Der Rote

Da war er! Dieser jäh ertönende Klang, dessen Dauer Bassett mit Hilfe seiner Uhr bestimmte und der ihm wie die Trompeten eines Erzengels erschien. Stadtmauern, so sann er, könnten wohl angesichts eines solchen unermeßlichen und zwingenden Rufes einstürzen. Zum tausendstenmal mühte er sich vergebens, die Lautqualität dieses mächtigen Dröhnens zu analysieren, das das Land bis hin zu den Festungen der angrenzenden Stämme beherrschte. Die Bergschlucht - Ursprung des Schalles - hallte vom anschwellenden Tosen wider, bis es Erde, Himmel und Luft erfüllte. Mit der üppigen Phantasie eines kranken Mannes verglich er es mit dem gewaltigen Schrei eines Titanen aus der antiken Welt, der in Schmerzen und Zorn befangen war. Immer höher stieg es, so bedrohlich und gebieterisch in seiner Unermeßlichkeit, daß es für Ohren jenseits der engen Grenzen des Sonnensystems gedacht zu sein schien. Auch schien es ein Klageschrei, ein Aufbegehren dagegen zu sein, daß da keine Ohren waren, diese Äußerung zu hören und zu verstehen.

Derart war die Phantasie des kranken Mannes. Immer noch bemühte er sich, den Ton zu analysieren. Volltönend wie ein Donner, weich wie eine goldene Glocke, fein und süß wie der Klang eines straff gespannten Silberfadens - nein; es war weder das eine noch das andere und auch keine Mischung von alldem. Er hatte in seinem Wortschatz keinen Ausdruck, nichts, was dem nahekam, keine Erfahrung, um diese Klangfülle zu beschreiben.

Die Zeit verging. Die Minuten verschmolzen zu Viertelstunden, Viertelstunden zu halben Stunden, und immer noch hielt der Ton an, ewig seinen anfänglichen Klangimpuls variierend, ohne je neue Impulse zu erhalten - schwächer werdend, verhallend und dann ebenso grandios ersterbend, wie er entstanden war. Er ging über in ein Gemisch aus gequältem Murmeln, Wispern und ungeheurem Geflüster. Langsam, Seufzer für Seufzer, kehrte er in irgendeinen gewaltigen Schoß zurück, aus dem er geboren wurde, bis er schließlich schreckliche Laute des Zorns flüsterte und gleichzeitig verführerische Laute des Entzückens, immer noch bemüht, gehört zu werden, um ein kosmisches Geheimnis zu übermitteln, einen Begriff von unerhörtem Wert. Er verkümmerte zu einem Abklang seiner selbst, der sowohl das Bedrohliche als auch die Verheißung verloren hatte. Noch mehrere Minuten, nachdem er ganz verklungen war, pulsierte er im Bewußtsein des kranken Mannes. Als Bassett nichts mehr vernehmen konnte, blickte er auf seine Uhr. Eine Stunde war vergangen, seit sich die Trompetenklänge des Erzengels in ein tonales Nichts verloren hatten.

War das jetzt also sein Verlies? - Bassett sinnierte, dachte an seinen Browning und starrte auf seine knochigen, vom Fieber ausgezehrten Hände. Er hatte ein Bild vor Augen, das ihn lächeln ließ - das Bild vom getreuen Paladin Boland, der versuchte, mit seinem Arm, so schwach wie der seine jetzt, ein Hifthorn an seinen Mund zu führen. Waren Monate oder Jahre vergangen, fragte er sich, seit er jenen geheimnisvollen Ruf an der Küste von Ringmanu zum erstenmal vernommen hatte? Um sich zu schonen, wollte er es nicht errechnen. Die Krankheit währte schon zu lange. „Wenn er die Zeit, die er bei Bewußtsein war, zusammenzählte, kam er auf Monate, viele Monate; aber es war ihm nicht möglich, die langen Zwischenräume, als er im Delirium und in stumpfsinniger Betäubung lag, abzuschätzen. Und wie ging es wohl Kapitän Bateman vom Sklavenschiff Nari, fragte er sich, ob der betrunkene Maat des Kapitäns schon am Delirium tremens gestorben war?

Von diesen fruchtlosen Spekulationen wandte sich Bassett dann träge seinen Betrachtungen über all jene Ereignisse zu, die sich seit dem Tag zugetragen hatten, da er das Tönen zum erstenmal an der Küste von Ringmanu vernommen hatte und auf der Suche nach dessen Ursprung in den Dschungel getaucht war. Sagawa hatte protestiert. Er sah ihn jetzt vor sich, sein sonderbar kleines, äffisches Gesicht, in dem deutlich Angst zu lesen war, seinen von den Sammelkästen gebeugten Rücken, in den Händen Bassetts Schmetterlingsnetz sowie das Gewehr des Naturforschers, wie er im Beche-de-mer-Englisch stammelte: „Junge hat große Angst in Busch. Viele schlechte Männer in Busch.“

Bassett lächelte traurig bei der Erinnerung. Der kleine Kerl von New Hanover hatte auch Angst, blieb ihm aber treu und folgte ihm auf der Suche nach dem wunderbaren Klang ohne Zögern in den Busch. Nein, es war kein vom Feuer ausgehöhlter Baumstamm, der durch die Tiefen des Dschungels Krieg verkündete, wie Bassett zuerst geschlußfolgert hatte. Auch seine nächste Schlußfolgerung hatte sich als Irrtum erwiesen, nämlich, daß die Quelle beziehungsweise Ursache nicht weiter als eine Stunde Fußmarsch entfernt sei und daß er bis zum Nachmittag ganz bequem zurück sein würde, um vom Walfischboot der Nari mitgenommen zu werden.

„Lärm von große Mann nicht gut, immer Teufel-Teufel“, urteilte Sagawa. Und Sagawa hatte recht behalten. War ihm nicht am selben Tag noch der Kopf abgehackt worden?

Bassett erschauderte. Zweifellos war Sagawa auch von diesen bösen Wesen aufgegessen worden, die sich überall im Busch aufhielten. Er sah Sagawa vor sich, wie er ihn zuletzt gesehen hatte, auf dem schmalen Pfad, wo er kurz zuvor enthauptet worden war, des Gewehrs wie auch der Naturforscherausrüstung seines Herrn beraubt. Ja, innerhalb einer Minute hatte sich diese Sache ereignet. Innerhalb einer Minute - Bassett hatte gerade vorher zurückgeblickt und ihn geduldig unter seiner Last dahintrotten sehen. Dann kamen Bassett seine eigenen Sorgen zu Bewußtsein. Er besah seine grausig verheilten Stümpfe des ersten und zweiten Fingers seiner linken Hand und strich mit ihnen dann vorsichtig über die Vertiefung am hinteren Schädel. Wie blitzschnell der langstielige Tomahawk auch geflogen kam, er war doch schnell genug gewesen, seinen Kopf zu ducken und mit seiner hochschnellenden Hand den Schlag teilweise abzuwehren. Zwei Finger und eine böse Wunde am Schädel waren der Preis für sein Leben gewesen. Mit dem einen Lauf seines zehnkalibrigen Schrotgewehrs hatte er den Buschmann, der ihn um Haaresbreite erwischt hätte, niedergestreckt, aus dem anderen feuerte er auf den Buschmann, der sich gerade über Sagawa beugte, und es war ihm eine Genugtuung, zu wissen, daß der größte Teil der Ladung den Mann getroffen hatte, der mit Sagawas Kopf davonsprang. All das hatte sich in Sekundenschnelle ereignet. Nur er selbst, der Buschmann und das, was von Sagawa übriggeblieben war, befanden sich auf dem schmalen, dem Fluchtweg wilder Schweine gleichenden Pfad. Aus dem dunklen Dschungel zu beiden Seiten kam keinerlei Rascheln von irgendeiner Bewegung noch irgendein Lebenszeichen. Er stand unter einem fürchterlichen Schock. Zum erstenmal in seinem Leben hatte er einen Menschen getötet. Ihn überkam Übelkeit, als er an das scheußliche Werk dachte.

Dann hatte die Jagd begonnen. Er lief vor seinen Verfolgern, die zwischen ihm und der Küste waren, den Schweinepfad zurück. Wie viele es waren, konnte er nicht sagen. Es konnte einer sein, aber genausogut hundert, denn er sah niemanden. Er war sich jedoch im klaren darüber, daß einige von ihnen auf die Bäume geklettert waren und durch das Dschungeldach schlichen, aber das Äußerste, was er wahrnahm, war ein gelegentlich vorüberhuschender Schatten. Er hörte kein Schwirren von Bogensaiten, und dennoch zischten winzige Pfeile, von denen er nicht wußte, wo sie abgeschossen wurden, hinter ihm oder trafen auf Baumstämme und fielen dann neben ihm auf die Erde. Sie hatten eine Spitze aus Knochen und Federn am Schaft, diese Federn stammten vom Brustteil des Kolibris und schillerten wie Juwelen.

