Major Rathbones Verjüngung

„Die Alchemie war ein großartiger Traum, faszinierend und unglaublich; aber noch bevor ihre Zeit abgelaufen war, entsprang ihrem Schoß ein viel prächtigeres Kind - die Chemie. Prächtiger deshalb, weil Fakten anstelle von Phantasien rückten und sich der Bereich menschlicher Möglichkeiten unermeßlich erweiterte. Sie hat die Wahrscheinlichkeit zur Möglichkeit werden lassen, und aus dem Ideal ist Wirklichkeit geworden. Stimmst du mir zu?“

Zerstreut suchte Dover nach einem Streichholz, und gleichzeitig betrachtete er mich in konzentrierter Ernsthaftigkeit, was sofort meine Erinnerung an den alten Doc Frawley weckte, der vor wenigen Jahren unser klinischer Dozent gewesen war. Ich nickte zustimmend, woraufhin er - angemessen in Rauch gehüllt - in seinem Diskurs fortfuhr.

„Die Alchemie hat uns viele Dinge gelehrt, und nicht wenige ihrer Visionen sind in späterer Zeit von uns verwirklicht worden. Das Lebenselixier war absurd, ewige Jugend eine schlichte Verleugnung des eigentlichen Lebensprinzips. Doch...“

Hier hielt Dover in aufreizender Feierlichkeit inne.

„Doch die Lebensverlängerung ist heutzutage für jeden, der danach verlangt, eine ganz gewöhnliche Sache. Vor noch nicht sehr langer Zeit betrug das Durchschnittsalter der menschlichen Existenz - einer Generation - dreiunddreißig Jahre. Heute setzt man eine Generation aufgrund von raschen Fortschritten in der Medizin, der Gesundheitspflege, der Vermögensverteilung und so weiter auf etwa vierunddreißig Jahre an. Zur Zeit unserer Urenkel wird es sicherlich auf vierzig Jahre angestiegen sein. Quien sähe?

Und mehr noch, wir könnten sogar erleben, daß es sich verdoppelt.“

„Aha!“ rief er, als er meine Verblüffung bemerkte. „Du verstehst, worauf ich hinauswill?“

„Ja“, erwiderte ich. „Aber.“

„Laß doch mal diese ,Aber’,“ platzte er selbstherrlich dazwischen. „Ihr verknöcherten Konservativen hängt stets an den Rockzipfeln der Wissenschaft...

„Und haben sie auf diese Weise oft genug vor dem Genickbruch bewahrt“, revanchierte ich mich.

„Nun brems dich mal für eine Minute und laß mich weiterreden. Was ist Leben? Schopenhauer hat es als Bejahung des Willen zum Leben definiert, was, nebenbei bemerkt, eine philosophische Absurdität ist, aber mit der haben wir nichts zu tun. Nun, und was ist Tod? Schlichtweg die Abnutzung, die Erschöpfung, der Zusammenbruch von Zellen, Geweben, Nerven, Knochen und Muskeln des menschlichen Organismus. Den Chirurgen bereitet es große Schwierigkeiten, die Knochen älterer Leute zusammenzuflicken. Warum? Weil der Knochen, gebrechlicher geworden und im Zerfallsprozeß begriffen, nicht mehr in der Lage ist, die ihm von den natürlichen Körperfunktionen zugeführten Mineralstoffe abzubauen. Und wie leicht kann dadurch ein Knochen brechen! Jedoch, wenn es möglich wäre, die vielen Ablagerungen von Phosphaten, kohlensaurem Natron und so weiter abzuziehen, würde der Knochen seine jugendliche Elastizität und Spannkraft zurückgewinnen.

