Am meisten mangelte es in der Eisenbahn an Wasser. Lebensmittel schienen, alles eingerechnet, für lange Zeit zur Genüge vorrätig zu sein; aber wir hatten eben nichts zum Trinken dazu, und das war doch recht unangenehm. Die in der Eisenbahn haben gleich gesagt: Der erste Durst, das ist bald vorüber. Schließlich hätte man ihn schon fast vergessen, erst da trete er von neuem auf – bloß lasse er dann kein Vergessen mehr zu, erklärten sie. Sechs, sieben Tage – behaupteten die Sachverständigen –, das sei die Zeit, die man im Notfall, und auch das warme Wetter eingerechnet, ohne Wasser überstehen könne, vorausgesetzt, man sei gesund, verliere nicht zu viel Schweiß und esse kein Fleisch und keine Gewürze. Vorläufig – so redeten sie uns zu – hätten wir noch Zeit; alles hinge davon ab, wie lange die Reise dauern werde, sagten sie noch. Tatsächlich war ich selbst auch neugierig darauf: In der Ziegelei hatten sie das nicht mitgeteilt. Insgesamt hatten sie nur so viel verlauten lassen, dass jeder, der Lust habe, sich zur Arbeit melden könne, und zwar in Deutschland. Den Gedanken fand ich, genauso wie die übrigen Jungen und viele andere in der Ziegelei, sofort reizvoll. Überhaupt – so sagten es die durch Armbinden kenntlich gemachten Leute von einer gewissen Körperschaft, die sich «Judenrat» nannte – so oder so, willig oder nicht willig, wir alle würden auf jeden Fall früher oder später aus der Ziegelei nach Deutschland ausgesiedelt, und denen, die sich als Erste freiwillig meldeten, würde ein besserer Platz zuteil und dazu noch die Vergünstigung, dass sie insgesamt zu sechzig in einem Wagen reisen könnten, während später wenigstens achtzig Platz finden müssten, wegen der ungenügenden Anzahl von Zügen, die zur Verfügung standen – wie sie es jedermann erklärten: Das ließ der Überlegung in der Tat nicht mehr viel Raum, wie auch ich fand.
Aber auch die Richtigkeit der anderen Gründe hätte ich nicht anfechten können, welche sich auf die engen Verhältnisse in der Ziegelei, ihre Folgen auf dem Gebiet der Gesundheit sowie die wachsenden Probleme in der Lebensmittelversorgung bezogen: Es war so, das konnte auch ich bezeugen. Schon als wir, von der Gendarmerie kommend, dort eintrafen (von den Erwachsenen hatten verschiedene festgestellt, dass die Kaserne «Gendarmeriekaserne Andrássy» hieß), fanden wir jeden Winkel der Ziegelei mit Menschen vollgestopft, sowohl Männer als Frauen, Kinder jeden Alters und zahllose Alte beiderlei Geschlechts. Wohin ich auch trat, stolperte ich über Decken, Rucksäcke, allerlei Koffer, Packen, Bündel. Das alles, und dann auch die vielen kleinen Klagen, Bosheiten und Keifereien, die offenbar mit einem solchen gemeinschaftlichen Leben unvermeidlich einhergehen, haben mich natürlich bald ermüdet. Dazu kam die Untätigkeit, das dumme Gefühl des Stillstands, ja und dann die Langeweile; deshalb erinnere ich mich an die fünf Tage, die ich hier verbracht habe, auch nicht einzeln, doch selbst im Ganzen weiß ich von ihnen nur noch ein paar wenige Einzelheiten. Auf jeden Fall das noch, die Erleichterung, dass auch die Jungen da waren: «Rosi», der «Halbseidene», der «Zierlederer», der ewige Raucher, Moskovics und all die anderen. Wie mir schien, fehlte keiner: Auch sie waren also alle anständig geblieben. Mit den Gendarmen hatte ich in der Ziegelei kaum noch zu tun: Ich sah sie eher auf der anderen Seite des Zauns, wo sie Wache hielten, da und dort vermischt mit Polizisten. Von diesen war dann in der Ziegelei die Rede, nämlich dass sie mehr Einsehen hätten als die Gendarmen und auch ganz gern zu Menschlichkeit neigten, und zwar nach vorheriger Vereinbarung, sei es in Form von Geld oder sonst irgendeiner Wertsache. Hauptsächlich – so hörte ich – erhielten sie zahlreiche Aufträge zum Weiterleiten von Briefen und Botschaften, ja, es eröffneten sich dank ihrer sogar, so wollten einige durchaus wissen, auch im Bereich der Flucht gewisse – allerdings, wie hinzugefügt wurde: seltene und riskante – Gelegenheiten; etwas ganz Genaues darüber zu erfahren wäre für mich schwer gewesen. Aber ich glaube, da habe ich ein bisschen genauer verstanden, worüber der Mann mit dem Seehundgesicht im Zollhaus so dringend mit dem Polizisten sprechen wollte. Und so habe ich dann auch in Erfahrung gebracht, dass unser Polizist demnach anständig gewesen war. Dieser Sachverhalt erklärt sich aus dem Umstand, dass ich in der Ziegelei, während ich auf dem Hof herumhing oder in der Nähe der Kantine Schlange stand, unter den vielen durcheinanderwogenden fremden Gesichtern ein-, zweimal auch den Mann mit dem Seehundgesicht wiedererkannt habe.
Von den Zollhäuslern habe ich auch noch den Pechvogel wiedergesehen: Er saß oft bei uns, der «Jugend», um sich «ein bisschen aufzuheitern» – wie er sagte. Er hatte dort irgendwo, in unserer Nähe, eine Unterkunft gefunden in einer der zahlreichen gleichförmigen Baulichkeiten auf dem Hof, die mit Ziegeln gedeckt, sonst aber nach allen Seiten offen waren und, wie ich hörte, ursprünglich eigentlich zum Trocknen der Ziegel dienten. Er schien ein bisschen mitgenommen, mit Schwellungen und den mehrfarbigen Flecken von Prellungen im Gesicht, und wir haben dann von ihm erfahren, dass das alles noch von der Untersuchung auf der Gendarmerie herstammte: Man hatte nämlich in seinem Rucksack Medikamente und Lebensmittel gefunden. Umsonst habe er zu erklären versucht, es handle sich um Ware aus alten Beständen und sei ausschließlich für seine schwerkranke Mutter bestimmt: Sie hatten ihn beschuldigt, dass er ganz offensichtlich damit auf dem Schwarzmarkt Handel treibe. Es nützte nichts, dass er seine Bewilligung hatte, und es nützte auch nichts, dass er noch nie auch nur gegen einen Buchstaben des Gesetzes verstoßen hatte, wie er erzählte. «Haben Sie etwas gehört? Was geschieht mit uns?», pflegte er sich zu erkundigen. Er brachte auch wieder seine Familie zur Sprache, ja, und auch wieder sein Pech. Wie lange hatte er sich um die Bewilligung bemüht und wie sehr hatte er sich über sie gefreut – erinnerte er sich mit bitterem Kopfschütteln; das hätte er gewiss nicht gedacht, dass die Sache «ein solches Ende» nehmen würde. An jenen fünf Minuten habe alles gelegen. Wenn er nicht das Pech gehabt hätte … wenn der Bus nicht … solche Überlegungen vernahm ich von ihm. Mit der Züchtigung hingegen schien er im Großen und Ganzen eher zufrieden. «Ich war am Schluss dran, und das war vielleicht ein Glück», erzählte er, «da hatten sie es schon eilig.» Alles in allem «hätte es ihm auch übler ergehen können» – so hat er es zusammengefasst und hinzugefügt, er habe auf der Gendarmerie «Schlimmeres gesehen», und das stimmte auch, wie ich mich selbst erinnerte. Niemand solle glauben – so hatten die Gendarmen am Vormittag der Untersuchung gewarnt –, dass er etwas vor ihnen verbergen könnte, weder seine Schuld noch Geld oder Gold- und Wertsachen. Auch ich musste – als ich an der Reihe war – Geld, Uhr, Taschenmesser und alles Sonstige vor ihnen auf einen Tisch legen. Ein stattlicher Gendarm hat mich mit schnellen und irgendwie fachgerecht wirkenden Bewegungen abgetastet, von den Achselhöhlen bis zu den Beinen meiner kurzen Hose. Hinter dem Tisch sah ich auch den Oberleutnant – wie ich bis dahin bereits den Worten entnommen hatte, die die Gendarmen untereinander wechselten, hieß der Gestiefelte in Wirklichkeit Oberleutnant Szakál. Zu seiner Linken bemerkte ich sogleich noch einen schnauzbärtigen, metzgerhaften Gendarmen in Hemdsärmeln, der sich dort auftürmte, in der Hand ein rollenförmiges und im Grunde etwas lächerliches, weil an das Nudelholz einer Köchin erinnerndes Instrument. Der Oberleutnant war ganz freundlich: Er fragte, ob ich Papiere besitze, dann konnte ich allerdings kein Anzeichen, nicht einmal ein Aufblitzen, von der Wirkung meines Ausweises bei ihm feststellen. Ich war überrascht, doch dann – vor allem auch in Anbetracht einer zum Gehen auffordernden und widrigenfalls ein unmissverständliches Versprechen andeutenden Gebärde des schnurrbärtigen Gendarmen – habe ich es vernünftiger gefunden, keine Einwände zu machen, versteht sich.
Darauf wurden wir alle von den Gendarmen aus der Kaserne hinausgeführt und zunächst in einen Sonderzug der Straßenbahn gestopft, an einem Platz am Donauufer auf ein Schiff verladen und nach dem Anlegen dann eine Wegstrecke zu Fuß weitergeführt – und so eigentlich bin ich in die Ziegelei gekommen, genauer, wie ich dann an Ort und Stelle erfahren habe, in die «Ziegelei Budakalász».
Ich habe am Anmeldungsnachmittag dann noch viele andere Dinge über die Reise erfahren. Auch die Leute mit den Armbinden waren überall und gaben auf jede Frage bereitwillig Auskunft. Allen voran suchten sie die Jungen, Unternehmungslustigen und Alleinstehenden. Doch wie ich hörte, versicherten sie auf Fragen hin, dass auch Frauen, Kinder und Alte Platz finden würden und dass sie auch ihr gesamtes Gepäck mitnehmen durften. Ihrer Ansicht nach war die Frage aber vor allem, ob wir die Angelegenheit unter uns und auf diese Weise so menschlich wie möglich erledigen oder ob wir lieber abwarten wollten, bis die Gendarmen den Beschluss an uns vollziehen würden. Wie sie nämlich erläuterten, musste der Transport auf jeden Fall vollzählig sein, und sollten ihre Listen nicht voll werden, dann würden die Gendarmen unsere Musterung vornehmen: Und so waren die meisten, wie ich selbst auch, der Ansicht, es liege auf der Hand, dass wir natürlich im ersteren Fall besser dran seien.
