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Am nächsten Tag passierte mir eine kuriose Geschichte. Ich bin früh am Morgen aufgestanden und habe mich wie immer auf den Weg zur Arbeit gemacht. Es versprach ein heißer Tag zu werden, und der Autobus war wie üblich mit Menschen vollgestopft. Wir hatten schon die Häuser der Vorstadt hinter uns gelassen und die kurze, schmucklose Brücke überquert, die auf die Insel Csepel führt: Von da an verläuft die Straße eine Weile über offenes Gelände, Felder, links ein flaches, hangarartiges Gebäude, rechts verstreut die Treibhäuser von Gärtnereien, und dort passierte es, dass der Autobus ganz plötzlich bremste, dann hörte ich von draußen eine kommandierende Stimme hereindringen, Fetzen, die dann vom Schaffner und mehreren Fahrgästen in meine Richtung weitergegeben wurden, nämlich: Falls sich jüdische Fahrgäste im Wagen befänden, sollten sie aussteigen. Na, dachte ich, sie wollen gewiss die Sache mit dem Überschreiten der Stadtgrenze kontrollieren, anhand der Papiere.

Tatsächlich, auf der Straße fand ich mich einem Polizisten gegenüber. Ohne ein Wort zu sagen, habe ich ihm dann auch gleich meinen Ausweis hingestreckt. Doch er schickte zuerst den Autobus weiter, mit einer knappen Handbewegung. Ich dachte schon, dass er vielleicht den Ausweis nicht richtig verstand, und wollte ihm gerade erklären, dass ich – wie er sehen könne – ein Mitglied der Rüstungsindustrie sei und keine Zeit hätte, mich lange aufhalten zu lassen; aber da war die Straße plötzlich von Stimmen erfüllt und mit den Jungen bevölkert, meinen Kameraden von der Shell. Sie kamen hinter der Böschung hervor. Es stellte sich heraus: Der Polizist hatte sie bereits in den vorherigen Autobussen hier erwischt, und sie lachten sehr darüber, dass nun auch ich eingetroffen war. Sogar der Polizist musste ein wenig lächeln, so als würde er, zwar mit größerem Abstand, aber doch bis zu einem gewissen Grad an der Belustigung teilnehmen; ich habe gleich gesehen, dass er nichts gegen uns hatte – das konnte er ja gar nicht. Ich habe die Jungen dann doch gefragt, was das Ganze soll, aber das wussten sie fürs Erste auch nicht.

