Der Schatten und der Blitz

Erst im Rückblick wird mir klar, was für eine sonderbare Freundschaft das war. Da war zuerst einmal Lloyd Inwood, groß, schlank, gut gebaut, nervös und dunkelhaarig. Und dann Paul Tichlorne, groß, schlank, gut gebaut, nervös und blond. Jeder war das vollkommene Ebenbild des anderen, mit Ausnahme der Farbe. Lloyds Augen waren schwarz, die von Paul blau. Im Erregungszustand stieg das Blut in Lloyds Gesicht olivgrün empor, in Pauls dunkelrot. Aber abgesehen von der Farbe ähnelten sich die beiden wie ein Ei dem anderen. Beide waren leicht erregbar, neigten zu übertriebener Anspannung und Ausdauer und standen ständig unter Volldampf. Zu dieser bemerkenswerten Freundschaft gehörten allerdings drei. Der dritte im Bunde war klein und dick, kräftig und phlegmatisch, und - so ungern ich’s sage - dieser dritte war kein anderer als ich selbst. Paul und Lloyd schienen als Rivalen geboren zu sein und ich als Friedensstifter zwischen ihnen. Wir drei wuchsen zusammen auf, und nur allzuoft bekam ich die wütenden Schläge ab, die sie sich gegenseitig zugedacht hatten. Sie konkurrierten ständig miteinander und versuchten, sich gegenseitig auszustechen. Waren sie erst einmal in irgendeinen Kampf verwickelt, so kannten weder ihre Anstrengungen noch ihre Verbissenheit eine Grenze.

Dieser intensive Konkurrenzgeist beherrschte ihr Lernen und ihr Spiel. Wenn Paul einen Gesang des „Marmion“ auswendig konnte, dann lernte Lloyd zwei, Paul erschien dann mit drei und Lloyd seinerseits mit vier, bis die beiden das ganze Gedicht im Kopf hatten. Ich erinnere mich an einen Zwischenfall, der sich an der Badestelle ereignete - ein Zwischenfall, der auf tragische Weise für die Neigung der beiden zum Kampf auf Leben und Tod bezeichnend ist. Die Jungen hatten ein Spiel, bei dem sie zum Grund einer zehn Fuß tiefen Stelle tauchten und sich dort an den Wurzeln festhielten, um zu sehen, wer es am längsten unten aushalten konnte. Paul und Lloyd ließen sich dazu anstacheln, zusammen hinabzutauchen. Als ich ihre starren und entschlossenen Gesichter im Wasser verschwinden und ihre Körper rasch nach unten sinken sah, ahnte ich, daß etwas Schreckliches geschehen würde. Die Zeit raste, die kleinen Wellen legten sich, die Wasseroberfläche wurde ruhig und glatt, doch weder ein schwarzer noch ein blonder Kopf brach durch die Oberfläche, um Luft zu holen. Wir Zuschauer bekamen es mit der Angst. Der Rekord des ausdauerndsten Jungen war längst gebrochen, und es regte sich noch immer nichts. Luftblasen stiegen langsam nach oben und zeigten an, daß die beiden die Luft aus ihren Lungen gepreßt hatten. Dann stiegen keine Blasen mehr auf. Jede Sekunde wurde zur Ewigkeit, und ich, unfähig, die Spannung länger zu ertragen, sprang ins Wasser.

Ich fand die beiden unten auf dem Grund. Sie klammerten sich an die Wurzeln; ihre Gesichter kaum einen Fuß voneinander entfernt, starrte jeder den anderen mit weit aufgerissenen Augen an. Sie litten schreckliche Qualen, krümmten und wanden sich unter den Schmerzen des freiwilligen Erstickens. Keiner von beiden wollte loslassen und sich geschlagen geben. Ich versuchte, Pauls Hand von der Wurzel zu lösen, aber er leistete mir erbitterten Widerstand. Ich geriet außer Atem und mußte auftauchen. Ich war ganz verstört. Schnell erklärte ich die Situation, und ein halbes Dutzend von uns tauchte hinunter und riß die zwei mit vereinten Kräften los. Als wir sie an Land gezogen hatten, waren sie bewußtlos, und erst nach längerem Umherwälzen und Abfrottieren kamen sie wieder zu sich. Sie wären unweigerlich ertrunken, hätten wir sie nicht gerettet.

Als Paul Tichlorne seine Collegeausbildung begann, ließ er jedermann wissen, daß er sich den Sozialwissenschaften widmen wollte. Lloyd Inwood, der zur selben Zeit begann, entschied sich für denselben Kurs. Aber Paul hatte die ganze Zeit insgeheim geplant, Naturwissenschaften mit der Spezialrichtung Chemie zu studieren und sattelte im letzten Augenblick um. Obwohl Lloyd schon die Arbeit für das Jahr geplant und die ersten Vorlesungen besucht hatte, folgte er Paul sofort und wandte sich den Naturwissenschaften mit der Spezialrichtung Chemie zu. Ihre Rivalität war bald in der ganzen Universität bekannt. Sie spornten sich gegenseitig derart an, daß sie tiefer als je ein Student vor ihnen in die Geheimnisse der Chemie eindrangen; so tief, daß sie schon vor der Diplomprüfung jeden Chemie- oder anderen Professor der Lehranstalt hätten in Verlegenheit bringen können. Eine Ausnahme war der alte Moss, der Institutsdirektor, und selbst ihn verwirrten und belehrten sie mehr als einmal.

