunzehnten Jahrhunderts sagte: ,Die Katze bleibt für sich.’ Sie ist immer allein umhergezogen, schon ehe sie von den Menschen gezähmt wurde, all die Jahre ihrer Domestizierung hindurch, bis heute, wo sie wieder wild lebt.

Auch die Pferde verwilderten, und all die feinen Züchtungen, die wir hatten, degenerierten zu dem kleinen Mustangpferd, wie es auch heute noch da ist.

Ebenso wurden die Kühe wild, die Tauben und die Schafe. Daß einige Hühner erhalten blieben, wißt ihr selbst. Aber das wilde Huhn von heute ist sehr verschieden von dem, das wir damals kannten.

Aber ich muß mit meiner Geschichte fortfahren. Ich reiste durch ein ödes Land. Mit der Zeit begann ich mich mehr und mehr nach menschlichen Wesen zu sehnen, aber nie fand ich eins, und ich wurde immer einsamer. Ich durchstreifte Liver-more Valley und überschritt die Berge zwischen diesem Tal und dem großen Tal von San Joaquin. Ihr habt dieses Tal nie gesehen, aber es ist riesig, und es ist die Heimstätte der wilden Pferde. Es gibt dort umfangreiche Viehherden, Tausende und Zehntausende. Ich kehrte dreißig Jahre später noch einmal dorthin zurück, deshalb weiß ich es. Ihr glaubt, daß es hier in den Küstenebenen eine Menge Wildpferde gibt, aber die sind nichts im Vergleich mit denen von San Joaquin. Es ist seltsam, aber die Kühe zogen sich in die niederen Bergregionen zurück, als sie wild wurden. Offensichtlich konnten sie sich dort besser schützen.

In den ländlichen Gebieten hatte es weniger Plünderer und Banditen gegeben, das war ganz auffällig, denn ich fand viele Dörfer und Städte vom Feuer unberührt. Aber sie waren überfüllt von Pesttoten, und ich ging vorüber, ohne sie näher in Augenschein zu nehmen. Es war in der Nähe von Lathrop, da griff ich in meiner Einsamkeit ein paar Collies auf, die sich noch nicht an ihre Freiheit gewöhnt hatten und deshalb unbedingt in den Status eines treuen Untertanen des Menschen zurückkehren wollten. Die Collies begleiteten mich viele Jahre, und ihre Art lebt in den wenigen Hunden fort, die ihr Jungs heute habt. Aber in sechzig Jahren ist der Charakter der Collies verblaßt. Die Bestien sind eher gezähmte Wölfe als alles andere.“

Hare-Lip stand auf, warf einen Blick auf die Ziegen, um sich zu vergewissern, daß ihnen auch keine Gefahr drohte, dann schaute er nach dem Stand der Sonne an dem Nachmittagshimmel und brachte seinen Unmut über die Weitschweifigkeit der Erzählung des alten Mannes zum Ausdruck. Von Edwin gedrängt, sich etwas mehr zu beeilen, fuhr Granser fort: „Es gibt jetzt nicht mehr viel zu erzählen. Auf einem Pferd reitend, war es mir gelungen, mit meinen beiden Hunden und meinem Pony zu entkommen. Ich durchquerte San Joaquin Valley und zog weiter zu einem wunderschönen Tal in den Sierras, das man Yosemite nannte. In einem großen Hotel dort fand ich einen gewaltigen Vorrat an Nahrung in Büchsen. Das Weideland war üppig, auch Wild gab es im Überfluß, und der Fluß, der sich durch das Tal schlängelte, war voller Forellen. Ich blieb dort drei Jahre in absoluter Einsamkeit, die nur ein Mensch, der in einer hochzivilisierten Gesellschaft gelebt hat, fassen kann. Dann ertrug ich es nicht länger. Ich fühlte, daß ich drauf und dran war, den Verstand zu verlieren. Wie der Hund war auch ich ein soziales Wesen, und ich brauchte meine Artgenossen. Da ich die Pest überlebt hatte, vermutete ich, es wäre möglich, daß auch andere sie überstanden hatten. Weiterhin nahm ich an, daß es nach drei Jahren keine Pestbazillen mehr geben würde und das Land wieder rein sei.

Mit meinem Pferd, meinen Hunden und meinem Pony brach ich auf. Wieder durchwanderte ich San Joaquin Valley, ließ die Berge hinter mir und kam hinunter nach Livermore Valley. Die Veränderungen, die in den drei Jahren vor sich gegangen waren, erstaunten mich. Das gesamte Land war ausgezeichnet bewirtschaftet gewesen, und jetzt konnte ich es kaum wiedererkennen, solcherart war das Meer der dort wuchernden Vegetation. Dieses Meer hatte das landwirtschaftliche Werk der Menschen überschwemmt. Wißt ihr, der Mensch hat sich immer um das Getreide, das Gemüse und die Obstbäume gekümmert, hat sie gepflegt, für sie gesorgt, so daß sie zart und zerbrechlich geworden waren. Im Gegensatz dazu hatte der Mensch das Unkraut, das wilde Gestrüpp und solche Dinge bekämpft, und so waren diese Pflanzen fest und widerstandsfähig. Als die Hand des Menschen den zarten Gewächsen entzogen wurde, war das Ergebnis, daß der wilde Pflanzenwuchs praktisch alle kultivierten Pflanzen erstickte und zerstörte.

