Wade Atsheler ist tot - getötet von eigener Hand. Behaupten zu wollen, daß sein Tod für seinen kleinen Bekanntenkreis völlig unerwartet eintrat, hieße die Unwahrheit sagen; und dennoch - wir, seine engeren Freunde, hatten nicht ein einziges Mal etwas Derartiges auch nur in Erwägung gezogen. Eher waren wir auf eine unbegreifliche, unterbewußte Art und Weise darauf vorbereitet gewesen. Bevor die Tat begangen wurde, kam uns eine solche Möglichkeit überhaupt nicht in den Sinn. Aber als wir wußten, daß er tot war, schien es irgendwie, als hätten wir es die ganze Zeit geahnt und erwartet. Rückblickend betrachtet, war für uns alles leicht erklärbar durch die Tatsache, daß er große Sorgen hatte. Ich sage wohlweislich „große Sorgen.“ Denn jung, gutaussehend und als rechte Hand von Eben Haie, dem großen Eisenbahnmagnaten, in gesicherter Stellung, konnte es keinen Grund für ihn geben, sich über die Gunst des Schicksals zu beklagen. Doch wir hatten beobachtet, daß sich seine glatte Stirn runzelte und fürchte wie bei quälender Sorge oder nagendem Kummer. Wir hatten gesehen, daß sein volles, schwarzes Haar sich lichtete und silbergrau wurde wie grüne Saat unter sengendem Himmel und bei dörrender Trockenheit. Wer kann vergessen, wie er inmitten einer fröhlichen Runde, die er gegen Ende immer begieriger suchte - wer kann, so frage ich, vergessen, wie er plötzlich in tiefe Geistesabwesenheit und dunkle Schwermut fiel? Zuzeiten, wenn die Stimmung von Höhepunkt zu Höhepunkt schnellte und überschwappte, konnte es geschehen, daß plötzlich - ohne Grund oder Anlaß - seine Augen ihren Glanz verloren, die Brauen sich zusammenzogen und er mit geballten Fäusten sowie einem Gesicht, in dem Krämpfen gleich seelischer Schmerz zuckte, am Rande eines Abgrunds mit einer unbekannten Gefahr rang.
Er sprach nie über seine Sorgen, und wir waren nicht so indiskret, ihn zu fragen. Und es war wirklich besser so; denn hätten wir es getan und hätte er geredet, unsere Hilfe und Macht hätten nichts ausrichten können. Nachdem Eben Haie gestorben war, dessen vertraulicher Sekretär Wade Atsheler war - nein, fast schon Adoptivsohn und gleichberechtigter Geschäftspartner - , ließ dieser sich nicht mehr bei uns sehen. Nicht weil ihm unsere Gesellschaft unangenehm gewesen wäre, wie ich heute weiß, sondern weil sein Kummer so groß war, daß er weder auf unsere Ausgelassenheit eingehen konnte noch Entspannung bei uns gefunden hätte. Warum das so war, konnten wir damals nicht verstehen, denn als Eben Haies Testament verkündet wurde, erfuhr die Welt, daß Wade der alleinige Erbe der vielen Millionen seines Arbeitgebers war, und das Testament enthielt den ausdrücklichen Hinweis, daß ihm diese Erbschaft uneingeschränkt, unverzüglich und ohne jede Bedingung in der üblichen Weise gewährt werden sollte. Weder ein Teil der Aktien noch ein Pfennig Bargeld wurde den Verwandten des Toten vermacht. Was die nächsten Angehörigen betraf, besagte eine höchst erstaunliche Klausel ausdrücklich, daß es ganz im Ermessen von Wade Atsheler stehen sollte, die Ehefrau, Söhne und Töchter Eben Haies mit entsprechenden Geldern zu versorgen, wann immer es ihm ratsam erschien. Hätte es in der Familie des Verstorbenen einen Skandal gegeben oder wären dessen Söhne ungeraten und pflichtvergessen gewesen, dann hätte man für diese höchst ungewöhnliche Tat wenigstens den Schimmer einer Erklärung finden können; aber Eben Haies häusliches Glück war in der Gemeinde schon sprichwörtlich, und man hätte lange suchen müssen, um ordentlichere, gescheitere und. vernünftigere Söhne und Töchter, als die seinen es waren, zu finden. Und erst seine Frau - nun ja, diejenigen, die sie am besten kannten, nannten sie liebevoll „Die Urmutter.“ Es erübrigt sich zu bemerken, daß dieses unerklärliche Testament die Welt in Staunen und Aufregung versetzte; aber die Erwartungen der Öffentlichkeit wurden enttäuscht; es wurde nicht angefochten.