Lloyds Entdeckung des „Todesbazillus“ der Froschfische und seine Untersuchungen zur Wirkung von Zyankali auf den Bazillus machten seinen Namen und den seiner Universität weltbekannt. Paul stand ihm jedoch in nichts nach, denn ihm gelang die Herstellung künstlicher Kolloide, die sich wie Amöben verhielten. Außerdem warf er neues Licht auf die Befruchtungsprozesse durch seine erstaunlichen Untersuchungen der Wirkung einfacher Natriumchloride und Magnesiumlösungen auf niedere Wasserlebewesen.

In ihrer Studentenzeit, während sie noch vollauf damit beschäftigt waren, die Geheimnisse der organischen Chemie zu ergründen, geschah es allerdings, daß Doris van Benschoten in ihr Leben trat. Lloyd lernte sie als erster kennen, aber innerhalb von vierundzwanzig Stunden sorgte Paul dafür, daß er ebenfalls ihre Bekanntschaft machte. Natürlich verliebten sie sich in sie, und das Mädchen wurde für beide der einzige Lebensinhalt. Sie umwarben sie mit dem gleichen Eifer und Feuer, und der Kampf um sie wurde so heiß, daß die halbe Studentenschaft hohe Wetten über den Ausgang abschloß. Selbst der alte Moss setzte nach einem erstaunlichen Experiment in seinem Privatlaboratorium, das Paul demonstriert hatte, einen Monatslohn darauf, daß dieser Doris van Benschotens Bräutigam würde.

Am Ende löste sie das Problem auf ihre Weise, zur Zufriedenheit aller, mit Ausnahme von Paul und Lloyd. Sie lud die beiden ein und eröffnete ihnen, daß sie sich wirklich nicht zwischen ihnen entscheiden könne, denn sie mochte beide gleich gern. Da es jedoch in den Vereinigten Staaten nicht erlaubt sei, polygam zu leben, sähe sie sich gezwungen, auf die Ehre und das Glück der Ehe mit jedem der beiden zu verzichten. Sie gaben sich gegenseitig die Schuld an diesem beklagenswerten Ausgang, und die Feindschaft zwischen ihnen wuchs noch mehr.

Deren Höhepunkt sollte jedoch nur allzuschnell erreicht werden. Das Folgende ereignete sich in meinem Haus, nachdem sie ihren Abschluß gemacht hatten und aus dem Blickfeld der Öffentlichkeit verschwunden waren. Es war der Anfang vom Ende. Beide waren vermögend, so daß bei ihnen nur eine geringe Neigung und überhaupt keine Notwendigkeit zu einer beruflichen Laufbahn bestand. Meine Freundschaft und ihre Feindschaft waren das einzige, was sie überhaupt zusammenhielt. Sie kamen sehr oft zu mir, achteten jedoch peinlich darauf, sich bei einem solchen Besuch nicht zu begegnen. Dennoch war es unter diesen Um- ständen unvermeidbar, daß sie gelegentlich aufeinanderstießen.

An dem betreffenden Tage hatte Paul Tichlorne den ganzen Morgen in meinem Arbeitszimmer über einer neuen wissenschaftlichen Zeitschrift gebrütet. Dadurch konnte ich mich um meine eigenen Angelegenheiten kümmern, und ich befand mich im Garten bei meinen Rosen, als Lloyd Inwood kam. Ich war gerade dabei, die Kletterrosen zu beschneiden und an der Veranda hochzubinden, den Mund voller Nägel.

Lloyd leistete mir Gesellschaft und ging mir auch gelegentlich zur Hand. Dabei kamen wir auf die sagenumwobenen unsichtbaren Menschen zu sprechen, auf jene fremdartigen, ruhelosen Gestalten, von denen uns in alten Überlieferungen berichtet wird. Lloyd wandte sich dem Gesprächsthema auf seine nervöse, sprunghafte Weise zu und stellte bald Betrachtungen über die physikalischen Voraussetzungen und Möglichkeiten der Unsichtbarkeit an. Ein völlig schwarzes Objekt, so behauptete er, würde sich dem schärfsten Blick entziehen.

„Farbe ist eine Sinneswahrnehmung“, sagte er. „Sie hat keine objektive Existenz. Ohne Licht können wir weder Farben noch die eigentlichen Gegenstände sehen. Alle Gegenstände sind im Dunkeln schwarz, und bei Dunkelheit ist es unmöglich, sie zu sehen. Wenn kein Licht auf sie fällt, dann wird von ihnen auch kein Licht auf das Auge zurückgeworfen, so daß wir keinen sichtbaren Beweis für ihre Existenz haben.“

„Aber wir sehen doch schwarze Gegenstände bei Tageslicht“, warf ich ein.

„Ganz recht“, fuhr er hitzig fort. „Der Grund dafür ist, daß sie nicht völlig schwarz sind. Wären sie völlig schwarz, absolut schwarz sozusagen, könnten wir sie nicht sehen. Nicht einmal im Licht von tausend Sonnen wären sie sichtbar! Ich behaupte, daß mit den richtig zusammengesetzten Farbstoffen ein absolutes Schwarz hergestellt werden könnte, und alles, was man damit bestriche, würde unsichtbar werden.“

„Das wäre eine erstaunliche Entdeckung“, sagte ich zurückhaltend, denn die ganze Sache schien mir zu phantastisch, als daß er ernst genommen werden könnte.