Einmal hatte er - jetzt, da so viel Zeit vergangen war, konnte er bei der Erinnerung daran fröhlich vor sich hin lächeln - einen Schatten über sich gesehen, der sofort reglos verharrte, als er seinen Blick nach oben wandte. Er konnte nichts erspähen, entschloß sich aber, es darauf ankommen zu lassen, und feuerte aus dem Gewehrlauf Nummer fünf eine kräftige Ladung ab. Mit dem Schrei einer wild gewordenen Katze stürzte der Schatten durch Baumfarne und Orchideen herunter und kam auf den Füßen auf; vor Schmerz und Zorn immer noch schreiend, stieß er seine Zähne in den Knöchelschutz von Bassetts derben Laufstiefeln. Der war nicht müßig, und mit seinem freien Fuß erledigte er, was nötig war, um das Schreien abzuwürgen. Bassett hatte sich seit damals an die Wildheit gewöhnt, daß er bei dem Gedanken daran wieder vor sich hin lächelte.

Was für eine Nacht hatte er dann durchgemacht! Es war kein Wunder, daß er so viele schlimme Fieberattacken hinter sich hatte, dachte er in der Erinnerung an jene qualvolle schlaflose Nacht, als das Puckern der Wunden nichtig war im Vergleich zu den Myriaden von Moskitostichen. Es hatte kein Entkommen gegeben; ein Feuer anzuzünden hatte er nicht gewagt. Sein Körper war buchstäblich mit Gift vollgepumpt worden, und als er bei Tagesanbruch mit fast zugequollenen Augen blind herumstolperte, hätte es ihm kaum noch etwas ausgemacht, wenn man seinen Kopf abgehackt und sich sein Leichnam dem Sa-gawas auf dem Weg ins Feuer zugesellt hätte. Vierundzwanzig Stunden hatten aus ihm ein Wrack gemacht - sowohl psychisch als auch physisch. Er war gar nicht wieder ganz zu sich gekommen, so irre hatte ihn die enorme Giftmenge gemacht, der er ausgesetzt gewesen war. Mehrere Male feuerte er mit Erfolg in die Schatten, die ihm nachspürten. Stechende Eintagsfliegen und Mücken verschlimmerten seine Qualen, während seine blutigen Wunden Scharen von lästigen Fliegen anzogen, die sich träge auf sein Fleisch setzten und abgeschüttelt und zerquetscht werden mußten.

Einmal hörte er an jenem Tag wieder den wunderbaren Klang, der weiter weg zu sein schien, sich aber beherrschend über die näher gelegenen Kriegstrommeln im Busch erhob. Und da hatte er seinen Fehler begangen. In der Annahme, daß er schon an der Klangquelle vorbei war und daß sie also zwischen ihm und der Küste von Ringmanu liegen mußte, hatte er sich zurückgearbeitet, scheinbar auf sie zu, in Wirklichkeit jedoch drang er immer tiefer in das geheimnisvolle Herz der unerforschten Insel. In der Nacht war er schließlich, nachdem er zwischen den gewundenen Wurzeln des Banianbaumes umhergekrochen war, vor Erschöpfung eingeschlafen, wobei die Moskitos ungestört ihre Freude an seinem Körper hatten.

Es folgten Tage und Nächte, die in seiner Erinnerung so vage wie Alpträume waren. Klar in seinem Gedächtnis war aber das Bild, wie er sich plötzlich mitten in einem Buschdorf wiederfand und die alten Männer und Kinder in den Dschungel flüchten sah. Alle außer einem waren geflüchtet. Ganz dicht neben oder über ihm hatte ihn das Wimmern wie von einem Schmerz und Angst leidenden Tier aufgeschreckt. Als er hochschaute, sah er sie - ein Mädchen oder wohl eher eine junge Frau, in der prallen Sonne an einem Arm aufgehängt. Vielleicht hatte sie schon seit Tagen so gehangen. Ihre geschwollene heraushängende Zunge deutete darauf hin. Immer noch am Leben, starrte sie ihn mit Augen des Schreckens an. Alle Hilfe kam zu spät, befand er, als er die geschwollenen Beine sah, was vermuten ließ, daß ihre Gelenke zerschmettert und die großen Knochen gebrochen worden waren. Er beschloß, sie zu erschießen, und da hörte seine Erinnerung auf. Er wußte nicht mehr, ob er geschossen hatte, genausowenig konnte er sich erinnern, wie er in dieses Dorf gekommen war und wie es ihm gelungen war, sich wieder davonzumachen.

Viele zusammenhanglose Bilder tauchten auf und verschwanden wieder aus Bassetts Sinn, als er auf jene Zeit der schrecklichen Wanderungen zurückschaute. Er sah vor sich, wie er in ein anderes Dorf mit einem Dutzend Häusern eindrang und mit seinem Gewehr alle Bewohner vor sich her trieb bis auf einen alten Mann, der zu schwach war zu fliehen, der ihn anspuckte, jammerte und knurrte, während er einen Erdofen freischaufelte und aus den heißen Steinen ein gebratenes Schwein hervorzerrte, das durch die Garnierung aus grünen Blättern seinen köstlichen Duft verströmte. An diesem Ort hatte Bassett das geile Vergnügen an der Wildheit gepackt. Nachdem er geschmaust hatte und mit dem hinteren Viertel des Schweins in der Hand gehen wollte, legte er mit seinem Brennglas aus Übermut Feuer an das Grasdach eines Hauses.

Aber am tiefsten hatte sich der dumpf-feuchte Dschungel in Bassetts Seele eingebrannt. Er stank regelrecht nach Verderbtheit, und ständig herrschte Zwielicht in diesem Dschungel. Selten drang ein Sonnenstrahl durch das Dach aus Flechtwerk hundert Fuß über ihm. Unter diesem Dach lastete eine dicke Luftschicht, in der eine Vegetation monströser, parasitärer und entarteter Lebensformen wucherte, die im- Tode wurzelte und vom Tode lebte. Und durch diese Welt trieb er, stets und ständig von den vorüberhuschenden Schatten der Menschenfresser verfolgt, die selber Geister des Bösen waren und nicht wagten, ihm im offenen Kampf gegenüberzutreten, die aber wußten, daß sie früher oder später von ihm essen würden. Bassett erinnerte sich, daß er sich in lichten Momenten mit einem verwundeten Stier verglich, der von Präriekojoten verfolgt wurde, die zu feige waren, mit ihm um sein Fleisch offen zu kämpfen, jedoch die Gewißheit hatten, daß sein Ende unvermeidlich war und daß sie sich dann an ihm vollfressen würden. Wie die Hörner und stampfenden Hufe des Stiers die Kojoten fernhielten, so hielt sein Gewehr diese Bewohner der Salomoninseln fern, diese zwielichtigen Schatten von Buschmenschen der Insel Guadalcanal.

Eines Tages hatte er das Weideland erreicht. Wie vom Schwert Gottes in der Hand Gottes abgetrennt, hörte der Urwald ganz plötzlich auf. Der Urwaldrand erstreckte sich steil und schwarz wie der Wald selbst über hundert Fuß. Und gleich an seinem Rand wuchs Gras - süßes, weiches, zartes Weidegras, das jeden Viehzüchter und dessen Vieh begeistert hätte; dieses samtige frische Grün erstreckte sich über endlose Kilometer bis hin zum Rückgrat der großen Insel, den sich hoch auftürmenden Bergen, die durch ewig zurückliegende Erderschütterungen dort hingeschleudert und vom ätzenden Tropenregen zwar angefressen und zerfurcht, aber noch nicht ganz vernichtet waren. Das Gras! Er kroch ein Stück ins Weideland hinein, vergrub sein Gesicht im Gras, roch es und brach in einem Anfall unfreiwilligen Weinens zusammen.

Und während er weinte, ertönte der wunderbare Klang -wenn mit dem Wort „ertönen“, so hatte er seither oft gedacht, ein so gewaltiger Klang angemessen beschrieben werden konnte. Es war ein so süßer Klang, wie er ihn nie zuvor gehört hatte. Er war so unermeßlich, von so mächtiger Resonanz, daß er aus der metallenen Kehle eines Ungeheuers hätte stammen können. Und dennoch war ihm, als gelte der Ruf ihm in dieser endlos weiten Savanne, und er war eine Wohltat für seine leidende und vom Schmerz gemarterte Seele.

Er dachte daran, wie er dort im Gras gelegen hatte, mit feuchten Wangen, obwohl er nicht mehr weinte, sondern dem Klang lauschte und sich darüber wunderte, daß er ihn an der Küste von Ringmanu hören konnte. Eine Anomalie von Luftdruckzonen und Luftströmungen hatte es möglich gemacht, so räsonierte er, daß der Klang so weit getragen wurde. Solche Bedingungen würde es in tausend und aber tausend Tagen nicht wieder geben; der eine Tag, an dem sie eingetreten waren, war der Tag, an dem er für ein paar Sammelstunden von der Nari gekommen war. Er war speziell auf der Suche nach dem berühmten Urwaldschmetterling mit einer Flügelbreite von einem Fuß und, da gänzlich ohne Farbe, so samtdunkel wie ein Laubdach. Er lebte in den luftigen Höhen der Bäume und fand im Laubdach seine Zuflucht, von wo er einzig mit ein paar Schüssen heruntergeholt werden konnte. Zu diesem Zweck hatte Sagawa das zwanzigkalibrige Gewehr geschleppt.

Zwei Tage und zwei Nächte war er quer durch den Savannengürtel gekrochen. Er hatte viel gelitten, aber die Verfolgung hatte am Urwaldrand ein Ende. Er wäre verdurstet, hätte ihn nicht ein schweres Gewitter am zweiten Tag belebt.