Es ist noch gar nicht lange her, daß man Eben Haie in einem stattlichen Marmormausoleum beigesetzt hat. Und jetzt ist Wade Atsheler tot. Die Todesanzeige erschien in der heutigen Morgenzeitung. Gerade eben habe ich mit der Post einen Brief von ihm erhalten, der offenbar erst kurze Zeit bevor er sich selbst in die Ewigkeit schickte, aufgegeben wurde. Dieser Brief - er liegt vor mir - ist eine Geschichte in seiner eigenen Handschrift, und er verbindet sie mit zahlreichen Zeitungsausschnitten und Brief ab Schriften. Die Originalbriefe, so schreibt er, befinden sich in Händen der Polizei. Um die Gesellschaft vor einer äußerst schrecklichen und teuflischen Gefahr, die ihre bloße Existenz bedroht, zu warnen, bittet er mich auch, die entsetzliche Serie von Tragödien zu veröffentlichen, in die er unschuldig verwickelt wurde. Hiermit füge ich den vollständigen Text an:
Es war im August , kurz nach meiner Rückkehr aus dem Sommerurlaub, als das Unglück über uns hereinstürzte. Wir hatten es damals noch nicht gelernt, unser Denken an solch entsetzliche Möglichkeiten zu gewöhnen.
Mr. Haie öffnete einen Brief, las ihn und warf ihn lachend auf meinen Schreibtisch. Als ich ihn durchgelesen hatte, sagte ich, ebenfalls lachend: „Irgendein böser Scherz, Mr. Haie, noch dazu ein sehr geschmackloser.“ Hier hast Du, mein lieber John, eine genaue Kopie des besagten Briefes:
Mr. Eben Haie Geldbaron Kanzlei des M. C. August Werter Herr!
Wir ersuchen Sie hiermit, zwanzig Millionen Dollar in bar -es sei dahingestellt, welchen Teil Ihres Vermögens das ausmachen mag - bereitzustellen. Wir fordern, daß Sie das Geld direkt an uns oder an unsere Beauftragten überweisen. Sie werden bemerken, daß wir Ihnen keinen bestimmten Termin setzen, denn es ist nicht unser Wunsch, Sie in dieser Angelegenheit zu drängen. Falls es einfacher für Sie sein sollte, können Sie auch in zehn, fünfzehn oder zwanzig Raten zahlen; wir akzeptieren jedoch keinen Teilbetrag unter einer Million.
Glauben Sie uns, werter Mr. Haie, wenn wir Ihnen versichern, daß wir uns zu dieser Handlungsweise ohne jede Feindseligkeit entschlossen haben. Wir sind Vertreter jenes intellektuellen Proletariats, dessen zahlenmäßiges Anwachsen die letzten Tage des neunzehnten Jahrhunderts zu denkwürdigen Tagen werden läßt. Nach gründlichem Studium der Wirtschaft haben wir den Entschluß gefaßt, uns dieses Gebietes anzunehmen. Das hat viele Vorteile, u. a. ist besonders bedeutsam, daß wir unseren Anteil an der Geschäftsführung übernehmen. Bitte zögern Sie nicht zu lange. Wenn Sie mit unseren Bedingungen einverstanden sind, setzen Sie eine entsprechende Anzeige in den „Morning Blazer“, unter der Rubrik Verluste. Wir werden Sie dann mit unserem Plan zur Übergabe der erwähnten Summe vertraut machen. Wir empfehlen Ihnen, das noch vor dem ersten Oktober zu tun. Sollten Sie nicht einverstanden sein, werden wir zu diesem Zeitpunkt einen Mann auf der Straße im Osten töten, um Ihnen zu zeigen, daß es uns ernst ist. Es wird ein Arbeiter sein. Sie kennen den Mann nicht; wir auch nicht. Sie stellen eine Macht in unserer modernen Gesellschaft dar, und wir sind ebenfalls eine Macht - eine neue. Ohne erzürnt oder boshaft sein zu wollen, haben wir uns entschlossen, den Kampf aufzunehmen. Wie Sie sicherlich feststellen werden, treffen wir lediglich ein Geschäftsabkommen. Sie sind der obere, wir der untere Mühlstein; das Leben dieses Mannes wird dazwischen zerrieben. Sie können ihn retten, wenn Sie auf unsere Bedingungen eingehen und rechtzeitig handeln.