Die Anzahl der Kojoten hatte sich enorm vergrößert. Zu jener Zeit hatte auch ich meine erste Begegnung mit Wölfen, die zu zweien, dreien oder in kleinen Rudeln her- umstächen. Sie kamen aus den Gebieten, in denen sie von jeher gehaust hatten.

Am Lake Temescal, unweit der einstigen Stadt Oakland, stieß ich auf die ersten menschlichen Lebewesen. meine Enkel, wie kann ich euch nur meine Erregung beschreiben, als ich zu Pferd, den Berg hinab unterwegs zu einem See, den Rauch eines Lagerfeuers durch die Bäume hindurch aufsteigen sah. Fast hörte mein Herz auf zu schlagen. Ich fühlte, daß mein Verstand schwand. Dann hörte ich das Weinen eines Säuglings, eines Menschenbabys. Dann bellten Hunde, und meine Hunde antworteten darauf. Ich wußte nichts anderes, als daß ich das einzige menschliche Wesen auf der Welt war. Es konnte nicht sein, daß es hier noch andere gab - doch hier war Rauch, das Weinen eines Babys.

Als ich am See unten ankam, da sah ich vor meinen Augen, keine hundert Yard entfernt, einen Mann, einen großen Mann. Er stand auf einem vorspringenden Felsen und angelte. Ich war überwältigt. Ich hielt mein Pferd an. Ich versuchte zu rufen, aber ich vermochte es nicht. Ich winkte mit der Hand. Es schien mir, als sähe der Mann zu mir her, aber er winkte nicht. Dann barg ich meinen Kopf in den auf den Sattel gestützten Armen. Ich fürchtete mich, noch einmal hinzuschauen, denn ich wußte, es war eine Halluzination, und mir war klar, daß, wenn ich aufsah, der Mann verschwunden sein würde. Aber diese Halluzination war so wunderschön. daß ich wollte, sie solle noch eine Weile andauern. Ich wußte, daß sie, solange ich nicht hinsah, weiterbestehen würde.

So verharrte ich, bis ich meine Hunde knurren hörte und die Stimme eines Mannes vernahm. Was glaubt ihr wohl, was diese Stimme sagte? Ich werde es euch erzählen. Sie sagte: ,Wo, zum Teufel, kommst du her?’ So lauteten die Worte - ganz genau so. Das war es, was dein alter Großvater zu mir sagte, Hare-Lip, als er mich dort am Lake Temescal vor siebenundfünfzig Jahren be- grüßte. Es waren die unbeschreiblichsten Worte, die ich je in meinem Leben gehört habe. Ich öffnete meine Augen, und da stand er vor mir, ein großer, dunkelhaariger Mann mit breitem Kiefer, schräger Stirn und bösen Augen. Wie ich von meinem Pferd herunterkam, weiß ich nicht mehr. Das nächste, woran ich mich wieder erinnerte, war wohl, daß ich mit meinen beiden Händen seine Hand umklammerte und weinte. Ich würde ihn umarmt haben, aber er war von jeher ein engstirniger, mißtrauischer Mann, und er wich vor mir zurück. Dennoch hielt ich seine Hand fest und weinte.“

Gransers Stimme wurde brüchig und versagte schließlich angesichts der Erinnerung, und die Tränen strömten seine Wangen hinab, indessen die Jungen ihn im Blick behielten und kicherten.

„Noch immer weinte ich“, fuhr er fort, „und hatte den Wunsch, ihn zu umarmen, obwohl Chauffeur ein Scheusal war, ein absolut seelenloser Mensch - der widerlichste Mann, den ich je kennengelernt habe. Sein Name war. eigenartig, wie ich seinen Namen vergessen konnte. Jeder nannte ihn Chauffeur - das war die Bezeichnung seines Berufes, und sie blieb an ihm haften. Deshalb wird der Stamm, den er begründete, bis zum heutigen Tage der Chauffeur-Stamm genannt.

Er war ein gewalttätiger, ungerechter Mensch. Weshalb die Pestbazillen ihn verschont hatten, konnte ich nicht begreifen. Es hatte den Anschein, daß entgegen unseren alten metaphysischen Begriffen von absoluter Gerechtigkeit überhaupt keine Gerechtigkeit im Universum herrschte. Wieso war er am Leben? Boshaft, moralisch ein Ungeheuer, ein Schandfleck auf dem Antlitz der Natur und noch dazu ein grausamer, unbarmherziger Betrüger. Alles, worüber er sprechen konnte, waren Autos, Benzin, Getriebe und Garagen, und mit besonderer Genugtuung erzählte er von seinen gemeinen Gaunereien und seinem schmutzigen Betrug an den Personen, die ihn in den Zeiten vor der Pest angestellt hatten. Doch er war verschont geblieben, während hunderte Millionen, ja Milliarden besserer Menschen vernichtet wurden.