Man braucht dieses Verfahren nur in unterschiedlicher Art und Weise auf die restliche Anatomie anzuwenden, und was erreicht man? Einfach die Verlangsamung des Zusammenbruchs des ganzen Systems, die Verhinderung des Alterungsprozesses, Verhütung von Senilität und die Wiedergewinnung der erregenden Jugend. Wenn die Wissenschaft die Lebenserwartung einer Generation um ein Jahr verlängert, ist es da nicht ebenso möglich, daß sie das Leben eines Individuums um viele Jahre verlängern kann?“

Die Lebensuhr zurückzustellen, das Stundenglas der Zeit einfach umzudrehen und den goldenen Sand erneut rinnen zu lassen - diese Kühnheit faszinierte mich. Was sollte einen daran hindern? Wenn ein Jahr möglich war, warum nicht zwanzig? Vierzig?

Ich fing gerade an, meine Leichtgläubigkeit zu belächeln, als Dover neben sich ein Schubfach aufzog und eine Phiole mit Metallverschluß ans Licht zog. Ich gestehe meine bittere Enttäuschung, als ich die darin enthaltene, ganz gewöhnliche Flüssigkeit erblickte - eine dickflüssige, fast farblose Substanz, die nichts von jenem leuchtenden Schillern hatte, das man selbstverständlich von einem solchen Wundermittel erwarten würde. Liebevoll, fast zärtlich schüttelte er sie; aber okkulte Eigenschaften offenbarten sich nicht. Dann öffnete er eine schwarze Lederkassette, in der eine subkutane Injektionsspritze auf einem Samtkissen lag, und nickte bedeutungsvoll. Das Brown-Sequard-Elixier und Kochs Experimente mit Impfstoff schössen mir in den Sinn. Ich lächelte belustigt, aber voller Zweifel; er jedoch - meine Gedanken erahnend - beeilte sich zu sagen: „Nein, sie waren auf dem richtigen Weg, haben ihn aber verfehlt.“

Er öffnete die Innentür des Laboratoriums und rief: „Hector! Komm, alter Knabe, komm schon!“

Hector war ein reichlich überalteter Neufundländer, der seit Jahren schon zu nichts mehr zu gebrauchen war, außer daß er Leuten im Wege lag, und darin brachte er es zu bewundernswerter Meisterschaft. Begreifen Sie mein Erstaunen, als dieses schwere, stämmige Tier wie ein Wirbelwind hereinsauste und alles völlig in Unordnung brachte, bis sein Herr es schließlich zur Räson rief. Ohne ein Wort zu verlieren, blickte mich Dover vielsagend an.

„Aber das - das ist doch nicht Hector!“ rief ich und zweifelte gleichzeitig an dieser Feststellung.

Er hob das Ohr des Tieres an, und ich sah innen zwei vernarbte Risse, die es zur Erinnerung an die wilden Kämpfe seiner Jugendtage zurückbehalten hatte, als auch sein Herr und ich noch junge Burschen waren. An die Wunden konnte ich mich genau erinnern.

„Sechzehn Jahre alt und springlebendig wie ein junger Hund.“ Dover strahlte triumphierend. „Seit zwei Monaten experimentiere ich mit ihm. Niemand weiß bisher davon, aber wie wird man die Augen aufreißen, wenn Hector draußen wieder herumspringt! Die Sache ist ganz einfach so, daß ich ihm mit der Injektion neue Lebenszeit geschenkt habe - übrigens, der gleiche Impfstoff wie er von früheren Forschern verwendet wurde, nur war es ihnen versagt, seine Bestandteile zu bestimmen, was mir gelungen ist. Was das ist? Ein tierisches Derivat, das die Auswirkungen des Alterungsprozesses eindämmt und abbaut, indem es auf die abgestorbenen Lebenszellen jedes tierischen Organismus einwirkt. Beachte die anatomischen Veränderungen an Hector, die durch die Infusionen herbeigeführt wurden; im wesentlichen kann man ihre Wirkungen als Abbau von mineralischen Knochenablagerungen und als Aufbau von Muskelgewebe charakterisieren. Natürlich gab es noch geringe Bedenken; doch es ist mir gelungen, diese auszuschalten; unglücklicherweise ging das jedoch nicht ohne das Ableben von mehreren meiner früheren Versuchstiere vonstatten. Ehe ein Mißerfolg des Versuchs nicht ausgeschlossen war, brachte ich es nicht fertig, mit Hector zu arbeiten. Und jetzt.“ Er erhob sich und lief aufgeregt hin und her. Es dauerte eine Weile, bevor er seinen unvollendeten Gedanken wieder aufnahm.