„Erstaunlich!“ Lloyd klopfte mir auf die Schulter. „Das will ich meinen. Wenn ich mich in solch eine Farbe hüllen könnte, alter Junge, dann würde mir die ganze Welt zu Füßen liegen. Ich würde die Geheimnisse von Königen und Kaisern kennen, das Ränkespiel der Diplomaten und Politiker, die Manöver der Börsenspekulanten, die Pläne von Trusts und Unternehmen. Ich käme an die Schalthebel der Macht heran; ja, ich wäre selbst die wichtigste Macht in der Welt. Und ich... “

Er unterbrach sich kurz, dann setzte er hinzu: „Nun ja, ich habe mit meinen Experimenten schon begonnen, und ich kann dir sagen, daß ich auf dem richtigen Wege bin.“

Ein Lachen von der Eingangstür her schreckte uns auf. Paul Tichlorne stand dort mit einem spöttischen Lächeln auf den Lippen.

„Du vergißt etwas, mein lieber Lloyd“, sagte er. „Was soll ich vergessen?“

„Du vergißt“, fuhr Paul fort, „ja, du vergißt den Schatten.“

Ich sah, wie sich Lloyds Gesicht verfinsterte, aber er antwortete spöttisch: „Ich kann ja einen Sonnenschirm tragen.“

Doch dann wandte er sich plötzlich wütend zu ihm hin. „Hör zu, Paul, du hältst dich da gefälligst ‘raus. Das rate ich dir.“

Ein Zusammenstoß schien unausweichlich, aber Paul lachte nur gutmütig. „Ich würde niemals deine schmutzigen Farbstoffe anrühren. Auch wenn du noch so viel Erfolg hättest, immer wäre dir der Schatten im Wege. Ihm entkommst du nicht. Ich gehe genau den entgegengesetzten Weg. Bei meiner Lösung wird der Schatten von vornherein eliminiert.“

„Transparenz!“ stieß Lloyd sofort hervor. „Aber sie ist nicht zu erreichen.“

„O nein, natürlich nicht.“ Paul zuckte die Achseln und schlenderte den Wildrosenpfad hinunter.

Das war der Anfang. Beide Männer gingen das Problem mit der gewaltigen Energie an, für die sie bekannt waren, und mit einer haßerfüllten Verbissenheit, daß ich vor dem Erfolg eines jeden Angst hatte.

Sie vertrauten mir völlig. In den folgenden langen Wochen des Experimentierens wurde ich auf beiden Seiten ein Beteiligter. Ich hörte mir ihre Theorien an und beobachtete ihre Experimente. Niemals machte ich auch nur die geringste Andeutung über die Fortschritte des anderen, und beide respektierten das Siegel, mit dem ich meine Lippen verschloß.

Lloyd Inwood hatte eine sonderbare Art, sich zu entspannen, wenn ihm die geistige und körperliche Anspannung nach längerer, ununterbrochener Arbeit unerträglich wurde. Er ging zu Boxkämpfen. Es geschah bei einer dieser grausamen Darbietungen, zu der er mich mitgeschleppt hatte, um mir seine neuesten Ergebnisse zu erläutern, daß seine Theorie eine augenfällige Bestätigung erfuhr. „Siehst du den Mann mit dem roten Backenbart?“ fragte er, indem er über den Ring hinweg auf die fünfte Sitzreihe deutete. „Und siehst du auch den Mann neben ihm, den mit dem weißen Hut? Zwischen ihnen ist doch eine ziemlich große Lücke, nicht?“

„Sicher“, antwortete ich. „Sie sind einen Platz auseinander. Die Lücke ist ein freier Sitz.“

Er beugte sich zu mir herüber und sprach ernst. „Zwischen dem Mann mit dem roten Backenbart und dem Mann mit dem weißen Hut sitzt Ben Wasson. Du hast gehört, wie ich einmal von ihm gesprochen habe. Er ist der beste Boxer seiner Klasse im Lande. Außerdem ist er Neger und kommt aus der Karibik. Er ist der schwärzeste Neger in den Vereinigten Staaten. Sein schwarzer Überzieher ist bis oben zugeknöpft. Ich sah ihn, als er hereinkam und sich dort hinsetzte. Sobald er saß, war er verschwunden. Sieh genau hin, er lächelt vielleicht.“

Ich war dafür, hinüberzugehen, um Lloyds Rehauptung zu überprüfen, aber er hielt mich zurück. „Warte“, sagte er.

Ich wartete und beobachtete schließlich, wie der Mann mit dem roten Backenbart seinen Kopf drehte, als wolle er sich dem freien Platz zuwenden. Dann sah ich in dem leeren Raum das Weiße von einem rollenden Augenpaar und den weißen Doppelhalbmond zweier Zahnreihen, und einen Augenblick lang konnte ich das Gesicht des Negers erkennen. Aber indem das Lächeln verschwand, wurde es wieder unsichtbar, und der Platz schien leer wie zuvor.

„Wenn er völlig schwarz wäre, könntest du neben ihm sitzen und würdest ihn nicht sehen“, sagte Lloyd, und ich muß zugeben, daß die Demonstration mich beinahe überzeugte.

Danach besuchte ich Lloyds Laboratorium noch einige Male und fand ihn immer auf der Suche nach dem absoluten

Schwarz. Seine Experimente schlossen alle möglichen Farbstoffe ein, so etwa Lampenruß, Teer, verkohlte Pflanzenteile, Ruß aus der Verbrennung von Ölen und Fetten, die verschiedensten verkohlten tierischen Substanzen.