Auch über die Deutschen sind mir sogleich viele verschiedene Meinungen zu Ohren gekommen. So bekannten sich zahlreiche, und zwar vor allem ältere Leute, die schon über Erfahrungen verfügten, zu der Ansicht, die Deutschen seien, was immer ihre Auffassung von den Juden sein möge, im Grunde genommen – wie das im Übrigen jedermann wisse – saubere, anständige Menschen, die Ordnung, Pünktlichkeit und Arbeit liebten und es auch bei anderen zu ehren wüssten, wenn sie bei ihnen die gleichen Eigenschaften feststellten; im Großen und Ganzen entsprach das in der Tat ungefähr dem, was auch ich von ihnen wusste, und ich dachte, ich könnte bei ihnen dann wohl auch einen Nutzen daraus ziehen, dass ich mir am Gymnasium ihre Sprache bis zu einem gewissen Grad angeeignet hatte. Vor allem aber würde ich von der Arbeit endlich geordnete Verhältnisse, Beschäftigung, neue Eindrücke, einen gewissen Spaß, also insgesamt eine sinnvollere und mir passendere Lebensweise als die hiesige erwarten dürfen, so wie das ja auch versprochen worden war und wie wir Jungen es uns untereinander ausmalten, natürlicherweise; und außerdem ging mir noch kurz durch den Kopf, dass ich auf diese Weise ein Stückchen von der Welt sehen könnte. Und um die Wahrheit zu sagen: Wenn ich an einiges dachte, was in den vergangenen Tagen vorgefallen war, etwa an die Gendarmerie, vor allem aber an meinen rechtmäßigen Ausweis und überhaupt an die Gerechtigkeit, so hielt mich auch Vaterlandsliebe nicht zurück, wenn ich dieses Gefühl noch in Betracht ziehen wollte.
Dann gab es auch Misstrauischere, die anders informiert waren und von anderweitigen Eigenschaften der Deutschen zu wissen meinten; wieder andere, die also in diesem Fall einen besseren Rat von ihnen haben wollten; und wieder andere, die sich anstelle solchen Gezänks für die Stimme der Vernunft, für ein beispielhaftes Verhalten und würdiges Auftreten vor den Behörden aussprachen – und all diese Argumente und Gegenargumente, aber auch zahlreiche weitere Neuigkeiten, Informationen und Hinweise wurden auf dem Hof ringsum unablässig diskutiert, in kleineren oder größeren Gruppen, die sich fortwährend auflösten und dann wieder von neuem bildeten. Ich hörte, dass unter anderem sogar Gott erwähnt wurde, «Sein unergründlicher Ratschluss» – wie es einer von ihnen formulierte. Wie einst Onkel Lajos, so sprach auch er von Schicksal, vom Schicksal der Juden, und er war, gleicherweise wie Onkel Lajos, der Ansicht, wir seien «vom Herrn abgefallen», und das sei die Erklärung für die Heimsuchungen, die uns ereilten. Er hat dann doch ein wenig meine Aufmerksamkeit auf sich gezogen, denn er war ein kraftvoll auftretender und auch körperlich so beschaffener Mann, mit einem ziemlich ungewöhnlichen Gesicht, das von einer schmalen, aber weit ausholend gebogenen Nase geprägt wurde, sehr glänzenden, feucht blickenden Augen, einem schönen, grau durchzogenen Schnurrbart und einem damit zusammengewachsenen kurzen runden Kinnbart. Ich sah, dass immer viele um ihn herumstanden und gespannt seinen Worten lauschten. Erst später habe ich erfahren, dass er Geistlicher war, denn ich hörte, wie man ihn mit «Herr Rabbi» anredete. Ich habe mir auch ein paar seiner besonderen Worte oder Ausdrücke gemerkt, so zum Beispiel die Stelle, wo er zugab – «denn das Auge, das sieht, und das Herz, das fühlt» gäben ihm Anlass zu diesem Zugeständnis –, dass «wir hienieden das Maß der Strafe vielleicht in Frage stellen mögen» – und seine sonst klare, tragende Stimme versagte ihm hier für einen Augenblick, während seine Augen noch feuchter wurden als sonst. Ich weiß nicht, warum ich da das merkwürdige Gefühl hatte, er habe ursprünglich eigentlich etwas anderes sagen wollen und seine Worte hätten ihn selbst ein bisschen überrascht. Doch er fuhr dann fort und gestand, «er wolle sich über nichts hinwegtäuschen». Er wisse schon, er müsse sich «an diesem Ort der Pein und unter diesen gequälten Gesichtern» ja nur umschauen – wie er sagte, und ich war von seinem Mitleid etwas überrascht, denn schließlich war er selber ja auch hier –, um zu sehen, wie schwer seine Aufgabe sei. Doch sein Ziel sei es nicht, «Seelen zu gewinnen für den Allmächtigen», denn das sei nicht nötig, da ja unser aller Seelen Ihm entspringen, wie er sagte. Dabei rief er uns aber auf: «Hadert nicht mit dem Herrn!», und zwar gar nicht einmal nur deshalb, weil das eine Sünde wäre, sondern weil dieser Weg «zur Verneinung des hohen Sinns des Lebens» führen würde und wir seiner Meinung nach «mit dieser Verneinung im Herzen» nicht leben könnten. Ein solches Herz möge wohl leicht sein, aber nur, weil es leer sei, gleich der Ödnis der Wüste, sagte er; schwer sei es hingegen und doch der einzige Weg der Tröstung, auch in den Heimsuchungen die unendliche Weisheit des Allmächtigen zu erkennen, denn, wie er wörtlich fortfuhr: «Die Stunde Seines Sieges wird kommen, und sie werden eins sein in Reue, und aus dem Staub werden sie Ihn anrufen, die Seine Herrschaft vergessen haben.» Und wenn er also jetzt schon sage, dass wir an das Kommen Seines künftigen Erbarmens glauben müssen («und dieser Glaube möge in dieser Stunde der Prüfung unsere Stütze und der unerschöpfliche Quell unserer Kraft sein»), so habe er damit auch schon die einzige Art und Weise bezeichnet, wie wir überhaupt leben könnten. Und diese Art und Weise nannte er die «Verneinung der Verneinung», da wir ohne Hoffnung «verloren» seien – während wir Hoffnung einzig aus dem Glauben schöpfen könnten und aus dem unverbrüchlichen Vertrauen, dass sich der Herr unser erbarmen werde und wir Seiner Gnade zuteil würden. Seine Beweisführung, ich musste es zugeben, schien klar, wobei mir doch auffiel, dass er alles in allem nicht sagte, wie wir da eigentlich etwas Konkreteres tun könnten, und er war auch nicht recht imstande, denen mit einem guten Rat zu dienen, die ihn um seine Meinung angingen: ob sie sich jetzt schon für die Reise melden oder lieber noch dableiben sollten. Auch den Pechvogel habe ich da gesehen, und zwar gleich mehrere Male: Einmal tauchte er bei der einen Gruppe auf, dann bei der anderen. Ich habe aber bemerkt, dass er unterdessen seine winzigen, noch ein wenig blutunterlaufenen Augen immerzu unruhig und unermüdlich auch über andere Leute und Gruppen schweifen ließ. Hin und wieder vernahm ich auch seine Stimme, wenn er da und dort jemanden anhielt und von ihm mit krampfhaft forschendem Gesicht, während er sich die Finger zerrte und knetete, wissen wollte: «Verzeihung, reisen Sie auch?», und: «Warum?», und: «Ist das Ihres Erachtens besser, gestatten Sie die Frage?»
Gerade da – erinnere ich mich – ist ein anderer Bekannter aus dem Zollhaus, der «Experte», gekommen, um sich anzumelden. Ich habe ihn in der Ziegelei-Zeit auch sonst öfter gesehen. Seine Kleidung war zwar zerknittert, seine Krawatte verschwunden und sein Gesicht voller grauer Stoppeln, aber im Großen und Ganzen waren an ihm auch so noch alle die unzweifelhaften Anzeichen einer Respektsperson zu erkennen. Seine Ankunft hatte sofort Aufsehen erregt, denn es war ein Kreis von aufgeregten Menschen um ihn herum, und er vermochte die vielen Fragen, mit denen sie ihn bestürmten, kaum zu beantworten. Wie nämlich auch ich sehr bald erfuhr, war es ihm möglich gewesen, geradewegs mit einem deutschen Offizier zu sprechen. Das Ereignis hatte sich vorn, bei den Büros der Kommandantur, der Gendarmerie und anderer Untersuchungsbehörden, zugetragen, wo ich in diesen Tagen auch hin und wieder das schnelle Verschwinden oder Auftauchen einer deutschen Uniform feststellen konnte. Zunächst – so war seinen Worten zu entnehmen – hatte er es mit den Gendarmen versucht. Er hatte sich, wie er sagte, bemüht, «Verbindung mit der Firma aufzunehmen». Doch wie wir nun erfuhren, hatten ihm die Gendarmen dieses Recht «beharrlich verweigert», obwohl «es sich um die Rüstungsindustrie handelt» und «die Leitung der Produktion ohne ihn undenkbar ist», was auch die Behörden erkannt hatten, wenn er freilich des dahin lautenden Dokuments ebenso wie alles Übrigen auf der Gendarmerie «verlustig gegangen» sei: All das konnte ich nur eben so schlecht und recht mitverfolgen, weil er es bruchstückhaft erzählte, während er die vielen durcheinander gestellten Fragen beantwortete. Er schien recht aufgebracht. Doch er wolle nicht, so bemerkte er, «auf Einzelheiten eingehen». Im Übrigen hatte er sich ebendeswegen an den deutschen Offizier gewandt. Der Offizier sei im Begriff gewesen wegzugehen. Zufällig, so haben wir von ihm erfahren, hatte sich auch der «Experte» gerade in der Nähe aufgehalten. «Ich habe mich ihm in den Weg gestellt», sagte er. Übrigens waren mehrere Zeugen des Vorfalls zugegen, und sie erwähnten denn auch seine Waghalsigkeit. Darauf hat er aber mit den Schultern gezuckt und gesagt, wer nichts wagt, der gewinnt nichts, und er habe auf jeden Fall «endlich mit jemand Zuständigem» sprechen wollen. «Ich bin Ingenieur», fuhr er fort, «und ich beherrsche das Deutsche perfekt», fügte er hinzu. Das alles habe er auch dem deutschen Offizier gesagt. Er habe ihm zur Kenntnis gebracht, dass «man ihm seine Arbeit hier moralisch und auch de facto unmöglich macht», und zwar, in seinen Worten: «ohne jedwede Rechtskraft und Berechtigung, selbst im Rahmen der gegenwärtig bestehenden Verfügungen». «Wer hat denn davon etwas?», so habe seine Frage an den deutschen Offizier gelautet. Er habe ihm, so wie er nun auch uns wissen ließ, gesagt: «Ich suche nicht um Vorteile oder Privilegien nach. Aber ich bin jemand, und ich kann etwas: Ich möchte meinen Fähigkeiten gemäß arbeiten, das ist mein ganzes Bestreben.» Der Offizier hatte ihm daraufhin geraten, sich unter die Freiwilligen zu reihen. Er habe ihm, wie er sagte, keine «großartigen Versprechungen» gemacht, ihm aber versichert, dass Deutschland bei seiner gegenwärtigen Kraftanstrengung einen jeden brauche, ganz besonders aber die Sachkenntnis von fachlich Ausgebildeten. Und wie wir von ihm erfuhren, hatte er deshalb, wegen dieser «Sachlichkeit» des Offiziers, das Gefühl, dass das, was dieser gesagt habe, «korrekt und real» sei – mit diesen Worten hat er es bezeichnet. Er hat auch noch eigens die «Manieren» des Offiziers erwähnt: Im Gegensatz zur «Ungeschlachtheit» der Gendarmen beschrieb er ihn als «nüchtern, gemäßigt und in jeder Hinsicht einwandfrei». Auf eine andere Frage räumte er ein, es gebe «keine weitere Garantie» als lediglich diesen seinen Eindruck von dem Offizier; doch er sagte auch, im Augenblick müsse er sich damit begnügen, und er glaube nicht, sich geirrt zu haben. «Vorausgesetzt», sagte er noch, «dass mich meine Menschenkenntnis nicht trügt» – aber doch eher so, dass jedenfalls auch ich diese Möglichkeit als einigermaßen unwahrscheinlich empfand.