„Und jetzt bin ich soweit, diese Verjüngung an Menschen vorzunehmen. Und ich schlage vor, als allerersten jemanden auszuwählen, der mir sehr nahesteht.“

„Nicht doch - nicht etwa.?“ stammelte ich.

„Doch, Onkel Max. Deshalb habe ich um deine Mithilfe gebeten. Entdeckungen, eine immer größer als die andere, habe ich gemacht, und jetzt ist der Verjüngungsprozeß so weit fortgeschritten, daß ich vor mir selbst Angst bekomme. Hinzu kommt, Onkel Max ist so sehr alt, daß größte Diskretion erforderlich ist. Nur durch wirksamste Methoden lassen sich derartig entscheidende Veränderungen im Gesamtorganismus eines altersschwachen Körpers erzielen, und wir haben allen Grund, vorsichtig zu sein. Wie schon gesagt, ich habe Angst vor meiner eigenen Courage und brauche zu meiner Kontrolle das Mitdenken eines anderen. Verstehst du? Wirst du mir helfen?“

Ich habe das obige Gespräch mit meinem Freund Dover Wal-lingford wiedergegeben, um deutlich werden zu lassen, auf welche Art und Weise ich zu einem der merkwürdigsten wissenschaftlichen Erlebnisse meines Lebens kam. Über all die folgenden, beispiellosen Begebenheiten spricht und staunt das Dorf heute noch. Und da dem Dorf die wahren Fakten des Falles bekannt sind, wurde es durch die nachfolgenden Ereignisse bis ins tiefste erschüttert. Die verursachte Aufregung war gewaltig: Gleichzeitig wurden drei Feldgottesdienste abgehalten - und das mit unglaublichem Erfolg; es gab viel Gerede über Zeichen und Vorbedeutungen, und nicht wenige der ansonsten normalen Gemeindemitglieder verkündeten die Wiederkehr der alten Wunder; und immer noch spitzen sie eifrig und geduldig die Ohren, um die Trompeten des Jüngsten Gerichts zu hören, erheben ihre Augen, um bezeugen zu können, daß der Himmel sich auftut wie eine Schriftenrolle. Was aber Major Rathbone -das war Dovers Onkel Max - betrifft, nun - er wird von einem gewissen Teil des Dorfes als ein zweiter Lazarus angesehen, als einer, der vom Tode auferstanden ist und fast schon vor Gott gestanden hat; währenddessen ist eine andere Gruppe im Dorf der festen Überzeugung, daß er mit dem Teufel im Bunde steht und eines Tages in wirbelnder Schwefelwolke im Höllenfeuer verschwinden wird.

Aber sei es, wie es sei, ich werde hier die Tatsachen festhalten, wie sie wirklich geschehen sind. Es ist jedoch nicht meine Absicht, mich allen Einzelheiten des Falles zu widmen außer denen, die Major Rathbone direkt betreffen. Es haben sich mehrere unvorhersehbare Zufälle eingestellt, die erst genauer untersucht werden müssen, bevor wir die alte Welt mit der Formel unserer wunderbaren Entdeckung wachrütteln.

Dann werden wir eine Synode aller Nationen einberufen, und das Mittel zur Verjüngung der Menschheit wird kompetenten Expertenausschüssen der verschiedenen Regierungen ausgehändigt. Und wir geben hier das Versprechen, daß es allen gehören soll wie die Luft, die wir atmen, oder das Wasser, das wir trinken. Weiterhin bitten wir darum, daß man im Hinblick auf unsere rein uneigennützigen Motive unsere gegenwärtige Verschwiegenheit respektiert und die Welt, der wir einen Dienst erweisen wollen, das nicht zum Gegenstand gehässiger Erörterungen macht.