„Weißes Licht besteht aus den sieben Grundfarben“, setzte er mir auseinander. „Aber selbst ist es unsichtbar. Nur wenn es von Gegenständen reflektiert wird, werden diese sichtbar. Zu sehen ist jedoch nur der Anteil des Lichtes, der reflektiert wird. Beispielsweise haben wir hier eine blaue Tabaksdose. Das weiße Licht trifft darauf, und mit einer Ausnahme werden alle enthaltenen Farben - Violett, Indigo, Grün, Gelb, Orange und Rot - absorbiert. Die einzige Ausnahme ist das Blau. Deshalb erscheint uns die Tabaksdose blau. Wir sehen die anderen Farben nicht, weil sie absorbiert werden. Wir sehen nur das Blau. Aus demselben Grund ist Gras grün. Die grünen Wellen des weißen Lichtes treffen auf unsere Augen.“

„Wenn wir unsere Häuser anstreichen, dann tragen wir nicht eigentlich Farben auf“, sagte er bei anderer Gelegenheit. „Wir tragen lediglich gewisse Substanzen auf, die die Eigenschaft haben, aus dem weißen Licht alle Farben zu absorbieren, bis auf jene, in denen wir unsere Häuser erscheinen lassen wollen. Wenn eine Substanz alle Farben auf unser Auge reflektiert, dann erscheint sie weiß. Wenn sie alle Farben absorbiert, ist sie schwarz. Aber wie ich schon sagte, bis jetzt gibt es noch kein perfektes Schwarz. Alle Farben werden nicht absorbiert. Das perfekte Schwarz, da es nichts reflektiert, wird vollkommen und absolut unsichtbar sein. Schau dir beispielsweise das hier an.“ Er deutete auf eine Palette, die auf seinem Schreibtisch lag. Schattierungen verschiedener schwarzer Farbstoffe waren darauf verteilt. Eine davon war kaum sichtbar. Diese Substanz verschwamm vor meinen Augen; ich mußte mir die Augen reiben und noch einmal hinsehen.

„Dies“, sagte er eindringlich, „ist das schwärzeste Schwarz, das du oder irgendein anderer Sterblicher je gesehen hat. Aber warte noch ein wenig, und ich werde ein Schwarz haben, so schwarz, daß kein Sterblicher, der darauf blickt, es sehen kann!“

Auf der anderen Seite fand ich Paul Tichlorne mit gleicher Intensität vertieft in die Untersuchung von Erscheinungen wie Polarisation und Beugung des Lichtes, Interferenz, Einfach-und Doppelbrechung sowie die Analyse aller möglichen organischen Verbindungen.

„Transparenz - ein Zustand oder eine Eigenschaft von Körpern, die von allen Lichtstrahlen durchdrungen werden“, definierte er mir den Begriff.

„Das ist, was ich suche. Lloyd geht in die Irre mit seiner perfekten Undurchsichtigkeit. Er kann dem Schatten nicht entfliehen, aber ich. Ein durchsichtiger Körper wirft keinen Schatten. Er reflektiert auch keine Lichtwellen, allerdings nur, wenn er absolut durchsichtig ist. Wenn man Seitenlicht vermeidet, wird solch ein Körper nicht nur keinen Schatten werfen, sondern auch völlig unsichtbar sein, da er ja kein Licht reflektiert.“

Bei einer anderen Gelegenheit standen wir am Fenster. Paul war damit beschäftigt, einige Linsen zu polieren, die in einer Reihe auf dem Fensterbrett lagen. Plötzlich, in einer Gesprächspause, sagte er: „Oh, ich habe eine Linse fallen lassen. Steck doch mal deinen Kopf hinaus, alter Junge, und sieh nach, wo sie hingefallen ist.“ Ich beugte meinen Kopf vor, aber ein scharfer Schlag gegen meine Stirn ließ mich sofort zurückfahren. Ich rieb meine schmerzende Augenbraue und sah Paul vorwurfsvoll und fragend an. Der lachte nur belustigt und kindisch.

„Nun?“ fragte er.

„Nun?“ gab ich zurück.

„Weshalb untersuchst du die Sache nicht?“ forderte er mich auf.

Und ich untersuchte die Sache. Bevor ich meinen Kopf vorbeugte, hatten mir meine Sinne ganz automatisch gesagt, daß dort nichts war, daß es zwischen mir und draußen nichts gab und die Fensteröffnung völlig leer war. Ich streckte die Hand vor und fühlte einen festen Gegenstand, er war glatt, kühl und flach. Mein Tastsinn sagte mir aus Erfahrung, daß es sich nur um Glas handeln konnte. Ich blickte noch einmal hin, aber ich konnte absolut nichts sehen.

„Weißer Quarzsand“, rasselte Paul herunter, „Natriumkarbonat, gelöschter Kalk, zerstoßenes Glas, Mangansuperoxid - das ist es, das feinste französische Spiegelglas, hergestellt von der berühmten Firma St. Gobain, wo das feinste Spiegelglas der Welt gemacht wird. Und das ist das Beste, was dort je hergestellt wurde. Es hat ein Vermögen gekostet. Schau es nur an! Du kannst es nicht sehen. Du weißt nicht, daß es da ist, bis du mit dem Kopf dagegen stößt.