Ich ging mit ihm zu seinem Lager, und dort sah ich sie - Vesta, diese einzigartige Frau. Es war wunderbar und. mitleiderregend. Sie, Vesta van Warden, die junge Gemahlin des John van Warden, in Lumpen gekleidet, mit verschrammten, von der Arbeit schwieligen Händen, über das Lagerfeuer gebeugt und die Arbeit einer Küchenmagd verrichtend, sie, Vesta, die in den größten Geldadel, den die Welt je gekannt hat, hineingeboren war. John van Warden, ihr Ehemann, eine Milliarde schwer und Präsident des Rates der Industriemagnaten, war der Herrscher über Amerika gewesen. Darüber hinaus saß er im Internationalen Kontrollausschuß und war einer der führenden Männer der Welt. Sie ihrerseits war von ähnlich vornehmer Herkunft. Ihr Vater, Philip Saxon, war bis zu seinem Tode Präsident des Rates der Industriemagnaten gewesen. Dieses Amt war vererbbar, und hätte Philip Saxon einen Sohn gehabt, so hätte dieser seine Nachfolge angetreten. Aber sein einziges Kind war Vesta, die vollkommene Zierde der Generationen mit der höchsten Kultur, die dieser Planet je hervorgebracht hat. Erst als die Verlobung zwischen Vesta und van Warden stattgefunden hatte, bestimmte Saxon letzteren zu seinem Nachfolger. Ich bin ganz sicher, daß es eine politische Heirat war. Ich habe Grund anzunehmen, daß Vesta ihren Mann nie mit solcher Leidenschaft geliebt hat, wie sie die Dichter zu besingen pflegten. Es war eher eine der Ehen, wie sie zwischen gekrönten Häuptern zustande kamen, ehe diese durch die Magnaten ersetzt wurden.

Und da kochte sie nun Fischsuppe in einem mit Ruß überzogenen Topf, ihre herrlichen Augen entzündet von dem Rauch des offenen Feuers. Ihre Geschichte war traurig. Sie war die einzige Überlebende unter einer Million - so wie auch ich, so wie auch Chauffeur. Auf einer Anhöhe der Alameda Hills hatte van Warden einen ungeheuer großen Sommerpalast, mit einem Ausblick über San Francisco Bay, gebaut. Er war von einem Park umgeben, der eintausend Morgen umfaßte. Als die Pest ausbrach, schickte van Warden seine Frau dorthin. Bewaffnete Posten patrouillierten an den Grenzen des Parks entlang, und weder Lebensmittel noch Post gelangten hinein, ohne vorher durchräuchert worden zu sein. Aber dennoch kam die Pest, tötete die Wachen auf ihrem Posten und die Diener bei ihrer Arbeit, fegte das ganze Heer der Gefolgsleute hinweg oder zumindest jene von ihnen, die nicht geflüchtet waren, um anderswo zu sterben. So kam es, daß Vesta sich als die einzige lebende Person in dem Palast wiederfand, der zu einem Totenhaus geworden war.

Nun war der Chauffeur einer der Diener, die davongelaufen waren. Als er zwei Monate später zurückkehrte, entdeckte er Yesta in einem kleinen Sommerpavillon, wo es keine Toten gegeben und in dem sie sich eingerichtet hatte. Er war ein Scheusal. Sie fürchtete sich vor ihm, rannte davon und verbarg sich zwischen den Bäumen. In der Nacht flüchtete sie zu Fuß in die Berge - sie, deren zarte Füße und zierlicher Körper nie zwischen Steinen gequetscht und von Dornensträuchern zerkratzt worden waren. Er folgte ihr, und noch in der Nacht erwischte er sie. Er schlug sie. Versteht ihr das? Er schlug sie mit seinen schrecklichen Fäusten und machte sie zu seiner Sklavin. Sie mußte das Feuerholz zusammentragen, die Scheite aufschichten, kochen, all die erniedrigenden Lagerarbeiten tun, sie, die in ihrem Leben nie Gesindeverrichtungen ausgeführt hatte. Zu all dem zwang er sie, während er selbst als echter Barbar es vorzog, am Feuer zu liegen und sie zu beaufsichtigen. Er tat nichts, absolut nichts, außer gelegentlich zu jagen-und zu fischen.“

„Gut für Chauffeur“, bemerkte Hare-Lip mit gedämpfter Stimme zu den anderen Jungen. „Ich erinnere mich an ihn. Er war ein famoser Kerl. Er sorgte dafür, daß die Dinge liefen. Ihr wißt ja, Dad hat seine Tochter geheiratet. Ihr hättet sehn soll’n, wie er Dad nach Strich und Faden runtergemacht hat. Der Chauffeur war ein Teufelskerl. Wir Kinder mußten dabeistehen. Selbst als er am Abkratzen war, da hat er noch nach mir gelangt und mir ‘s Gehirn aus ‘m Schädel gekloppt mit dem langen Stock, den er immer neben sich liegen hatte.“

Hare-Lip rieb sich bei dem Gedanken daran seinen runden Kopf, und die Jungen wandten sich wieder dem alten Mann zu, der hingerissen über Vesta redete, die Squaw des Begründers des Chauffeur-Stammes.