Nun zur Arbeit. Ich ließ unverzüglich mein Gepäck kommen und schlug meinen Wohnsitz in einem der Räume neben Dovers Laboratorium auf. Major Rathbone, von den verlockenden Verheißungen der Jugend ganz verwirrt, ertrug bereitwillig unsere Belästigungen. Für die Außenwelt lag er sterbenskrank danieder; aber in Wirklichkeit wurde er mit jedem Tag, den wir ihm widmeten, zunehmend kräftiger und stärker. Drei Monate lang beschäftigten wir uns ausschließlich mit dieser Aufgabe - einer Aufgabe, die voller Gefahren, doch so fesselnd war, daß wir kaum bemerkten, wie schnell die Zeit verstrich. Die bläßliche Haut des Majors bekam wieder Farbe, die Muskeln strafften sich, und die Falten verschwanden zum Teil. In seinen Jugendtagen war er keinesfalls ein Athlet gewesen, und da er keine Organschwächen hatte, kehrte auf höchst wundersame Weise seine Kraft zurück. Es war überraschend, welche Spannkraft und Energie sich in ihm ansammelte, und ungestümer jugendlicher Übermut wallte in seinem Blut, so daß es uns zum Schluß oft schwerfiel, ihn zurückzuhalten. Wir, die wir mit der Wiederbelebung eines schwachen, alten Mannes angefangen hatten, standen jetzt vor einem ungebändigten jungen Riesen. Bemerkenswert war an unserem Experiment, daß sein schneeweißes Haar und der Bart unverändert blieben. Was auch immer wir probierten, hier blieben alle Anstrengungen erfolglos. Hinzu kam, daß die mit fortschreitendem Alter erworbene Reizbarkeit weiterbestand. Und das, verbunden mit einer natürlichen Veranlagung zu Starrsinn und Aufsässigkeit, wurde für uns zu einer drückenden Bürde.

Irgendwann in den ersten Apriltagen mußten wir beide, Dover und ich, wegen einer bürokratischen Verwicklung um eine Schiffslieferung Chemikalien das Haus verlassen und zum Expreßbüro. Wir hatten Michael, Dovers Vertrauten, die erforderlichen Anweisungen erteilt und befürchteten deshalb keine Schwierigkeiten. Aber bei unserer Rückkehr trat uns am Eingang zum Grundstück ein ziemlich beschämt aussehender Michael entgegen.

„Er ist fort!“ keuchte er. „Er ist fort!“ wiederholte er in seiner Verzweiflung immer wieder. Sein rechter Arm baumelte schlaff und kraftlos herunter, und es erforderte nicht wenig Geduld, um endlich zu erfahren, was vorgefallen war.

„Ich habe ihm erklärt, daß er laut Anweisung nicht ausgehen darf. Aber er tobte los wie ein Stier und wollte wissen, wessen Anweisungen das wären. Und als ich es ihm sagte, meinte er, es sei für mich an der Zeit zu begreifen, daß er von niemandem Anweisungen entgegennähme. Und als ich ihm in den Weg trat, ergriff er meinen Arm so, und er drückte einfach fest zu. Ich fürchte, er ist gebrochen, Sir. Ja, und dann rief er Hector und verschwand mit ihm quer über die Felder in Richtung Dorf.“

„Nun, Ihr Arm ist in Ordnung“, versicherte Dover ihm nach einer sofortigen Untersuchung. „Nur der Bizeps ist ein bißchen gequetscht, wird ein paar Tage steif sein und schmerzen. Das ist alles.“ Und dann zu mir: „Los, komm, wir müssen ihn finden.“



Es war ein leichtes, Mr. Rathbone ins Dorf zu folgen. Als wir die Hauptstraße herunterkamen, erregte eine Menschenmenge vor dem Postamt unsere Aufmerksamkeit, und obgleich wir bei unserem Eintreffen nur den Höhepunkt miterlebten, konnten wir uns ohne weiteres vorstellen, was vorher losgewesen war. Eine Bulldogge, die zu einer Gruppe von drei Spinnereiarbeitern gehörte, hatte mit Hector Streit angefangen, und da es nicht möglich gewesen war, Hector in seiner zweiten Jugend mit einem neuen Gebiß auszustatten, war klar, daß er im nachfolgenden Kampf elendiglich benachteiligt war. Offensichtlich hatte Major Rathbone, im Bemühen, die Tiere zu trennen, eingegriffen, was die drei Rohlinge ihm verübelten. Überdies war er mit seinem schneeweißen Haar und seiner väterlichen Erscheinung ein so harmlos aussehender alter Gentleman, daß sie annahmen, ihren Spaß mit ihm treiben zu können.