Na, alter Junge! Das war etwas Anschauungsunterricht - gewisse Elemente, die selbst undurchsichtig sind, werden so verbunden, daß der entstehende Körper durchsichtig wird. Nun wirst du sagen, das gehört in die anorganische Chemie. Und du hast recht. Aber ich wage die Behauptung, daß ich in der organischen Materie alles kopieren kann, was in der anorganischen Materie vorkommt. Hier!“

Er hielt vor mir ein Reagenzglas ans Licht. Ich sah die darin enthaltene wolkige, trübe Flüssigkeit. Er leerte den Inhalt eines zweiten Reagenzglases in das erste, und die Flüssigkeit wurde sofort klar und perlend. „Oder hier!“

Mit hastigen, nervösen Bewegungen griff er nach dem einen oder anderen Reagenzglas und verwandelte eine weiße Lösung in eine weinfarbene und eine hellgelbe in eine dunkelbraune. Er warf ein Stück Lackmuspapier in eine Säure; es färbte sich sofort rot. Als er es in eine Lauge tauchte, wurde es ebenso schnell blau.

„Das Lackmuspapier ist noch immer Lackmuspapier“, verkündete er dozierend. „Ich habe es nicht in etwas anderes verwandelt. Aber was habe ich gemacht? Ich habe lediglich die Anordnung seiner Moleküle verändert. Zuerst absorbierte es alle Farbe außer Rot, dann wurde seine Molekularstruktur so verändert, daß es Rot absorbierte und auch alle anderen Farben, bis auf Blau. Und so geht es weiter, ad infinitum. Nun, worauf ich eigentlich hinauswill, ist folgendes.“ Er machte eine kurze Pause. „Ich will die geeigneten Stoffe suchen - hm, und auch finden - , die bei der Einwirkung auf den lebenden Organismus Molekularveränderungen hervorrufen, die denen ähnlich sind, die du gerade beobachtet hast. Aber die Reagenzien, nach denen ich auf der Suche bin, werden den lebendigen Körper nicht blau, rot oder schwarz färben, sondern durchsichtig machen. Alles Licht wird hindurchtreten. Er wird unsichtbar sein. Er wird keinen Schatten werfen.“

Ein paar Wochen später ging ich mit Paul zur Jagd. Er hatte mir schon seit langem das Vergnügen versprochen, mit einem wunderbaren Hund zu jagen, mit dem wohl wunderbarsten Hund, der jemals einen Jäger begleitet hat.

Das behauptete er jedenfalls immer wieder, bis ich neugierig wurde. Aber an dem betreffenden Morgen war ich enttäuscht, denn es war kein Hund zu sehen.

„Kümmere dich nicht darum“, ließ Paul unbeteiligt fallen. Dann machten wir uns auf den Weg durch die Felder.

Ich wußte zu diesem Zeitpunkt nicht, was mir fehlte, aber in mir war die Ahnung einer drohenden tödlichen Krankheit. Ich war mit den Nerven am Ende, und nach den erstaunlichen Streichen zu urteilen, die meine Sinne mir gespielt hatten, schienen diese völlig durcheinander zu sein. Unerklärliche Geräusche belästigten mich. Manchmal hörte ich das Rascheln von Gras, das auseinandergeschoben wird, und einmal auch Fußtritte auf einem Stück steinigen Bodens.

„Hast du etwas gehört, Paul?“ fragte ich einmal. Aber er schüttelte nur den Kopf und schritt ruhig vorwärts.

Während ich über einen Zaun stieg, hörte ich das leise, ungeduldige Winseln eines Hundes, scheinbar nur wenige Fuß von mir entfernt. Aber als ich mich umwandte, konnte ich nichts sehen.

Erschlafft und zitternd sank ich zu Boden. „Paul“, sagte ich, „wir sollten besser zum Haus zurückgehen. Ich glaube, ich werd krank.“

„Unsinn, alter Junge“, antwortete er. „Dir ist nur der Sonnenschein wie Wein zu Kopf gestiegen. Gleich geht’s dir wieder besser. Wir haben doch wunderbares Wetter.“

Aber als wir den schmalen Weg durch ein Pappelwäldchen passierten, streifte irgend etwas meine Beine, so daß ich strauchelte und beinahe hinfiel. Mit plötzlicher Angst blickte ich Paul an.

„Was ist denn los?“ fragte er. „Bist du über deine eigenen Füße gestolpert?“

Ich biß die Zähne zusammen und schleppte mich weiter, obwohl ich sehr verwirrt und vollkommen überzeugt war, das irgendeine akute und geheimnisvolle Krankheit meine Nerven befallen hatte. Bis jetzt waren meine Augen ver- schont geblieben, aber als wir wieder auf offenes Gelände kamen, ließen sogar sie mich im Stich.

Buntes Regenbogenlicht begann auf dem Weg vor mir aufzublitzen und wieder zu verschwinden. Noch konnte ich mich beherrschen, aber dann blieb das bunte Licht volle zwanzig Sekunden lang sichtbar. Es tanzte und blitzte fortwährend. Als es endlich vorüber war, mußte ich mich setzen, schwach und zitternd. „Ich bin am Ende“, keuchte ich und bedeckte die Augen mit den Händen.

„Jetzt auch noch die Augen. Paul, schaff mich nach Hause.“ Aber Paul lachte lange und laut. „Was hab ich dir gesagt? Der wunderbarste Hund, nicht wahr? Na, was denkst du?“

Er wandte sich halb von mir ab und begann zu pfeifen. Ich hörte Fußtritte, das Keuchen eines erhitzten Tieres und das unverwechselbare Bellen eines Hundes. Dann bückte sich Paul und machte eine Handbewegung als würde er ein Tier streicheln.

„Hier! Gib mir deine Hand.“ Und er führte sie über die kalte Nase und die Kehle eines Hundes. Es war zweifellos ein Hund. Er hatte die Gestalt und das glatte, kurze Fell eines Pointers.