Als er dann gegangen ist, sah ich auf einmal – hopp! – den Pechvogel aus der Gruppe schnellen, wie den Teufel aus der Kiste, und dem Experten nach, genauer: vor ihn hin eilen. Ich dachte mir noch, in Anbetracht der Aufregung und auch einer gewissen Entschlossenheit auf seinem Gesicht: Na, diesmal wird er ihn ansprechen, nicht so wie im Zollhaus. Dann aber ist er in der Eile in einen beleibten, ellenlangen Mann mit Armbinde hineingestolpert, der mit Liste und Bleistift daherkam. Der hielt ihn auch gleich auf, trat zurück, musterte ihn von Kopf bis Fuß, beugte sich vor und fragte ihn etwas – und was dann geschehen ist, weiß ich nicht, da «Rosi» gerade herüberrief, dass wir an der Reihe seien.
Dann erinnere ich mich nur noch daran, wie ich mit den Jungen wieder zurückgegangen bin, zu unserer Unterkunft, und dass die Sommerdämmerung, die den Himmel über den Hügeln schon rötlich färbte, besonders friedlich und warm war an diesem letzten Tag. Auf der anderen Seite, in Flussrichtung, sah ich über dem Rand des Lattenzauns gerade die Wagendächer des grünen Vorortzuges fahrplanmäßig vorübereilen. Ich war müde und, na ja, nachdem ich nun angemeldet war, natürlich auch ein bisschen neugierig. Die Jungen schienen im Großen und Ganzen auch zufrieden. Und auch der Pechvogel ist irgendwie bei uns aufgetaucht und hat mit einem insgesamt feierlichen, freilich irgendwie forschenden Gesichtsausdruck gesagt, auch er sei schon auf der Liste. Wir hießen es gut, und wie mir schien, befriedigte ihn das – dann aber habe ich ihm nicht mehr recht zugehört. Hier, im hinteren Bereich der Ziegelei, war es ruhiger. Ich sah zwar auch hier kleinere Gruppen von Leuten, die beratschlagten, einige bereiteten sich auch schon für die Nacht vor oder aßen ihr Mahl, hüteten ihr Gepäck oder saßen einfach da, schauten schweigend in den Abend hinaus. Zufällig sind wir bei einem Ehepaar stehen geblieben. Ich hatte sie oft gesehen, und so vom Sehen kannte ich sie schon gut: eine kleine, zerbrechliche Frau mit feinen Zügen und ein magerer Mann mit Brille und etlichen Zahnlücken, ständig mit Schweiß auf der Stirn, ständig hin und her hetzend, ständig alarmbereit. Auch jetzt war er sehr beschäftigt: Er kauerte am Boden und sammelte, von seiner Frau eifrig unterstützt, in großer Eile das Gepäck zusammen, um das er einen Riemen schnallte, und er schien sich ausschließlich um diese Arbeit zu kümmern und um nichts anderes. Doch da ist der Pechvogel hinter ihm stehen geblieben, anscheinend kannte er ihn auch, denn gleich darauf hat er gefragt, ob sie sich auch für die Abreise entschieden hätten. Auch da hat der Mann nur für einen Augenblick über seine Brille hinweg aufgeschaut, blinzelnd, schwitzend, das Gesicht allein schon des Abendlichts wegen angestrengt zusammengezogen, und hat nur die eine erstaunte Frage zur Antwort gegeben: «Gehen müssen wir ja, oder?» Und so einfach sie war, so richtig schien mir im Grunde genommen diese Feststellung.
Am anderen Morgen haben sie uns schon früh auf die Reise geschickt. Der Zug fuhr, bei strahlendem Sommerwetter, vor dem Tor auf dem Geleise der Vorortbahn ab – so ein Güterzug aus lauter ziegelroten, oben und an den Seiten geschlossenen Wagen. In diesen waren wir zu sechzig, dazu das Gepäck, ja und das, was uns die Armbinden-Leute für die Fahrt mitgegeben hatten: Stapel von Broten und große Fleischkonserven – erlesene Ware für Bewohner der Ziegelei, wie ich zugeben musste. Aber ich hatte schon am Tag zuvor festgestellt, wie aufmerksam, wie zuvorkommend wir Abreisenden im Allgemeinen behandelt wurden, sozusagen schon mit einer gewissen Achtung, und auch diese Großzügigkeit mochte vielleicht Ausdruck dessen sein, so empfand ich es. Auch die Gendarmen waren da, bewaffnet, mürrisch, zugeknöpft bis zum Kinn – so als müssten sie auf eine begehrte Ware aufpassen, an der sie sich jedoch kaum noch vergreifen dürften, und zwar gewiss, wie ich mir denken konnte, weil es eine Macht gab, die noch über ihnen stand: die Deutschen. Dann haben sie die Schiebetür hinter uns zugemacht und draußen noch irgendwie daran herumgehämmert, dann sind Signale gegeben worden, Pfiffe, so wie bei der Eisenbahn üblich, dann ein Ruck: Wir fuhren ab. Die Jungen und ich haben es uns bequem gemacht, dort im vordersten Wagendrittel, das wir gleich beim Einsteigen besetzt hatten, zusammen mit einigen recht hochliegenden, sorgsam mit stachligem Draht überzogenen, fensterartigen Öffnungen zu beiden Seiten. Bald ist in unserem Wagen dann die Frage des Wassers und damit auch die der Reisedauer aufgeworfen worden. Im Übrigen kann ich von der Reise insgesamt nicht viel sagen. Genauso wie im Zollhaus oder zuletzt in der Ziegelei mussten wir uns auch in der Eisenbahn die Zeit irgendwie vertreiben. Das war hier vielleicht doch so viel schwieriger, als sich aus den Umständen ergab, natürlich. Andererseits half das Wissen um das Ziel, der Gedanke, dass alles, eine jede, wenn auch mit noch so viel ermüdendem Gerumpel, Rangieren und Stillstand zurückgelegte Wegstrecke uns ihm näher brachte, über die Probleme und Schwierigkeiten hinweg. Die Jungen und ich verloren die Geduld nicht. «Rosi» redete uns immer wieder zu: Die Fahrt dauere nur so lange, bis wir angekommen wären. Der «Halbseidene» wurde viel geneckt wegen eines Mädchens, das – wie die Jungen zu wissen meinten – mit den Eltern hier war und das er noch in der Ziegelei kennengelernt hatte; ihr zuliebe verschwand er, besonders am Anfang, häufig im Inneren des Waggons, was unter den Jungen viel zu reden gab. Und auch der Dauerraucher war da: Sogar hier noch kam aus seinen Taschen ab und zu irgendetwas Krümeliges, Seltsames, Zusammengeklaubtes zum Vorschein, irgendwelche Papierfetzen und das eine oder andere Streichholz, über dessen Flamme sich sein Gesicht mit der Gier eines Raubvogels beugte, manchmal sogar nachts. Von Moskovics (von dessen Stirn sich unablässig Bäche über die Brille, die stumpfe Nase, den wulstigen Mund ergossen, Bäche aus Schweiß und Ruß – wie übrigens bei allen von uns, auch bei mir, selbstverständlich) und von all den anderen hörte ich auch noch am dritten Tag hin und wieder ein fröhliches Wort, eine lustige Bemerkung, vom «Zierlederer» ab und zu, wenn auch mit stockender Zunge vorgebracht, einen matten Scherz. Ich weiß nicht, wie es einige Erwachsene fertiggebracht hatten, auszutüfteln, dass das Ziel unserer Reise ein Ort war, der sich «Waldsee» nannte: Wenn ich Durst hatte, wenn mir heiß war, verschaffte allein schon das Versprechen, das in diesem Namen lag, sofortige Erleichterung. Die, die sich über den Platzmangel beklagten, wurden, zu Recht, von vielen anderen erinnert: Sie sollten daran denken, die Nächsten würden schon zu achtzig sein. Und wenn ich es mir im Grunde recht überlegte, so hatte ich ja schließlich schon engere Verhältnisse erlebt: so etwa im Pferdestall der Gendarmerie, wo wir das Platzproblem nur durch die Übereinkunft hatten lösen können, dass wir uns alle auf den Boden kauerten, nach dem Muster des «Türkensitzes». In der Eisenbahn saß ich viel bequemer. Und wenn mir danach zumute war, konnte ich auch aufstehen, ja sogar ein paar Schritte machen – zum Beispiel zum Kübel: Der hatte nämlich seinen Platz in der rechten hinteren Ecke des Waggons. Zunächst hatten wir den Beschluss gefasst, ihn nach Möglichkeit nur für das kleine Geschäft zu benutzen. Doch nun, mit der Zeit, mussten eben viele von uns die Erfahrung machen, dass das Gebot der Natur stärker war als unser Gelöbnis, und es blieb uns nichts übrig, als demgemäß zu handeln, wie etwa wir Jungen das taten und die Männer, ja und dann auch etliche Frauen, das lässt sich ja verstehen, natürlich.