„Los, hau ab hier“, konnten wir einen der kräftigen Kerle sagen hören, während er dabei den Major wegschubste, als wäre er ein kleiner Junge.

Der protestierte höflich, das sei sein Hund; aber sie wollten ihn nicht ernst nehmen und hörten nicht auf ihn. Ein Haufen ungehobelter Kerle hatte sich da zusammengefunden; sie standen so dicht gedrängt, um dieses Ereignis sehen zu können, daß wir schwer zu tun hatten, uns Durchgang zu verschaffen.

„Faß ihn“, hetzte der Spinnereiarbeiter, der Major Rathbone weggeschubst hatte, „glaubste nich, is besser, wenn de nach Haus zu deine Mami gehst? Dis hier is kein Ort nich for kleine Jungs wie dir.“

Der Major war ein Kämpfer, wenn er beleidigt wurde. Und jetzt ging er los. Bevor man noch bis drei zählen konnte, war alles vorbei: ein Schlag auf das Ohr des ersten Grobians, ein empfindlicher Treffer mitten auf das Kinn des zweiten und ein gezielter Hieb angedeutet als Schwinger und mit kurzem Aufwärtshaken auf die Schlagader des dritten, und die drei Rohlinge lagen niedergestreckt im Straßendreck. Hastig zerstreute sich die Menge angesichts dieses Wunders, und mehr als einen hörten wir, der ihn inbrünstig um Vergebung bat.

Nachdem er die Hunde getrennt hatte und sich erhob, hatte der Major ein übermütiges Funkeln in den Augen, das uns völlig aus der Fassung brachte. Wir waren auf ihn zugegangen wie Pfleger, die einen genesenden Patienten betreuen; aber seine strotzende Gesundheit und völlige Gelassenheit verblüfften uns.

„Sagt mal“, meinte er vergnügt, „da gibt’s doch so eine kleine Kneipe gleich um die Ecke - bester alter Korn - o Mann!“ Und er zwinkerte bedeutungsvoll, als wir uns wie Kameraden einhakten und uns einen Weg durch die vor Schreck versteinerte Menge bahnten.

Von diesem Augenblick an hatte unsere Kontrolle über ihn ein Ende. Er war schon immer ein herrischer Mensch gewesen, und nun wollte er beweisen, wie gut er auf sich aufpassen konnte. Seine mysteriöse Verjüngung war ein Wunder, das fortdauern sollte und von Tag zu Tag beachtlicher wurde. Jeden Morgen konnte man ihn sehen, wie er mit einer gutgefüllten Jagdtasche und Dovers Flinte quer über die tauigen Felder zum Frühstück nach Hause stapfte. Früher war er ein passionierter Reiter gewesen. Eines Nachmittags, wir kamen von einem Stadtausflug zurück, hatte sich das halbe Dorf am Zaun der Pferdekoppel versammelt. Bei genauerer Inspektion entdeckten wir den Major beim Zureiten eines jungen Pferdes, das sich trotz aller Versuche der Stallknechte bisher nicht hatte zähmen lassen. Es war ein unbeschreibliches Spektakel - seine grauen Locken und der ehrwürdige Bart, die vom Wind umspielt wurden, als er auf dem Rücken des sich wild aufbäumenden Tieres immer wieder herumgeschleudert wurde. Aber er bezwang den Wildfang, bis ein Stallbursche das Pferd, das nun anschmiegsam war und wie ein Kätzchen zitterte, fortführte. Ein andermal, bei einem seiner nunmehr zur Gewohnheit gewordenen nachmittäglichen Ausritte, forderte eine Gruppe junger Burschen seinen unermüdlichen Unternehmungsgeist heraus. Sie waren gut zu Pferde, doch er gab seinem großen, schwarzen Hengst die Sporen, bis sie auf dem Ritt durch die Hauptstraße des verschlafenen Städtchens nur noch seine Staubwolke sahen.