Und dann war Baiatta gekommen. In dem ersten Schatten, den er fand, dort, wo die Savanne dem dichten Bergdschungel wich, war er, zum Sterben verurteilt, zusammengebrochen. Zuerst hatte sie angesichts seiner Hilflosigkeit vor Freude gequiekt, und dann war sie drauf und dran gewesen, ihm seinen Geist mit einem Knüppel auszuprügeln. Vielleicht hatte sie seine völlige Hilflosigkeit gerührt, und vielleicht war es ihre menschliche Neugier, die sie davon abbrachte. Wie dem auch sei, er öffnete seine Augen angesichts des drohenden Schlages und sah, wie sie ihn ausgiebig musterte. Besonders seine blauen Augen und seine weiße Haut hatten es ihr angetan. Gelassen setzte sie sich auf ihren Hintern und spuckte ihm auf den Arm, mit den Fingerspitzen schrubbte sie die mehrere Tage und Nächte alte Schmutzschicht aus Kot und Urwalddreck ab, die das Weiß seiner Haut besudelt hatte.

Er hatte an ihr alles bemerkenswert gefunden, nichts an ihr entsprach den Konventionen. Er lächelte schwach bei dieser Erinnerung, denn ihre Kleidung war von der unschuldigen Art wie die Evas vor dem Abenteuer mit dem Feigenblatt. Gedrungen und zugleich mager, mit asymmetrischen Gliedern und Muskelsehnen wie Tauenden, mit der schon von Kindheit an festgebackenen Dreckkruste, die, abgesehen von gelegentlichen Regenschauern, kein Wasser abbekommen hatte, war sie ein so häßlicher Prototyp von Frau, wie ihn sein Wissenschaftlerauge noch nie erblickt hatte. Ihre Brüste kündeten sowohl von ihrer Reife als auch ihrer Jugend. Und wenn durch nichts anderes, so wäre ihr Geschlecht doch ausreichend gekennzeichnet gewesen durch den einzigen Schmuckgegenstand, den sie trug, nämlich einen Schweineschwanz, der durch ein Loch im linken Ohrläppchen gezogen war. Dieser Schweineschwanz war erst vor so kurzer Zeit abgetrennt worden, daß aus der Trennstelle noch Blut sickerte und ihr wie Kerzenwachs auf die Schulter tropfte. Und erst das Gesicht: verzerrt und verhutzelt, mit äffischen Zügen, durchbrochen von mongolischen himmelwärts gerichteten Nasenlöchern und einem Mund, dessen gewaltige Oberlippe herunterhing und der plötzlich im fliehenden Kinn verschwand, mit spähenden, mürrisch blickenden Augen, die wie die Augen von Affen im Käfig blinzelten. Auch das Wasser, das sie ihm in einem Blatt brachte, und der alte steinharte Klumpen Schweinebraten konnten ihre groteske Häßlichkeit nicht mildern. Während er aß, schloß er seine Augen, um sie nicht sehen zu müssen, wobei sie seine Lider immer wieder auseinanderzog, um auf seine blauen Augen zu starren. Dann kam der Klang. Näher, viel näher mußte er jetzt sein, aber er wußte, daß er trotz des schlimmen Weges, den er hinter sich hatte, noch Stunden von ihm entfernt war. Die Wirkung auf das Mädchen war bestürzend. Sie krümmte sich zusammen, mit abgewandtem Gesicht, wehklagend und zitternd. Nachdem der Klang seine volle Zeit von einer Stunde gewährt hatte, schloß Bassett die Augen und schlief ein, Baiatta verjagte ihm die Fliegen.

Als er wach wurde, war es Nacht, und sie war fort. Aber er fühlte neue Kraft, dann schloß er seine Augen wieder und schlief ununterbrochen bis Sonnenaufgang. Er war zu jener Zeit viel zu sehr mit Moskitogift vollgepumpt, als daß er noch an einer Entzündung hätte leiden können. Kurze Zeit später war Baiatta zurückgekommen und hatte ein halbes Dutzend Frauen mitgebracht, die bei all ihrer Häßlichkeit nicht ganz so unansehnlich waren wie Baiatta. Diese machte durch Gesten deutlich, daß sie ihn als ihren Fund, als ihr Eigentum betrachtete, und der Stolz, mit dem sie mit ihm protzte, hätte etwas Lächerliches gehabt, wäre seine Lage nicht so verzweifelt gewesen.

Als er dann nach einem Marsch, der ihm schrecklich lang erschien, im Schatten des Brotbaumes vor dem Teufel-TeufelHaus zusammengebrochen war, hatte sie sehr lebhaft Vorstellungen darüber geäußert, wie sie ihn wieder in ihren Besitz bringen könnte. Ngurn, den Bassett später als den TeufelTeufel-Doktor, Priester oder Medizinmann des Dorfes kennenlernen würde, hatte seinen Kopf haben wollen. Einige der grinsenden und schwatzenden Affenmänner, die alle nur spärlich bekleidet waren und das gleiche tierische Aussehen wie Baiatta hatten, hatten seinen Körper haben wollen, um ihn in ihren Öfen zu rösten. Damals hatte er ihre Sprache noch nicht verstanden, wenn mit dem Wort Sprache die plumpen Laute, mit deren Hilfe sie ihre Gedanken ausdrückten, benannt werden konnten. Aber den Gegenstand ihrer Debatten hatte Bassett genau verstanden, vor allem als die Männer sein Fleisch drückten, knufften und befühlten, gerade so, als wäre er ein Stück Ware beim Fleischer.

Baiatta war schon am Verlieren, als der Unfall geschah. Einem der Männer, die Bassetts Gewehr prüften, war es gelungen, es zu spannen und abzufeuern. Der Rückschlag des Gewehrkolbens in die Magengrube des betreffenden Mannes war nicht das schlimmste, aber der Schuß hatte in einer Entfernung von über einem Yard den Kopf eines der Streitenden zerschmettert.

Selbst Baiatta floh mit den anderen. Bevor sie zurückkamen, hatte Bassett, dessen Sinne sich angesichts der bevorstehenden Fieberattacke schon wieder zu trüben begannen, das Gewehr in seine Gewalt gebracht. Und obwohl seine Zähne klapperten und seine trüben Augen kaum noch sehen konnten, versuchte er, das schwindende Bewußtsein so lange zu halten, bis er die Buschmänner mit den einfachen Zaubermitteln Kompaß, Uhr, Brennglas und Streichhölzer eingeschüchtert hatte. Zum Schluß hatte er mit gebührender Feierlichkeit und Würde ein Ferkel erschossen, worauf er selbst in völlige Bewußtlosigkeit fiel.

Bassett bewegte seine Armmuskeln, um zu prüfen, welche Kraft in solcher Schwäche noch stecken konnte, und er richtete sich langsam und torkelnd auf. Es war erschreckend, wie ausgezehrt er war; aber in den verschiedenen Phasen der Genesung während der monatelangen Krankheit hatte er wenigstens etwas Kraft wiedererlangt. Er fürchtete einen erneuten Rückfall, wie er ihn schon mehrmals erlebt hatte. Ohne Tabletten, ja sogar ohne Chinin hatte er es doch so weit gebracht, daß er das besonders üble und bösartige kombinierte Auftreten von Malaria und Schwarzfieber überstanden hatte. Aber würde er es weiterhin überstehen? Diese Frage bewegte ihn ständig. Denn als wahrer Wissenschaftler würde er nicht sterben können, ehe er das Geheimnis des Klanges gelüftet hatte.

Auf einen Stock gestützt, erstieg er schwankend die wenigen Stufen zum Teufel-Teufel-Haus, in dem der Tod und Ngurn ihre düstere Herrschaft ausübten. Bassetts Eindruck war, daß das Teufel-Teufel-Haus fast so unverschämt dunkel war und ebenso übel stank wie der Dschungel. Aber im Haus drin fand er gewöhnlich seinen Freund, und Ngurn war stets zum Geschichtenerzählen oder zu einem Gespräch aufgelegt, während er in der Asche des Todes saß und in dem ruhigen Rauch geschickt die Menschenköpfe drehte, die von den Dachsparren herunterhingen. In den Monaten, in denen Bassett bei Bewußtsein war, hatte er die psychologische Einfalt und die linguistischen Schwierigkeiten der Sprache des Stammes von Ngurn und Baiatta sowie Gngngn erfaßt - letzterer war der wirrköpfige junge Häuptling, der von Ngurn beherrscht wurde und der dem heimlichen Gerede zufolge Ngurns Sohn sein sollte.

„Wird der Rote heute sprechen?“ fragte Bassett, der sich im Lauf der Zeit so an die schreckliche Beschäftigung des Alten gewöhnt hatte, daß er den Fortgang des Räucherns mit Interesse verfolgte. Mit fachmännischem Auge prüfte Ngurn den Kopf, den er gerade in Arbeit hatte.