Auch der Gendarm hat schließlich keine größeren Unannehmlichkeiten bereitet. Zuerst war ich über ihn etwas erschrocken: Sein Gesicht ist ganz plötzlich gerade über meinem Kopf, in der linken Fensteröffnung aufgetaucht, und er hat auch noch mit der Taschenlampe zu uns hereingeleuchtet, am Abend, oder eher schon in der Nacht, nach dem ersten Tag, während eines erneuten längeren Halts. Aber wie sich bald herausstellte, kam er in guter Absicht: «Leute», nur diese Mitteilung wollte er machen, «ihr seid an der ungarischen Grenze angelangt!» Bei dieser Gelegenheit wolle er einen Aufruf, man könnte fast sagen, eine Bitte an uns richten. Sein Wunsch war, dass, sollten bei irgendjemandem von uns noch Geld oder sonstige Wertsachen verblieben sein, wir ihm diese aushändigten. «Da, wo ihr hingeht», meinte er, «werdet ihr keine Wertsachen mehr brauchen.» Und was wir noch bei uns hätten, das würden uns die Deutschen sowieso alles abnehmen, versicherte er. «Warum sollte es dann», so fuhr er dort oben in der Fensteröffnung fort, «nicht lieber in ungarische Hände gelangen?» Und nach einer kurzen Pause, die ich irgendwie als feierlich empfand, fügte er mit einer auf einmal wärmeren, ganz vertraulichen Stimme, als wolle er alles mit Vergessen überdecken, alles verzeihen, hinzu: «Schließlich seid auch ihr ja eigentlich Ungarn!» Eine Stimme, eine tiefe Männerstimme irgendwo aus dem Wageninneren, ließ dann, nach einigem Getuschel, einigem Beratschlagen, verlauten, dass dieses Argument in der Tat einleuchte, freilich nähme man an, dass wir dafür vom Gendarmen Wasser bekämen, und auch dazu zeigte sich dieser bereit, obwohl es, wie er sagte, «gegen die Vorschrift» sei. Dann aber haben sie sich doch nicht einigen können, weil die Stimme zuerst das Wasser, der Gendarm hingegen zuerst die Gegenstände ausgehändigt haben wollte und keiner von seiner Reihenfolge abwich. Schließlich war der Gendarm dann recht erbost: «Ihr Saujuden, ihr würdet noch aus den heiligsten Dingen ein Geschäft machen!» – so sah er es. Und mit einer nur so vor Empörung und Gehässigkeit erstickten Stimme hat er uns auch noch mit dem Wunsch bedacht: «Dann krepiert doch vor Durst!» Was später übrigens geschah – zumindest hieß es so in unserem Wagen. Tatsache ist, dass ich so ungefähr vom Nachmittag des zweiten Tages an nicht mehr umhinkonnte, immer deutlicher eine gewisse Stimme aus dem Waggon hinter uns zu vernehmen – nicht gerade sehr angenehm. Die alte Frau – so sagte man in unserem Waggon – sei krank und, so sei zu vermuten, zweifellos infolge des Dursts wahnsinnig geworden. Die Erklärung schien mir glaubwürdig. Erst jetzt sah ich ein, dass einige zu Beginn der Reise zu Recht festgestellt hatten, was für ein glücklicher Umstand es sei, dass sich in unserem Waggon weder ganz Kleine noch ganz Alte und hoffentlich auch keine Kranken befänden. Am Vormittag des dritten Tages ist die alte Frau dann endlich verstummt. Und da hieß es bei uns: Sie ist gestorben, weil sie kein Wasser bekommen konnte. Aber wir wussten ja: Sie war krank und alt gewesen, und so fanden alle, auch ich selbst, den Fall doch verständlich, letzten Endes.
Ich kann sagen: Die Warterei ist der Freude nicht zuträglich – zumindest war das meine Erfahrung, als wir endlich ankamen. Mag sein, dass ich auch müde war, ja und dann hatte ich vielleicht das Ziel allzu heftig herbeigesehnt und es gerade darüber ein bisschen aus den Augen verloren: Irgendwie war ich eher gleichgültig. Und dann habe ich das ganze Ereignis auch ein bisschen verpasst. Daran erinnere ich mich, dass ich plötzlich erwacht bin, vermutlich von dem rasenden Gekreisch von Sirenen ganz in der Nähe; das von draußen hereinsickernde schwache Licht zeigte schon die Morgendämmerung des vierten Tages an. Mich schmerzte ein bisschen mein Rückgrat, dort, wo es mit dem Boden in Berührung gewesen war. Der Zug stand still, wie sonst oft und immer bei Fliegeralarm. Auch die Fenster waren besetzt, ebenfalls wie immer in einem solchen Augenblick. Alle meinten etwas zu sehen – und auch das war wie sonst. Nach einiger Zeit habe auch ich einen Platz gefunden: Doch ich sah nichts. Die Morgenfrühe draußen war kühl und wohlriechend, über den weiten Feldern graue Nebelschwaden, dann kam plötzlich, gleichsam wie ein Trompetenstoß, von hinten ein scharfer, dünner roter Strahl hervor, und ich begriff: Ich sah die Sonne aufgehen. Es war schön und im Großen und Ganzen interessant: Zu Hause schlief ich um diese Zeit immer noch. Ich nahm dann noch ein Gebäude wahr, eine gottverlassene Station oder vielleicht den Vorboten eines größeren Bahnhofs, gleich links von mir. Es war winzig, grau und noch völlig menschenleer, mit geschlossenen kleinen Fenstern und mit dem lächerlich steilen Dach, wie ich es in dieser Gegend schon am Vortag gesehen hatte: Vor meinen Augen verfestigte es sich im nebligen Dämmerlicht zunächst zu einem wirklichen Umriss, das Grau ging in Violett über, und gleichzeitig blitzten die Fenster rötlich auf, als die ersten Strahlen darauf fielen. Andere hatten das Gebäude gleichfalls wahrgenommen, und auch ich sagte etwas darüber zu den Neugierigen hinter mir. Sie fragten, ob ich nicht auch einen Ortsnamen daran ausmachen könne. Das konnte ich, und zwar gleich zwei Wörter, im Frühlicht, an der schmalen, unserer Fahrtrichtung entgegengesetzten Seite des Gebäudes, auf dem obersten Teil der Wand: «Auschwitz-Birkenau» – stand dort, in der spitzen, schnörkeligen Schrift der Deutschen, verbunden durch ihren doppelt gewellten Bindestrich. Aber was mich betrifft, so versuchte ich vergeblich, in meinen Geographiekenntnissen nachzuforschen, und auch andere haben sich nicht als kundiger erwiesen. Dann habe ich mich wieder hingesetzt, weil man hinter mir um meinen Platz bat, und da es noch früh und ich müde war, bin ich auch wieder eingeschlafen.
Das nächste Mal bin ich erwacht, weil da eine Aufregung, eine Geschäftigkeit war. Draußen brannte jetzt schon eine strahlende Sonne hernieder. Und auch der Zug bewegte sich wieder. Ich fragte die Jungen, wo wir seien, und sie sagten, immer noch da, wir seien gerade erst wieder angefahren: Anscheinend hatte mich diesmal also das Anrucken geweckt. Aber es sei kein Zweifel – fügten sie hinzu –, vor uns befänden sich Fabriken und irgendwelche Siedlungen. Gleich darauf haben die am Fenster Stehenden gemeldet – was auch ich am schnellen Wechsel des Lichts merken konnte –, dass wir unter einem torartigen Bogen hindurchglitten. Und wieder gleich darauf ist der Zug stehen geblieben, und da haben sie äußerst aufgeregt gemeldet, dass sie einen Bahnhof, Soldaten, Menschen sähen. Viele haben gleich angefangen, ihre Sachen zusammenzusuchen, sich die Kleider zurechtzuzupfen, einige, vor allem die Frauen, begannen sich schlecht und recht zu säubern, sich schön zu machen, sich zu kämmen. Von draußen hingegen vernahm ich näher kommende Schläge, das Gerassel von Türen, den einförmigen Lärm, mit dem sich Fahrgäste aus dem Zug drängen, und da habe ich mir sagen müssen, kein Zweifel, wir sind tatsächlich am Ziel. Ich freute mich natürlich, aber, so fühlte ich, anders als ich mich, sagen wir, noch gestern oder eher noch vorgestern gefreut hätte. Dann war auch an unserer Wagentür das Schlagen eines Werkzeugs zu hören, und die schwere Tür wurde von jemandem, oder eher mehreren, aufgeschoben.
Als Erstes hörte ich ihre Stimmen. Sie sprachen deutsch, oder in einer sehr ähnlichen Sprache, und zwar, so klang es, alle gleichzeitig. Soweit ich es verstanden habe, wollten sie, dass wir aussteigen. Doch offenbar zwängten sie sich stattdessen selbst in den Wagen; vorläufig konnte ich aber noch nichts sehen. Doch schon ging die Nachricht herum, dass die Koffer und Pakete hierbleiben sollten. Später – so wurde erklärt, übersetzt und von Mund zu Mund weitergegeben – würden alle ihr Eigentum selbstverständlich zurückerhalten, zuvor aber erwarte die Sachen eine Desinfizierung, uns selbst aber ein Bad: Das war in der Tat an der Zeit, wie ich fand. Dann erst kamen die hier ansässigen Leute in dem Gedränge näher, und ich konnte sie sehen. Ich war ziemlich überrascht, denn schließlich sah ich zum ersten Mal in meinem Leben – zumindest aus solcher Nähe – echte Sträflinge, im gestreiften Anzug, mit dem kahlgeschorenen Kopf, der runden Mütze der Straftäter. Ich wich auch sofort ein wenig zurück, versteht sich. Einige beantworteten die Fragen der Leute, andere sahen sich im Wagen um, wieder andere luden, mit der Geübtheit von Trägern, schon das Gepäck aus, und all das mit einer komischen fuchsartigen Emsigkeit. Ein jeder hatte, wie ich sah, die bei Sträflingen übliche Nummer und dazu ein gelbes Dreieck auf der Brust, und obwohl es mir nicht gerade schwerfiel, die Bedeutung dieser Farbe zu erraten, war ich so plötzlich doch irgendwie überrascht; im Lauf der Reise hatte ich diese ganze Angelegenheit fast schon etwas vergessen. Auch ihre Gesichter waren nicht gerade vertrauenerweckend: abstehende Ohren, hervorspringende Nasen, tiefliegende winzige Augen, die schlau funkelten. Tatsächlich, sie sahen aus wie Juden, in jeder Hinsicht. Ich fand sie verdächtig und insgesamt fremdartig. Als sie uns Jungen bemerkten, gerieten sie, wie mir schien, ganz in Aufregung. Sie fingen sogleich ein schnelles, irgendwie gehetztes Geflüster an, und da habe ich die überraschende Entdeckung gemacht, dass die Sprache der Juden offenbar nicht nur Hebräisch ist, wie ich bis dahin geglaubt hatte: «Reds di jiddisch, reds di jiddisch, reds di jiddisch?» – so verstand ich allmählich ihre Frage. Die Jungen und ich sagten: «Nein.» Wie ich sah, waren sie damit nicht sehr zufrieden. Dann aber – vom Deutschen ausgehend, konnte ich es leicht verstehen – wurden sie auf einmal alle sehr neugierig auf unser Alter. Wir sagten: «Vierzehn, fünfzehn», je nachdem, wie alt jeder war. Da haben sie gleich sehr protestiert, mit den Händen, dem Kopf, mit dem ganzen Körper: «Seschzajn», flüsterten sie von allen Seiten, «seschzajn.» Ich wunderte mich und habe dann einen auch gefragt: «Warum?» – «Willst di arbeiten?», hat er darauf gefragt und den irgendwie leeren Blick seiner tiefliegenden, von Falten umgebenen Augen in die meinen gebohrt. Ich sagte: «Natürlich», denn schließlich war ich deswegen gekommen, wenn ich es recht bedachte. Worauf er mit seiner harten, knochigen gelben Hand meinen Arm nicht nur packte, sondern kräftig schüttelte und dazu sagte: «Seschzajn … verschtajst di? … seschzajn …» Ich sah, er war böse, und dazu schien mir, dass ihm die Sache auch recht wichtig war, und nachdem ich es mit den Jungen in Eile abgesprochen hatte, ging ich, etwas erheitert, darauf ein: Na gut, dann bin ich eben sechzehn. Des weiteren dürften auch – was immer gesagt würde und völlig unabhängig vom tatsächlichen Sachverhalt – keine Geschwister unter uns sein, und ganz besonders, zu meinem großen Erstaunen, keine Zwillinge; vor allem aber: «Jeder arbeiten, nischt ka mide, nischt ka krenk» – so erfuhr ich von ihnen, und zwar während jener zwei, vielleicht nicht einmal zwei Minuten, bevor ich in dem Gedränge von meinem Platz aus die Wagentür erreichte, und dort habe ich dann schließlich einen großen Satz gemacht, an die Sonne und die frische Luft hinaus.
