Jetzt ist es schon zwei Monate her, dass wir von Vater Abschied genommen haben. Der Sommer ist da. Im Gymnasium sind jedoch schon lange Ferien, seit dem Frühling schon. Sie haben sich darauf berufen, dass Krieg ist. Auch Flugzeuge kommen oft und bombardieren die Stadt, und für Juden gibt es seither neue Gesetze. Seit zwei Wochen bin auch ich zur Arbeit verpflichtet. Man hat mich mit einem amtlichen Schreiben benachrichtigt: «Ihnen wird ein ständiger Arbeitsplatz zugewiesen.» Adressiert war es: «An den zum Hilfsarbeiter auszubildenden Heranwachsenden Köves György», und so habe ich gleich gesehen, dass das Jungvolk die Hände im Spiel hat. Ich hatte allerdings auch schon gehört, dass jetzt in Fabriken oder an ähnlichen Orten auch diejenigen beschäftigt würden, die altersmäßig noch nicht ganz vollwertig sind für den Arbeitsdienst, so wie ich zum Beispiel. Mit mir sind noch etwa achtzehn Jungen dort, aus ähnlichen Gründen, ebenfalls um die fünfzehn. Der Arbeitsplatz ist in Csepel, bei einer Aktiengesellschaft, die sich «Shell Erdölraffinerie» nennt. So bin ich auch zu einem gewissen Privileg gekommen, weil es sonst verboten ist, mit dem gelben Stern das Stadtgebiet zu verlassen. Mir hingegen wurde ein ordnungsgemäßer Schein ausgehändigt, sogar versehen mit dem Stempel des Kommandanten der Rüstungsindustrie, und da ist verfügt, dass ich «die Zollgrenze nach Csepel überschreiten» darf.
Die Arbeit selbst kann man nicht besonders anstrengend nennen, und so, mit den Jungen zusammen, ist sie sogar ganz vergnüglich: Sie besteht in Hilfsarbeiten im Aufgabenbereich des Maurers. Die Anlage ist nämlich einem Bombenangriff zum Opfer gefallen, und mit unseren Bemühungen sollen die von den Flugzeugen angerichteten Schäden wieder behoben werden. Auch der Polier, dem wir unterstellt sind, ist mit uns ganz gerecht: Er zahlt uns am Wochenende sogar einen Lohn aus, genauso wie seinen richtigen Arbeitern. Doch meine Stiefmutter hat sich vor allem über den Ausweis gefreut. Bis dahin hat sie sich jedes Mal, wenn ich irgendwohin gehen wollte, die größten Sorgen darüber gemacht, wie ich mich ausweise, falls das einmal vonnöten sein sollte. Jetzt braucht sie sich diese Sorgen nicht mehr zu machen, denn der Ausweis bescheinigt mir ja, dass ich nicht einfach nur so dahinlebe, sondern in der Industrie kriegswichtige Arbeit leiste, und das untersteht selbstverständlich einer ganz anderen Beurteilung. Das sieht auch die Familie so. Bloß die Schwester meiner Stiefmutter hat ein bisschen die Hände gerungen, dass ich solche körperliche Arbeit verrichten muss, und, schon am Rand der Tränen, gefragt: Bist du dafür aufs Gymnasium gegangen? Ich habe ihr gesagt, meiner Meinung nach ist das nur gesund. Auch Onkel Vili hat mir gleich recht gegeben, und Onkel Lajos hat gemahnt: Wir müssen hinnehmen, was Gott für uns beschlossen hat; darauf war sie dann still. Dann hat mich Onkel Lajos beiseitegenommen und noch ein paar ernstere Worte mit mir gewechselt: unter anderem hat er mich ermahnt, nicht zu vergessen, dass ich an meinem Arbeitsplatz nicht nur mich selbst, sondern die «gesamte Gemeinschaft der Juden» zu vertreten und deshalb auch ihretwegen auf mein Benehmen zu achten habe, da es nunmehr im Hinblick auf sie, auf sie alle, beurteilt werde. In der Tat, daran hätte ich gar nicht gedacht. Aber ich habe eingesehen, dass er natürlich recht haben kann.