„Und ich sage euch, ihr könnt nicht begreifen, wie furchtbar diese Situation war. Der Chauffeur war ein Diener, versteht ihr, ein Diener. Und er kroch vor solchen Menschen, wie sie es war, wagte nicht, auch nur den Blick zu heben. Sie war eine Gebieterin über das Leben - durch ihre Geburt und ihre Heirat. Die Geschicke von Millionen seiner Art hielt sie in ihrer zarten weißen Hand. In der Zeit vor der Pest wäre der geringste Kontakt zu einem Menschen wie ihm einer Besudelung gleichgekommen. Oh, ich habe es erlebt! Einmal, erinnere ich mich, war da Mrs. Goldwin, die Frau von einem der großen Magnaten. Es geschah auf der Landungsbrücke, als ihr gerade in dem Moment, da sie ihr privates Luftschiff besteigen wollte, ihr Sonnenschirm herunterfiel. Ein Diener hob ihn auf und machte den Fehler, ihn ihr persönlich auszuhändigen, ihr, einer der bedeutendsten Damen des Landes! Sie zuckte zurück, als wäre er ein Aussätziger, und wies ihren Sekretär an, den Namen dieses Individuums zu ermitteln und ihn unverzüglich aus dem Dienst zu entlassen. Solch eine Frau war auch Vesta van Warden. Und sie wurde von diesem Chauffeur geschlagen und zur Sklavin gemacht.

Bill.. das war’s, Bill, der Chauffeur. Das war sein Name. Er war ein armseliger und primitiver Mensch, bar aller feineren Instinkte und ritterlichen Eingebungen eines kultivierten Wesens. Nein, es gibt keine vollkommene Gerechtigkeit, denn ihm fiel das Wunder der Weiblichkeit zu, Vesta. Ihr werdet die Bitternis all dessen nie begreifen, meine Enkel, denn ihr seid selbst primitive kleine Barbaren, nicht ahnend, daß es noch etwas anderes gibt als diese Wildheit. Weshalb hätte Vesta nicht mir gehören sollen? Ich war ein Mann mit Kultur und Bildung, ein Professor an einer bedeutenden Universität. Obwohl sie sich in ihrer gehobenen Position in der Zeit vor der Pest überhaupt nicht herabgelassen hätte, von meiner Existenz Kenntnis zu nehmen. Stellt euch dann die abgrundtiefe Erniedrigung vor, die sie in den Händen des Chauffeurs erfuhr. Nichts Geringeres als die Vernichtung der Menschheit hatte es ermöglicht, daß ich ihre Bekanntschaft machte, in ihre Augen sehen, mich mit ihr unterhalten und ihre Hand berühren konnte - ach, und sie lieben konnte, wissend, daß ihre Gefühle mir gegenüber sehr freundlich waren. Ich habe Grund zu glauben, daß sie, ja sie mich geliebt haben würde, wo es doch keinen anderen Menschen mehr auf der Welt gab als den Chauffeur. Wenn die Pest bereits acht Milliarden Lebewesen umgebracht hatte, warum dann nicht noch eins mehr, eben den Chauffeur?

Einmal, als der Chauffeur zum Fischen war, bat sie mich, ihn zu töten. Mit Tränen in den Augen flehte sie mich an, ihn zu töten. Aber er war ein kräftiger und zorniger Mann, und ich fürchtete mich. Später sprach ich mit ihm, ich bot ihm mein Pferd an, mein Pony, meine Hunde, alles, was ich besaß, wenn er mir nur Vesta überlassen würde. Er grinste mir ins Gesicht und schüttelte den Kopf. Er war sehr verletztend. Er sagte, daß er in den alten Zeiten ein Diener gewesen sei, Schmutz unter den Füßen von Männern wie ich es war und von Frauen wie Vesta; und nun sollte die wichtigste Dame des Landes seine Dienerin sein, sein Essen kochen und seine Bälger großziehen. ,Sie hatten ihre gute Zeit vor der Pest’, sagte er; ,aber jetzt ist meine Zeit gekommen, und es ist eine verdammt gute Zeit. Um nichts in der Welt würde ich die alten Zeiten zurückhaben wollen!’ Das war es, was er sagte, aber es waren nicht seine Worte. Er war ein vulgärer Mann mit einer niedrigen Gesinnung, und abscheuliche Flüche kamen über seine Lippen.

Außerdem sagte er, daß er mir, wenn er mich dabei erwischte, daß ich seiner Frau verliebte Blicke zuwürfe, den Hals umdrehen würde, und auch sie sollte Prügel bekommen. Was sollte ich tun? Ich hatte Angst. Er war ein Barbar. In jener ersten Nacht, als ich das Lager entdeckte, hatten Vesta und ich ein langes Gespräch über die Dinge unserer entschwundenen Welt. Wir sprachen über Kunst, Bücher und Poesie; und der Chauffeur hörte zu und grinste höhnisch. Er war gelangweilt und erzürnt durch unsere Art zu reden, die er nicht erfassen konnte, und schließlich rückte er mit der Sprache heraus und sagte: ,Und das ist Vesta van Warden, einstmals die Frau von van Warden, dem Magnaten - eine große und aufgeblasene Schönheit, die jetzt meine Squaw ist. Ja, Professor Smith, die Zeiten haben sich geändert. Hier, Frau, zieh mir meine Mokassins aus, und ‘n bißchen fix. Ich will, daß Professor Smith sieht, wie gut ich dich erzogen habe.’