Zuallererst erblickte ich eine weite Ebene, ein riesiges Gelände. Ich war dann auch gleich ein bisschen geblendet von dieser plötzlichen Weite, dem grellen Glanz von Himmel und Ebene, der meine Augen schmerzte. Aber ich hatte gar nicht recht Zeit, mich umzusehen: ringsumher Gewimmel, Lärm, Bruchstücke von Worten und Geschehen, das Hin und Her des Sicheinordnens. Die Frauen – so hörte ich – mussten sich jetzt für kurze Zeit verabschieden, schließlich konnten wir ja nicht unter dem gleichen Dach baden; auf die Alten, Schwachen, die Mütter mit kleinen Kindern sowie die von den Strapazen der Reise Erschöpften warteten hingegen etwas weiter entfernt Autos. Von alldem wurden wir durch weitere Sträflinge in Kenntnis gesetzt. Doch ich bemerkte, dass hier draußen jetzt schon deutsche Soldaten in grüner Mütze, mit grünem Kragen und beredten, richtungsweisenden Armbewegungen auf alles ein Auge hatten: Ich war durch ihren Anblick sogar ein bisschen erleichtert, denn sie wirkten schmuck, gepflegt und als Einzige in diesem ganzen Durcheinander ruhig und fest. Ich hörte dann auch gleich viele der Erwachsenen unter uns mahnen, und darin war ich mit ihnen einverstanden: dass wir uns bemühen sollten, den deutschen Soldaten zur Hand zu gehen, also Fragen und Abschiedsworte kurz zu halten, uns ihnen als vernünftige Menschen und nicht als so ein dahergelaufener Haufen vorzustellen. Vom Weiteren zu berichten ist schwer: Irgendein breiig brodelnder, wirbliger Strom nahm mich auf, strudelte mich hinweg, riss mich mit sich. Hinter mir kreischte fortwährend eine Frauenstimme von einem bestimmten «Täschchen», das, wie sie jemanden wissen ließ, bei ihr geblieben war. Vor mir war eine alte zerzauste Frau im Weg, und ich hörte, wie ein kleiner junger Mann erklärte: «Bitte zu gehorchen, Mama, wir sehen uns ja gleich wieder. Nicht wahr, Herr Offizier», damit wandte er sich mit einem vertraulichen, irgendwie sich auf Erwachsenenart verbündenden Lächeln an einen gerade dort beschäftigten deutschen Soldaten, «wir werden uns bald wieder …» Und schon bin ich auf ein riesiges Geschrei, auf einen verdreckten, aber sonst wie eine Schaufensterpuppe gekleideten kleinen Jungen mit Ringellocken aufmerksam geworden, der sich mit seltsamem Zerren und Rucken von den Händen einer blonden Frau, offensichtlich seiner Mutter, frei zu machen versuchte. «Ich will mit Papa gehen! Ich will mit Papa gehen!», so kreischte, brüllte und krähte er, wobei er mit seinen weißbeschuhten Füßen auf dem weißen Schotter, im weißen Staub lächerlich herumtrampelte und stampfte. Inzwischen bemühte ich mich, mit den Jungen Schritt zu halten und «Rosis» hin und wieder ertönenden Rufen und Signalen zu folgen – während ein stattliches Weib in geblümtem, ärmellosem Sommerkleid sich an uns allen vorbeidrängte, in die Richtung, wo den Angaben nach die Autos standen. Dann wurde eine Zeit lang ein ganz kleiner alter Herr mit schwarzem Hut und schwarzer Krawatte vor mir herumgewirbelt, herumgeschubst und mitgerissen, während er mit suchendem Gesicht umherspähte und hin und wieder ausrief: «Ilonka! Meine kleine Ilonka!» Dann wieder ein großgewachsener Mann mit knochigem Gesicht und eine Frau mit langem schwarzem Haar, die sich eng aneinanderschmiegten, mit dem Gesicht, den Lippen, dem ganzen Körper, und damit alle verärgerten, bis dann endlich die Frau – oder eher noch das Mädchen – durch das unablässige Anrennen des Stroms schließlich doch abgetrennt, weggeschwemmt und verschluckt wurde, obwohl ich sie hin und wieder auch noch von weiter weg sich angestrengt herausrecken und mit einer ausladenden Bewegung zum Abschied winken sah.
All diese Bilder, Stimmen und Begebenheiten haben mich einigermaßen verwirrt und schwindlig gemacht, in diesem sich am Ende zu einem einzigen Eindruck vermengenden, seltsamen, bunten, verrückten Wirbel; andere, möglicherweise wichtigere Dinge konnte ich deshalb weniger aufmerksam verfolgen. So wüsste ich nicht recht zu sagen: Lag es an uns, an den Soldaten, an den Sträflingen oder war es das Ergebnis unserer gemeinsamen Anstrengung, dass sich schließlich doch eine lange Menschenkolonne ergab, jetzt schon aus lauter Männern, schon aus geordneten Fünferreihen bestehend, die sich um mich herum und mit mir langsam, aber nun doch gleichmäßig, Schritt für Schritt vorwärts bewegte? Dort vorn – so wurde erneut bekräftigt – erwartete uns das Bad, doch zuvor – wie ich erfuhr – noch eine ärztliche Untersuchung. Es wurde gesagt, und ich selbst verstand das natürlich ohne weiteres, dass es sich um so etwas wie eine Musterung, eine Art Tauglichkeitsprüfung handle, im Hinblick auf die Arbeit ganz offensichtlich.
Bis dahin konnte ich mich ein bisschen verschnaufen. Hin und wieder riefen oder winkten die Jungen, die neben, vor und hinter mir gingen, und ich einander zu: Da bin ich, alles in Ordnung. Es war heiß. Ich konnte mich auch ein wenig umschauen, mich ein bisschen darüber orientieren, wo wir eigentlich waren. Der Bahnhof war hübsch. Unter unseren Füßen der an solchen Orten übliche Schotter, etwas entfernter ein Rasenstreifen, gelbe Blumen darauf, eine sich im Unendlichen verlierende, makellos weiße Asphaltstraße. Ich habe auch bemerkt, dass diese Straße von dem dahinter beginnenden, unüberblickbaren Gelände durch eine Reihe gleichmäßig gebogener Pfeiler mit metallisch glänzendem, stacheligem Draht dazwischen abgetrennt war. Es fiel mir leicht zu erraten: Dort wohnten also offensichtlich die Sträflinge. Jetzt zum ersten Mal – vielleicht, weil ich zum ersten Mal dafür Zeit hatte – begannen sie mich etwas mehr zu interessieren, und ich hätte gerne ihre Vergehen gekannt.
Das Ausmaß, die Ausdehnung dieser ganzen Ebene hat mich erneut überrascht, als ich mich umschaute. Obwohl ich – unter den vielen Menschen und in diesem gleißenden Licht – kein so genaues Bild davon gewinnen konnte: kaum dass ich in der Ferne irgendwelche sich am Boden duckende Bauten, da und dort ein paar Gerüste, die wie Hochsitze aussahen, ein paar Ecken, Türme, Schornsteine ausmachen konnte. Um mich herum wiesen ein paar Erwachsene und Jungen auf irgendetwas in der Luft hin – einen länglichen, unbewegten, kalt glänzenden Körper, hineingebohrt in den weißen Dunst des wolkenlosen, aber doch eher fahlen Himmels. Es war ein Zeppelin, tatsächlich. In meiner Umgebung einigte man sich auf die Erklärung, es handle sich um Fliegerabwehr: Mir fiel auch der frühmorgendliche Sirenenklang wieder ein. Dabei konnte ich aber an den deutschen Soldaten um uns herum nicht die geringste Spur von Verwirrung oder Angst entdecken. Ich dachte an den Schrecken, der in solchen Momenten zu Hause herrschte, und diese verächtliche Ruhe, diese Ungerührtheit ließen mich auf einmal jene Art von Respekt verstehen, mit der man zu Hause allgemein von den Deutschen gesprochen hatte. Auch sind mir erst jetzt zwei blitzförmige Striche an ihren Kragen aufgefallen. Ich konnte also feststellen, dass sie zu der berühmten Truppe der SSler gehörten, von der ich zu Hause schon viel gehört hatte. Ich darf sagen, dass ich sie überhaupt nicht gefährlich fand: Sie schritten gemütlich die ganze Länge der Kolonne auf und ab, beantworteten Fragen, nickten, klopften einigen von uns herzlich auf den Rücken oder die Schultern.