Es gab einmal einen König, auf dem der Fluch lag, daß alles, was er berührte, zu Gold wurde. Wir haben seinen Namen gewählt, um unsere Pflicht im Sinne dieses Zeichens zu tun. Eines Tages werden wir, auch um uns vor Konkurrenten abzusichern, diese Bezeichnung urheberrechtlich schützen lassen.
Wir verbleiben, der Midas Clan Lieber John, ich überlasse es Deinem Urteil, aber hätten wir über eine derartig absurde Mitteilung nicht lachen sollen? Die Idee an sich - das mußten wir zugeben - war nicht übel ersonnen, aber sie war zu grotesk, als daß man sie hätte ernst nehmen können. Mr. Haie sagte, er würde den Brief als eine literarische Kostbarkeit aufbewahren, und legte ihn in ein Schreibtischschubfach. Daraufhin vergaßen wir ihn prompt. Und genauso prompt lasen wir am ersten Oktober beim Durchsehen der Morgenpost folgendes:
Mr. Eben Haie Geldbaron
Kanzlei des M. C. Oktober
Werter Herr!
Das Schicksal hat Ihr Opfer ereilt. Vor einer Stunde wurde ein Arbeiter auf der . Straße im Osten durch einen Messerstich ins Herz getötet. Wenn Sie diese Nachricht gelesen haben, wird er schon im Leichenschauhaus liegen. Gehen Sie hin, und betrachten Sie Ihr Werk.
Als Zeichen unserer Ernsthaftigkeit in dieser Angelegenheit -falls Sie nicht nachgeben - töten wir in zwei Wochen einen Polizisten in der Polk Street oder an der Ecke Polk Street und Clermont Avenue.
Sehr herzlich, der Midas Clan
Wieder lachte Mr. Haie. Er war mit seinen Gedanken ganz und gar bei einer vielversprechenden Unterhandlung mit einem Chicagoer Syndikat, bei der es um den Verkauf all seiner Straßenbahnen in dieser Stadt ging, und deshalb fuhr er fort, seiner Stenotypistin zu diktieren, und verschwendete keinen weiteren Gedanken an diese Sache. Aber irgendwie, ich weiß nicht warum, überkam mich eine schwere Depression. Was, wenn es kein Scherz wäre, fragte ich mich und überflog unwillkürlich die Morgenzeitung. Da stand es, so wie es einer unbedeutenden Person aus den unteren Schichten zukam, in einem halben Dutzend armseliger Zeilen ganz klein in einer Ecke, neben einer medizinischen Werbeanzeige:
Kurz nach fünf Uhr heute morgen wurde ein Arbeiter namens Pete Lascalle auf dem Weg zur Arbeit von einem unbekannten Täter, der entfliehen konnte, auf der . Straße im Osten erstochen. Die Polizei hat bisher noch kein Mordmotiv finden können.
„Unglaublich!“ lautete Mr. Haies Erwiderung, als ich ihm die Meldung laut vorgelesen hatte; aber offensichtlich belastete ihn das Geschehnis doch, denn am späten Nachmittag bat er mich unter vielen Selbstvorwürfen wegen seiner Dummheit, die Polizei in dieser Angelegenheit einzuschalten. Ich hatte das Vergnügen, mich im Privatbüro des zuständigen Inspektors auslachen zu lassen, obgleich ich mit der Zusicherung fortging, daß man die Sache untersuchen wolle und daß man in der Nähe der Polk Street lind Clermont Avenue in der angegebenen Nacht die Streife verdoppeln werde. Dabei blieb es, bis die zwei Wochen vergangen waren, und die folgende Nachricht uns per Post erreichte:
Mr. Eben Haie Geldbaron Kanzlei des M. C. Oktober Werter Herr!