Von meinem Vater kommt regelmäßig Post aus dem Arbeitslager: Er ist gesund, Gott sei Dank, er erträgt die Arbeit gut, und auch die Behandlung – so schreibt er – ist menschlich. Die Familie ist zufrieden mit dem Inhalt der Briefe. Und Onkel Lajos ist der Ansicht: «Bisher ist Gott mit deinem Vater», und hat mich ermahnt, täglich zu beten, dass Er ihm weiterhin beistehe, weil Er ja mit Seiner Macht über uns allen walte. Und Onkel Vili hat uns versichert, wir hätten sowieso nur noch «eine kurze Übergangszeit» durchzustehen, denn – so erläuterte er – die Landung der Alliierten habe «das Schicksal der Deutschen endgültig besiegelt».
Mit meiner Stiefmutter bin ich bis jetzt auch ohne jegliche Meinungsverschiedenheit ausgekommen. Im Gegensatz zu mir ist sie jetzt zum Faulenzen gezwungen: Es ist nämlich angeordnet worden, das Geschäft sei zu schließen, da niemand Handel treiben darf, der nicht reinen Blutes ist. Aber es scheint, dass mein Vater mit Herrn Sütő auf die richtige Karte gesetzt hat, denn dieser bringt uns jede Woche getreulich, was meiner Stiefmutter vom Ertrag unseres Holzlagers zusteht, das jetzt bei ihm ist, so, wie er es meinem Vater versprochen hat. Auch letztes Mal war er pünktlich und hat uns, wie mir schien, eine hübsche Summe auf den Tisch gezählt. Er hat meiner Stiefmutter die Hand geküsst, und auch für mich hatte er ein paar freundliche Worte. Er hat sich auch eingehend nach dem Befinden des «Herrn Direktors» erkundigt, wie gewohnt. Als er schon dabei war, sich zu verabschieden, ist ihm noch etwas in den Sinn gekommen. Er holte ein Päckchen aus seiner Aktentasche hervor. In seinem Gesicht war eine gewisse Verlegenheit. «Ich hoffe, gnädige Frau», sagte er, «es kann im Haushalt von Nutzen sein.» In dem Päckchen waren Fett, Zucker und noch andere Sachen dieser Art. Ich habe den Verdacht, dass er sie auf dem Schwarzmarkt besorgt hat, bestimmt deswegen, weil er die Verfügung gelesen hat, nach der jüdische Personen auf dem Gebiet der Lebensmittelversorgung von nun an mit kleineren Rationen auskommen müssen. Meine Stiefmutter hat sich zuerst ein wenig geziert, aber Herr Sütő bestand sehr darauf, und schließlich konnte sie ja an dieser Aufmerksamkeit nichts aussetzen. Als wir wieder unter uns waren, hat sie auch mich noch gefragt, ob sie meiner Meinung nach richtig daran getan habe, es anzunehmen. Ich fand, ja, denn sie konnte Herrn Sütő ja nicht dadurch verletzen, dass sie es nicht annahm. Schließlich hatte er es ja nur gut gemeint. Das war auch ihre Meinung, und sie sagte, sie glaube, auch mein Vater würde ihr Vorgehen billigen. In der Tat, das konnte ich mir auch nicht anders vorstellen. Und überhaupt, das weiß sie im Allgemeinen besser als ich.
Ich gehe auch meine Mutter zweimal wöchentlich besuchen, an den ihr zustehenden Nachmittagen, wie gewohnt. Mit ihr habe ich schon mehr Probleme. So wie mein Vater es vorausgesagt hat, ist sie überhaupt nicht imstande, sich damit abzufinden, dass mein Platz an der Seite meiner Stiefmutter ist. Sie sagt, ich «gehöre» zu ihr, meiner leiblichen Mutter. Aber soviel ich weiß, hat das Gericht mich eben meinem Vater zugesprochen, und demzufolge hat sein Beschluss doch Gültigkeit. Trotzdem hat mich meine Mutter auch diesen Sonntag wieder darüber ausgefragt, wie ich selbst leben möchte – denn nach ihrer Meinung zählt einzig mein Wille – und ob ich sie liebe. Darauf habe ich ihr gesagt, aber natürlich! Doch meine Mutter hat erklärt, jemanden zu lieben bedeute, dass wir «an ihm hängen», und ich hinge, wie sie es sieht, an meiner Stiefmutter. Ich habe versucht, ihr beizubringen, dass sie das falsch sähe, denn schließlich hinge nicht ich an meiner Stiefmutter, sondern – wie sie ja wisse – habe mein Vater so über mich verfügt. Aber sie hat darauf geantwortet, dass es hier um mich gehe, um mein Leben, und darüber müsse ich selbst entscheiden, und außerdem werde Liebe «nicht durch Worte, sondern durch Taten bezeigt». Ich bin ziemlich bekümmert von ihr weggegangen: Ich kann natürlich nicht zulassen, dass sie wirklich noch denkt, ich liebte sie nicht – andererseits kann ich doch auch nicht ganz ernst nehmen, was sie über die Wichtigkeit meines Willens gesagt hat und darüber, dass ich in meiner eigenen Angelegenheit selbst entscheiden müsse. Schließlich ist das ja ihre Auseinandersetzung. Und es wäre mir peinlich, wenn ich da urteilen müsste. Und überhaupt, ich kann doch nicht meinen Vater bestehlen, und das gerade jetzt, wo der Arme im Arbeitslager ist. Aber ich bin doch mit einem unbehaglichen Gefühl in die Straßenbahn gestiegen, denn es ist ja klar, dass ich an meiner Mutter hänge, und es hat mich gekränkt, dass ich auch heute wieder nichts für sie tun konnte.