Ich sah, wie sie die Zähne zusammenbiß, und die Glut der Empörung überzog ihr Gesicht. Er hob seine knorrige Faust, um sie zu schlagen, und ich ängstigte mich und war tief betrübt. Ich konnte nichts tun, um mich ihm gegenüber durchzusetzen. So erhob ich mich, um zu gehen und nicht Zeuge solch einer schimpflichen Behandlung zu werden. Aber der Chauffeur lachte und drohte mir Schläge an, wenn ich nicht bliebe und zuschaute. So saß ich notgedrungen dort am Lagerfeuer am Ufer des Lake Temescal und sah Vesta, Vesta van Warden, wie sie niederkniete und dem grinsenden, behaarten, affenartigen menschlichen Scheusal die Mokkasins auszog.

Oh, ihr begreift das nicht, meine Enkel. Ihr habt nie etwas anderes gekannt, und ihr versteht es nicht.

,Das Halfter um, aber die Nase hochtragen’, sagte der Chauffeur und starrte sie an, während sie sich dieser niedrigen Aufgabe unterzog. ,Bißchen störrisch zuweilen, bißchen störrisch, aber ‘n Schlag übers Maul macht sie zahm und freundlich wie ‘n Lamm.!’

Und ein anderes Mal sagte er: ,Wir müssen völlig neu anfangen und die Erde wieder auffüllen, uns vermehren. Sie sind da benachteiligt, Professor. Sie haben keine Frau,* und wir stehen vor einem regelrechten Garten-Eden-Unternehmen. Aber ich bin gar nicht so. Ich sage Ihnen was, Professor.’ Er zeigte auf ihr kleines Kind, kaum ein Jahr alt. ,Da ist Ihre Frau, obgleich Sie erst warten müssen, bis sie groß ist. Ist das nicht prächtig hier? Wir sind alle gleich, und ich bin die größte Kröte im Teich. Aber ich bin nicht hochmütig, nein, ich nicht. Ich erweise Ihnen die Ehre, Professor Smith, sich mit meiner und Vesta van Wardens Tochter zu verloben. Ist das nicht verflucht schade, daß van Warden nicht hier ist, um das mitzuerleben?’

VI

Ich durchlebte drei Wochen grenzenloser Qual dort in Chauffeurs Lager. Eines Tages dann, als er meiner überdrüssig war oder dessen, was er für meinen schlechten Einfluß auf Vesta hielt, erzählte er mir, er habe ein Jahr zuvor, als er die Contra Costa Hills bis zu der Meerenge von Carquinez durchstreifte, Rauch gesehen. Das bedeutete, daß es da noch andere menschliche Wesen gab, und daß er mir diese unschätzbar wertvolle Information drei Wochen lang vorenthalten hatte. Ich schied sofort von ihnen und zog mit meinen Hunden und meinen Pferden über die Contra Costa Hills in die Ebene. Ich sah keinen Rauch auf der anderen Seite, aber am Port Costa entdeckte ich eine kleine Barke, auf die ich meine Tiere verladen konnte. Ein Stück alte Leinwand, die ich gefunden hatte, diente mir als Segel, und eine südliche Brise fächelte mich über die Meerenge bis zu den Ruinen von Vallejo. Hier, an der Peripherie der Stadt, fand ich Hinweise auf ein kürzlich noch bewohntes Lager. Viele Schalen eßbarer Muscheln zeigten mir an, warum diese Menschen an die Ufer der Bucht gekommen waren. Das war der Santa-Rosa-Stamm, und ich folgte seinen Spuren die alte Bahnlinie entlang, immer dem Weg nach über die Salzsümpfe zum Sonoma Valley. Hier, an der alten Ziegelei von Glen Ellen stieß ich auf das Lager. Insgesamt waren es achtzehn Seelen. Zwei waren alte Männer - einer von ihnen Jones, ein Bankier. Der andere war Harrison, ein Pfandleiher, der sich bereits zur Ruhe gesetzt hatte. Er hatte die Oberin des Staatskrankenhauses für Geisteskranke in Napa zur Frau genommen.

Von allen Einwohnern der Stadt Napa und von allen anderen Städten und Dörfern in diesem pächtigen und reich bevölkerten Tal war sie die einzige Überlebende. Weiter waren da noch drei junge Männer - Cardiff und Haie, die beide Farmer gewesen waren und Wainwright, ein einfacher Tagelöhner. Alle drei hatten eine Frau gefunden. Haie, einem groben und ungebildeten Farmer, war Isadora zugefallen - von allen Frauen, die durch die Pest gekommen waren, war sie nächst Vesta der größte Gewinn. Sie war eine der berühmtesten Sängerinnen der Welt, und die Pest hatte sie in San Francisco überrascht. Einmal redete sie stundenlang mit mir, erzählte mir ihre Abenteuer, bis sie endlich im Mendo-eino Forest Reserve Von Haie gerettet wurde; da blieb ihr nichts weiter übrig, als seine Frau zu werden. Aber Haie war ein guter Kamerad, trotz seiner Unwissenheit. Er hatte einen starken Gerechtigkeitssinn und war rechtschaffen, und sie war weitaus glücklicher mit ihm, als Vesta es mit dem Chauffeur war.