Darauf hat der Polizist auch alle folgenden Autobusse angehalten, die aus der Stadt kamen, und zwar so, dass er in einem bestimmten Abstand vor sie hintrat, während er die Hände in die Höhe warf: Uns schickte er jedes Mal hinter die Böschung. Dann hat sich immer die gleiche Szene wiederholt: die erste Überraschung der neu hinzugekommenen Jungen, die sich schließlich in Lachen auflöste. Der Polizist schien zufrieden. Eine Viertelstunde, ungefähr, ist so vergangen. Es war ein klarer Sommermorgen, an der Böschung – das spürten wir, wenn wir uns hineinlegten – erwärmte die Sonne schon das Gras. Weiter weg, durch den bläulichen Dunst hindurch, waren die dicken Behälter der Raffinerie deutlich zu sehen. Weiter hinten Fabrikschornsteine und noch weiter weg, schon verschwommen, die spitze Silhouette irgendeines Kirchturms. Aus den Autobussen kamen, in Gruppen oder einzeln, immer mehr Jungen zum Vorschein. Zum Beispiel ein lebhafter sommersprossiger Junge mit stachelig geschnittenem schwarzem Haar, der sehr beliebt ist: der «Zierlederer», wie ihn alle nennen – denn im Unterschied zu den anderen, die meist aus verschiedenen Schulen kommen, hat er dieses Handwerk gewählt. Dann der ewig rauchende Bursche: Man sieht ihn praktisch nie ohne Zigarette. Im Allgemeinen rauchen zwar auch die anderen, und um nicht hinter ihnen zurückzubleiben, habe auch ich mich neuerdings darin versucht; aber ich habe festgestellt, dass er dieser Gewohnheit ganz anders, mit einer geradezu schon fieberhaften Gier nachgeht. Auch seine Augen haben diesen merkwürdigen fiebrigen Ausdruck. Er ist eher von wortkarger, irgendwie schwer zugänglicher Natur; im Kreis der Jungen ist er nicht sonderlich beliebt. Aber ich habe ihn doch einmal gefragt, was er an dem vielen Rauchen finde. Worauf er kurz und bündig geantwortet hat: «Billiger als Essen.» Ich war ein bisschen verdutzt, auf den Gedanken wäre ich nicht gekommen. Aber noch mehr hat mich der spöttische, fast schon verurteilende Ausdruck seiner Augen überrascht, als er meine Verlegenheit bemerkte; es war unangenehm, und da habe ich ihn nicht länger ausgefragt. Aber danach verstand ich schon besser, warum sich die anderen irgendwie vor ihm in Acht nehmen. Einen anderen haben sie dann schon gelöster mit ihrem Geschrei empfangen: Er wird von allen seinen engeren Kameraden immer nur der «Halbseidene» genannt. Ich fand diese Bezeichnung auch durchaus treffend, wegen seines glatten, glänzenden dunklen Haars, seiner großen grauen Augen und überhaupt wegen der liebenswürdigen Geschmeidigkeit seines ganzen Wesens; erst nachträglich habe ich dann gehört, dass der Ausdruck in Wirklichkeit auch noch etwas anderes bedeutet und dass er den Namen deshalb erhalten hat, weil er sich in seinem Leben daheim anscheinend recht geschickt bei den Mädchen umtut. Einer der Autobusse hat dann auch «Rosi» gebracht: In Wirklichkeit heißt er Rosenfeld, aber sein Name wird eben von allen so abgekürzt. Aus irgendeinem Grund genießt er bei den Jungen Ansehen, und in Fragen, die alle angehen, richten wir uns jeweils nach seiner Meinung; auch beim Polier vertritt stets er uns. Wie ich gehört habe, geht er auf die Handelsschule. Mit seinem intelligenten, wenn auch ein wenig zu langen Gesicht, dem blonden welligen Haar und den etwas starr blickenden wasserblauen Augen erinnert er an die alten Gemälde in den Museen, solche, bei denen sich immer Aufschriften wie «Infant mit Windhund» und so ähnliche finden. Dann ist auch Moskovics eingetroffen, ein winzig kleiner Junge mit einem schon etwas weniger ebenmäßigen, um nicht zu sagen ziemlich hässlichen Gesicht und dazu einer dicken, lupenartigen Brille auf der breiten, stumpfen Nase, so eine wie die von meiner Großmutter – und so weiter, alle anderen. Im Allgemeinen waren sie der Ansicht, der auch ich etwa war, nämlich dass die Angelegenheit im Ganzen betrachtet etwas ungewöhnlich sei, dass es sich da aber bestimmt um ein Missverständnis oder so etwas handeln müsse. «Rosi» ging dann auch, nachdem ihm einige der Jungen zugeredet hatten, zu dem Polizisten hinüber und wollte wissen, ob es denn nichts machen würde, wenn wir uns bei der Arbeit verspäten, und überhaupt, wann er die Absicht habe, uns weiterzulassen, zu unserem Tagewerk. Der Polizist war wegen der Frage kein bisschen böse, er hat aber geantwortet, das hänge nicht von ihm, von seiner Entscheidung ab. Es stellte sich heraus, dass er eigentlich auch nicht viel mehr wusste als wir: Er erwähnte einen «neuen Befehl», der dann an die Stelle des vorherigen treten werde, sodass sowohl er wie auch wir vorläufig warten müssten – so ungefähr hat er es erklärt. Das alles hörte sich, wenn auch nicht ganz verständlich, so doch – wie die Jungen und ich selbst auch fanden – im Wesentlichen akzeptabel an. Und überhaupt schuldeten wir dem Polizisten schließlich Gehorsam. Nun ja, und das fiel uns umso leichter, als wir im Besitz des Ausweises sowie des amtlichen Stempels der Rüstungsindustrie keinen Anlass dafür sahen, den Polizisten besonders ernst zu nehmen, versteht sich. Er dagegen hatte den Eindruck – so war seinen Worten zu entnehmen –, dass er es «mit vernünftigen Jungen» zu tun habe, auf deren «Disziplin», so fügte er hinzu, hoffentlich auch weiterhin zu zählen sei; soviel ich sehen konnte, gefielen wir ihm. Er selbst wirkte sympathisch: Es war ein ziemlich kleiner Polizist, weder alt noch jung, mit klaren, ganz hellen Augen im sonnengegerbten Gesicht. Aus einigen seiner Worte schloss ich, dass er vom Land stammen musste.

Es war sieben Uhr: Um diese Zeit beginnt in der Raffinerie die Arbeit. Die Autobusse brachten keine Jungen mehr, und da hat der Polizist gefragt, ob noch einer von uns fehle. «Rosi» hat die Zählung vorgenommen und dann dem Polizisten gemeldet: alle da. Darauf meinte der Polizist, wir sollten doch nicht hier am Straßenrand warten. Er schien besorgt, und ich hatte irgendwie das Gefühl, dass er eigentlich auf uns genauso wenig vorbereitet war wie wir auf ihn. Er hat dann auch gefragt: «Und was soll ich nun mit euch?» Aber da konnten wir ihm natürlich auch nicht helfen. Wir standen ganz locker um ihn herum, so ein bisschen lachend, genauso wie bei einem Ausflug um den Lehrer, und er stand mitten in unserer Gruppe, machte ein ratloses Gesicht und strich sich übers Kinn. Schließlich schlug er vor, wir sollten ins Zollhaus gehen.