Möglich, dass dieses ungute Gefühl der Grund war, warum ich es nicht so eilig hatte, mich von meiner Mutter zu verabschieden. Sie hat dann beharrt: Es werde spät – mit Rücksicht darauf, dass man sich mit dem gelben Stern nur bis abends acht Uhr auf der Straße blicken lassen darf. Ich habe ihr aber erklärt, dass ich es jetzt, im Besitz des Ausweises, nicht mehr mit jeder einzelnen Vorschrift so fürchterlich genau nehmen muss.
Ich bin dann doch auf die allerhinterste Plattform im letzten Straßenbahnanhänger gestiegen, ordnungsgemäß nach der entsprechenden Vorschrift. Es ging auf acht Uhr, als ich nach Hause kam, und obwohl der Sommerabend noch hell war, wurden da und dort die Fenster schon mit den schwarzen und blauen Holztafeln verdunkelt. Auch meine Stiefmutter war schon ungeduldig, doch schon eher aus Gewohnheit, da ich ja schließlich den Ausweis habe. Den Abend haben wir wie gewohnt bei den Fleischmanns verbracht. Den beiden Alten geht es gut, sie liegen sich nach wie vor oft in den Haaren, aber dass ich arbeiten gehe, haben sie beide gleicherweise begrüßt, auch sie natürlich wegen des Ausweises. In ihrem Eifer haben sie sich aber dann doch noch ein bisschen gestritten. Meine Stiefmutter und ich kennen uns nämlich in der Gegend von Csepel nicht aus, und so haben wir beim ersten Mal bei ihnen nachgefragt. Der alte Fleischmann hat die Vorort-Straßenbahn empfohlen, während sich Herr Steiner für den Autobus ausgesprochen hat, weil dieser, wie er sagte, unmittelbar bei der Ölraffinerie halte, wohingegen man von der Straßenbahn aus noch ein Stück zu Fuß gehen müsse – und das ist auch so, wie sich inzwischen herausgestellt hat. Da aber konnten wir das noch nicht wissen, und Herr Fleischmann war sehr aufgebracht: «Immer müssen Sie recht haben», polterte er. Schließlich mussten die beiden dicken Ehefrauen einschreiten. Annamaria und ich haben ganz schön über sie gelacht.
Mit ihr bin ich übrigens in eine komische Situation geraten. Es hat sich Freitagnacht während des Fliegeralarms zugetragen, im Luftschutzraum, genauer, in einem dunklen, verlassenen Kellergang, der von dort abgeht. Ursprünglich hatte ich ihr nur zeigen wollen, dass es von da aus viel interessanter ist, zu verfolgen, was draußen geschieht. Als wir dann aber nach einer kleinen Weile nicht weit entfernt eine Bombe hörten, da hat sie angefangen, am ganzen Körper zu zittern. Ich konnte es gut spüren, denn sie hat sich vor Schreck an mich geklammert, die Arme um meinen Hals, das Gesicht an meine Schulter gepresst. Und dann erinnere ich mich nur noch daran, dass ich irgendwie ihren Mund suchte. Ich spürte eine lauwarme, feuchte, einigermaßen klebrige Berührung. Ja, und dann war es auch so eine Art freudige Verwunderung, weil das eben doch mein erster Kuss mit einem Mädchen war und weil ich gerade da überhaupt nicht damit gerechnet hatte.