Ihr zweites Opfer ist zum vorgesehenen Zeitpunkt getötet worden. Wir haben es nicht eilig, aber wir werden von nun an den Druck verstärken und wöchentlich töten. Um uns vor polizeilicher Einmischung zu schützen, werden wir Sie künftig erst kurz vor oder während der Tat über das Vorkommnis informieren. Im Vertrauen darauf, Sie in guter Gesundheit zu finden, verbleiben wir,
der Midas Clan
Diesmal griff Mr. Haie zur Zeitung, suchte kurz und las mir diesen Bericht vor:
Ein heimtückisches Verbrechen
Joseph Donahue, erst gestern abend zu einem Sonderstreifeneinsatz im elften Stadtbezirk abkommandiert, wurde um Mitternacht durch Kopfschuß getötet und verstarb sofort. Die Tragödie spielte sich im hellen Licht der Straßenbeleuchtung an der Ecke Polk Street und Clermont Avenue ab. Unsere Gesellschaft kann man in der Tat nicht als sicher bezeichnen, wenn die Hüter ihres Friedens öffentlich und willkürlich erschossen werden. Die Polizei ist bislang unfähig gewesen, den geringsten Anhaltspunkt zu finden. - Kaum hatte er zu Ende gelesen, traf die Polizei ein - der Inspektor persönlich und zwei seiner scharfsinnigen Detektive. Bestürzung stand in ihren Gesichtern, und es war zu sehen, daß sie ernsthaft beunruhigt waren. Obwohl es nur wenige und einfache Anhaltspunkte gab, führten wir ein langes Gespräch und gingen den Fall immer wieder durch. Als der Inspektor uns verließ, versicherte er uns zuversichtlich, daß bald alles vergessen wäre und die Meuchelmörder zur Strecke gebracht sein würden. Er hielt es für besser, zu Mr. Haies und meinem Schutz in der Zwischenzeit Wachen abzustellen und weitere ständig in der Nähe des Hauses und auf dem Gelände zu postieren.
Nachdem eine Woche verstrichen war, um ein Uhr nachmittags, erhielten wir dieses Telegramm:
Mr. Eben Haie Geldbaron Kanzlei des M. C. Oktober Werter Herr!
Mit Bedauern müssen wir feststellen, daß Sie uns völlig mißverstanden haben. Sie haben es für richtig gehalten, sich und Ihren Haushalt mit bewaffneter Bewachung zu umgeben, wahrlich als waren wir gewöhnliche Verbrecher, die vorhaben, bei Ihnen einzubrechen und Ihnen Ihre zwanzig Millionen gewaltsam zu entreißen. Glauben Sie uns, das liegt auch nicht im entferntesten in unserer Absicht.
Wenn Sie die Sache nüchtern betrachten, werden Sie wohl leicht verstehen, daß uns Ihr Leben teuer ist. Seien Sie unbesorgt. Um nichts in der Welt würden wir Ihnen etwas antun. Unsere Absicht ist es, Sie sorgsam zu behüten und vor allem Übel zu beschützen. Ihr Tod bedeutet uns nichts. Wenn es so wäre, seien Sie versichert, wir würden keinen Augenblick zögern, Sie zu vernichten. Denken Sie darüber nach, Mr. Haie. Wenn Sie uns die geforderte Summe ausgezahlt haben, wird es notwendig sein, Sparmaßnahmen einzuleiten. Schicken Sie die Wachen weg, und kürzen Sie Ihre Ausgaben.
Innerhalb von zehn Minuten nach Erhalt dieser Nachricht wird man ein Kindermädchen im Brentwood Park erdrosselt haben. Den Leichnam kann man im Gebüsch seitlich des Weges finden, der links vom Musikpavillon abzweigt.