Wir folgten ihm zu einem alleinstehenden, heruntergekommenen einstöckigen Gebäude, gleich da an der Straße: Das war das «Zollhaus» – wie auch eine verwitterte Aufschrift kenntlich machte. Der Polizist zog einen Schlüsselbund hervor und suchte aus zahlreichen klingelnden Schlüsseln den heraus, der ins Schloss passte. Drinnen fanden wir eine angenehm kühle, ziemlich große, wenn auch kahle Räumlichkeit, ausgestattet mit ein paar Bänken und einem langen, uralten Tisch. Der Polizist hat noch eine andere Tür geöffnet, zu einem viel kleineren Raum, einer Art Büro. Durch den Türspalt konnte ich darin einen Teppich, einen Schreibtisch und darauf einen Telefonapparat sehen. Wir hörten auch, wie der Polizist kurz telefonierte, konnten seine Worte allerdings nicht verstehen. Aber ich glaube, er versuchte, den Befehl schneller zu erhalten, denn als er herauskam (die Tür hat er sorgfältig hinter sich abgeschlossen), hat er gesagt: «Nichts. Wir müssen einfach warten.» Er hat uns aufgefordert, es uns bequem zu machen, und er fragte sogar, ob wir nicht irgendein Gesellschaftsspiel wüssten. Ein Junge, der «Zierlederer», wenn ich mich recht erinnere, hat Schinkenklopfen vorgeschlagen. Das war aber nicht so ganz nach dem Geschmack des Polizisten, und er hat gesagt, er hätte von uns, «so vernünftigen Jungen», mehr erwartet. Eine Weile scherzte er mit uns herum, wobei ich dauernd das Gefühl hatte, dass er sich alle Mühe gab, uns irgendwie zu unterhalten, vielleicht, damit uns keine Zeit blieb, die Disziplin zu verlieren, wovon er ja schon auf der Landstraße gesprochen hatte; aber er erwies sich in solchen Dingen als ziemlich ungeschickt. Er hat uns dann auch bald darauf uns selbst überlassen, nachdem er zuvor erwähnt hatte, er müsse nach seiner Arbeit schauen. Als er hinausging, hörten wir, wie er die Tür von außen abschloss.

Über das, was dann folgte, wüsste ich nicht mehr viel zu berichten. Es schien, dass wir noch lange auf den Befehl würden warten müssen. Doch unsererseits fanden wir die Sache überhaupt nicht dringend: Schließlich verschwendeten wir ja nicht unsere eigene Zeit. Darin waren wir uns alle einig: Hier in der Kühle war es angenehmer als draußen bei der Arbeit, im Schweiße unseres Angesichts. Auf dem Raffineriegelände gibt es nicht viel Schatten. «Rosi» hatte beim Polier denn auch durchgesetzt, dass wir das Hemd ausziehen durften. Das ist allerdings nicht gerade im Einklang mit der Vorschrift, da so ja kein gelber Stern an uns sichtbar ist, aber der Polier hat dann doch eingewilligt, aus Menschlichkeit. Bloß Moskovics’ papierartiger weißer Haut ist die Sache einigermaßen schlecht bekommen, weil sie auf seinem Rücken im Nu krebsrot wurde, und wir lachten dann viel über die langen Fetzen, die er sich hinterher abschälte.

Wir haben es uns also bequem gemacht, auf den Bänken oder einfach so, auf dem nackten Boden des Zollhauses: Doch womit wir dann die Zeit verbracht haben, könnte ich nicht mehr recht sagen. Auf jeden Fall sind eine Menge Scherze gemacht worden; Zigaretten machten die Runde, ja und dann allmählich auch die Jausenpakete. Auch der Polier kam zur Sprache, dass er heute Morgen bestimmt erstaunt gewesen ist, als wir nicht zur Arbeit erschienen. Auch die Hufnägel wurden hervorgeholt, für das sogenannte Stier-Spiel. Das hatte ich schon dort, bei den Jungen, gelernt: Man wirft einen der Nägel in die Höhe, und derjenige gewinnt, der am meisten von den übrigen, vor ihm liegenden packen kann, bevor er den anderen, einzelnen wieder aufgefangen hat. Der «Halbseidene» hat mit seinen langen Fingern und schlanken Händen jedes Spiel gewonnen. Und «Rosi» brachte uns ein Lied bei, das wir dann auch mehrere Male gesungen haben. Das Besondere daran ist, dass man den Text in drei Sprachen übersetzen kann, allerdings immer nur mittels der gleichen Wörter: Hängt man die Endung -es an, klingen sie deutsch, mit der Endung -io italienisch und mir der Endung -taki japanisch. Das ist natürlich alles nur so Unsinn, aber ich fand es doch unterhaltend.