„Es wird noch zehn Tage dauern, ehe ich sagen kann fertig,“ meinte er. „Niemals hat ein anderer Köpfe wie diese hier präpariert.“

Bassett lächelte im stillen über den Widerwillen des alten Burschen, mit ihm über das Tabu zu sprechen. So war es immer. Weder Ngurn noch einem anderen aus dem unheimlichen Stamm war jemals - und sei es durch Zufall - der geringste Hinweis auf die Natur des Roten über die Lippen gekommen. Der Rote mußte physischer Natur sein, wenn er diesen wunderbaren Klang von sich geben konnte, aber obwohl er der „Rote“ genannt wurde, konnte Bassett nicht sicher sein, daß sich rot auf seine Farbe bezog. Rot waren allerdings seine Taten und Kräfte, wovon er eine vage Vorstellung gewonnen hatte. Der Rote hatte - so Ngurn - nicht nur gewaltigere Kräfte als die Götter der Nachbarstämme - immer gierig nach dem Blut von Menschenopfern - , sondern die Götter der Nachbarn selbst wurden vor ihm geopfert und gefoltert. Er war der Gott von einem Dutzend verbündeter Dörfer wie diesem hier, welches das zentrale Dorf des Bundes war und von dem die Befehle ausgingen. Kraft des Roten waren viele fremde Dörfer verwüstet und sogar ausgelöscht worden, die Gefangenen dem Roten geopfert. Das galt heute und reichte weit in die Geschichte zurück, die durch das gesprochene Wort von Generation zu Generation getragen wurde. Als er, Ngurn, ein junger Mann gewesen war, hatten die Stämme jenseits der Savanne einen kriegerischen Überfall unternommen. Im Gegenangriff hatten Ngurn und sein kämpfendes Volk viele Gefangene gemacht. Allein fünf mal zwanzig Kindern wurde vor dem Roten das Blut ausgepreßt und noch viel, viel mehr Männern und Frauen.

Gewittermacher - das war ein anderer Name, den Ngurn der geheimnisvollen Gottheit gab. Manchmal wurde er Lauter Rufer, Gottes Stimme, Vogelkehle, Der mit der Kehle so süß wie die Kehle des Honigvogels, Sonnensänger oder Sternengeborener genannt.

Warum der Sternengeborene? Vergeblich versuchte Bas-sett, Ngurn zu befragen. Nach diesem alten Teufel-Teufel-Doktor war der Rote immer schon an derselben Stelle gewesen, wo er jetzt war, in Ewigkeit singend und den Menschen seinen Willen mit Donnern und Tosen auferlegend. Aber Ngurns Vater, der in faulende Grasmatten eingewickelt war und immer noch über ihren Köpfen zwischen den rauchigen Sparren des TeufelTeufel-Hauses hing, hatte anderes behauptet. Jener verblichene Weise hatte geglaubt, daß der Rote aus der Sternennacht hervorgegangen sein mußte, warum sonst - so lautete sein Argument - hätten die Alten und Vergessenen den Namen „Ster-nengeborener“ weitergegeben? Bassett mußte zugeben, daß dieses Argument etwas Zwingendes hatte. Aber Ngurn beteuerte, daß in all den vielen Jahren seines langen Lebens, in denen er viele Sternennächte betrachtet habe, niemals ein Stern in der Savanne oder in den Dschungeltiefen zu finden war - dabei habe er nach ihnen gesucht. Wohl habe er Sternschnuppen gesehen (dies als Erwiderung auf Bassetts Einwand); aber genauso habe er das Phosphoreszieren sich entwickelnder Pilze und verfaulenden Fleisches sowie Feuerfliegen in dunklen Nächten gesehen, auch die Flammen von Holzfeuern und brennenden Candlenüssen; aber was waren Feuer, Flammen und Glut, wenn sie nicht mehr brannten? Antwort: Erinnerungen, nichts als Erinnerungen an Dinge, die aufgehört hatten zu sein, wie die Erinnerung an vollzogene Paarungen, an vergessene Feste, an Sehnsüchte, die die Geister von Sehnsüchten waren, flak-kernd, lodernd, brennend, und die doch nicht ihre Erfüllung gefunden hatten. Wo war der Appetit von gestern? Das geröstete Fleisch des wilden Schweines, das der Bogen des Jägers nicht niederzustrecken vermocht hatte? Das Mädchen, unvermählt und tot, noch bevor der Jüngling es erblickte? Eine Erinnerung war kein Stern, lautete Ngurns Argument. Wie konnte eine Erinnerung ein Stern sein? Und außerdem fand er nach seinem langen Leben den nächtlichen Sternenhimmel immer noch unverändert. Niemals hatte er einen einzigen Stern an der gewohnten Stelle vermißt. Und Sterne seien ja auch Feuer, und der Rote sei kein Feuer - diese unfreiwillige Preisgabe sagte Bassett jedoch nichts.

„Wird der Rote morgen sprechen?“ forschte er wieder. Ngurn zuckte mit den Schultern, als meinte er, wer wisse das schon.

„Und am Tag darauf? Und danach?“ beharrte Bassett.

„Ich möchte zu gern deinen Kopf präparieren.“ Ngurn wechselte das Thema. „Er ist ganz anders als die anderen. Kein Teufel-Teufel hat einen solchen Kopf. Ich würde ihn sehr gut präparieren. Es würde Monate dauern. Die Monde würden kommen, und die Monde würden gehen, der Rauch würde sehr ruhig sein, und ich würde das Material für den Rauch selber sammeln. Die Haut würde nicht schrumpfen. Sie würde so glatt sein, wie sie jetzt ist.“ Er stand auf und nahm von den dunklen Dachsparren, die vom Räuchern zahlloser Köpfe rußig geworden waren, wo die Helle des Tages nie hindrang, ein in Matten gewickeltes Paket und begann es aufzumachen.

„Das ist ein Kopf wie deiner“, sagte er, „aber er ist schlecht geräuchert.“

Bassett hatte bei der Andeutung, daß es der Kopf eines Weißen war, die Ohren gespitzt; er war seit längerem zu dem Schluß gekommen, daß diese Urwaldbewohner mitten im Zentrum der großen Insel noch nie mit dem weißen Mann in Berührung gekommen waren. Sicher war, daß sie das im westlichen Südpazifik nahezu universelle Beche-de-mer-Englisch nicht kannten. Auch kannten sie keinen Tabak und kein Schießpulver. Er vermutete, daß sie ihre wenigen wertvollen aus Bandeisen gefertigten Messer sowie ihre wenigen, aber noch wertvolleren Tomahawks aus billig erworbenen Beilen im Krieg von den Buschmännern jenseits des Weidelandes erobert hatten und diese wiederum von den Salzwassermännern, die die Korallenstrände bewohnten und gelegentlich Kontakt mit Weißen hatten.

„Die Leute da drüben wissen nicht, wie man Köpfe räuchert“, erklärte der alte Ngurn, während er aus der schmutzigen Matte den Kopf eines weißen Mannes hervorholte und ihn in Bassetts Hände legte.

Er war ohne Frage sehr alt; weiß war er auch, wie das blonde Haar bezeugte. Er hätte schwören können, daß er einstmals einem Engländer gehört hatte, und zwar einem Engländer aus sehr alter Zeit, worauf die schweren goldenen Ringe, die noch durch die verdorrten Ohrläppchen gezogen waren, hindeuteten.

„Nun, dein Kopf.“, begann der alte Teufel-Teufel-Doktor mit seinem Lieblingsthema.

„Ich will dir etwas sagen“, Bassett hatte eine neue Idee und unterbrach ihn. „Wenn ich sterbe, überlasse ich dir meinen Kopf zum Räuchern, aber erst führst du mich zu. dem Roten.“

„Ich bekomme deinen Kopf sowieso, wenn du tot bist.“ Ngurn lehnte den Vorschlag ab. Er fügte mit der brutalen Offenheit der Wilden hinzu: „Außerdem hast du sowieso nicht mehr lange zu leben. Du bist schon fast ein toter Mann. Du wirst immer schwächer. In wenigen Monaten habe ich dich hier und drehe deinen Kopf im Rauch. Es ist angenehm, an den langen Nachmittagen den Kopf von jemandem zu drehen, den man so gut kannte wie ich dich. Und ich werde mit dir sprechen und dir die vielen Geheimnisse anvertrauen, die du erfahren möchtest, was dann keine Rolle mehr spielt, denn du wirst ja tot sein.“

„Ngurn“, drohte Bassett in plötzlichem Zorn, „du kennst den Kleinen Gewittermacher in dem Eisen, das mir gehört.“ (Damit bezog er sich auf sein allmächtiges und ehrfurchtgebietendes Gewehr.) „Ich kann dich jederzeit töten, und dann bekommst du meinen Kopf nicht.“

„Ist auch egal, dann wird Gngngn oder jemand anders aus meinem Volk ihn kriegen“, versicherte Ngurn ihm gelassen. „Und derjenige wird dich ebenso unaufhörlich hier im Rauch des Teufel-Teufel-Hauses drehen. Je eher du mich mit deinem Kleinen Gewittermacher tötest, desto eher wird sich dein Kopf im Rauch drehen.“

Bassett wußte, daß er sich geschlagen geben mußte.

Was war der Rote - das fragte sich Bassett tausendmal im Verlauf der folgenden Woche, während er wieder Kraft zu sammeln schien. Was war der Ursprung des wundervollen Klanges? Was war dieser Sonnensänger, dieser Ster-nengeborene, diese geheimnisvolle Gottheit, die ebenso bestialisch war wie die schwarzen affenähnlichen Menschentiere mit ihrem Kräuselhaar, die ihn verehrten. Was war er, dessen silberhelles und zugleich stierisches Singen und Gebieten er aus der Tabuentfernung schon so lange vernahm?