Ich habe noch etwas beobachtet, in diesen Minuten untätigen Wartens. Ich hatte auch schon zu Hause oft deutsche Soldaten gesehen, versteht sich. Da aber waren sie immer in Eile gewesen, immer mit beschäftigter Miene, immer in einwandfreiem Aufzug. Hier nun bewegten sie sich anders, nachlässiger, irgendwie – das habe ich beobachtet – heimischer. Ich habe sogar ganz kleine Unregelmäßigkeiten feststellen können, Mützen, Stiefel und Uniformen, die mal schlaffer, mal steifer, mal mehr geputzt und mal nur so zur Arbeit getragen waren. Jeder hatte ein Gewehr an der Seite, und das war ja ganz natürlich, schließlich waren es Soldaten, versteht sich. Doch wie ich sah, trugen viele darüber hinaus auch noch einen Stock in der Hand, so einen gewöhnlichen Spazierstock mit abgebogenem Ende, und das überraschte mich etwas, da sie doch alle Männer im Vollbesitz ihrer Kräfte und ihrer Fortbewegungsfähigkeit waren. Dann aber habe ich diesen Gegenstand genauer, von näherem in Augenschein nehmen können. Es hatte mich nämlich stutzig gemacht, dass einer etwas weiter vorn, der mir den Rücken halb zudrehte, das Ding auf einmal waagerecht hinter die Hüften nahm, es an beiden Enden festhielt und mit gelangweilten Bewegungen auf und ab zu biegen begann. Ich rückte ihm, mit der Kolonne zusammen, immer näher. Und da erst habe ich gesehen, dass der Gegenstand nicht aus Holz, sondern aus Leder, und kein Stock, sondern eine Peitsche war. Das war ein etwas komisches Gefühl – aber schließlich konnte ich kein Beispiel dafür erblicken, dass man sie benutzte, nun, und dann waren ja auch ringsum die vielen Sträflinge, das sah ich ein.
Zwischendurch vernahm ich, auch wenn ich sie kaum beachtete, verschiedene Aufrufe, so wurden zum Beispiel – erinnere ich – Fachkräfte auf dem Gebiet der Maschinenschlosserei gebeten herauszutreten, andere Male waren es Zwillingsgeschwister, die gesucht wurden, körperlich Versehrte, ja sogar, zur allgemeinen Belustigung, Zwerge, falls solche unter uns wären, und dann auch Kinder, denn diese – so hieß es – erwarte eine besondere Behandlung, nämlich Schule statt Arbeit und allerlei Vergünstigungen. Ein paar Erwachsene in unserer Reihe haben uns ermuntert, uns diese Gelegenheit nicht entgehen zu lassen. Aber ich hatte noch die Mahnung der Sträflinge im Ohr, nun ja, und im Übrigen hatte ich natürlich eher Lust, zu arbeiten als nach Art von Kindern zu leben.
Doch mittlerweile waren wir schon ein rechtes Stück weitergerückt. Ich bemerkte, dass sich die Soldaten und Sträflinge um uns herum sehr vermehrt hatten. An einem bestimmten Punkt verwandelte sich unsere Fünferreihe in einen Gänsemarsch. Gleichzeitig wurden wir aufgerufen, Jacken und Hemden abzulegen, um mit nacktem Oberkörper vor den Arzt zu treten. Auch das Tempo, so spürte ich, beschleunigte sich. Und dann sah ich auch schon dort vorn zwei Gruppen von Menschen. Eine größere und recht gemischte Gesellschaft versammelte sich zur Rechten, und eine kleinere und irgendwie wohlgefälligere, in der ich zudem auch schon ein paar von den Jungen erblickte, zur Linken. Diese Letzteren schienen – zumindest in meinen Augen – die Tauglichen zu sein. Unterdessen war ich, und zwar immer schneller, direkt dorthin unterwegs, wo im Durcheinander der vielen sich bewegenden, hin und her laufenden Gestalten jetzt schon ein fester Punkt aufschimmerte, eine makellose Uniform mit der steil aufstrebenden, geschwungenen Tellermütze der deutschen Offiziere; dann überraschte mich nur noch, wie schnell die Reihe an mir war.
Die Untersuchung selbst kann im Übrigen nicht mehr als etwa zwei, drei Sekunden (annähernd) gedauert haben. Gerade war vor mir noch Moskovics an die Reihe gekommen – ihn hatte der Arzt sofort, mit gestrecktem Zeigefinger, in die andere Richtung gewiesen. Ich hörte noch, wie Moskovics zu erklären versuchte: «Arbeiten … sechzehn …» – aber von irgendwoher packte ihn eine Hand, und schon hatte ich seinen Platz eingenommen. Mich, so sah ich, betrachtete der Arzt schon gründlicher, mit einem abwägenden, ernsten und aufmerksamen Blick. Ich habe mich dann auch aufgerichtet, um ihm meinen Brustkasten zu zeigen, und – so erinnere ich – sogar etwas lächeln müssen, als ich so nach Moskovics drankam. Zu dem Arzt hatte ich auch gleich Vertrauen, weil er von angenehmer Erscheinung war und ein sympathisches langes, glattrasiertes Gesicht hatte, eher schmale Lippen und blaue oder graue, auf jeden Fall helle, gütig blickende Augen. Ich konnte ihn mir gut anschauen, während er, seine behandschuhte Hand beidseits auf meine Wangen stützend, mir mit dem Daumen die Haut unter den Augen ein bisschen herunterzog – geradeso, mit dem gleichen Handgriff, wie ich es von den Ärzten zu Hause kannte. Gleichzeitig fragte er mich mit einer leisen, aber klaren Stimme, die den gebildeten Menschen verriet: «Wie alt bist du?» – aber irgendwie nur so nebenbei. Ich sagte: «Sechzehn.» Er hat leicht genickt, aber es schien eher deswegen zu sein, weil es die richtige Antwort, und nicht, weil es die Wahrheit war – jedenfalls ist es mir in der Eile so vorgekommen. Ich habe auch noch eine andere Beobachtung gemacht, oder eher eine flüchtige, vielleicht auch falsche Wahrnehmung – als hätte er irgendwie zufrieden, ja fast schon erleichtert gewirkt; mir schien, ich gefiel ihm irgendwie. Dann schob er mich weg, mit der einen Hand noch auf meinem Gesicht, während er mir mit der anderen die Richtung wies, auf die andere Seite der Straße, zu den Tauglichen. Die Jungen erwarteten mich schon triumphierend, vor Freude lachend. Und beim Anblick dieser strahlenden Gesichter war es vielleicht, dass ich den Unterschied verstand, welcher unsere Gruppe von denen auf der anderen Seite wirklich trennte: Es war der Erfolg, wenn ich es richtig empfand.
So habe ich mir dann das Hemd wieder angezogen und mit den Jungen ein paar Worte gewechselt und dann wieder gewartet. Von hier aus konnte ich jetzt alles, was am anderen Ende der Straße ablief, aus einem neuen Blickwinkel sehen. Der Menschenstrom wälzte sich unablässig heran, zwängte sich in ein engeres Bett, beschleunigte sich und verzweigte sich dann vor dem Arzt. Auch die Jungen trafen einer nach dem anderen ein, und jetzt nahm auch ich schon an ihrem Empfang teil, versteht sich. Etwas weiter weg erblickte ich eine andere Kolonne: die der Frauen. Auch um sie herum Soldaten, Sträflinge, auch vor ihnen ein Arzt, und auch dort lief alles genauso ab, außer dass sie sich oben nicht ausziehen mussten, und das war ja natürlich auch verständlich, wenn ich es richtig bedachte. Alles war in Bewegung, alles funktionierte, jeder war an seinem Platz und machte das Seine, alles exakt, heiter, wie geschmiert. Auf vielen Gesichtern sah ich ein Lächeln, ob eher bescheiden oder eher selbstsicher, den Zweifel ausschließend oder das Ergebnis schon vorausahnend – es war im Grunde eigentlich doch immer das gleiche, das gleiche etwa, das auch ich zuvor auf meinem Gesicht gespürt hatte. Mit ebendiesem Lächeln wandte sich dort eine braunhaarige, von hier aus sehr schön aussehende Frau mit Ohrringen, die sich den weißen Regenmantel über der Brust zusammenhielt, fragend an einen Soldaten, und mit dem gleichen Lächeln trat hier ein gutaussehender schwarzhaariger Mann vor den Arzt: tauglich. Ich habe der Arbeit des Arztes dann auch bald folgen können. Kam ein alter Mann – ganz klar: auf die andere Seite. Ein jüngerer – hier herüber, zu uns: Dann wieder ein anderer, mit Bauch, soviel er sich auch streckte und reckte: vergeblich – doch nein, der Arzt schickte ihn dennoch auf unsere Seite, da war ich nicht ganz zufrieden, denn ich meinerseits fand ihn eher etwas betagt. Ich musste auch feststellen, dass die Männer zum größten Teil sehr stoppelbärtig waren und nicht gerade einen guten Eindruck machten. Und so, mit den Augen des Arztes, konnte ich nicht umhin, festzustellen, wie viele von ihnen alt oder sonst wie unbrauchbar waren. Einer zu mager, der andere zu dick, und einen, der nach Art eines schnüffelnden Hasen fortwährend Mund und Nase verzog, befand ich als nervenkrank – obwohl auch er pflichtbewusst und bereitwillig lächelte, als er mit eifrigen und merkwürdig watschelnden Schritten hinübereilte, zu den Untauglichen. Dann wieder ein anderer – die Jacke, das Hemd schon über dem Arm, die Hosenträger über die Oberschenkel heruntergelassen, sodass man seine schlaffe, da und dort bereits herabhängende Haut gut sehen konnte. Wie er aber vor den Arzt hintrat – der ihn natürlich gleich zu den Untauglichen einwies –, da hat ein bestimmter Ausdruck auf diesem vom Bart überwucherten Gesicht, das gleiche, mir aber doch irgendwie vertrautere Lächeln auf diesen trockenen, gesprungenen Lippen meine Erinnerung in Gang gesetzt: Als habe er dem Arzt noch etwas sagen wollen, so schien es mir. Bloß achtete dieser nicht mehr auf ihn, sondern schon auf den nächsten, und da riss eine Hand, vermutlich dieselbe, die zuvor schon Moskovics gepackt hatte, auch ihn aus dem Weg. Er machte eine Bewegung, drehte sich um, einen verblüfften und empörten Ausdruck auf dem Gesicht: tatsächlich, der «Experte», ich hatte mich nicht getäuscht.