Dann habe ich mir ein bisschen die Erwachsenen angeschaut. Auch die hatte der Polizist aus den Autobussen herausgeholt, genau wie uns. So ist mir dann auch klar geworden, dass er, wenn er nicht bei uns war, auf der Landstraße stand und der gleichen Tätigkeit nachging wie am Morgen. Allmählich sind auf diese Art etwa sieben, acht Leute zusammengekommen, alles Männer. Aber wie ich sah, haben sie dem Polizisten schon mehr Mühe gemacht: Sie verstanden die Sache nicht, schüttelten den Kopf, erklärten fortwährend irgendetwas, holten immer wieder ihre Papiere hervor, belästigten ihn mit Fragen. Auch uns fragten sie aus: Wer wir seien, woher wir kämen. Dann aber sind sie eher unter sich geblieben; wir haben ihnen ein paar Bänke überlassen, und darauf hockten sie oder standen ungeduldig darum herum. Sie redeten viel, aber ich habe nicht so richtig darauf achtgegeben. Vor allem rätselten sie herum, was wohl der Grund für das Vorgehen des Polizisten sein und welche Folgen der Vorfall für sie haben könnte; nur hatte darüber, wie ich hörte, ungefähr jeder eine andere Ansicht. Alles in allem, so schien es mir, hing das zur Hauptsache davon ab, mit welchen Dokumenten sie ausgerüstet waren, denn wie ich hörte, hatten auch sie natürlich irgendwelche Papiere, die sie berechtigten, nach Csepel zu fahren, einige in privaten Angelegenheiten, andere in öffentlichem Auftrag, so wie wir auch.

Einige der interessanteren Gesichter habe ich mir aber doch gemerkt. So ist mir zum Beispiel aufgefallen, dass einer sich an ihren Gesprächen nicht beteiligte; er las stattdessen die ganze Zeit in einem Buch, das er offenbar gerade bei sich hatte. Es war ein großer, hagerer Mann in einem gelben Wettermantel mit einem stoppelbärtigen Gesicht und einem scharfgeschnittenen Mund zwischen zwei tiefen, übellaunig wirkenden Falten. Er hatte sich einen Platz ganz am Ende einer Bank gesucht, am Fenster, die Beine übereinandergeschlagen und sich halb von den anderen abgewandt: Vielleicht kam er mir deshalb irgendwie wie ein erfahrener Reisender in einem Eisenbahnabteil vor, der jedes Wort, jede Frage oder das unter zufälligen Reisegefährten übliche Bekanntwerden für unnötig hält und mit gelangweiltem Gleichmut die Warterei erträgt, bis man am Ziel ist – diesen Eindruck hat er jedenfalls auf mich gemacht.

Auf einen gepflegten, schon etwas älteren Mann mit silbernen Schläfen und kahlem Scheitel war ich gleich, als er hereinkam – etwa am späten Vormittag –, aufmerksam geworden: Er war nämlich höchst aufgebracht, als ihn der Polizist hereinkomplimentierte. Er fragte, ob es hier ein Telefon gebe und ob er es «in Anspruch nehmen» dürfe. Der Polizist hat ihm jedoch zu verstehen gegeben, dass er sehr bedaure, aber der Apparat sei «ausschließlich für den dienstlichen Gebrauch bestimmt»; da hat der Mann ärgerlich mit dem Gesicht gezuckt und ist verstummt. Später habe ich seiner wenn auch knappen Antwort auf die Nachfrage der anderen entnehmen können, dass er, ähnlich wie wir, zu einem der Fabrikunternehmen in Csepel gehört: Er bezeichnete sich als «Experten», hat das aber nicht weiter ausgeführt. Im Übrigen zeigte er sich sehr selbstsicher, und wie mir schien, hatte er im Großen und Ganzen die gleiche Einstellung wie wir, bloß mit dem Unterschied, dass er durch das Aufgehaltenwerden anscheinend eher beleidigt war. Ich habe die Beobachtung gemacht, dass er sich über den Polizisten immer herablassend und irgendwie verächtlich äußerte. Er sagte, seines Erachtens habe der Polizist «offenbar irgendeine allgemeine Anweisung», die er wohl «übereifrig ausführt». Er meinte jedoch, letztlich würden die «Zuständigen» in der Sache tätig werden, was – so fügte er hinzu – hoffentlich bald geschehe. Dann habe ich seine Stimme kaum noch gehört und ihn auch bald vergessen. Erst gegen Nachmittag hat er vorübergehend wieder meine Aufmerksamkeit auf sich gezogen, doch da war ich selbst schon müde und habe bloß bemerkt, wie ungeduldig er anscheinend war: Einmal setzte er sich hin, einmal stand er wieder auf, einmal verschränkte er die Arme über der Brust, einmal auf dem Rücken, und dann wieder schaute er auf die Uhr.