Ngurn hatte er nicht bestechen können, da sein Kopf nach seinem Tode sowieso geräuchert würde. Gngngn war zu schwachsinnig und als Häuptling zu sehr unter der Fuchtel von Ngurn, als daß er in Frage käme. Blieb also Balatta, die, seit sie ihn gefunden und seine blauen Augen aufgedrückt hatte, so daß er ihre groteske weibliche Häßlichkeit wahrnehmen mußte, seine Verehrerin geblieben war. Sie war, wie Frauen nun einmal waren, und so hatte er lange schon gewußt, daß der Weg, sie zum Verrat an ihrem Stamm zu bewegen, durch ihr Frauenherz führen würde.

Bassett war ein sehr wählerischer Mann. Er hatte sich nie von dem ersten Grauen erholt, das Balattas weibliche Schrecklichkeit in ihm erregt hatte. In England hatte weiblicher Charme selbst im günstigsten Falle kaum eine stärkere Wirkung auf ihn. Jetzt aber, entschlossen, wie nur ein Mann sein kann, der fähig ist, sich für die Wissenschaft zu opfern, ging er daran, das Feine und Zarte seiner Natur zu vergewaltigen, indem er eine Liebesbeziehung zu der ekelerregenden Buschfrau anknüpfte.

Es schauderte ihn, er wandte sein widerwilliges Gesicht ab und schluckte, als er den Arm um ihre schmutzverkrustete Schulter legte und spürte, wie ihr ranzig-öliges Kräuselhaar seinen Hals und sein Kinn berührte. Aber er schrie fast, als sie schon beim erstenmal unter seiner Zärtlichkeit gefügig wurde und Grimassen schnitt, Kauderwelsch redete und kleine schweinsartige Gluckslaute der Wonne hervorbrachte. Das war zuviel. Der nächste Schritt in dieser seltsamen Werbung um eine Frau bestand darin, daß er sie zum Fluß schleppte und sie kräftig abschrubbte.

Von da an widmete er sich ihr wie ein echter Liebhaber so oft und so lange, wie sein Wille seinen Widerwillen überstimmen konnte. Aber Heirat, die sie eingedenk der Stammessitten eifrig vorschlug, lehnte er ab. Glücklicherweise spielten Taburegeln in dem Stamm eine große Rolle. So durfte Ngurn niemals Knochen, Fleisch oder Haut vom Krokodil berühren. Das war bei seiner Geburt verfügt worden. Gngngn war es auf ewig untersagt, mit Frauen in Berührung zu kommen. Eine solche Verunreinigung konnte, sollte sie doch einmal geschehen, nur durch den Tod der Frau gesühnt werden, die sich eines solchen Verstoßes schuldig gemacht hatte. Es war einmal seit Bassetts Ankunft vorgekommen, daß ein neunjähriges Mädchen beim Spielen rannte und stolperte und schließlich gegen den geweihten Häuptling fiel. Das Mädchen war nie wieder gesehen worden. Flüsternd erzählte Baiatta ihm, daß sie seit drei Tagen und Nächten vor dem Roten im Sterben begriffen war. Für Baiatta war die Brotfrucht tabu. Darüber war Bassett froh, denn es hätte auch Wasser sein können.

Für sich selbst dachte er sich ein ganz besonderes Tabu aus. Er könne nur heiraten, wenn das Kreuz des Südens seine höchste Stelle am Himmel erreicht habe. In Kenntnis der Astronomie erhoffte er auf diese Weise einen Aufschub von fast neun Monaten; und er war überzeugt, daß er im Verlauf dieser Zeit entweder tot oder mit allen Informationen über den Roten und die Herkunft seiner wunderbaren Stimme zur Küste entkommen sein würde. Zuerst hatte er sich den Roten als kolossale Statue vorgestellt wie die Memnonstatue, die unter einer bestimmten Sonnenlichteinstrahlung und Temperatur zu klingen begann. Aber als nach einem kriegerischen Überfall ein Trupp Gefangener bei Nacht, und zwar bei Regen geopfert wurde, die Sonne also keine Rolle spielen konnte und der Klang des Roten noch stärker als gewöhnlich erschallt war, hatte Bassett diese Hypothese fallenlassen.

In der Gesellschaft von Baiatta, manchmal gemeinsam mit Männern und Gruppen von Frauen, war es ihm erlaubt, drei Viertel des Dschungels zu durchstreifen. Aber das letzte Viertel, in dem sich der Rote befand, war tabu. Er verkehrte häufiger mit Baiatta, sorgte auch dafür, daß sie sich häufiger abschrubbte. Das Ewigweibliche war auch ihr eigen, und im Namen der Liebe war sie jedes Verrats fähig. Und obwohl ihr

Anblick zum Erbrechen reizte und obwohl sie ihn in Alpträumen verfolgte, erkannte er die kosmische Wahrheit des Geschlechtlichen, die sie beseelte und sie das eigene Leben geringer schätzen ließ als das Glück des Geliebten, mit dem sie sich zu vereinigen hoffte. Juliet oder Baiatta? Wo war da der Unterschied? Das sanfte, zarte Produkt der Überzivilisiertheit oder dessen tierischer Prototyp hunderttausend Jahre zuvor - es gab keinen Unterschied.



Bassett war in erster Linie Wissenschaftler, Humanist erst an zweiter Stelle. Im Herzen des Dschungels von Gua-dalcanal testete er eine Liebesaffäre, wie er eine chemische Reaktion im Labor testen würde. Er verstärkte seine vorgetäuschte Begeisterung für die Buschfrau und gleichzeitig seinen Willen, von ihr zu dem Roten geführt zu werden, um ihm von Angesicht zu Angesicht gegenüberzutreten. Es war die alte Geschichte, stellte er fest, daß die Frau diejenige war, die zahlen mußte, und der Zeitpunkt dazu war gekommen, als sie eines Tages beide den noch nicht klassifizierten und benannten kleinen schwarzen Fisch fingen, einen Zoll lang, halb Aal, halb geschuppt, mit lachsgoldenem Rogen, rund von Gestalt, der im Süßwasser lebte und der roh und frisch oder bereits verwesend als Delikatesse geschätzt wurde. Baiatta wälzte sich bäuchlings auf dem verfaulenden Urwaldboden, umklammerte seine Gelenke, küßte seine Füße und gab wabernde und schmatzende Geräusche von sich, daß es ihm heiß und kalt den Rücken runterlief. Sie flehte ihn an, sie lieber zu töten, als diesen äußersten Liebesbeweis zu fordern. Sie erzählte ihm, welche Strafe für das Brechen des Tabus drohte - eine Woche Folter bei lebendigem Leibe, deren Einzelheiten von ihrem Gesicht in der Tiefe des Schlammes abzulesen waren. Er erkannte, daß er noch ein blutiger Neuling war, was das Wissen um die Greuel betraf, die Menschen anderen Menschen anzutun fähig waren.

Dennoch bestand Bassett darauf, seinen männlichen Willen zu Lasten der Frau durchzusetzen, um das Geheimnis des Gesangs des Roten entschlüsseln zu können, auch wenn Baiatta langsam, grauenvoll und entsetzlich schreiend würde sterben müssen. Baiatta war ganz und gar Frau und fügte sich. Sie führte ihn in das verbotene Gebiet. Ein schroffer Berg, der sich vom Norden hervorschob und sich mit einem ähnlichen Eindringling vom Süden her traf, zwängte den Fluß, in dem sie gefischt hatten, in eine tiefe dunkle Schlucht. Nach einer Meile Wegs an der Schlucht entlang verlief der Pfad ganz steil aufwärts, bis sie einen Sattel von rohem Kalkstein überquerten, der das Interesse seines Geologenauges erregte. Sie kletterten weiter, wobei er aus reiner physischer Schwäche oft pausierte, und erklommen waldige Höhen, bis sie auf einem kahlen Tafelland herauskamen, dessen Zusammensetzung Bassett unschwer als schwarzen vulkanischen Sand identifizierte, ein Taschenmagnet würde eine ganze Ladung dieser scharfkantigen Körner, auf denen sie wanderten, aufnehmen.

Baiatta an der Hand und sie nach oben führend, kam er schließlich an - genau in der Mitte des Plateaus war ein gewaltiger Schacht, offensichtlich ein künstlicher. Alte Geschichte, Ratgeber für das Befahren der Südsee, Unmengen von Daten und Anmerkungen rasten wild durcheinander in seinem Kopf herum. Mendana hatte die Inseln entdeckt und sie Salomoninseln genannt, in der Annahme, die legendären Minen jenes Herrschers gefunden zu haben. Man hatte über die kindliche Leichtgläubigkeit des alten Seefahrers gelacht, und doch stand er, Bassett, nun hier, am Rande einer Ausgrabung in der Art der Diamantenminen in Südafrika.

Aber das, worauf er jetzt schaute, war kein Diamant. Eher eine Perle; aber so groß, wie die Perlen der ganzen Welt und aller Zeiten zusammengeschmolzen nicht sein würden, und von einer Farbe, wie man sie an einer Perle oder anderswo noch nicht einmal im Traum gesehen hatte - es war die Farbe des Roten. Denn daß es der Rote war, wußte Bassett vom ersten Augenblick an. Von vollkommener Kugelgestalt, genau zweihundert Fuß im Durchmesser, der obere Rand hundert Fuß unterhalb des Randes der Grube. Ihm erschien die Farbe wie Lack. Er hielt es tatsächlich für eine Art Lackfarbe, von Menschenhand aufgetragen, aber viel zu wundervoll ausgeklügelt, als daß sie von dem Buschvolk hätte hergestellt sein können. Leuchtender als leuchtendes Kirschrot, war sie von einer Farb-fülle, als sei ein Rot auf das andere aufgetragen. Es glühte und schillerte im Sonnenlicht, als ob eine rote Schicht um die andere durchschien.