Gestern, im Treppenhaus, hat sich dann herausgestellt, dass auch sie ziemlich überrascht war. «Die Bombe ist an allem schuld», meinte sie. Im Grunde genommen hat sie ja recht. Danach haben wir uns wieder geküsst, und da habe ich von ihr gelernt, auf welche Weise man das Erlebnis noch eindringlicher gestalten kann, indem man nämlich bei dieser Gelegenheit auch der Zunge zu einer gewissen Rolle verhilft.
Auch heute Abend bin ich mit ihr in dem anderen Zimmer gewesen, um die Zierfische von Fleischmanns anzuschauen: Die betrachten wir nämlich auch sonst oft. Jetzt sind wir natürlich nicht nur ihretwegen hinübergegangen. Auch unsere Zungen haben Verwendung gefunden. Aber wir sind bald zurückgegangen, denn Annamaria hatte Angst, Onkel und Tante könnten von der Sache noch Wind bekommen. Später habe ich im Gespräch noch einige interessante Dinge von ihr erfahren, was ihre Gedanken über mich angeht: Sie sagte, sie habe sich nie vorgestellt, dass ich «einmal mehr für sie sein könnte» als einfach nur «ein guter Freund». Als sie mich kennenlernte, habe sie mich bloß als so einen Halbwüchsigen betrachtet. Später, so hat sie mir verraten, habe sie mich genauer beobachtet, und da sei bei ihr ein gewisses Verständnis für mich erwacht, vielleicht – so meint sie – weil wir beide ein ähnliches Schicksal mit unseren Eltern haben; und aus der einen oder anderen meiner Bemerkungen habe sie auch geschlossen, dass wir in gewissen Dingen ähnlich denken; aber mehr als das habe sie sich damals überhaupt nicht vorstellen können. Sie hat noch eine Weile darüber nachgesonnen, wie seltsam das sei, und dann sagte sie: «Offenbar hat es so sein müssen.» Sie hatte einen merkwürdigen, fast schon strengen Ausdruck im Gesicht, und ich habe ihre Ansicht auch gar nicht bestritten, obwohl ich eher mit dem einverstanden bin, was sie gestern gesagt hat, nämlich dass die Bombe schuld war. Aber natürlich kann ich das nicht wissen, und mir schien, so gefiel es ihr besser. Wir sind dann bald gegangen, weil ich ja morgen zur Arbeit muss, und als ich dem Mädchen die Hand gab, hat sie mir mit dem Fingernagel einen scharfen kleinen Schmerz versetzt. Ich verstand, sie meinte unser Geheimnis, und ihr Gesicht schien zu sagen: «Alles in Ordnung.»
Am nächsten Tag hat sie sich jedoch ziemlich sonderbar benommen. Am Nachmittag nämlich, nachdem ich von der Arbeit nach Hause gekommen war und mich gewaschen, Hemd und Schuhe gewechselt und mit einem nassen Kamm auch mein Haar in Ordnung gebracht hatte, sind wir zu den Schwestern gegangen – denn Annamaria hat es inzwischen bewerkstelligt, mich dort einzuführen, wie sie schon damals vorgehabt hatte. Auch ihre Mutter hat mich freundlich empfangen. (Ihr Papa ist im Arbeitsdienst.) Sie haben eine ganz ansehnliche Wohnung, mit einem Balkon und Teppichen, einigen größeren Zimmern und einem separaten kleineren für die Mädchen. Es ist mit einem Klavier, zahlreichen Puppen und anderen Dingen nach Mädchengeschmack ausgestattet. Meistens spielen wir Karten, aber heute hatte die ältere Schwester keine Lust dazu. Sie wollte zuerst mit uns über ein Problem sprechen, über eine Frage, die sie neuerdings sehr beschäftigt: Es ist nämlich so, dass ihr der gelbe Stern einiges Kopfzerbrechen bereitet. Eigentlich habe erst «der Blick der Leute» sie auf die Veränderung aufmerksam gemacht – denn sie findet, dass die Leute sich ihr gegenüber verändert haben, und sieht in ihren Blicken, dass sie von ihnen «gehasst» wird. Auch heute Vormittag habe sie es so empfunden, als sie im Auftrag ihrer Mutter einkaufen ging. Nun, also mir scheint, sie sieht das auf eine etwas übertriebene Art. Meine Erfahrungen zumindest sind nicht die gleichen. So gibt es auch am Arbeitsplatz unter den Maurermeistern solche, von denen jeder weiß, dass sie Juden nicht ausstehen können: Trotzdem haben sie sich mit uns