Ich kann sagen, daß ich meine Sinne sehr schnell wieder unter Kontrolle bekam. Paul legte dem Tier ein Halsband um und band ihm ein Taschentuch an den Schwanz. So genossen wir den erstaunlichen Anblick eines durch das Gelände springenden leeren Halsbandes und eines wedelnden Taschentuches, und es war schon sehenswert, wie Halsband und Taschentuch einen Schwärm Wachteln in einer Gruppe weißer Akazien in Schach hielt, der starr und unbeweglich blieb, bis wir die Vögel geschossen hatten.

Hin und wieder sandte der Hund die vielfarbigen Lichtblitze aus, die ich schon erwähnt habe. Das einzige, wie Paul erklärte, was er nicht vorausgesehen hatte und was wahrscheinlich nicht beseitigt werden konnte. „Von diesen Erscheinungen gibt es eine ganze Familie“, sagte er, „Nebensonnen, Regenbögen,

Heiligenscheine. Sie entstehen, wenn Lichtstrahlen an den Kristallen von Mineralien oder Eis, am Nebel, Regen-, Sprühregen und so fort gebrochen werden. Ich glaube, die Blitze sind der Preis, den ich für die Unsichtbarkeit zu zahlen habe. Ich konnte Lloyds Schatten umgehen, traf dafür aber auf den Regenbogenblitz.“

Ein paar Tage später empfing mich vor dem Eingang zu Pauls Laboratorium ein entsetzlicher Gestank. Er war so intensiv, daß man seine Ursache leicht entdecken konnte. Auf den Stufen lag eine faulige Masse, die von der Form her an einen Hund erinnerte. Paul war bestürzt, als er meinen Fund untersuchte. Es war sein unsichtbarer Hund - oder besser das, was einmal sein unsichtbarer Hund gewesen war, denn jetzt konnte man ihn deutlich sehen. Noch vor ein paar Minuten war er gesund und munter umhergetollt. Eine genauere Untersuchung ergab, daß der Schädel durch einen schweren Schlag zertrümmert worden war. Erschien es schon rätselhaft, daß das Tier getötet wurde, unerklärlich war der Fakt, daß es so schnell in Verwesung überging.

„Die Substanzen, die ich ihm injiziert hatte, waren harmlos“, erklärte Paul. „Aber sie waren wirksam, und es scheint, daß sie nach dem Tode praktisch die sofortige Verwesung bewirkten. Bemerkenswert, höchst bemerkenswert! Nun, es kommt halt darauf an, nicht zu sterben. Sie tun einem nichts, solange man lebt. Aber ich möchte wissen, wer dem Hund den Kopf zertrümmert hat.“



Licht kam allerdings in die Sache, als ein verängstigtes Hausmädchen die Nachricht brachte, daß Gaffer Bedshaw an diesem Morgen, vor weniger als einer Stunde, völlig den Verstand verloren habe und zu Hause in der Jagdhütte mit Riemen gefesselt werden mußte, wo er vom Kampf mit einer wilden, riesigen Bestie faselte, mit der er auf Tichlornes Rasen zusammengestoßen war. Er behauptete, daß das Geschöpf, was immer es gewesen sein mochte, unsichtbar war; mit eigenen Augen habe er gesehen, daß es unsichtbar war, woraufhin Frau und Töchter nur unter Tränen die Köpfe schütteln konnten und er um so heftiger tobte, so daß der Gärtner und der Kutscher die Riemen noch ein Loch enger ziehen mußten.

Hatte nun Paul Tichlorne das Problem der Unsichtbarkeit auf seine Weise gelöst, so stand ihm Lloyd Inwood in nichts nach. Er bat mich, seine Fortschritte in Augenschein zu nehmen, und ich ging zu ihm hinüber. Sein Laboratorium lag jetzt inmitten seines riesigen Anwesens versteckt. Es war in einer hübschen kleinen Lichtung errichtet worden, die zu allen Seiten von dichtem Gehölz umgeben war, so daß man nur über einen gewundenen, verwilderten Pfad dorthin gelangen konnte. Ich war allerdings diesen Weg schon so oft gegangen, daß ich dort jeden Stein kannte. Wie groß war meine Überraschung, als ich die Lichtung betrat und kein Laboratorium vorfand. Der malerische Hallenbau mit dem roten Sandsteinkamin war nicht da. Es schien, als sei er nie dort gewesen. Es gab keine Ruine, keine Trümmer, nichts.

Ich ging auf die Stelle zu, wo das Laboratorium gestanden hatte. „Hier“, sagte ich zu mir, „müßten die Stufen zur Tür sein.“ Kaum war dieser Satz über meine Lippen, als mein Fuß gegen ein Hindernis stieß. Ich fiel nach vorn und prallte mit dem Kopf gegen etwas, was sich wie eine Tür anfühlte. Ich streckte die Hand aus. Es war eine Tür. Ich fand den Knauf und drehte ihn. Da plötzlich, als sich die Tür in ihren Angeln nach innen drehte, wurde das ganze Innere des Laboratoriums sichtbar. Nachdem ich Lloyd begrüßt hatte, schloß ich die Tür wieder und ging rückwärts ein paar Schritte den Weg hinunter. Von dem Gebäude war nichts zu sehen. Ich kam zurück und öffnete die Tür, da wurden plötzlich die Möbel und alle Einzelheiten des Innern sichtbar. Das war wirklich atemberaubend - dieser unvermittelte Übergang von einem Nichts zu Licht, Form und Farbe.