Vergeblich bemühte sich Baiatta, ihn am Hinabsteigen zu hindern. Sie warf sich in den Schmutz; als er jedoch der Spur folgte, die spiralenförmig hinunterführte, ging sie ihm unterwürfig nach, wobei sie vor Angst und Schrecken wimmerte. Daß die rote Kugel als wertvoller Fund ausgegraben worden war, war offenkundig. In Anbetracht der Armut der zwölf verbündeten Dörfer und ihrer primitiven Werkzeuge und Methoden konnte diese gewaltige Ausgrabung nur durch mühevolle Arbeit unzähliger Generationen bewältigt worden sein.

Der Boden des Abgrunds trug einen Teppich aus Menschenknochen, darunter die zerschellten und verstümmelten Dorfgottheiten aus Holz und Stein. Einige waren mit obszönen To-temgestalten und Mustern versehen und aus vierzig oder fünfzig Fuß langen kräftigen Baumstämmen geschnitzt. Ihm fiel auf, daß Hai- und Schildkrötengottheiten fehlten, die in den Küstendörfern so sehr verbreitet waren, und gleichzeitig war er über die ständige Wiederkehr des Kampfhelmmotivs erstaunt. Was wußten diese Urwaldwilden aus dem Herzen Guadalca-nals über Helme? Hatten Mendanas bewaffnete Männer Helme getragen, und waren sie vor Jahrhunderten hier eingedrungen? Wenn nicht, wann hatte das Buschvolk dieses Motiv dann aufgegriffen?

Er arbeitete sich durch die herumliegenden Gottheiten und Knochen vorwärts, die wimmernde Baiatta auf den Fersen, und gelangte in den Schatten des Roten, lief unter seinem gigantischen Überhang weiter, bis er ihn mit den Fingerspitzen berühren konnte. Das war keine Lackfarbe. Auch war die Oberfläche nicht glatt, wie sie in dem Fall hätte sein müssen. Im Gegenteil, sie war gewellt und hatte Vertiefungen und hier und da Stellen, die Hitze- und Schmelzspuren aufwiesen. Also war es eine metallische Substanz, allerdings anders als die Metalle und Legierungen, die er kannte. Was die Farbe selbst betraf, so entschied er, daß sie nicht aufgetragen, sondern die ursprüngliche Farbe des Metalls selbst war.

Er fuhr mit seinen Fingerspitzen, die er bis dahin still gehalten hatte, über die Oberfläche und spürte, wie die riesige Kugel eine Seele bekam, lebte und empfänglich wurde. Es war unglaublich! Eine so leichte Berührung auf so gewaltiger Masse! Die Kugel erzitterte unter dem Streicheln seiner Fingerspitzen in rhythmischen Schwingungen, die zu flüsternden, raschelnden und murmelnden Geräuschen wurden - jedoch von ganz unterschiedlichem Klangcharakter; so ungreifbar dünn wie ein Säuseln, so weich, daß es von berauschender Süße war, tönend wie ein Elfenhorn, so - stellte sich Bassett vor - würden die Glocken von Göttern klingen, die sich von jenseits des Kosmos in Richtung Erde begäben.

Er sah kurz mit fragendem Blick zu Baiatta; aber als die von ihm hervorgelockte Stimme des Roten erklang, hatte sie sich mit dem Gesicht nach unten klagend zwischen die Knochen geworfen. Er wandte sich wieder seinen Gedanken über das Wunder zu. Hohl mußte es sein und aus keinem auf der Erde bekannten Metall, schlußfolgerte er. Es war zu Recht von den Alten als Stemengeborener benannt worden. Es konnte nur von den Sternen gekommen sein, und es war nicht das Resultat eines Zufalls. Es war eine künstliche Schöpfung des Geistes. Eine solche Vollkommenheit der Form, diese Hohlheit, die sein Inneres ausmachte, konnte nicht die Folge bloßer Zufälligkeit sein. Ein Kind des Geistes, das sich, fern und unenträtselbar, im Metallischen verkörperte, ja, das war es gewiß. Er blickte es voller Erstaunen an, in seinem Kopf raste ein wildes Feuer von Hypothesen, die eine Erklärung für diesen Weitgereisten versuchten, der die Nacht des Kosmos erlebt, einen Weg durch die Sterne gebahnt hatte und sich nun vor ihm und über ihm erhob, von geduldigen Menschenfressern ausgegraben, im Feuerbad zweier Atmosphären beschädigt und mit einer Lackschicht, versehen.

Aber handelte es sich bei dieser Farbe denn um einen Hitzelack über einem bekannten Metall? Oder war sie eine dem Metall innewohnende Eigenschaft? Er stieß die Klingenspitze seines Taschenmessers auf den Körper, um die Substanz zu prüfen. Sofort ließ die Kugel ein mächtiges Raunen ertönen, das scharf klang vor Empörung, fast golden schwingend, wenn man ein Raunen als Schwingung betrachten konnte, höher steigend, tiefer sinkend, die beiden Extreme der Tonleiter ausschreitend, wie eine Drohung, den Kreis zu schließen und zu dem gewaltigen Donner zu verschmelzen, den er so oft jenseits der Tabugrenze vernommen hatte.

Selbstvergessen, ohne Rücksicht auf Sicherheit, auf sein eigenes Leben, betäubt vom Wunder des Unglaublichen und Unenträtselbaren, hob er das Messer, um mit ihm einen langen schweren Hieb auszuführen, wurde jedoch von Baiatta zurückgehalten. Sie kniete sich hin, umschlang seine Knie und flehte ihn in ihrer Schreckenspein an, er möge davon ablassen. In ihrem starken Wunsch, ihn zu bewegen, nahm sie ihren Unterarm zwischen die Zähne und grub diese bis auf den Knochen hinein.

Er beachtete sie kaum, dennoch gab er automatisch seinen feineren Instinkten nach und ließ von seinem Vorhaben ab. Für ihn war das menschliche Leben zu mikroskopischen Proportionen zusammengeschrumpft im Angesicht des kolossalen Botschafters höheren Lebens aus den Fernen des Sternenuniver-sums. Er stieß die häßliche kleine Buschfrau an, als sei sie ein Hund, so daß sie sich aufrichtete. Er zwang sie, mit ihm um den Sockel herumzugehen. Auf halbem Wege stieß er auf grauenvolle Dinge. Er erkannte die von der Sonne ausgedörrten Überreste des neunjährigen Mädchens, das unbeabsichtigt das Tabu des Häuptlings Gngngn gebrochen hatte. Und inmitten der Überreste derer, die schon vergangen waren, fand er, was von einem übriggeblieben war, der es noch nicht hinter sich hatte. Das Buschvolk hatte sich in dem Namen des Roten wahrlich selbst ausgedrückt. In ihm sahen sie ihr eigenes Abbild, das sie mit diesen roten Opfergaben zu besänftigen und erfreuen suchten.

Weiter herum, immer auf die Knochen und Abbilder von Menschen und Göttern tretend, die den Boden dieses Opferbeinhauses bildeten, gelangte er zu der Vorrichtung, die es dem Roten ermöglichte, seinen donnernd gesungenen Ruf über den Urwaldgürtel und die Savanne bis zu dem fernen Ufer von Ringmanu erschallen zu lassen. Einfach und primitiv wie das vollkommene Kunstwerk des Roten selbst. Eine große hundert Fuß lange Holzsäule, Jahrhunderte in abergläubischer Besorgnis abgelagert, gereift und getrocknet, mit eingeschnitzten Götterdynastien, die einander überlagerten, die eine mit Helm, die andere im offenen Maul eines Krokodils, war von Seilen umschlungen, die aus umeinander gewundenen Kletterpflanzensträngen bestanden und sich von der Spitze eines Dreifußes, der aus drei großen Stämmen zusammengesetzt war, die ihrerseits Schnitzereien von grinsenden, die moderne Kunstkonzeption vorwegnehmenden Gestalten zeigten, herabschlängelten. Von dem als Schlagbolzen dienenden Pfahl hingen Seile aus Kletterpflanzen herunter, an die Männer ihr Gewicht hängen und über die sie die Richtung steuern konnten. Wie ein Sturmbock konnte dieser Holzpfosten mit dem unteren Ende zuoberst gegen die gewaltige rotschillernde Kugel gejagt werden.

Hier übte Ngurn sein Amt aus und zelebrierte die religiösen Riten für sich und die zwölf Stämme, über die er herrschte. Bassett lachte halb wahnsinnig auf bei dem Gedanken an diesen wunderbaren Botschafter, der, von Intelligenz beflügelt, den Kosmos überwunden hatte und schließlich hinab in die Festung eines Buschvolkes gefallen war und von affenähnlichen Menschenfressern und Kopfjägern verehrt wurde. Es war gerade so, als sei das Wort Gottes in den dreckigen Schlamm des Abgrunds gefallen, der sich unter dem Höllengrund auftut; so als seien die in Stein gemeißelten Gebote Jehovas den Affen im Tierpark vorgelegt worden; als sei die Bergpredigt vor Wahnsinnigen in einem lärmenden Irrenhaus gehalten worden.