Herzlich Ihr Midas Clan
In der nächsten Sekunde war Mr. Haie am Telefon und unterrichtete den Inspektor von dem drohenden Mord. Der Inspektor rief die Polizeinebenstelle F an und beorderte einige Männer zum Schauplatz. Fünfzehn Minuten später rief er an und informierte uns, daß man die Leiche, noch warm, am angekündigten Ort gefunden habe. An jenem Abend waren die Zeitungen voll von reißerischen Schlagzeilen über Jack den Würger, und man lamentierte über die Brutalität der Tat und die Unfähigkeit der Polizei. Wir nahmen nochmals Kontakt zum Inspektor auf, der uns bat, die Angelegenheit unter allen Umständen geheimzuhalten. Erfolg, sagte er, hinge von Verschwiegenheit ab.
Wie Du weißt, John, war Mr. Haie ein Mann aus Stahl. Er weigerte sich aufzugeben. Aber ach, John, es war furchtbar -nein, entsetzlich - , dieses schreckliche Etwas, diese blinde Macht in der Dunkelheit! Wir konnten nicht kämpfen, konnten nicht planen, konnten nichts tun, als unsere Hände in den Schoß zu legen und zu warten. Und Woche für Woche, so sicher wie die Sonne aufgeht, erreichte uns die Meldung vom Tode eines Menschen, eines Mannes oder einer Frau, die keinerlei Schuld auf sich geladen hatten, aber durch uns getötet wurden, so als hätten wir es mit eigenen Händen getan. Ein Wort von Mr. Haie, und das Gemetzel hätte ein Ende gehabt. Aber er verhärtete sein Herz und wartete: Die Falten wurden tiefer, Mund und Augen wurden verschlossener und finsterer, und sein Gesicht alterte mit jeder Stunde. Es ist sinnlos, von meinen eigenen Nöten in jener furchtbaren Zeit zu sprechen. Hier findest Du die Briefe und Telegramme des M. C, die Zeitungsberichte usw. über die verschiedenen Morde.
Du wirst auch Briefe darunter finden, die Mr. Haie vor gewissen Machenschaften von Geschäftsfeinden und geheimen Manipulationen an der Börse warnten. Der M. C. schien seine Finger am Puls der Geschäfts- und Finanzwelt zu haben. Er war im Besitz von Informationen, die er uns zuspielte und die unsere Bevollmächtigten nicht hatten erhalten können. Ein rechtzeitiger Hinweis von ihm in einem kritischen Moment bei einem gewissen Geschäftsabschluß, und Mr. Haie hatte fünf Millionen gespart. Ein andermal schickten sie uns ein Telegramm, durch das wir der fixen Idee eines Anarchisten zuvorkamen und einen Anschlag auf das Leben meines Arbeitgebers verhindern konnten. Wir ergriffen den Mann bei seinem Eintreffen und übergaben ihn der Polizei, die soviel Sprengstoff einer neuen und wirkungsvollen Sorte bei ihm fand, daß damit ein Kriegsschiff hätte versenkt werden können.
Wir machten beharrlich weiter’. Mr. Haie war zu allem entschlossen. Er zahlte dem Geheimdienst Gelder in Höhe von einhunderttausend je Woche. Die Hilfe der Agentur Pinkerton und zahlloser Privatdetekteien wurde angefordert, und dazu erschienen noch Tausende andere auf unserer Lohnliste. Überall schwirrten unsere Agenten herum, in allen möglichen Verkleidungen, in allen Schichten der Gesellschaft. Sie gingen unzähligen Hinweisen nach; Hunderte von Verdächtigen wurden eingesperrt, und des öfteren standen Tausende verdächtiger Personen unter Beobachtung, aber nicht das geringste kam ans Licht. Der M. C. änderte gelegentlich seine Benachrichtigungsmethode. Und jeder zu uns geschickte Bote wurde unverzüglich festgenommen. Aber zwangsläufig stellte sich heraus, daß es Unschuldige waren, deren Beschreibungen von den Personen, die sie für diesen Auftrag angeworben hatten, nie übereinstimmten. Am letzten Dezembertag erhielten wir diese Mitteilung:
Mr. Eben Haie Geldbaron Kanzlei des M. C. Dezember Werter Herr!