Jungen ganz gut angefreundet. Gleichzeitig ändert das natürlich noch gar nichts an ihrer Einstellung. Dann ist mir noch das Beispiel des Bäckers eingefallen, und ich habe versucht, dem Mädchen zu erklären, dass in Wirklichkeit nicht sie selbst gehasst werde, also nicht sie als Person – denn schließlich kennt man sie ja gar nicht –, sondern eher die Idee «Jude». Da hat sie erklärt, eben darüber habe auch sie gerade nachgedacht, weil sie im Grunde gar nicht recht wisse, was das ist. Annamaria hat ihr zwar gesagt, das wisse doch jeder: eine Religion. Aber daran war sie nicht interessiert, sondern am «Sinn». «Schließlich muss man doch wissen, wofür man gehasst wird», so meinte sie. Sie hat zugegeben, dass sie zu Beginn das Ganze überhaupt nicht verstanden habe und sehr betroffen gewesen sei, dass man sie verachte, «einfach nur, weil ich Jüdin bin»: Da habe sie zum ersten Mal gefühlt, dass – so sagte sie – sie etwas von den anderen Menschen trenne und dass sie anderswo hingehöre als sie. Dann habe sie nachzudenken begonnen, auch durch Bücher und Gespräche versucht, hinter die Sache zu kommen, und dabei habe sie erkannt: Gerade deswegen werde sie gehasst. Sie ist nämlich der Ansicht, dass «wir Juden anders sind als die anderen», dass diese Verschiedenheit das Wesentliche ist und die Juden deshalb von den Menschen gehasst würden. Sie sagte auch noch, wie eigenartig es für sie sei, im «Bewusstsein dieser Verschiedenheit» zu leben, und dass sie deswegen manchmal eine Art Stolz, dann wieder eher irgendwie Scham empfinde. Sie wollte von uns wissen, wie wir es mit unserer Verschiedenheit hielten, ob wir stolz darauf seien oder uns eher schämten. Ihre Schwester und Annamaria wussten es nicht so recht. Auch ich habe bis jetzt noch keinen Anlass für solche Gefühle gesehen. Und überhaupt, man kann doch diesen Unterschied nicht einfach selbst bestimmen: Schließlich ist ja genau dafür der gelbe Stern da, soviel ich weiß. Das habe ich ihr auch zu bedenken gegeben. Aber sie hat sich darauf versteift: «Den Unterschied tragen wir in uns.» Meines Erachtens ist dagegen das wichtiger, was wir außen tragen. Wir haben lange darüber debattiert, warum weiß ich nicht, denn um die Wahrheit zu sagen, ich sah nicht recht ein, warum die Frage so wichtig war. Aber es war etwas an ihrem Gedankengang, das mich irgendwie ärgerte: Meiner Meinung nach ist das alles viel einfacher. Na ja, und dann wollte ich bei dieser Auseinandersetzung auch gewinnen, natürlich. Auch Annamaria schien hin und wieder etwas sagen zu wollen, aber dann ist sie keinmal dazu gekommen, weil wir beide sie nicht mehr richtig beachtet haben.
Schließlich habe ich ein Beispiel gemacht. Zuweilen, zum bloßen Zeitvertreib, hatte ich auch schon über die Sache nachgedacht, und deshalb kam es mir jetzt in den Sinn. Ich hatte vor kurzem ein Buch gelesen, eine Art Roman: Ein Bettler und ein Prinz, die sich, von diesem Unterschied abgesehen, von Antlitz und Gestalt auffällig, bis zum Verwechseln ähnlich waren, vertauschten aus reiner Neugier ihr Schicksal, bis dann schließlich aus dem Bettler ein richtiger Prinz und aus dem Prinzen ein richtiger Bettler wurde. Ich habe dem Mädchen gesagt, sie solle versuchen, sich das für ihren eigenen Fall vorzustellen. Das ist natürlich nicht sehr wahrscheinlich, aber schließlich ist ja vieles möglich. Nehmen wir an, es sei ihr als ganz kleinem Kind passiert, wenn man weder sprechen noch sich erinnern kann, und egal wie, aber – nehmen wir einmal an – man hat sie eben irgendwie vertauscht, oder irgendwie hat sich ergeben, dass sie mit dem Kind einer anderen Familie verwechselt wurde, einer Familie, deren Papiere in rassischer Hinsicht einwandfrei sind: Nun, in diesem angenommenen Fall würde jetzt das andere Mädchen die Verschiedenheit spüren und natürlich auch den gelben Stern tragen, während