„Na, was sagst du dazu?“ fragte Lloyd, während er meine Hand heftig drückte. „Gestern nachmittag habe ich das Haus ein paarmal von außen mit dem absoluten Schwarz gestrichen, um zu sehen, wie es wirkt. Was macht dein Kopf? Du mußt ihn dir ganz schön gestoßen haben.“

„Nicht der Rede wert“, unterbrach er meine Glückwünsche. „Ich habe etwas Bessere für dich zu tun.“ Während er sprach, begann er, sich auszuziehen, und als er nackt vor mir stand, drückte er mir einen Topf und einen Pinsel in die Hand und sagte: „Hier, pinsle mich damit ein.“

Es war eine ölige, schellackähnliche Substanz, die sich schnell und leicht auf der Haut verteilte und sofort trocknete.

„Das war nur die Vorbereitung und zur Vorbeugung“, erklärte er mir, als ich fertig war. „Jetzt geht’s richtig los.“

Ich nahm einen anderen Topf, den er mir zeigte, und blickte hinein. Aber ich konnte nichts sehen.

„Der ist ja leer“, sagte ich.

„Steck mal deinen Finger hinein.“

Ich tat es und spürte eine kühle Nässe. Als ich meine Hand zurückzog, warf ich einen Blick auf den Zeigefinger, den ich eingetaucht hatte, aber er war verschwunden. Ich bewegte ihn und spürte durch die abwechselnde Spannung und Entspannung der Muskeln, daß ich ihn bewegte, aber er war unsichtbar. Ich hatte einen Finger verloren; ich konnte ihn mit dem Auge nicht wahrnehmen, bis ich ihn unter das Oberlicht hielt und den Schatten deutlich auf dem Fußboden sah, Lloyd schmunzelte. „Jetzt streiche mich ein und halte die Augen offen.“

Ich tauchte den Pinsel in den scheinbar leeren Topf und zog einen langen Strich über seine Brust. Während der Pinsel über die Haut strich, verschwand sie darunter. Ich pinselte sein linkes Bein ein, und er wurde zu einem Einbeinigen, der gegen alle Gesetze der Gravitation zu verstoßen schien. Und so pinselte ich Lloyd Inwood Strich für Strich, Körperteil für Körperteil ins Nichts. Mir war unheimlich zumute, und ich war froh, als bis auf seine glühenden Augen, die scheinbar mitten im Raum standen, nichts sichtbar geblieben war.

„Dafür habe ich eine verfeinerte und harmlose Farblösung“, sagte er. „Ein feiner Spritzer aus dem Zerstäuber - und fertig! Es gibt mich nicht mehr.“

Das war schnell gemacht, und er sagte: „So, jetzt werde ich hin und her gehen, und du sagst mir, was du wahrnimmst.“ „Fürs erste kann ich dich nicht sehen“, sagte ich und konnte sein fröhliches Lachen aus dem Nichts heraus hören. „Natürlich“, fuhr ich fort, „kannst du deinem Schatten nicht entfliehen, aber damit war ja zu rechnen. Wenn du zwischen meine Augen und ein Objekt trittst, dann verschwindet das Objekt. Dieses Verschwinden ist so absonderlich und unbegreiflich, daß ich nur glaube, einen trüben Fleck vor meinen Augen zu haben. Wenn du dich schnell bewegst, erscheint eine verwirrende Folge von Flecken. Dabei tun mir die Augen weh und mein Gehirn ermüdet.“



„Hast du irgendeinen Anhaltspunkt für meine Anwesenheit?“ fragte er.

„Ja und nein“, antwortete ich. „Wenn du in meine Nähe kommst, dann habe ich das Gefühl, als sei ich in einem naßkalten Speicher, einer düsteren Krypta oder in einem tiefen Bergwerk. Mir scheint, ich spüre die Nähe deines Körpers so, wie ein Seemann die Nähe von Land im Dunkel der Nacht spürt. Aber das ist alles sehr vage und unfaßbar.“

Lange sprachen wir an diesem letzten Morgen in seinem Laboratorium. Als ich mich zum Gehen wandte, faßte seine unsichtbare Hand mit nervösem Griff die meine, und er sagte: „Jetzt werde ich die Welt erobern!“ Und ich hatte nicht den Mut, ihm von Pauls ebenso großem Erfolg zu berichten.

Zu Hause fand ich eine Nachricht von Paul, der mich bat, sofort zu ihm zu kommen. Es war Mittag, als ich seine Einfahrt hinaufradelte. Paul rief mich vom Tennisplatz, ich stieg vom Rad und ging zu ihm hinüber. Aber der Platz war leer. Während ich dort mit offenem Mund stand, traf ein Tennisball meinen Arm und als ich mich umdrehte, pfiff ein zweiter an meinem Ohr vorbei. Da ich von meinem Angreifer absolut nichts sehen konnte, war mir, als ob die Bälle aus dem Weltraum auf mich zuwirbelten. Ich wurde regelrecht bombardiert. Als aber die Bälle, mit denen ich beworfen worden war, ein zweites Mal angeflogen kamen, begriff ich die Situation. Ich nahm mir einen Tennisschläger und hielt die Augen offen. Jetzt sah ich, wie ein Regenbogenblitz auftauchte, verschwand und pfeilschnell über den Boden schoß. Ich nahm ihn aufs Korn, und als ich ein halbes Dutzend Bälle auf ihn abgeschossen hatte, erscholl Pauls Stimme: „Genug, genug! Au! Au! Hör doch auf! Du triffst meine nackte Haut! Au! Oh! Ich höre auch auf! Ich höre auch auf! Ich wollte doch nur, daß du meine Verwandlung siehst“, rief er reumütig, und ich stellte mir vor, wie er seine Wunden rieb.