Dann war da noch ein seltsames Männchen mit einer eigentümlichen Nase, einem großen Rucksack, einer sogenannten «Golfhose» und riesengroßen Stiefeln; selbst der gelbe Stern schien an ihm größer als üblich. Er machte sich schon mehr Sorgen. Er jammerte vor allem über sein «Pech». Ich habe mir seinen Fall ungefähr gemerkt, weil es eine einfache Geschichte war und er sie mehrere Male erzählt hat. Er habe seine «schwerkranke» Mutter in der Gemeinde Csepel besuchen wollen, so sagte er. Dafür hatte er sich bei den Behörden eigens eine Genehmigung beschafft, da, er zeigte sie. Die Bewilligung lautete auf den heutigen Tag, bis nachmittags zwei Uhr. Doch da war ihm etwas dazwischengekommen, eine Angelegenheit, die er als «unaufschiebbar» bezeichnete, «im Interesse des Betriebs», wie er hinzufügte. Auf dem Amt jedoch seien noch andere vor ihm dran gewesen, und so sei er erst spät an die Reihe gekommen. Er habe schon die ganze Reise gefährdet gesehen, sagte er. Er ist dann aber doch noch zur Straßenbahn geeilt, um nach seinem ursprünglichen Plan zur Bus-Endstation zu gelangen. Unterwegs hatte er die voraussichtliche Dauer von Hin- und Rückweg mit der bewilligten Zeit verglichen und ausgerechnet, dass es tatsächlich schon riskant war loszufahren. An der Endstation hat er dann jedoch gesehen, dass der Mittagsbus gerade noch dastand. Und da, so ließ er uns wissen, hat er dann gedacht: «Wie viel Scherereien ich doch wegen dieses Stückchens Papier hatte … Und» – so hat er hinzugefügt – «das arme Mütterchen wartet.» Er erwähnte, dass die alte Frau ihm und seiner Frau allerdings schon einige Probleme gemacht habe. Sie hätten sie schon lange angefleht, zu ihnen zu ziehen, in die Stadt. Doch die Mutter habe sich so lange gesträubt, bis es zu spät geworden sei. Er schüttelte vorwurfsvoll den Kopf, denn er meinte, die alte Frau hinge nur «um jeden Preis» an ihrem Haus. «Obwohl es nicht einmal Komfort hat», bemerkte er. Aber nun ja, so fuhr er fort, er müsse sie verstehen, da sie doch seine Mutter sei. Und die Arme sei krank, hat er noch hinzugesetzt, und alt sei sie auch schon. Und er sagte, er habe gewusst, dass er es sich «vielleicht nie verzeihen» könnte, wenn er diese einzige Gelegenheit verpassen würde. Und so sei er eben doch in den Autobus gestiegen. An diesem Punkt ist er für einen Augenblick verstummt. Er hat die Hände hochgehoben und sie dann langsam wieder sinken lassen, mit einer ratlosen Bewegung, während sich auf seiner Stirn gleichzeitig Hunderte von winzigen fragenden Fältchen bildeten: Er glich ein wenig einem traurigen, in die Falle geratenen Nagetier. Was sie meinten, hat er dann die anderen gefragt, ob ihm jetzt aus der Angelegenheit Schwierigkeiten erwachsen könnten. Und ob man in Betracht ziehen würde, dass die Überschreitung des eingeräumten Zeitpunkts nicht sein Verschulden war. Und was wohl seine Mutter denke, die er von seinem Kommen benachrichtigt hatte, und daheim seine Frau mit den beiden kleinen Kindern, wenn er um zwei Uhr nicht nach Hause komme. Hauptsächlich, das merkte ich an der Richtung seiner Blicke, schien er von dem erwähnten, würdevoll aussehenden Mann, dem «Experten», eine Meinungsäußerung zu diesen Fragen zu erwarten. Ich sah aber, dass dieser ihn kaum beachtete: Er hatte gerade eine Zigarette in der Hand, die er kurz zuvor hervorgeholt hatte, und klopfte mit ihrem Ende auf den mit erhabenen Buchstaben und Linien verzierten Deckel seiner silbrig glänzenden Zigarettendose. Auf seinem Gesicht lag ein versunkener Ausdruck, und mir schien, er war in irgendwelchen fernen Gedanken verloren und hatte von der ganzen Geschichte überhaupt nichts mitbekommen. Dann hat der andere von neuem von seinem Pech angefangen: Wäre er nur fünf Minuten später an der Endstation angekommen, dann hätte er den Mittagsbus nicht mehr erreicht, und wenn der nicht mehr dort gewesen wäre, hätte er nicht mehr auf den nächsten gewartet und dann – vorausgesetzt, all das wäre «um fünf Minuten verschoben» abgelaufen – würde er jetzt «nicht hier sitzen, sondern zu Hause», so hat er immer von neuem erklärt.