Die Frauen von Wainwright und Cardiff waren ganz gewöhnliche Frauen, mit kräftigem Körperbau und daran gewöhnt, sich mit schweren Arbeiten abzumühen - genau der richtige Typ für das unzivilisierte neue Leben, zu dem sie nun gezwungen waren. Hinzu kamen noch zwei Erwachsene - Schwachsinnige aus dem Heim für Geistesgestörte in Eldredge - und fünf oder sechs Kinder und Säuglinge, die geboren waren, nachdem sich der Santa-Rosa-Stamm formiert hatte. Da war auch noch Bertha. Sie war eine gute Frau, Hare-Lip, trotz der Verhöhnung durch deinen Vater. Ich nahm sie zur Frau. Sie war die Mutter eures Vaters, Edwin und Hoo-Hoo. Und“ es war unsere Tochter Vera, Hare-Lip, die deinen Vater heiratete, Sandow, der der älteste Sohn von Vesta van Warden und dem Chauffeur war.

So kam es, daß ich das neunzehnte Mitglied des Santa-Rosa-Stammes wurde. Außer mir kamen noch zwei Fremde hinzu.

Einer war Mungerson, der allein acht Jahre lang in der Wildnis von North California herumgeirrt war, ehe er in den Süden kam und sich uns zugesellte. Er wartete zwölf Jahre, ehe er meine Tochter Mary heiraten konnte. Der andere war Johnson, der Mann, der den Utah-Stamm gründete. Von dorther kam er, aus Utah, eine Gegend, die sehr weit entfernt von hier liegt, hinter den großen Wüsten, gen Osten. Nicht eher als siebenundzwanzig Jahre nach der Pest erreichte Johnson California. Er konnte nur von drei Überlebenden in der gesamten Utah-Region berichten, alles Männer, und einer davon war er selbst. Jahrelang lebten und jagten diese drei Männer zusammen, bis sie schließlich, verzweifelt und voller Furcht, daß mit ihnen die menschliche Rasse völlig von unserem Planeten verschwinden würde, westwärts eilten, auf die Möglichkeit hoffend, in California Frauen zu finden, die überlebt hatten. Allein Johnson kam durch die große Wüste: seine beiden Gefährten starben. Er war sechsundvierzig Jahre alt, als er uns fand, und er heiratete die vierte Tochter von Isadora und Haie, und sein ältester Sohn heiratete deine Tante, Hare-Lip, die die dritte Tochter von Vesta und dem Chauffeur war. Johnson war ein kräftiger Mann mit einem eigenen Willen. Deswegen trennte er sich auch von den Santa Rosas und bildete den Utah-Stamm in San Jose. Es ist ein kleiner Stamm - nur neun Mitglieder hat er. Obwohl Johnson inzwischen tot ist, waren sein Einfluß und die Widerstandskraft seiner Rasse solcherart, daß sich daraus ein kräftiger Stamm herausbilden konnte, der eine führende’ Rolle bei der Rezivilisierung des Planeten spielen wird.

Es gibt nur noch zwei weitere Stämme, von denen wir Kenntnis haben - die Los Angelitos und die Carmelitos, Letzterer hatte seinen Ursprung in einem Mann und einer Frau. Ihn nannte man Lopez, und er stammte von den alten Mexikanern ab und war sehr dunkel. Er war ein Kuhhirte auf den Weiden hinter Carmel, und seine Frau war ein Dienstmädchen in dem großen Del Monte Hotel gewesen. Es vergingen sieben Jahre, ehe wir die erste Begegnung mit den Los Angelitos hatten. Sie haben eine gute Gegend da unten, aber zu warm.

Ich schätze die gegenwärtige Weltbevölkerung auf dreihundertfünfzig bis vierhundert Menschen - vorausgesetzt natürlich, daß es keine verstreuten kleinen Stämme anderswo in der Welt gibt. Wenn es sie geben sollte, so haben wir jedenfalls noch nichts von ihnen gehört. Seit Johnson die Wüste von Utah aus durchquert hat, ist keine Nachricht und kein Zeichen mehr aus dem Osten oder von anderswo gekommen. Die große Welt, die ich in meiner Jugend und in meinen frühen Mannesjahren kannte, ist dahin. Sie hat aufgehört zu existieren. Ich bin der letzte Mensch, der die Tage der Pest noch miterlebt hat und der die Wunder jener fernen Zeit kennt. Wir, die wir den Planeten beherrschten, seine Erde, seine Meere und den Himmel, und die wir wie Götter waren, leben nun entlang den Wasserläufen des Landes California in einem primitiven Urzustand.

Aber wir vermehren uns rasch. Deine Schwester, Hare-Lip, hat bereits vier Kinder. Wir vermehren uns rasch und machen uns bereit zu einem neuen Aufstieg zu den Höhen der Zivilisation. Bald wird die Bevölkerung so gedrängt leben, daß wir gezwungen sind, uns über das Land auszubreiten. Hundert Generationen weiter, und wir können er- warten, daß unsere Nachfahren aufbrechen und über die Sierras ziehen, sich langsam - Generation für Generation - weiter über den großen Kontinent vorschieben, bis hin zur Kolonisierung des Ostens -eine neue Welle rund um die Welt.