Die Wochen schleppten sich dahin. Für die Nächte hatte sich Bassett den aschenen Fußboden des Teufel-Teufel-Hauses auserkoren, wo er unter den im sanften Rauch beständig hin und her pendelnden Köpfen lag. Er hatte sich so entschieden, weil dieser Ort für das geringer geschätzte Geschlecht der Frauen tabu und für ihn daher eine Zuflucht vor Baiatta war, die immer aufdringlicher und liebevoller wurde, je höher das Kreuz des Südens stieg und das Nahen ihrer Hochzeit verkündete. Die Tage verbrachte Bassett in einer Hängematte, die im Schatten des großen Brotbaumes vor dem Teufel-Teufel-Haus schaukelte. Dieser Ablauf wurde unterbrochen, wenn er im Koma der verheerenden Fieberanfälle lag - dann verbrachte er Tag und Nacht im Haus der Köpfe. Immer wieder kämpfte er mit aller Kraft gegen das Fieber an, um zu leben, um weiterzuleben, um stärker zu werden, bis zu dem Tag, da er stark genug sein würde, um sich durch die Savanne und den dahinter gelegenen Urwaldgürtel wagen zu können und schließlich die Küste und damit eine Ketsch oder einen Schoner zu erreichen, die Arbeitskräfte anwerben oder Sklavenhandel betreiben wollten, und dann in die Zivilisation zu gelangen, der er Kunde von der Botschaft aus anderen Welten bringen würde, die im schwarzen Herzen inmitten der Insel von Guadalcanal lag und dort von Tier-Menschen auf düstere Weise verehrt wurde.

In anderen Nächten verbrachte Bassett viele Stunden unter dem Brotbaum mit der Beobachtung des langsamen Untergangs der westlichen Sterne hinter der schwarzen Wand, wo der Urwald den Rodungen für das Dorf gewichen war. Im Besitz von relativ gründlichen astronomischen Kenntnissen stellte er mit dem Vergnügen, das ein Kranker an solchen Dingen hat, Spekulationen hinsichtlich der Bewohner noch nicht entdeckter Welten jener unfaßbar fernen Sonnen an, um den Stätten des Lichts auf die Spur zu kommen, aus denen das Leben hervorging, ein schüchterner Besucher aus den lichtlosen Grüften der Materie. Wie er sich die Zeit ohne Ende dachte, konnte er auch dem Raum keine Grenzen mehr setzen. Keine zerstörerischen Radiumtheorien hatten seinen festen wissenschaftlichen Glauben an den Erhalt der Energie und die Unzerstörbarkeit der Materie erschüttern können. Immer und zu allen Zeiten muß es Sterne gegeben haben. Und in diesem kosmischen Gärungsprozeß muß alles verhältnismäßig gleich sein, von gleicher Substanz oder gleichen Substanzen, mit Ausnahme gewisser Abnormitäten dieses Prozesses. Alles muß den gleichen Gesetzen gehorchen oder die gleichen Gesetze hervorbringen, die sich ohne Ausnahme durch das Leben der Menschheit ziehen. Deshalb, so argumentierte er, müssen Welten und das Leben Bestandteil aller Sonnen sein, so wie sie Teil dieser einen Sonne seines eigenen Sonnensystems waren.

So wie er, der dort unter dem Brotbaum lag und als intelligenzbegabtes Wesen die Sternenströme betrachtete, mußte das ganze Universum unaufhörlich der eingehenden Betrachtung durch zahllose Augen wie die seinen ausgesetzt sein, die ihrerseits zu intelligenzbegabten Wesen gehörten, die sich zwar ganz sicher voneinander unterschieden, aber auch nach Bedeutung und dem Gefüge des Ganzen fragten und suchten. In solcherart Gedanken vertieft, spürte er, wie seine Seele immer mehr eins wurde mit jener erhabenen Gesellschaft, deren Blick auf ewig auf diesen wunderbar gewirkten Teppich der Unendlichkeit gerichtet war.

Wer waren sie, was waren sie, jene Fernen und Überlegenen, die den Himmel mit ihrer gigantischen rotleuchtenden, sphärisch singenden Botschaft überbrückt hatten? Gewiß hatten sie schon lange den Weg beschritten, auf den der Mensch nach kosmischen Dimensionen erst seit kurzem seinen Fuß gesetzt hatte. Um solch eine Botschaft über die Tiefen des Kosmos hinweg schicken zu können, mußten sie gewiß jene Höhen schon erreicht haben, zu denen sich der Mensch unter Tränen und Mühsal, in blutigem Schweiß, in der Finsternis und Verwirrung vieler Ideen so langsam durchkämpfen mußte. Und was für Wesen waren sie in ihren fernen Höhen? Hatten sie Brüderlichkeit errungen? Oder hatten sie die Erfahrung gemacht, daß das Gesetz der Liebe ihnen die Bestrafung von Schwäche und Verfall auferlegt? Hieß Leben ewiges Streben? Folgte das ganze Universum dem erbarmungslosen Gesetz der natürlichen Auslese? Und waren ihre fernen Erkenntnisse, ihre uralten Weisheiten vielleicht direkt und knapp in dem gewaltigen metallischen Herzen des Roten eingeschlossen und warteten darauf, daß ein Erdenbewohner sie erstmals entzifferte? Eins stand für ihn fest: Nicht der Tropfen roten Taus, den irgendeine Sonne in ihrer Qual abgeschüttelt hatte, war diese klingende Kugel. Ihr lag ein Entwurf zugrunde, nicht irgendein Zufall, und sie barg die Sprache und Weisheit der Sterne.

Welcherart Maschinen, Elemente und gebändigte Kräfte, welches Wissen und welche Geheimnisse, welche Schicksalsbeherrschung mögen darinnen stecken? Da in einem kleinen Gegenstand wie dem Grundstein eines öffentlichen Gebäudes eine große Menge an Informationen eingeschlossen sein konnte, müßte diese gewaltige Kugel zweifellos lange Geschichtsdarstellungen sowie die Grundlagen von Forschungen enthalten, die jenseits der kühnsten menschlichen Phantasien lagen, Gesetze und Formeln, die, wenn sie beherrscht würden, dem Leben des Menschen auf der Erde, sowohl dem des einzelnen als auch dem der Gemeinschaft, aus seiner jetzigen Niedrigkeit in unvorstellbare Höhen der Reinheit und Kraft verhelfen würden. Es war die größte Gabe der Zeit an den mit Blindheit geschlagenen, unersättlichen, zum Himmel strebenden Menschen. Und ihm, Bassett, hatte die göttliche Vorsehung die Gnade gewährt, der erste zu sein, der diese Botschaft von den interstellaren Verwandten des Menschen erhielt.

Es gab keinen Weißen und noch viel weniger einen Fremden aus einem der anderen Buschvölker, der den Roten je gesehen hätte und noch am Leben wäre. So hatte Ngurn das Gesetz Bassett gegenüber ausgelegt. Es gäbe so etwas wie Blutsbrüderschaft, hatte Bassett früher häufig eingewandt. Auch durch Blutsbrüderschaft könne man nicht die Gunst des Roten genießen. Nur einem Mann, der in dem Stamm geboren war, war es erlaubt, des Roten ansichtig zu werden und weiterzuleben. Aber nun war die Situation eine andere, sein schuldhaftes Geheimnis war nur Balatta bekannt, deren Angst, den Opfertod vor dem Roten sterben zu müssen, ihr die Lippen fest verschlossen halten würde. Er mußte sich nur noch von dem fürchterlichen Fieber erholen und wieder in die Zivilisation gelangen. Dann würde er eine Expedition hierher zurückfuhren und dem Herzen des Roten die Botschaft aus den anderen Welten entnehmen, selbst wenn dabei die gesamte Bevölkerung von Guadalcanal vernichtet würde.

Aber Bassetts Rückfälle traten immer häufiger auf, seine kurzen Genesungsphasen wurden immer seltener, die Komaphasen länger, bis ihm entgegen den Eingebungen des Optimismus, der einer so starken Natur wie der seinen eigen war, klar wurde, daß er nie mehr das Weideland durchqueren, den gefährlichen Küstendschungel durchstoßen und die See würde erreichen können. Er versank in Bewußtlosigkeit, als das Kreuz des Südens höher stieg, und auch Baiatta wußte, daß er tot sein würde, bevor der von seinem Tabu bestimmte Zeitpunkt der Hochzeit gekommen wäre. Ngurn ging selbst auf Wanderschaft und suchte das Material zum Räuchern von Bassetts Kopf, er verkündete stolz, er wolle künstlerische Vollkommenheit anstreben, wenn Bassett nur erst tot wäre. Bassett war darüber nicht einmal erschrocken. Sein Leben war schon zu lange und zu stark am Versiegen, als daß ihn noch Furcht vor dem nahenden Ende hätte packen können. Er harrte weiter aus, wobei Phasen der Bewußtlosigkeit mit Phasen wechselten, in denen er halb bei Bewußtsein war, quasi träumte und ihm alles unwirklich erschien und er sich benommen fragte, ob er den Roten tatsächlich gesehen hatte oder ob es eine Traumphantasie im Delirium gewesen war.