Na und dann erinnere ich mich noch an den Mann mit dem Seehundgesicht: Er war beleibt, trug einen dichten schwarzen Schnurrbart und eine Brille mit Goldrand und wollte fortwährend den Polizisten «sprechen». Es ist mir auch nicht entgangen, dass er das immer separat, in einiger Entfernung zu den anderen zu bewerkstelligen versuchte, nach Möglichkeit in einer Ecke oder bei der Tür. «Herr Kommissar», so vernahm ich hin und wieder seine erstickte, leicht krächzende Stimme, «könnte ich Sie mal sprechen?» Oder: «Ich bitte sehr, Herr Kommissar … nur auf ein Wort, mit Verlaub …» Schließlich hat der Polizist dann auch einmal gefragt, was er denn wünsche. Da aber schien er zu zögern. Er ließ seine Brille misstrauisch in die Runde blitzen. Und obwohl sie diesmal in einer Ecke des Raums standen, die ziemlich in meiner Nähe war, habe ich dem dumpfen Gemurmel dann doch nichts entnehmen können: Irgendetwas schien er immer wieder zu beteuern. Dabei erschien so ein vertrauliches, süßliches Lächeln auf seinem Gesicht. Gleichzeitig neigte er sich erst ein bisschen, dann stufenweise immer mehr und schließlich ganz zu dem Polizisten hin. Dazwischen, noch immer zur gleichen Zeit, sah ich ihn auch eine seltsame Geste machen. Die Angelegenheit war mir nicht ganz klar: Zunächst kam es mir vor, als wollte er eigentlich in seiner Innentasche nach etwas greifen. Ich dachte noch angesichts dieser offenbar irgendwie bedeutsamen Bewegung, er wollte vielleicht dem Polizisten ein wichtiges Schriftstück, irgendein außerordentliches oder besonderes Dokument vorweisen. Doch ich habe vergeblich darauf gewartet, was da zum Vorschein kommen würde, weil er dann die Bewegung doch nicht ganz ausgeführt hat. Er hat sie aber auch nicht ganz abgebrochen; er ist eher stecken geblieben, hat sie vergessen und sie auf einmal, gewissermaßen auf dem Höhepunkt, irgendwie in der Schwebe gelassen. Und so tastete, lief und kratzte seine Hand eine Zeit lang bloß von außen auf seiner Brust herum wie eine spärlich behaarte große Spinne oder, besser, ein kleineres Meeresungeheuer, das einen Spalt sucht, um ihm unter die Jacke zu schlüpfen. Er selbst sprach unterdessen noch immer, und auch das gewisse Lächeln war fortwährend auf seinem Gesicht. Das Ganze hat nur ein paar Sekunden gedauert, so ungefähr. Darauf hat der Polizist dem Gespräch mit auffallender Entschiedenheit sofort ein Ende bereitet, ja, soviel ich sah, war er sogar etwas ungehalten; und in der Tat, auch wenn ich das Ganze eigentlich nicht recht verstanden habe, so hatte das Verhalten des Mannes auf eine schwer bestimmbare Weise auch für mich einen etwas verdächtigen Anstrich.

An die anderen Gesichter und Vorkommnisse erinnere ich mich nicht mehr so recht. Und überhaupt, meine Beobachtungen wurden mit der Zeit immer weniger scharf. So viel kann ich noch sagen, dass der Polizist gegenüber uns Jungen nach wie vor sehr aufmerksam war. Mit den Erwachsenen war er allerdings, das fiel mir auf, irgendwie eine Nuance weniger herzlich. Doch bis zum Nachmittag schien auch er schon erschöpft. Da kam er schon oft ins Kühle, zu uns oder in sein Zimmer, ohne sich um die vorbeifahrenden Autobusse zu kümmern. Wie ich hörte, versuchte er es auch immer wieder mit dem Telefon, und manchmal meldete er auch das Resultat: «Noch immer nichts» – das aber doch schon fast mit offensichtlicher Unzufriedenheit auf dem Gesicht. Ich erinnere mich auch noch an einen anderen Moment. Es hatte sich noch vorher, etwas nach Mittag, zugetragen: Ein Kamerad hatte ihn besucht, ein anderer Polizist, mit einem Fahrrad. Das hatte er zuvor hier draußen an die Wand gelehnt. Dann haben sie sich im Zimmer unseres Polizisten vorsorglich eingeschlossen. Sie kamen erst nach ziemlich langer Zeit wieder heraus. Zum Abschied schüttelten sie sich an der Tür lange und ausführlich die Hände. Sie sagten nichts, nickten aber und schauten sich dabei auf eine Art an, wie ich es früher, im Büro meines Vaters, manchmal bei Kaufleuten gesehen habe, wenn sie gerade die schweren Zeiten und den flauen Gang der Geschäfte erörtert hatten. Es war mir natürlich schon klar, dass das nicht sehr wahrscheinlich ist unter Polizisten, aber ihre Gesichter haben in mir eben doch diese Erinnerung aufkommen lassen: die gleiche bekannte, einigermaßen sorgenvolle Unlust und das gleiche erzwungene Sichabfinden mit, ja, sagen wir, mit dem unabänderlichen Lauf der Dinge. Aber ich war allmählich schon recht müde; von der noch verbliebenen Zeit weiß ich nur noch, dass mir heiß war, dass ich mich langweilte und dass ich auch ein bisschen schläfrig war.