Aber das wird sehr langsam vor sich gehen, sehr langsam. Wir müssen uns noch so weit emporarbeiten, denn wir sind so hoffnungslos tief gefallen. Wenn nur ein Physiker oder ein Chemiker überlebt hätte! Aber es sollte nicht sein, und nun haben wir alles vergessen.

Der Chauffeur begann mit Eisen zu arbeiten. Er baute die Schmiede, die wir auch heute noch benutzen. Aber er war faul, und als er starb, nahm er all sein Wissen über Metall und Maschinen mit ins Grab. Was sollte ich auch von diesen Dingen wissen? Ich war ein humanistisch gebildeter Gelehrter, kein Chemiker. Die anderen Menschen, die überlebt hatten, waren ungebildet.

Nur zwei Dinge vollbrachte der Chauffeur - starke Getränke brauen und Tabak anbauen. Als er wieder einmal betrunken war, geschah es, daß er Vesta tötete, obwohl er immer behauptete, sie sei in den See gefallen und ertrunken.

Ach, meine Enkel, laßt euch von mir vor den Medizinmännern warnen. Sie nennen sich Arzte, wobei sie etwas nachahmen, was früher einmal ein gut angesehener Beruf war, aber in Wirklichkeit sind sie Medizinmänner, Handlanger des Teufels, und sie halten es mit dem Aberglauben und fördern die Unwissenheit. Sie sind Betrüger und Lügner. Wir aber sind so ehrlos und verdorben, daß wir ihren Lügen glauben. Auch sie werden sich in solchem Umfang vermehren, wie wir es tun, und sie werden danach trachten, uns zu beherrschen, dabei sind sie nur Lügner und Scharlatane. Seht euch nur den jungen Cross-Eye* an, der sich als Arzt ausgibt und Zauberformeln gegen Übelkeit verkauft oder für eine gute Jagd, der Verheißungen schönen Wetters gegen gutes Fleisch und Felle tauscht, der den Todesstab verschickt und tausend Abscheulichkeiten und Germeinheiten vollbringt. Doch ich sage euch, wenn er vorgibt, all diese Dinge tun zu können, so lügt er. Ich, Professor Smith, Professor James Howard Smith, sage, daß er lügt. Das habe ich ihm ins Gesicht gesagt. Warum hat er mir nicht den Todesstab geschickt? Weil er weiß, daß es bei mir nichts nützt. Aber du, Hare-Lip, du bist so tief in finsteren Aberglauben versunken, daß du ganz sicher sterben würdest, wenn du in der Nacht erwachtest und den Todesstab neben dir fändest. Du würdest aber nicht sterben, weil der Stab geheimnisvolle Kräfte besitzt, sondern weil du ein Wilder bist mit dem getrübten Verstand eines Wilden.

Diese Ärzte müssen vernichtet werden, und all das, was verlorenging, muß wiederentdeckt werden. Deshalb, und das ist mein Ernst, sage ich euch bestimmte Dinge immer wieder, die ihr im Gedächtnis behalten und euren Kindern weitererzählen müßt. Ihr müßt ihnen sagen, daß, wenn Wasser durch Feuer erhitzt wird, ihm eine wunderbare Kraft innewohnt, die man Dampf nennt. Dieser ist stärker als zehntausend Menschen und kann für den Menschen alle Arbeiten verrichten. Es gibt noch viele andere nützliche Dinge. Im Blitz schlummert ein ähnlich starker Diener des Menschen, dessen Sklave er von altersher war und wieder sein wird.

Eine ganz andere Sache ist das Alphabet. Es ist das, was mich in die Lage versetzt, die Bedeutung der feinen Zeichen zu entschlüsseln, wohingegen ihr Jungs nur die grobe Bildschrift kennt. In jener trockenen Höhle auf dem Telegraph Hill, wohin ihr mich oft gehen seht, wenn die Stammesleute unten am Wasser sind, habe ich viele Bücher aufbewahrt. In ihnen liegt eine große Weisheit. Dazu habe ich auch einen Schlüssel für das Alphabet dort aufbewahrt, so daß derjenige, der die Bildschrift kennt, auch die gedruckte Schrift begreift. Eines Tages werden die Menschen wieder lesen; und dann, wenn meine Höhle von einem Unglück verschont bleibt, werden sie erfahren, daß Professor James Howard Smith einst lebte und für sie das Wissen ihrer Vorfahren gerettet hat.

Es gibt da noch eine andere kleine Erfindung, die die Menschen unzweifelhaft wiederersinnen werden. Es wird Schießpulver genannt. Es ist was, was es uns ermöglichte, auf große Entfernungen sicher zu töten. Bestimmte Stoffe, die man im Erdboden findet, ergeben, in den richtigen Proportionen miteinander vermischt, dieses Schießpulver. Welche Stoffe das waren, habe ich vergessen, oder ich habe sie auch nie gekannt. Aber ich wünschte, ich hätte sie gekannt. Dann würde ich Pulver herstellen, und dann würde ich ganz bestimmt Cross-Eyes töten und das Land vom Aberglauben befreien. “

„Wenn ich ein erwachsener Mann bin, werde ich Cross-Eyes alle Ziegen und Felle und alles Fleisch geben, damit er mir beibringt, ein Arzt zu sein“, erklärte Hoo-Hoo. „Und wenn ich alles weiß, dann werden alle staunen und mich beachten. Sie werden vor mir im Schmutz knien, drauf könnt ihr wetten.“