Dann haben wir noch ein paar Minuten gewartet. Vor dem Arzt standen noch ziemlich viele; wir in unserer Gruppe, Jungen und Männer, waren so ungefähr zu vierzig, schätze ich, als es hieß: Wir gehen baden. Ein Soldat ist zu uns getreten, so auf einmal habe ich gar nicht gesehen, woher, ein kleiner, eher schon etwas ältlicher, friedlich aussehender Mann mit einem großen Gewehr – so ein Gemeiner, wie mir schien. «Los, ge’ ma’ vorne!» hat er gesagt, oder so ähnlich, nicht eben nach den Regeln der Grammatik, wie ich feststellte. Wie auch immer, in meinen Ohren klang es angenehm, weil die Jungen und ich schon ein bisschen ungeduldig waren, nicht so sehr wegen der Seife, ehrlich gesagt, als vor allem wegen des Wassers, natürlich. Der Weg führte durch ein Tor aus Gitterdraht weiter hinein, irgendwo auf das Gelände innerhalb des Zauns, wo offenbar auch das Bad zu sein schien: Wir zogen in lockeren Gruppen, ohne zu hasten, redend und lachend los, hinter uns, wortlos, trottete gleichmütig der Soldat. Unter unseren Füßen wieder eine breite, blendendweiße Straße, vor uns die ganze, einigermaßen ermüdend weite Ebene, die vor Hitze schon überall nur so zitternde und wallende Luft. Ich machte mir noch Sorgen, ob es wohl nicht zu weit sein würde, aber wie sich dann herausstellte, war das Badehaus vom Bahnhof im Ganzen etwa nur zehn Gehminuten entfernt. Was ich auf diesem kurzen Weg von der Umgebung sah, fand alles in allem ebenfalls mein Gefallen. Im Besonderen war ich über einen Fußballplatz sehr erfreut, auf einer gleich rechts vom Weg gelegenen großen Wiese. Ein grüner Rasen, die zum Spielen nötigen weißen Tore, weiß ausgezogene Linien – es war alles da, verlockend, frisch, in allerbestem Zustand und größter Ordnung. Wir Jungen haben dann auch gleich gesagt: Na, da spielen wir nach der Arbeit Fußball. Noch größere Freude bereitete uns, was wir ein paar Schritte weiter am linken Straßenrand erblickten: ein Wasserhahn, ohne jeden Zweifel, so ein Pumpbrunnen, wie sie an Straßen stehen. Eine Tafel daneben wollte zwar mit roten Buchstaben warnen: «Kein Trinkwasser» – aber das konnte uns in diesem Augenblick nicht gerade zurückhalten, versteht sich. Der Soldat war ganz geduldig, und ich kann sagen, dass mir schon lange kein Wasser so gutgetan hatte, auch wenn danach ein eigenartiger, stechender und ekelerregender Chemikaliengeschmack im Mund zurückblieb. Im Weitergehen sahen wir auch Häuser, es waren die gleichen, die wir schon vom Bahnhof aus bemerkt hatten. Wirklich, auch so aus der Nähe waren es seltsame Bauwerke, lang, flach, von unbestimmter Farbe, auf den Dächern über die ganze Länge irgendwelche Lüftungs- oder Beleuchtungsanlagen. Jedes war von einem Gartenweg mit rotem Kies umgeben, und von der Straße waren sie durch ein gepflegtes Rasenstück getrennt, zwischen ihnen erblickte ich mit heiterem Erstaunen kleine Gemüsegärten, Kohlpflänzlinge, und in den Beeten wuchsen allerlei bunte Blumen. Es war alles sehr sauber, hübsch und schmuck – tatsächlich: Ich musste es zugeben, wir hatten in der Ziegelei recht gehabt. Nur eines fehlte irgendwie, und ich habe dann auch herausgefunden, was: nämlich, dass ich in der Umgebung der Häuser keine Spur von Bewegung, von Leben sah. Aber ich dachte mir dann, das dürfte ja wohl natürlich sein, schließlich war für die Bewohner Arbeitszeit.
Auch im Bad (wir fanden es, links abbiegend, hinter einem weiteren Gitterzaun und einem weiteren Gittertor, auf einem Hof) konnte ich sehen, dass sie schon auf uns vorbereitet waren, sie erklärten alles bereitwillig und weit im voraus. Zunächst sind wir in eine Art Vorraum mit Steinfußboden gekommen. Darin waren schon recht viele Leute, unter denen ich solche aus unserem Zug erkennen konnte. So wurde mir klar, dass die Arbeit anscheinend unablässig vonstatten ging, dass sie die Leute offenbar in einer Gruppe nach der anderen vom Bahnhof zum Baden brachten. Auch hier ging uns ein Sträfling zur Hand, ein – so musste ich feststellen – ganz feiner Gefangener. Auch er trug zwar den gestreiften Sträflingsanzug, nur hatte der wattierte Schultern und war tailliert, ja, ich darf es so sagen: nach bester, beinahe schon auffälliger Mode geschnitten und gebügelt, und zudem trug er säuberlich gekämmtes, schwarzglänzendes Haar, so wie wir freien Leute. Er empfing uns stehend, am anderen Ende des Raums, rechter Hand von einem Soldaten, der seinerseits hinter einem Tischchen Platz genommen hatte. Dieser selbst war winzig klein, von gemütlichem Äußeren und recht dick, mit einem Bauch, der schon am Hals anfing, des weiteren mit einem Kinn, das sich ringsum in Falten über den Kragen legte, und zwei lustigen Augenschlitzen in dem faltigen, bartlosen gelben Gesicht: Er erinnerte ein wenig an so eine Art von Zwergen, wie man sie am Bahnhof unter uns gesucht hatte. Dabei trug er eine stattliche Mütze auf dem Kopf, vor ihm auf dem Tisch lag eine funkelnagelneue Aktentasche, daneben eine aus weißem Leder geflochtene und, wie ich im Übrigen zugeben musste, sehr schön gearbeitete Peitsche, ganz offensichtlich sein persönliches Eigentum. All das konnte ich durch die Lücken zwischen den vielen Schultern und Köpfen hindurch bequem beobachten, während auch wir neu Hinzugekommenen uns bemühten, ein Plätzchen zu finden, uns in dem jetzt bereits überfüllten Raum einzurichten. Währenddessen huschte der Sträfling durch eine gegenüberliegende Tür schnell hinaus und gleich wieder herein, um dann dem Soldaten etwas mitzuteilen, sehr vertraulich, fast ganz an sein Ohr gebeugt. Der Soldat schien zufrieden, und sogleich war auch seine dünne, scharfe und atemlose, eher an ein Kind oder vielleicht an eine Frau erinnernde Stimme zu vernehmen, wie er dem Sträfling in ein paar Sätzen antwortete. Darauf richtete sich dann der Sträfling auf, hob eine Hand und bat uns nun auf einmal um «Ruhe und Aufmerksamkeit» – und da habe ich zum ersten Mal auch meinerseits jene oft beschworene Erfahrung gemacht, welche unerwartete Freude es bedeutet, in der Fremde die heimatlichen Klänge der ungarischen Sprache zu vernehmen: Ich stand also einem Landsmann gegenüber. Ich hatte dann auch gleich ein bisschen Mitleid mit ihm, denn wie ich sehen konnte, war er ein noch ganz junger, intelligenter und, obwohl ein Sträfling, gewinnend aussehender Mann, wie ich zugeben musste, und ich hätte große Lust gehabt, von ihm zu erfahren, woher und wie und um welchen Vergehens willen er wohl in Gefangenschaft geraten war; doch vorläufig ließ er uns nur wissen, dass er uns über die nun folgenden Verrichtungen zu informieren und die Wünsche des «Herrn Oberscharführers» an uns weiterzuleiten gedenke. Wenn auch wir uns Mühe gäben, wie man es im Übrigen nicht anders von uns erwarte – so fügte er hinzu –, dann würde alles «rasch und reibungslos» vonstatten gehen, was seines Erachtens zwar hauptsächlich in unserem Interesse liege, doch, so versicherte er, gleichzeitig auch dem Wunsch des «Herrn Ober» entspreche – wie er ihn jetzt schon, von der offiziellen Bezeichnung etwas abweichend, kürzer und nach meinem Empfinden auch irgendwie vertraulicher nannte.
Dann haben wir von ihm ein paar einfache, in dieser Situation selbstverständliche Dinge erfahren, während der Soldat seine Worte – es waren schließlich die Worte eines Sträflings – mit lebhaftem Nicken guthieß, sie für uns gewissermaßen beglaubigte, sein freundliches Gesicht, seine fröhlichen Augen dabei einmal ihm, einmal uns zuwendend. Wir konnten zum Beispiel erfahren, dass wir uns im folgenden Raum, nämlich dem «Auskleideraum», ausziehen und alle unsere Kleider an den dort befindlichen Haken aufzuhängen hatten. An den Haken würden wir Nummern vorfinden. Während wir badeten, würden unsere Kleider desinfiziert. Es sei nun wohl gar nicht nötig – so befand er, und meiner Ansicht nach hatte er recht –, uns extra zu erklären, warum es so wichtig sei, dass sich ein jeder die Nummer seines Kleiderhakens gut merke. Es fiel mir auch nicht schwer, den Nutzen jenes Vorschlags einzusehen, demgemäß es «ratsam» war, unsere Schuhe paarweise zusammenzubinden, «um jeglicher Verwechslung vorzubeugen», fügte er hinzu. Darauf würden sich, so versprach er, Friseure um uns kümmern, und dann endlich konnte das Bad folgen.