Es kam der Tag, an dem sich alle Nebel und Gespinste auflösten und sein Kopf klar wie eine Glocke war; er schätzte die Kraft seines Körpers ab. Weder Hand noch Fuß konnte er heben. Er hatte so wenig Gewalt über seinen Körper, daß er seiner kaum gewahr wurde. In der Tat lastete das Fleisch seines Körpers wenig auf seiner Seele, und seine Seele wußte in dem kurzen Augenblick der Klarheit, daß das Dunkel des Endes nahe war. Er wußte, daß bald alles aufhören würde; er wußte, daß er den Roten tatsächlich mit eigenen Augen gesehen hatte, den Botschafter zwischen den Welten, wußte, daß er der Welt diese Botschaft nie mehr würde bringen können, diese Botschaft, die vielleicht schon zehntausend Jahre im Herzen von Guadalcanal darauf wartete, daß der Mensch sie vernahm. Mit Entschlossenheit rief Bassett Ngurn zu sich unter den Brotbaum, um mit dem alten Teufel-Teufel-Doktor die Bedingungen und Vorkehrungen für seine allerletzte Lebensanstrengung, sein letztes Abenteuer in der Vergänglichkeit des Fleisches zu besprechen.

„Ich kenne das Gesetz, Ngurn“, schloß er die Angelegenheit ab. „Wer nicht aus dem Volk stammt, darf den Roten nicht anschauen, ohne zu sterben. Ich werde sowieso nicht mehr leben. Deine jungen Männer sollen mich vor das Angesicht des Roten tragen, und ich werde ihn ansehen, seine Stimme hören und dann von deiner Hand sterben, Ngurn. Dann sind alle drei Dinge erfüllt: das Gesetz, mein Verlangen, und du kommst schneller in den Besitz meines Kopfes, für den schon alle Vorbereitungen getroffen sind.“

Ngurn stimmte dem zu, wobei er hinzufügte:

„Es ist besser so, es ist töricht, wenn ein kranker Mann, der nicht gesund werden kann, noch eine kurze Zeit weiterleben will. Auch für die Lebenden ist es besser, wenn er geht. Du warst uns in der letzten Zeit oft im Wege. Nicht daß es für mich nicht gut gewesen wäre, mit einem so weisen Mann zu sprechen. Aber schon mehrere Monate lang haben wir nur noch wenig miteinander geredet. Statt dessen hast du im Haus der Köpfe Platz belegt, hast Geräusche verursacht wie ein sterbendes Schwein oder hast viel und laut in deiner Sprache geredet, die ich nicht verstehe. Du hast mich gestört, denn ich denke gern über die großen Dinge des Lichts und der Dunkelheit nach, während ich die Köpfe im Rauch drehe. Und dein Lärm hat mich beim Begreifen und Bedenken der letzten Weisheit gestört, die mir gehören wird, bevor ich sterbe. Über dir hat ohnehin schon lange die Dunkelheit gelastet, und so ist es gut, daß du jetzt stirbst. Und ich verspreche dir, daß in den vielen, vielen Tagen, an denen ich deinen Kopf im Rauch drehen werde, niemand hereinkommen und uns stören wird. Ich werde dir viele Geheimnisse erzählen, denn ich bin ein alter und sehr weiser Mann, und ich werde immer mehr Weisheit sammeln, während ich deinen Kopf im Rauch drehe.“

Es wurde also eine Trage gebaut, auf der Bassett auf den Schultern von einem halben Dutzend Männern zu seinem letzten Abenteuer aufbrach, das das Abenteuer seines gesamten Lebens übertreffen sollte. Mit einem Körper, den er kaum spürte, denn selbst der Schmerz war aus ihm gewichen, und mit einem glasklaren Kopf, der ihm die stille Ekstase der reinen Geisteserleuchtung bereitete, lag er auf der schaukelnden Trage und beobachtete die scheidende Welt, sah zum letztenmal den Brotbaum vor dem Teufel-Teufel-Haus, den trüben Tag über dem Dschungelgeflecht, die düstere Schlucht zwischen den Bergvorsprüngen, den Sattel aus rohem Kalkstein und das Tafelland aus schwarzem vulkanischem Sand. Sie trugen ihn auf dem gewundenen Pfad den Abgrund hinunter und umkreisten dabei den Roten in seinem Glanz und seiner Glut. Es schien, als würde sein Färb- und Lichterspiel jeden Augenblick in einen süßen Gesang und gewaltigen Donner übergehen. Über die Knochen geopferter Menschen und die Bruchstücke von Göttern hinweg trugen sie ihn, vorbei an den Schrecknissen der noch lebenden Opfer zu der Holzsäule mit dem Dreifuß und dem mächtigen Klöppel.

Hier richtete sich Bassett mit Ngurns und Balattas Hilfe leicht auf, wobei er in den Hüften etwas schwankte, und schaute mit klaren, entschlossenen, alles erfassenden Augen auf den Roten.

„Einmal, Ngurn“, sagte er, ohne die Augen von der leuchtenden, vibrierenden Oberfläche zu nehmen, auf und hinter der alle Schattierungen von Kirschrot unaufhörlich spielten, ein ewiges Beben, das im Begriff, war, in einen Klang überzugehen, ein seidenes Rascheln, silbernes Flüstern, ein goldenes Saitenzupfen, ein samtenes Flöten aus dem Elfenland, ein sanftes fernes Grollen.

„Ich warte“, erwiderte Ngurn nach einer langen Pause, den langstieligen Tomahawk unauffällig in der Hand.

„Einmal nur, Ngurn“, wiederholte Bassett, „laß den Roten sprechen, so daß ich sehen und hören kann, wie er spricht.

Dann schlag zu, denn wenn ich meine Hand hebe, lasse ich meinen Kopf nach vorn fallen, um meinen Hals für den Schlag freizugeben. Aber, Ngurn, ich, der ich im Begriff bin, für immer aus dem Tageslicht zu scheiden, würde gern mit der Wunderstimme des Roten im Ohr scheiden.“

„Und ich versichere dir, daß niemals ein Kopf so gut geräuchert werden wird wie der deine“, sagte Ngurn ihm und gab ein Zeichen, worauf Männer an die vom Klöppel herunterhängenden Seile geschickt wurden. „Dein Kopf soll mein größtes Werk werden.“

Bassett lächelte still über die Eitelkeit des Alten, als der große geschnitzte Klotz, der um zwei Dutzend Fuß zurückgezogen worden war, losgelassen wurde. Im nächsten Augenblick verlor er sich angesichts der plötzlichen und dröhnenden Befreiung des Klanges in Ekstase. Ein solcher Donner! Die Weichheit der kostbarsten klingenden Metalle. So sprachen Erzengel, er war von großartiger Schönheit, schöner als alle anderen Klänge; er war mit der Intelligenz der Übermenschen von Planeten anderer Sonnen ausgestattet; er war die Stimme Gottes, zum Zuhören verlockend und zugleich befehlend. Und - das ewige Wunder jenes interstellaren Metalls! Bassett sah mit eigenen Augen, wie sich Farbe um Farbe in Klang verwandelte, bis die gesamte sichtbare Oberfläche der Riesenkugel ein Erzittern, ein Erregtsein, ein Dunstgebilde war, so daß er nicht mehr zwischen Farbe und Klang unterscheiden konnte. In diesem Augenblick gehörten ihm jene Zwischenstadien der Materie wie auch das Sichdurchdringen und Ineinanderübergehen von Materie und Kraft.

Die Zeit verging. Schließlich wurde Bassett durch eine ungeduldige Bewegung Ngurns aus seiner Ekstase gerissen. Er hatte den alten Teufel-Teufel ganz vergessen. Das Aufblitzen einer Idee verursachte ihm eine trockene Kehle. Sein Gewehr lag neben ihm auf der Trage. Er brauchte es nur an den Kopf zu legen, den Abzug zu drücken und seinen Kopf damit in ein Nichts zu schießen.

Aber warum sollte er ihn betrügen, war Bassetts nächster Gedanke. Kopfjäger, halb Affe, halb Mensch, hatte Ngurn in seiner Erleuchtung sehr redlich gehandelt. Ngurn selbst war ein Vorbote von Ethik und Treue, von Rücksichtnahme und edler Haltung. Nein, entschied Bassett schließlich, es wäre verachtenswert und unehrenhaft, den Alten am Ende zu betrügen. Sein Kopf gehörte Ngurn, es war Ngurns Recht, ihn zu räuchern.

Als Bassett seine Hand zum Signal erhob, seinen Kopf nach vorn beugte, wie vereinbart, so daß sein Hals bis zur gespannten Wirbelsäule frei lag, dachte er nicht an Baiatta, die nur eine Frau war, nur eine Frau, einsam und verschmäht. Er wußte genau, ohne es zu sehen, daß das messerscharfe Beil hinter ihm gehoben wurde. Und in diesem Augenblick, kurz vor dem Ende, fiel auf Bassett der Schatten des Unbekannten, ein Gefühl des bevorstehenden Wunders, wenn die Mauern vor dem Unvorstellbaren einstürzen. In dem Augenblick, als er wußte, daß der Schlag kommen würde, und gerade noch bevor die Kante des Stahls Fleisch und Nerven berührte, schien es, daß er in das heitere Gesicht der Wahrheitsgöttin schaute. Und gleichzeitig, als mit dem Hieb des Stahls die Dunkelheit über ihn hereinbrach, sah er in einem Aufflackern der Phantasie, wie sich sein Kopf langsam drehte, immerfort drehte im Teufel-Teufel-Haus neben dem Brotbaum.

ENDE

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