Entsprechend unserer Taktik - es schmeichelt uns, daß Sie schon so gut damit vertraut sind - dürfen wir Sie darauf verweisen, daß wir Inspektor Bying einen Paß zur Ausreise aus diesem Jammertal zukommen lassen werden, mit dem Sie ja aufgrund unserer freundlichen Aufmerksamkeiten inzwischen sehr gut bekannt sind. Er hat die Angewohnheit, sich zu dieser Tageszeit in seinem Privatbüro aufzuhalten. Schon wenn Sie dies lesen, wird er seinen letzten Atemzug tun.
Herzlich Ihr Midas Clan
Ich ließ den Brief fallen und sprang zum Telefon. Wie groß war meine Erleichterung, als ich die warmherzige Stimme des Inspektors hörte. Aber noch während er sprach, erstarb seine Stimme, nur noch ein gurgelndes Ächzen war zu vernehmen, und ich hörte entfernt den Aufprall eines Körpers. Dann sagte eine fremde Stimme „Hallo“, übermittelte mir die Grüße des M. C. und legte auf. Unverzüglich rief ich das öffentliche Amt des Polizeipräsidiums an und teilte mit, daß man dem Inspektor in seinem Privatbüro sofort zu Hilfe eilen müsse. Währenddessen blieb ich am Apparat, und ein paar Minuten später erhielt ich die Nachricht, daß man ihn in einem Blutbad gefunden hatte, als er gerade seinen letzten Atemzug tat. Augenzeugen gab es nicht, Spuren des Mörders wurden nicht entdeckt.
Woraufhin Mr. Haie sofort seinem Geheimdienst höhere Zuwendungen machte, bis wöchentlich eine Million aus sei- nen Tresoren floß. Er war entschlossen, sich durchzusetzen. Seine ständigen Ausgaben wuchsen auf über zehn Millionen an. Du hast nun eine klare Vorstellung von seiner Finanzlage und kannst Dir vorstellen, wie er sich verausgabte. Es war das Prinzip, so versicherte er, für das er kämpfte, nicht der Mammon. Und man muß zugeben, daß sein Handeln die Ehrenhaftigkeit seines Motivs unterstrich. Die Polizeiämter aller großen Städte arbeiteten mit uns zusammen, und sogar die Regierung der Vereinigten Staaten trat auf den Plan - dieser Fall wurde zu einer der vorrangigsten Angelegenheiten des Staates. Gewisse Reservefonds der Nation wurden angezapft, um den M. C. zur Strecke zu bringen, und jeder Regierungsbeamte war auf der Hut. Doch alles vergeblich. Der Midas Clan setzte seine ver-dammenswerte Arbeit ungehindert fort. Er tat das auf seine Weise und schlug unfehlbar zu.
Aber während wir bis zum letzten kämpften, konnte Mr. Haie seine Hände nicht von dem Blut reinwaschen, mit dem sie beschmutzt waren. Obwohl er im eigentlichen Sinne kein Mörder war, und obwohl kein Gericht ihn jemals schuldig sprechen würde, waren all diese Menschen dennoch seinetwegen getötet worden. Wie ich schon vorher erwähnt habe, ein Wort von ihm, und das Gemetzel hätte aufgehört. Aber er weigerte sich, dieses Wort auszusprechen. Er beharrte darauf, daß die Integrität der Gesellschaft auf dem Spiel stünde, daß er nicht einfach ein Feigling wäre, der seinen Posten verließ, und daß es doch nur gerecht sei, wenn ein paar - letzten Endes für das Wohlergehen vieler - zu Märtyrern wurden. Trotzdem war er mit Blut besudelt, und er versank in eine immer tiefere Schwermut. Als sein Komplice war ich in ähnlicher Weise mit Schuld beladen. Rücksichtslos wurden Babys, Kinder und Alte getötet; und diese Morde beschränkten sich nicht allein auf unser Gebiet, sondern geschahen an den unterschiedlichsten Orten des Landes. Mitte Februar saßen wir eines Abends in der Bibliothek, da klopfte es laut an der Tür. Als ich nachsehen ging, fand ich im Korridor auf dem Teppich folgendes Schreiben:
Mr. Eben Haie Geldbaron Kanzlei des M. C. Februar Werter Herr!