Alles in allem, das kann ich sagen, ist so der ganze Tag vergangen. Zu guter Letzt ist dann auch der Befehl gekommen, ungefähr um vier Uhr, genau so, wie es der Polizist versprochen hatte. Er lautete dahingehend, dass wir uns zur «vorgesetzten Behörde» zu begeben hatten, zwecks Vorweisung unserer Papiere – so hat es uns der Polizist mitgeteilt. Er seinerseits muss die Anweisung über das Telefon erhalten haben, denn zuvor hatten wir schon geschäftige Laute aus seinem Zimmer vernommen, die auf eine Veränderung hindeuteten: das wiederholte, drängende Klingeln des Apparats, dann, wie er selbst Verbindungen wählte und ein paar Angelegenheiten kurz und knapp erledigte. Der Polizist hat dann noch gesagt, dass man es ihm zwar auch nicht genau mitgeteilt habe, dass es sich aber seines Erachtens um nichts als eine kurze Formalität handeln könne, zumindest in Fällen, die vom gesetzlichen Standpunkt gesehen so klar und unzweifelhaft seien wie beispielsweise der unsrige.

Der Zug hat sich in Dreierreihen formiert und in Bewegung gesetzt, wieder zur Stadt zurück, von allen Grenzübergängen der Gegend gleichzeitig – wie ich unterwegs dann feststellen konnte. Als wir nämlich die Brücke hinter uns gelassen hatten, sind wir hier und da, in einer Kurve oder an einer Kreuzung, mit anderen Gruppen zusammengetroffen, die sich ebenfalls aus soundso viel Leuten mit gelbem Stern und einem, zwei, ja in einem Fall sogar drei Polizisten zusammensetzten. Bei einer solchen Gruppe habe ich auch den Polizisten mit dem Fahrrad erkannt. Ich habe auch bemerkt, dass sich die Polizisten bei dieser Gelegenheit immer nur ganz knapp, sozusagen dienstlich begrüßten, so als ob sie schon vorher mit dem Treffen gerechnet hätten, und erst da habe ich die geschäftlichen telefonischen Erledigungen unseres Polizisten von vorhin verstanden: Sie hatten also wohl jeweils die Zeitpunkte festgelegt, scheint mir. Schließlich fand ich mich inmitten einer schon recht ansehnlichen Marschkolonne, und zu beiden Seiten flankierten Polizisten in eher kürzeren Abständen unseren Zug.

So sind wir, immer auf der Fahrbahn, ziemlich lange marschiert. Es war ein schöner, klarer Sommernachmittag, auf den Straßen eine bunte Menge, wie immer um diese Stunde; doch ich nahm das alles ein bisschen verwischt wahr. Ich habe dann auch bald die Orientierung verloren, da wir zumeist auf Chausseen und Straßen gingen, die ich nicht recht kannte. Und dann wurden es ja ständig mehr Straßen, und der Verkehr und vor allem das beschwerliche Vorwärtskommen, wie das bei einer geschlossenen Marschkolonne unter solchen Umständen nun einmal ist, haben meine Aufmerksamkeit ziemlich in Anspruch genommen und bald erschöpft. Was ich von dem ganzen langen Weg noch weiß, ist eigentlich nur diese hastige, zögernde, in gewisser Weise fast schon verstohlene Neugier, mit der die Fußgänger von den Gehsteigen auf unseren Zug blickten (zu Beginn amüsierte es mich, mit der Zeit achtete ich dann kaum noch darauf) – ja und dann noch ein späterer Moment, der einigermaßen verworren ist. Wir waren gerade auf einer breiten, äußerst belebten Vorortstraße unterwegs, überall um uns herum ein dichter, unerträglich lärmender Verkehrsstrom; ich weiß gar nicht, wie sich an einer bestimmten Stelle, nicht weit vor mir, eine Straßenbahn in unseren Zug hatte hereinkeilen können. Uns blieb nichts übrig, als stehen zu bleiben, um sie durchzulassen – und da wurde ich auf das plötzliche Aufblitzen eines gelben Kleidungsstücks aufmerksam, da vorn, in einer Wolke von Staub, Lärm und Ausdünstung: Der «Reisende» war es. Ein einziger langer Satz, und schon war er untergetaucht, seitlich irgendwo, im Strudel der Menschen und Wagen. Ich war ganz verblüfft: Das alles passte irgendwie nicht so recht zu seinem Verhalten im Zollhaus, fand ich. Aber gleichzeitig empfand ich noch etwas anderes, ich war irgendwie angenehm überrascht, wie einfach diese Handlung war: Und tatsächlich, dann sah ich, wie ein, zwei unternehmungslustige Geister dort vorn gleich loszogen, ihm nach. Auch ich habe mich umgeschaut, zwar eher, wie soll ich sagen, des Spieles halber – denn schließlich sah ich ja keinen Grund, mich aus dem Staub zu machen –, und ich glaube, ich hätte sogar genug Zeit dazu gehabt: Aber dann hat sich der Anstand in mir doch als stärker erwiesen. Danach sind die Polizisten auch gleich eingeschritten, und die Reihen um mich herum haben sich wieder geschlossen.