Kurz und gut, er nahm die Zügel des Lebens dort wieder auf, wo er sie vor Jahren hatte fallen lassen. Was die Politik anging, so war er ein eingefleischter Konservativer, und die außerordentlich unerfreulichen Zustände, die sich damals abzeichneten, lockten ihn wieder in die Arena. Ein Konflikt zwischen den Spinnereibesitzern und den Arbeitern spitzte sich zu, und eine ungestüme Truppe von „Agitatoren“ hatte es in unsere Mitte verschlagen. Nicht allein, daß der Major sie öffentlich angriff, nein, er verprügelte mehrere der schlimmsten Anführer, erstickte den Streik in seinen Anfängen und gewann mit einer höchst aufsehenerregenden Kampagne das Bürgermeisteramt. Das knappe Wahlergebnis war dazu angetan, die Schärfe des Kampfes zu unterstreichen. Und in der Zwischenzeit präsidierte er auf peinlichen Massenversammlungen, ließ die versammelte Menge „Cuba Libre!“ brüllen und war fast bereit, für die Erfüllung dieser Forderung auf die Straße zu gehen.

Es ist wahr, er tobte durch das Land wie ein junger Nimrod und lenkte die Geschicke der Stadt mit der Weisheit eines So-lon. Er schnaufte wie ein altes Schlachtroß, wenn er auf Widerstand stieß, und wehe denen, die es wagten, sich gegen ihn zu stellen. Erfolg stimulierte ihn bloß zu noch größerer Aktivität; aber während eine derartige Aktivität für einen jüngeren Mann angemessen schien, wirkte sie bei jemandem in seinem fortgeschrittenen Alter so widersinnig und unpassend, daß Freunde und Verwandte über alle Maßen erschreckt waren. Dover und ich konnten nur hilflos die Hände ringen und die Possen unseres altehrwürdigen Wunderkindes beobachten.

Sein Ruhm, oder wie wir es vorzogen zu sagen, seine Be-rüchtigtheit verbreitete sich wie ein Lauffeuer, bis man im Distrikt davon sprach, ihn für die kommenden Kongreßwahlen zu nominieren. Sensationsgierige Zeitungsschreiber füllten die Kolumnen der Sonntagsblätter mit frisierten Beiträgen über seine Tätigkeit und über seine unermeßliche Vitalität. Diese Journalisten der Sensationspresse hätten uns mit ihrem ständigen Geschrei zur Verzweiflung getrieben, wenn der Major die Angelegenheit nicht selbst in die Hand genommen hätte. Eine Zeitlang hatte er die Angewohnheit, den einen oder anderen dieser Verrückten noch vor dem Frühstück aus dem Haus zu werfen, und in gleicher Weise kam er den Wünschen von drei oder vier anderen nach, wenn er abends nach Hause zurückkehrte. Ein lästiger Haufen von Neugierigen und gelehrten Professoren schlich in unserer ruhigen Wohngegend herum. Bebrillte Herren, meist glatzköpfig und immer städtisch, kamen einzeln, paarweise, als Komitees und Delegationen, um die Fakten und Erscheinungen dieses höchst bemerkenswerten Falles aufzuzeichnen. Mystische Schwärmer, langhaarig und mit wirrem Blick, sowie Anhänger von zahllosen okkulten Sekten belagerten unsere Vorder- und Hintertür und zertrampelten die Blumen, bis der Gärtner aus lauter Verzweiflung mit seiner Kündigung drohte. Und ich glaube wirklich, daß man zehn Prozent der Heizungskosten hätte einsparen können, wenn man mit der ungebetenen Korrespondenz geheizt hätte.