Peinigt es nicht Ihr Gewissen, daß Sie eine Bluternte reifen lassen? Vielleicht haben wir unsere Aufgabe zu abstrakt ge-handhabt. Werden wir jetzt also konkret. Miß Adelaide Laid-law ist eine hoffnungsvolle, junge Frau, und wie wir gehört haben, so tugendhaft wie schön. Sie ist die Tochter Ihres alten Freundes, Richter Laidlaw, und zufällig wissen wir, daß Sie sie schon als Kind auf dem Arm getragen haben. Sie ist die engste Freundin Ihrer Tochter und gegenwärtig bei ihr zu Besuch.
Wenn Sie bis hierhin gelesen haben, wird ihr Besuch beendet sein.
Sehr herzlich, der Midas Clan
Mein Gott! - augenblicklich begriffen wir die entsetzliche Bedeutung! Wir rasten durch die Aufenthaltsräume - dort’ war sie nicht - und weiter zu ihrem Appartement. Die Tür war verschlossen; wir warfen uns dagegen und brachen sie auf. Da lag sie - geradeso, als hätte sie sich für die Oper zurechtgemacht; wie das blühende Leben, der Körper noch warm und geschmeidig. Ich möchte den Rest des Grauens übergehen. Du wirst Dich sicherlich an die Zeitungsberichte erinnern, lieber John.
Spät in jener Nacht ließ Mr. Haie mich zu sich rufen und beschwor mich vor Gott und mit allem Ernst, ihm beizustehen und keine Kompromisse einzugehen, selbst wenn alle - Verwandte und Bekannte eingeschlossen - vernichtet würden.
Am nächsten Tag überraschte mich seine Fröhlichkeit. Ich hatte geglaubt, daß diese letzte Tragödie ihn tief getroffen hätte - wie tief, sollte ich bald erfahren. Den ganzen Tag lang war er unbeschwert und guter Laune, als ob er doch noch einen Ausweg aus dem entsetzlichen Problem gefunden hätte. Am darauffolgenden Morgen fanden wir ihn tot im Bett, ein friedvolles Lächeln im sorgenzerfurchten Gesicht - erstickt. In stillschweigendem Einvernehmen mit der Polizei und den Behörden wurde sein Tod der Welt als Herzversagen bekanntgegeben. Es erschien uns weiser, die Wahrheit zu verschweigen, aber das hat uns wenig eingebracht, wie alles andere auch.
Kaum hatte ich das Sterbezimmer verlassen, als - aber zu spät - folgender ungewöhnlicher Brief eintraf:
Mr. Eben Haie Geldbaron Kanzlei des M. C. Februar
Werter Herr!
Wir hoffen, Sie werden unsere Aufdringlichkeit so kurz nach dem traurigen Vorfall von vorgestern entschuldigen, aber was wir Ihnen mitzuteilen wünschen, könnte für Sie von größter Wichtigkeit sein. Uns ist eingefallen, daß Sie den Versuch machen könnten, uns zu entfliehen. Es gibt augenscheinlich nur einen einzigen Weg, wie Sie zweifelsohne schon vorher festgestellt haben. Aber wir möchten Ihnen mitteilen, daß auch dieser Weg versperrt ist. Sie mögen sterben, doch Ihr Tod ist ein Versagen, und das wissen Sie. Nehmen Sie zur Kenntnis: Wir sind untrennbar von Ihren Besitztümern. Zusammen mit Ihren Millionen werden wir für immer in den Besitz Ihrer Erben und Rechtsnachfolger übergehen.
Wir sind das Unvermeidliche. Wir sind die höchste Form der Verkörperung der industriellen und sozialen Ungerechtigkeit. Wir wenden uns gegen die Gesellschaft, die uns geschaffen hat. Wir sind die erfolgreichen Mißgeburten des Zeitalters, die Geißel einer entarteten Zivilisation.
Wir sind die Geschöpfe einer pervertierten sozialen Auslese. Wir begegnen der Gewalt mit Gewalt. Nur die Starken werden überleben. Wir glauben an das Überleben der Tüchtigsten. Sie haben Ihre Lohnsklaven in den Dreck gestoßen, und so haben Sie überlebt. Die Kriegsführer haben Ihre Arbeitnehmer in unzähligen blutigen Streiks - auf Ihren Befehl hin - niedergeschossen wie Hunde. Mit solchen Mitteln haben Sie überlebt. Wir lamentieren nicht über die Folgen, denn wir erkennen sie an und führen unsere Existenz auf dasselbe Naturgesetz zurück. Und jetzt erhebt sich die Frage: Wer von uns wird unter den gegenwärtigen sozialen Bedingungen überleben? Wir glauben, wir sind die Geeignetsten. Sie glauben, daß Sie die Tauglichsten sind. Wir überlassen die Entscheidung der Zeit und dem Gesetz.