Der Greis nickte trübsinnig und murmelte: „Es ist seltsam, die Rudimente einer solch komplizierten Sprechweise aus dem Munde eines verdreckten kleinen, mit Fell bekleideten Wilden zu hören. Die ganze Welt steht auf dem Kopf, und so ist es immer gewesen seit der Pest.“

„Mich wirst du nicht in Staunen versetzen“, sagte Hare-Lip großmäulig zu dem Möchte-gern-Medizinmann. „Wenn ich dafür bezahlt hätte, daß jemandem der Todesstab geschickt wird und es dann nicht hinhaut, dann würde ich dir den Schädel einschlagen - hast du das kapiert, du, Hoo-Hoo?“

„Ich werde Granser noch so weit kriegen, daß er sich an dieses Schießpulverzeug erinnert“, sagte Edwin ruhig, „und dann hab ich euch alle in der Hand. Du, Hare-Lip, wirst für mich kämpfen und mir Fleisch beschaffen, und du, Hoo-Hoo, kannst den Totenstab für mich verschicken, so daß jeder das Fürchten kriegt. Und wenn ich Hare-Lip dabei erwische, daß er dir den Schädel einschlagen will, Hoo-Hoo, dann werde ich ihn mit genau dem Schießpulver zur Strecke bringen. Granser ist nicht so’n Dummkopf, wie ihr glaubt, und ich werde ihm zuhören, und eines Tages werde ich der Herr über euch alle sein, über die ganze Sippe.“

Der Alte schüttelte traurig den Kopf und sagte: „Die Zeit des Schießpulvers wird kommen. Nichts kann es aufhalten - wieder und wieder die gleiche alte Geschichte. Die Menschheit wird sich vermehren, und die Menschen werden kämpfen. Das Schießpulver wird es ihnen ermöglichen, Millionen von ihresgleichen zu töten, und einzig auf diesem Wege, durch Feuer und Blut, wird eines fernen Tages eine neue Zivilisation erstehen. Und welchen Sinn wird das haben? So, wie die alte Zivilisation verging, wird es auch mit der neuen geschehen. Es mag fünfzigtausend Jahre dauern, sie zu errichten, aber sie wird wieder vergehen. Alle Dinge sind vergänglich. Nur die kosmische Kraft und Materie werden - immer in Veränderung - erhalten bleiben, werden immer agieren und reagieren und die unveränderlichen Grundtypen hervorbringen: den Priester, den Soldaten und den Herrscher. Aus dem Munde der kleinen Kinder kommt die Weisheit aller Menschengeschlechter. Einige werden kämpfen, einige werden regieren, einige werden beten; und der Rest wird sich abplagen und Schlimmes erdulden, während auf ihren blutenden Leichnamen immer wieder und endlos die erstaunliche Schönheit und das unübertreffliche Wunder der Zivilisation erstehen. Es würde keine Rolle spielen, wenn ich die in der Höhle aufbewahrten Bücher vernichtete - ob sie erhalten bleiben oder verderben, es werden doch all die alten Wahrheiten neu entdeckt werden, ihre alten Lügen würden weiterleben und hinterlassen werden. Welchen Sinn hat das.“

Hare-Lip sprang auf die Füße und warf einen schnellen Blick auf die weidenden Ziegen und die Nachmittagssonne, „Mein Gott“, flüsterte er Edwin zu, „der alte Trottel wird jeden Tag langweiliger. Komm, wir ziehen los zum Lager.“

Während die anderen beiden mit Hilfe der Hunde die Ziegen zusammentrieben und sich mit ihnen durch den Wald zum Wildpfad hin auf den Weg machten, blieb Edwin bei dem alten Mann und führte ihn in dieselbe Richtung. Plötzlich machte Edwin halt, und schaute zurück. Hare-Lip und Hoo-Hoo liefen mit den Hunden und Ziegen weiter. Edwin betrachtete eine kleine Gruppe von Wildpferden, die auf dem festen Sand daherkamen. Es waren mindestens zwanzig: junge Fohlen und Einjährige und Stuten, die alle von einem herrlichen Hengst angeführt wurden, der im Schaum der Brandung stand - mit gewölbtem Hals und hellen, wilden Augen - und die salzige Meeresluft einsog.

„Was ist das?“ erkundigte sich Granser.

„Pferde“, war die Antwort. „Das erstemal, daß ich sie hier am Strand sehe. Das liegt daran, daß die Berglöwen immer mehr zunehmen und die Pferde runtertreiben.“

Die niedrig stehende Sonne sandte fächerförmig rote Lichtstrahlen vom Horizont her, auf dem sich Wolken dahinwälzten. Ganz nahe, in der weißen Ödnis des an die Küste peitschenden Wassers, brüllten die Seelöwen ihren urzeitlichen Gesang, schoben sich aus dem Meer auf die schwarzen Felsen heraus und kämpften und liebten sich.

„Komm, Granser“, drängte Edwin.

Der alte Mann und der Junge, unzivilisiert und mit Fellen bekleidet, wandten sich um und gingen auf der Spur der Ziegen den Weg in den Wald entlang.



Загрузка...