Eine Zeit lang sind wir noch weitermarschiert, und dann ist alles ganz schnell, unerwartet und ein wenig überraschend abgelaufen. Wir sind irgendwo abgebogen, und wie ich sah, mussten wir am Ziel angekommen sein, denn die Straße führte zwischen den weit offenen Flügeln eines Tors hindurch. Erst dann bemerkte ich, dass hinter dem Tor anstelle der Polizisten bereits andere an unsere Seite getreten waren, gekleidet wie Soldaten, aber mit bunten Federn an den Schirmmützen: Gendarmen. Sie führten uns durch ein Labyrinth von grauen Gebäuden, immer weiter hinein, bis zu einem sich plötzlich öffnenden, mit weißem Schotter bestreuten riesigen Platz – eine Art Kasernenhof, wie mir schien. Und zugleich erblickte ich die hohe, gebieterisch aussehende Gestalt eines Mannes, der vom gegenüberliegenden Gebäude her direkt auf uns zukam. Er trug hohe Stiefel und eine enganliegende Uniform mit goldenen Sternen und einen Lederriemen quer über der Brust. In einer seiner Hände sah ich ein dünnes Stöckchen, von der Art, wie man sie beim Reiten benutzt, mit dem er sich fortwährend gegen den lackglänzenden Stiefelschaft klopfte. Einen Moment später, als wir schon reglos in Reih und Glied standen, konnte ich auch sehen, dass er auf seine Art ein schöner Mann war, mit abgehärteten und gewinnend männlichen Zügen, alles in allem ein bisschen an die Helden im Film erinnernd, mit einem modisch geschnittenen, schmalen braunen Schnurrbart, der sehr gut zu dem sonnengebräunten Gesicht passte. Als er herangekommen war, hat uns ein Befehl der Gendarmen alle starr stehen lassen. Von allem, was danach kam, sind mir bloß zwei schnell aufeinanderfolgende Eindrücke geblieben: die krächzende, mehr oder weniger an einen Marktschreier erinnernde Stimme des Gestiefelten, die mich bei seinem sonst so gepflegten Äußeren dermaßen verblüfft hat, dass ich mir vielleicht schon deswegen nicht viel von seinen Worten gemerkt habe. So viel jedenfalls habe ich verstanden, dass er die «Untersuchung» – diesen Ausdruck hat er verwendet – in unserer Angelegenheit erst morgen durchzuführen gedachte, darauf hat er sich sogleich an die Gendarmen gewandt und ihnen mit einer über den ganzen Platz tönenden Stimme befohlen, sie sollten «dieses ganze jüdische Gesindel» dorthin bringen, wo es seiner Meinung nach eigentlich hingehöre, nämlich in den Pferdestall, und es dort über Nacht einsperren. Und der zweite Eindruck war das unübersichtliche, von lauten Befehlen erfüllte Durcheinander, das sofort darauf eintrat, die gebrüllten Anweisungen der plötzlich in Schwung versetzten Gendarmen, die uns wegtrieben. Ich wusste auf einmal gar nicht mehr, wo mir der Kopf stand, und ich erinnere mich nur daran, dass ich die ganze Zeit fast auch ein bisschen lachen musste, einerseits vor Staunen und Verlegenheit, aus dem Gefühl, plötzlich in irgendein sinnloses Stück hineingeraten zu sein, in dem ich meine Rolle nicht recht kannte, andererseits wegen einer flüchtigen Vorstellung, die mir gerade so durch den Sinn huschte: das Gesicht meiner Stiefmutter, wenn sie heute Abend merken würde, dass sie mit dem Abendessen umsonst auf mich wartete.

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