Und um dem ganzen Unterfangen die Krone aufzusetzen, Major Rathbone legte sofort sein Bürgermeisteramt nieder, als die Vereinigten Staaten Spanien den Krieg erklärten, und bewarb sich im Kriegsministerium um einen Posten. Mit Blick auf sein Führungszeugnis während des Bürgerkrieges und auf seinen gegenwärtig ausgezeichneten Gesundheitszustand war es durchaus wahrscheinlich, daß seinem Antrag stattgegeben werden würde.

„Es scheint, als müßten wir auch ein Gegenmittel entdecken, bevor wir die Welt mit dieser Verjüngungskur beglücken -eine Art Beruhigungsmittel, um die mit der Rückkehr der Jugend auftretende Euphorie zu dämpfen.“

Auch wenn es scheinbar hoffnungslos war, hatten wir uns zusammengesetzt, um das Problem zu diskutieren und um zu versuchen, einen Ausweg zu finden.

„Verstehst du“, fuhr Dover fort, „nachdem wir einen alten Menschen wiederbelebt haben, entgleitet dieser Mensch völlig unserer Macht. Wir können weder irgendwelche Kontrollme-chanismen einbauen, noch irgendwelche Exzesse jugendlicher Spontanität, die von uns verursacht wurden, abschwächen. Ich weiß jetzt, daß wir bei der Anwendung unseres Impfstoffes große Vorsicht walten lassen müssen - die größte Vorsicht, wenn wir jegliche Art von lächerlichem Verhalten des Patienten ausschließen wollen. Aber das ist augenblicklich nicht die strittige Frage. Was soll mit Onkel Max geschehen? Ich gestehe, daß ich mir nicht anders zu helfen weiß, als einen Aufschub beim Kriegsministerium zu erwirken.“

Diesmal war Dover so hilflos, daß ich nicht einmal Stolz empfand,, ihm den Plan zu erläutern, über den ich seit einiger Zeit schon nachgrübelte.

„Du hast von Gegenmitteln gesprochen“, begann ich versuchsweise. „Nun, wir wissen aber auch, daß es solche und solche Gegenmittel gibt, und dann wiederum gibt es Gegenmittel, von denen einige als Heilmittel gegen die negativen Begleiterscheinungen wirken und andere diese verstärken. Wenn ein Baby einen Liter Kerosin getrunken hat, welches Gegenmittel würdest du verordnen?“

Dover schüttelte den Kopf.

„Und da es in einem derartigen Notfall kein Gegenmittel gibt, gehen wir davon aus, daß das Baby sterben muß? Ganz und gar nicht. Wir verordnen ein Brechmittel. In unserem Fall kommt ein Brechmittel natürlich nicht in Frage. Aber andererseits, sagen wir mal, jemand ist einer Frau hoffnungslos verfallen, oder nehmen wir einen Hypochonder, was für eine Arznei müßte da angewendet werden?



Selbstverständlich wäre keine der beiden von mir erwähnten angebracht. Nun, was würdest du einem krankhaften Melancholiker verschreiben?“

„Veränderung“, erwiderte er prompt. „Etwas Abwechslung, um ihn von sich und seinem zersetzenden Grübeln abzulenken, um ihm von neuem Interesse am Leben zu geben, damit er einen Lebenssinn findet.“

„Sehr gut“, frohlockte ich. „Du wirst bemerkt haben, daß du gerade ein Gegenmittel verschrieben hast. Das ist wahr, aber anstelle eines physischen oder medizinischen Mittels ist dies immateriell und abstrakt. Also kannst du mir eine ähnliche Medizin gegen exzessiven geistigen oder körperlichen Elan nennen?“

Dover sah verwirrt aus und wartete, daß ich fortfuhr.