sie, aufgrund der Angaben, die über sie vorhanden sind, sich genauso sehen würde – und natürlich auch von den anderen so gesehen würde – wie die übrigen Menschen und nicht die leiseste Ahnung von dieser ganzen Verschiedenheit hätte. Das hat ziemlich auf sie gewirkt, soviel ich sah. Zuerst hat sie bloß nichts mehr gesagt, dann haben sich nach und nach, aber so sacht, dass ich es fast schon spüren konnte, ihre Lippen voneinander gelöst, als ob sie etwas sagen wollte. Dann ist aber doch nicht das geschehen, sondern etwas anderes, viel Merkwürdigeres: Sie ist in Tränen ausgebrochen. Sie vergrub das Gesicht in der Beuge ihres Ellbogens auf dem Tisch, und ihre Schultern zuckten in einem fort. Ich war höchst überrascht, denn das war ja nicht meine Absicht gewesen, und dann hat mich auch der Anblick irgendwie verwirrt. Ich habe mich über sie gebeugt, ihr Haar, ihre Schultern und den Arm ein wenig zu berühren versucht und dabei gebeten, dass sie nicht weinen soll. Doch sie rief bitter und mit immer wieder versagender Stimme so etwas wie: Wenn es nichts mit unserer Eigenart zu tun habe, dann sei ja das alles nur reiner Zufall, und wenn sie auch eine andere sein könnte, als die sie sein muss, dann «hat das alles keinen Sinn», und das sei ein Gedanke, der ihrer Meinung nach «unerträglich ist». Es war mir peinlich, denn schließlich war ich schuld, aber ich hatte ja nicht wissen können, dass ihr dieser Gedanke so wichtig war. Mir lag schon auf der Zunge, ihr zu sagen, sie solle sich nichts daraus machen, denn in meinen Augen habe das alles überhaupt keine Bedeutung, ich verachte sie nicht für ihre Rasse; doch dann habe ich gleich gespürt, dass es ein bisschen lächerlich wäre, wenn ich das sagte, und so habe ich nichts gesagt. Nur, es war mir eben doch nicht recht, dass ich es nicht sagen konnte, denn in dem Augenblick empfand ich es wirklich so, ganz unabhängig von meiner eigenen Situation, um nicht zu sagen, ganz frei. Es ist zwar schon möglich, dass in einer anderen Situation vielleicht auch meine Meinung anders wäre. Ich weiß es nicht. Ich sah auch ein, dass es mir nicht möglich ist, das auszuprobieren. Und doch, irgendwie war es mir unbehaglich. Und ich weiß nicht recht, aus welchem Grund, aber jetzt passierte es mir zum ersten Mal, dass ich etwas fühlte, das, glaube ich, doch so etwas wie Scham war.
Doch erst im Treppenhaus ist mir dann noch zur Kenntnis gebracht worden, dass ich mit jener Empfindung andererseits wohl Annamaria verletzt habe, so schien es mir jedenfalls: Da war es nämlich, dass sie sich so sonderbar benahm. Ich sagte etwas zu ihr, und sie antwortete nicht einmal. Ich versuchte, sie am Arm festzuhalten, aber sie hat sich losgerissen und mich auf der Treppe stehen lassen.
Auch am nächsten Nachmittag habe ich vergeblich gewartet, dass sie den Kontakt mit mir aufnimmt. So konnte ich auch nicht zu den Schwestern gehen, weil wir ja bisher immer zusammen dorthin gegangen sind, und sie hätten bestimmt Fragen gestellt. Und überhaupt: Ich verstand nun schon besser, wovon das Mädchen am Sonntag gesprochen hatte.
Am Abend, bei Fleischmanns, ist sie dann doch erschienen. Anfangs hat sie sich nur auf wenige Worte mit mir eingelassen, und ihre Züge haben sich erst wieder ein bisschen gelöst, als ich ihr auf die Bemerkung, sie hoffe, ich hätte mit den Schwestern einen angenehmen Nachmittag verbracht, gesagt habe, dass ich nicht oben gewesen sei. Sie wollte wissen, warum nicht, worauf ich wahrheitsgemäß sagte, ich hätte ohne sie nicht hingehen mögen: Mir schien, auch diese Antwort gefiel ihr. Nach einiger Zeit war sie sogar bereit, mit mir die Fische anzuschauen – und von dort sind wir dann schon ganz versöhnt zurückgekommen. Später, im Lauf des Abends, hat das Mädchen nur noch eine Bemerkung zu dieser Angelegenheit gemacht: «Das war unser erster Streit», so sagte sie.