Ein paar Minuten später spielten wir Tennis. Ich war im Nachteil, denn ich hatte keine Ahnung, wo er sich gerade befand, außer wenn die Winkel zwischen ihm, der Sonne und mir in einem günstigen Verhältnis standen. Dann blitzte es auf, nur dann.

Diese Blitze waren leuchtender als ein Regenbogen; reinstes Blau, feinstes Violett, hellstes Gelb und alle Schattierungen dazwischen mit dem funkelnden Glanz eines Diamanten; verwirrend, blendend, schillernd.

Aber mitten im Spiel überkam mich plötzlich ein Gefühl von Kälte, als wäre ich in einem tiefen Bergwerksstollen oder in einer düsteren Krypta.



Es war genau das Gefühl von Kälte, das ich an diesem Morgen schon einmal gehabt hatte. Im nächsten Moment sah ich, wie dicht neben dem Netz ein Ball zurückprallte - mitten im Flug, im leeren Raum. Gerade in diesem Augenblick sandte Paul Tichlorne einige Schritt davon entfernt einen Regenbogenblitz aus. Er konnte den Ball nicht zurückgeschlagen haben. Bis ins Mark erschüttert, erkannte ich, daß Lloyd Inwood die Szene betreten hatte. Um ganz sicherzugehen, hielt ich nach seinem Schatten Ausschau. Und da war er, der formlose Umriß seines Körpers (die Sonne stand genau über uns), der sich über den Boden bewegte. Ich erinnerte mich seiner Drohung und war sicher, daß die jahrelange Rivalität jetzt in einem unheimlichen Kampf ihren Höhepunkt erreichen sollte.

Ich rief Paul, um ihn zu warnen, dann hörte ich ein Knurren, ähnlich dem eines wilden Tieres, und ein Knurren als Antwort. Ich sah, wie der dunkle Fleck schnell über das Spielfeld huschte und ein leuchtender, vielfarbiger Lichtblitz ebenso schnell dahinschoß, um ihn zu treffen. Und dann trafen Schatten und Lichtblitze zusammen, und man hörte unsichtbare Schläge. Vor meinen erschrockenen Augen fiel das Netz zu Boden. Ich sprang auf die Kämpfenden zu und brüllte: „Um Himmels willen!“

Aber die ineinander verkrallten Körper stießen gegen meine Knie, und ich wurde umgeworfen.

„Halt du dich da raus, alter Junge“, hörte ich Lloyd Inwoods Stimme aus dem Nichts.

Dann schrie Paul: „Ja, jetzt ist endlich Schluß mit der Friedenstifterei!“

Durch den Klang ihrer Stimmen erkannte ich, daß sie auseinander waren. Ich konnte Paul nicht ausmachen, deshalb näherte ich mich dem Schatten, der Lloyd repräsentierte. Aber von der anderen Seite kam ein lähmender Schlag genau auf mein Kinn, und ich hörte Paul wütend rufen: „Hau jetzt endlich ab!“

Dann trafen sie erneut aufeinander. Die Wirkung ihrer Schläge, ihr Stöhnen und Keuchen sowie die schnellen Blitze und Schattenbewegungen machten nur zu deutlich, daß die beiden auf Leben und Tod kämpften.

Ich rief um Hilfe, und Gaffer Bedshaw kam aufs Spielfeld gelaufen. Während er auf mich zulief, sah ich, daß er mich mit Befremden anblickte. Aber er stieß mit den Kämpfenden zusammen und wurde der Länge nach zu Boden geschleudert. Mit einem Schrei des Entsetzens und dem Ruf „ Gott, ich werde wahnsinnig!“ sprang er auf die Füße und rannte wie besessen vom Spielfeld.

Ich konnte nichts tun, deshalb setzte ich mich nieder. Fasziniert und ohnmächtig verfolgte ich den Kampf. Die Mittagssonne prallte blendend hell auf den leeren Tennisplatz. Und er war wirklich leer. Alles, was ich sehen konnte, waren der Schatten und die Regenbogenblitze, der von unsichtbaren Füßen aufgewirbelte Staub, der unter schweren Fußtritten aufreißende Boden und das Drahtgitter, welches sich ein- oder zweimal durchbog, während ihre Körper dagegen prallten. Das war alles, und nach einiger Zeit hörte auch das auf. Es gab keine Blitze mehr; der Schatten war lang geworden und bewegte sich nicht mehr.

Ich mußte an die erstarrten Jungengesichter der beiden denken, damals, als sie sich in der kühlen Tiefe der Badestelle an die Wurzeln geklammert hatten.

Man fand mich eine Stunde später. Einige Andeutungen von dem, was vorgefallen war, drangen auch zu den Dienern durch und sie quittierten allesamt den Dienst bei Tichlorne. Gaffer Bedshaw konnte sich nie von dem zweiten Schock erholen. Er ist unheilbar und in einer Irrenanstalt. Die Geheimnisse ihrer wunderbaren Entdeckungen nahmen Paul und Lloyd mit ins Grab; die Laboratorien wurden von besorgten Verwandten zerstört.

Was mich angeht, so interessiere ich mich nicht länger für Chemie. Wissenschaft ist in meinem Haus tabu. Ich bin zu meinen Rosen zurückgekehrt. Die Farben der Natur genügen mir völlig.



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