„Kannst du dich an einen gewissen starken Mann mit Namen Samson erinnern, oder an Delila, die schöne Philisterin? Hast du dir schon einmal Gedanken über die tiefere Bedeutung von ,Die Schöne und das Tier’ gemacht? Weißt du nicht, daß die Macht der Starken geschwächt, Dynastien gegründet oder zerstört wurden, zahllose Nationen in Zwi-stigkeiten gestürzt oder daraus errettet wurden - durch die Liebe einer Frau? Da hast du dein Gegenmittel“, fügte ich bescheiden als Nachgedanken an.

„Oh!“ Seine Augen blitzten sekundenlang hoffnungsvoll, aber seine Verzagtheit kehrte zurück; er schüttelte traurig den Kopf und sagte: „Aber wer sollte das sein? Es gibt niemanden.“

„Erinnerst du dich an eine gewisse Romanze des Majors, als er noch ein ganz junger Mann war, lange vor dem Krieg?“

„Du meinst Miß Deborah Furbush, deine Tante Debby?“

„Ja, meine Tante Debby. Sie hatten Streit, wie du weißt, und haben sich nie versöhnt.“

„Noch seit damals miteinander gesprochen.“

„ doch, sie haben. Seitdem er verjüngt ist, besucht er sie regelmäßig, erweist ihr seine Aufmerksamkeit und erkundigt sich nach ihrer Gesundheit. Ist eine Art von Schadenfreude, verstehst du. Sie ist jetzt seit einem Jahr bettlägerig; man muß sie die Treppe rauf- und runtertragen, aber eigentlich fehlt ihr nichts. Sie ist einfach alt.“

„Wenn sie kräftig genug wäre.“, spekulierte Dover.

„Kräftig genug ist sie!“ rief ich. „Mann, ich versichere dir, es ist reine Senilität - es gibt nicht das geringste, wovor man sie bewahren müßte außer einer sehr leichten Herzklappenschwäche. Was meinst du? Wir versuchen, ein paar Monate Aufschub bei seiner Berufung in das neue Amt zu erreichen, und fangen sofort bei Tante Debby an! Na, was sagst du dazu, alter Freund? Was hältst du davon?“

Nicht nur ich war über diese Lösung unserer Schwierigkeiten in Erregung geraten, sondern ich hatte schließlich auch seine Begeisterung geweckt. In Anbetracht der gebotenen Eile räumten wir sofort alle erforderlichen Dinge aus dem Labor und schlugen unser Quartier in meinem Haus auf, das wiederum genau gegenüber von Tante Debbys lag. Diesmal lag das ganze Unternehmen direkt in unserer Hand, deshalb konnten wir mit äußerster Eile vorankommen. Aber wir waren verschwiegen, und Major Rathbone hatte nicht die leiseste Ahnung, was wir vorhatten. Eine Woche nachdem wir mit der Behandlung angefangen hatten, überraschte Tante Debby das Haus Furbush damit, daß sie aufstand und dem Major die Hand reichte, als er seinen üblichen Besuch machte. Vierzehn Tage später sahen wir - von einem günstigen Beobachtungsort in meiner Windmühle aus - die zwei im Garten Spazierengehen und bemerkten im Benehmen des Majors eine gewisse neue Galanterie. Und das Tempo, mit dem Tante Debby gegen den Lauf der Zeit ankämpfte, war atemberaubend. Sie wurde zusehends jünger, Tag für Tag, und die Rosen der Jugend blühten wieder auf ihren Wangen und gaben ihrem Teint die denkbar schönste rosa Perlenfrische zurück.

Etwa zehn Tage danach fuhr er vor ihrer Tür vor und nahm sie auf einen Ausflug mit. Und das Gerede im Dorf! Doch das war noch nichts im Vergleich zu dem Geschwätz, das einsetzte, als einen Monat später das Kriegsinteresse des Majors abgeflaut war und er seine Bewerbung zurückzog. Und als die uralten Liebenden mutig vor den Altar traten und dann in die Flitterwochen fuhren, schien es, als ob sich alle Welt die Mäuler zerreißen wollte, bis es nichts mehr zu zerreißen gab.

Wie schon gesagt, dieser Impfstoff ist eine wundervolle Entdeckung.



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