Herzlichst Ihr Midas Clan
Wunderst Du Dich jetzt noch, John, daß ich mich von allen Vergnügungen ferngehalten habe und Freunden aus dem Wege gegangen bin? Aber was sollen Erklärungen? Bestimmt wird Dir durch diesen Bericht alles klar. Vor drei Wochen ist Adelaide Laidlaw gestorben, Seitdem habe ich voller Hoffnung und Angst gewartet. Gestern wurde das Testament eröffnet und bekanntgegeben. Heute erhielt ich die Nachricht, daß eine Frau aus dem Mittelstand im Golden Gate Park - weit weg in San Francisco - umgebracht werden würde. Die Meldungen in den heutigen Abendzeitungen bringen Einzelheiten des brutalen Geschehens - Einzelheiten, die mit den vorher von mir beschriebenen übereinstimmen.
Es ist sinnlos. Ich kann nicht gegen das Unvermeidliche kämpfen. Ich war Mr. Haie gegenüber pflichtbewußt und habe hart gearbeitet. Weshalb meine Gewissenhaftigkeit auf diese Weise belohnt werden soll, kann ich nicht begreifen. Doch weder kann ich meinem Konzern untreu werden noch durch einen Kompromiß mein Wort brechen. Ich bin entschlossen, nicht noch mehr Tote auf mein Gewissen zu laden. Ich habe verfügt, daß die mir kürzlich vererbten Millionen an die rechtmäßigen Besitzer übergehen. Mögen Eben Haies energievolle Söhne ihren eigenen Rettungsplan ausarbeiten.
Wenn Du dies liest, werde ich schon tot sein. Der Midas Clan ist übermächtig. Die Polizei unfähig. Ich erfuhr von ihnen, daß andere Millionäre in ähnlicher Form mit Geldforderungen belästigt oder verfolgt wurden - wie viele, ist nicht bekannt, denn wenn jemand zum M. C. übergelaufen ist, ist sein Mund von Stund an versiegelt. Diejenigen, die das nicht getan haben, fahren jetzt noch blutige Ernte ein. Das erbarmungslose Spiel ist noch nicht zu Ende. Die Bundesregierung kann nichts tun. Soviel ich weiß, sind ähnliche Zweigorganisationen in Europa aufgetaucht. Die Gesellschaft wird in ihren Grundfesten erschüttert. Fürstentümer und Staatsmächte sind wie Fackeln bereit zum Brand. Statt, daß die Massen sich gegen die Klassen erheben, ist es eine Klasse gegen alle Klassen. Wir, die Hüter des menschlichen Fortschritts, werden ausgewählt und zerschlagen. Gesetz und Ordnung haben versagt.
Von offizieller Seite wurde ich gebeten, dieses Geheimnis zu wahren. Das habe ich getan, aber ich kann es nicht länger. Es ist zu einer Frage von öffentlicher Bedeutung geworden, belastet mit den schrecklichsten Konsequenzen, und ich erfülle meine Pflicht, bevor ich diese Welt verlasse, indem ich auf ihre Bedrohung hinweise.
Gib Du dies der Öffentlichkeit bekannt, John. Es ist meine letzte Bitte. Hab keine Angst. Das Schicksal der Menschheit liegt in Deinen Händen. Sorg dafür, daß die Presse Millionen Exemplare hiervon verbreitet; daß die Telegrafen es um die ganze Welt gehen lassen; wo immer Menschen zusammenkommen und miteinander sprechen, sorg dafür, daß sie von dieser Sache mit Angst und Zittern reden. Und dann, wenn alle aufgestört sind, möge sich die Gesellschaft in all ihrer Macht erheben und diese Greuel ausmerzen.
Leb wohl für immer! Dein Wade Atsheler