Zuvor aber – so fuhr er fort – sollten diejenigen vortreten, die noch Geld, Gold, Edelsteine oder sonstige Wertsachen bei sich hätten, und diese beim «Herrn Ober hinterlegen», da es die letzte Gelegenheit sei, sich der Sachen «noch ungestraft zu entledigen». Wie er nämlich erklärte, war der Handel, jeglicher An- und Verkauf und demzufolge auch der Besitz und das Einführen von Wertsachen strengstens verboten im «Lager» – diesen für mich neuen, doch sogleich leichtverständlichen Ausdruck hat er verwendet. Nach dem Bad würde jede Person «geröntgt», und zwar mit einem «eigens für diesen Zweck bereitgestellten Röntgenapparat» – so haben wir von ihm erfahren, und auch der Soldat hat mit betontem Kopfnicken, auffallend guter Laune und unmissverständlicher Zustimmung dem Wort «Röntgen», das er ja gewiss verstand, Nachdruck verliehen. Es kam mir wieder in den Sinn: Offenbar war das, was der Gendarm im Zug uns gesagt hatte, also doch richtig gewesen. Von sich aus, so sagte der Sträfling, könne er noch so viel hinzufügen, dass ein jeglicher Schmuggelversuch, mit dem sich die Schuldigen im Übrigen «die allerschwerste Strafe» zuziehen, wir alle jedoch unsere Ehre vor der deutschen Behörde aufs Spiel setzen würden, seiner Meinung nach «aussichts- und sinnlos» sei. Ohne Zweifel, auch wenn mich die Frage nicht weiter berührte, so fand ich doch, dass er recht haben mochte. Es ist eine kleine Stille entstanden, eine, nach meinem Empfinden, gegen Ende irgendwie fast schon ungemütliche Stille. Dann eine Unruhe vorn: Jemand ließ sich Platz machen, darauf hat sich ein Mann von der Gruppe gelöst, hat etwas auf den Tisch gelegt und ist eilig wieder zurückgetreten. Der Soldat hat etwas zu ihm gesagt: Es klang lobend. Den Gegenstand – etwas ganz Kleines, ich konnte es von meinem Platz aus nicht recht sehen – hat er gleich in der Schublade verschwinden lassen, nachdem er ihn vorher noch angeschaut, mit einem flüchtigen Blick gewissermaßen eingeschätzt hatte. Wie mir schien, war er zufrieden. Dann wieder eine Pause, aber kürzer als die vorherige, dann wieder Unruhe und wieder ein Mann, und dann traten sie ohne Unterbrechung, immer mutiger und immer zahlreicher vor, folgten einander zum Tisch und legten glänzende oder hart tönende, aufklingende oder raschelnde Gegenstände dorthin, auf den kleinen freien Platz zwischen der Peitsche und der Aktentasche. All das – abgesehen vom Geräusch der Schritte und der Gegenstände, nun und dann von den kurzen, hohen, gutgelaunt und ermutigend klingenden Äußerungen, die der Soldat jedes Mal machte – ist in völliger Stille vor sich gegangen. Ich habe auch bemerkt, dass der Soldat bei jedem einzelnen Gegenstand das gleiche Verfahren anwandte. So begutachtete er, selbst wenn ihm jemand gleich zwei Gegenstände hinlegte, trotzdem – zuweilen unter befriedigtem Kopfnicken – zuerst den einen, zog eigens dafür die Schublade heraus, legte ihn einzeln hinein, schob dann, zumeist mit dem Bauch, die Schublade wieder zu, um zum nächsten Stück überzugehen und mit ihm genau das Gleiche zu wiederholen. Ich war ganz verblüfft, was da noch alles zum Vorschein kam, nach der Gendarmerie, wenn man es bedenkt. Aber auch diese Eile, dieser plötzliche Eifer der Leute hat mich ein wenig überrascht, nachdem sie doch bis dahin allerhand Beschwerlichkeiten auf sich genommen hatten, allerhand Sorgen, die ja mit dem Besitz dieser Gegenstände einhergegangen waren. Deshalb konnte ich wohl bei fast jedem, der vom Tisch zurückkam, den gleichen, etwas verschämten, etwas feierlichen, aber insgesamt gewissermaßen erleichterten Gesichtsausdruck sehen. Nun ja, und dann standen wir doch schließlich an der Schwelle zu einem neuen Leben, und ich sah ein, dass das letztlich eine ganz andere Situation war als auf der Gendarmerie, natürlich. Das Ganze, der ganze Vorfall, hat ungefähr so drei bis vier Minuten beansprucht, wenn ich genau sein wollte.
Von dem Weiteren kann ich dann nicht mehr viel sagen: Im Wesentlichen ist alles nach den Weisungen des Sträflings abgelaufen. Die gegenüberliegende Tür ist aufgegangen, und wir sind in eine Räumlichkeit eingetreten, in der sich lange Bänke und darüber tatsächlich Kleiderhaken befanden. Die Nummer habe ich auch gleich gefunden und einige Male für mich wiederholt, um sie nicht etwa zu vergessen. Auch die Schuhe habe ich zusammengebunden, so wie es der Sträfling geraten hatte. Dann folgte ein großer, von Lampen sehr hell erleuchteter Raum mit niedriger Decke: Ringsum die Wände entlang waren schon die Rasiermesser eifrig am Werk, surrten die elektrisch betriebenen Haarschneidemaschinen, machten sich die Barbiere – alles Sträflinge – eifrig zu schaffen. Ich kam zu einem auf der rechten Seite. Ich solle – so sagte er vermutlich, denn ich verstand seine Sprache nicht – da vor ihm auf dem Schemel Platz nehmen. Und schon hatte er mir die Maschine an den Nacken gedrückt und das Haar abgeschnitten – aber ganz und gar, völlig kahl. Dann hat er das Rasiermesser zur Hand genommen: ich solle aufstehen und die Arme hochhalten – er machte es vor –, und darauf kratzte er mir ein bisschen unter der Achsel herum. Dann setzte er sich vor mich auf den Schemel. Er packte mich kurzerhand an dem Organ, das am empfindlichsten ist, und schabte dann mit dem Rasiermesser auch von dort die ganze Krone weg, jedes einzelne Haar, mein gesamtes bisschen männlichen Stolz, das doch vor noch gar nicht so langer Zeit erst gesprossen war. Es mag unverständlich sein, aber dieser Verlust schmerzte mich irgendwie noch mehr als der meines Kopfhaars. Ich war überrascht und auch ein wenig aufgebracht – aber ich habe dann eingesehen, dass es lächerlich gewesen wäre, sich wegen einer solchen Kleinigkeit aufzuhalten, im Grunde genommen. Und dann habe ich auch gesehen, dass es allen anderen, auch den Jungen, ähnlich erging, und der «Halbseidene» bekam es dann auch gleich zu hören: Na, wie wird das jetzt sein mit den Mädchen?
Doch da hieß es weiter: Nun folgte das Bad. In der Tür drückte ein Sträfling gerade «Rosi» ein kleines braunes Stück Seife in die Hand und bedeutete: für drei Personen. Im Bad fanden wir unter unseren Füßen ein glitschiges Holzgitter vor und über unseren Köpfen ein Netzwerk aus Rohren und daran unzählige Duschen. Die Zahl der nackten und nicht gerade sehr wohlriechenden Menschen darin war schon groß. Ich fand interessant, dass das Wasser von allein und ganz unerwartet zu fließen begann, nachdem alle, auch ich selbst, vergeblich nach einem Hahn gesucht hatten. Das Wasser war nicht eben sehr reichlich, doch empfand ich seine Temperatur als erfrischend kühl, gerade das richtige in dieser Hitze. Zuallererst habe ich nach Herzenslust getrunken und bin dabei wieder dem gleichen Geschmack wie zuvor am Brunnen begegnet: Erst dann ließ ich auch meine Haut ein bisschen das Wasser genießen. Auch ringsumher allerlei fröhliche Laute, ein Planschen, Niesen und Prusten: Es war ein heiterer, sorgloser Augenblick. Wir Jungen hänselten einander die ganze Zeit wegen unserer kahlen Köpfe. Von der Seife hat sich herausgestellt, dass sie leider nicht sehr schäumte, dafür aber viele scharfe, Kratzer verursachende Körnchen enthielt. Trotzdem rieb sich ein dicklicher Mann in meiner Nähe – mit schwarzgekräuseltem Haar auf Brust und Rücken, das man ihm offenbar gelassen hatte – lange damit ein, mit feierlichen, ja irgendwie zeremoniellen Bewegungen. Irgendetwas – abgesehen natürlich von seinem Haar – fehlte an ihm. Da erst habe ich bemerkt, dass er am Kinn und um den Mund herum weißer als sonst und seine Haut dort auch voller frischer roter Schnitte war. Der Rabbiner aus der Ziegelei war es, ich erkannte ihn wieder: Also war auch er mitgekommen. Ohne Bart erschien er mir schon nicht mehr so ungewöhnlich, ein einfacher, etwas großnasiger Mann von eigentlich ganz alltäglichem Äußeren. Er war noch mit vollem Eifer dabei, sich die Beine einzuseifen, als jetzt mit der gleichen Plötzlichkeit, mit der es zu fließen begonnen hatte, das Wasser auf einmal versiegte: Da hat er überrascht aufgeschaut, dann gleich wieder an sich hinunter, aber irgendwie ergeben, wie jemand, der gleichsam das Wirken eines höheren Willens zur Kenntnis nimmt, ihn versteht und sich ihm zugleich beugt.
Aber auch mir selbst blieb nichts anderes übrig: Schon wurde ich hinausgeschoben, gedrückt, gedrängt. Wir kamen in einen schlecht beleuchteten Raum, wo ein Sträfling allen, auch mir, ein Taschentuch – nein, genauer besehen, ein Handtuch überreichte und bedeutete: nach Gebrauch zurückzugeben. Gleichzeitig strich mir ein anderer mit einer Art flachem Pinsel so eine verdächtig gefärbte, Juckreiz verursachende Flüssigkeit, dem durchdringenden Geruch nach ein Desinfektionsmittel, auf den Kopf, in die Achselhöhlen und auf jene gewisse empfindliche Gegend, dies aber mit einer ganz unerwarteten, außerordentlich flinken und geschickten Bewegung. Dann folgte ein Gang, auf der rechten Seite zwei ausgeleuchtete Öffnungen, und schließlich ein dritter Raum ohne Tür: In jeder der Öffnungen stand ein Sträfling und verteilte Kleidungsstücke. Ich nahm – wie alle anderen auch – ein Hemd in Empfang, das früher bestimmt einmal blau-weiß gestreift gewesen war und am Halsausschnitt wie bei meinem Großvater weder Kragen noch Knöpfe hatte, ebenso Beinlinge, die höchstens für Greise gedacht sein konnten, mit einem Schlitz über den Knöcheln und zwei richtigen Hosenbändern, einen schon abgetragenen Anzug, jedoch genau dem der Gefangenen entsprechend, aus Drillich und mit blau-weißen Streifen – einen regelrechten Sträflingsanzug, ich konnte es drehen und wenden, wie ich wollte; und in dem dritten Raum durfte ich mir dann selbst aus einem Haufen komischer Schuhe, mit Holzsohlen und einem Leinenoberteil mit drei Knöpfen an der Seite statt Schnürsenkeln, die auswählen, die mir in der Eile so ungefähr an die Füße zu passen schienen. Und auch zwei graue Stofflappen nicht zu vergessen, offenbar Taschentücher, wie mir schien, nun ja, und dann zu guter Letzt noch ein unvermeidliches Zubehör: eine zerschlissene, weiche, gestreifte, runde Sträflingsmütze. Ich zögerte ein bisschen – doch ich konnte ja, während von allen Seiten Stimmen zur Eile mahnten, während sich alles um mich herum in fieberhafter Eile anzog, nicht einfach dastehen, wenn ich nicht hinter den anderen zurückbleiben wollte, natürlich. Die Hose musste ich – denn sie war zu weit und ein Gurt oder irgendwelche Träger fehlten – im Laufen verknoten, während sich bei den Schuhen die unerwartete Eigenschaft herausstellte, dass die Sohlen sich nicht bogen. Und zwischendurch habe ich mir, um die Hände frei zu haben, die Mütze auf den Kopf gesetzt. Auch die Jungen waren schon alle fertig: Wir konnten uns nur noch anschauen, ohne zu wissen, ob wir lachen oder eher staunen sollten. Doch für beides war keine Zeit: Schon standen wir draußen, im Freien. Ich weiß nicht, wer die Anordnungen traf, auch nicht, was geschah: Ich erinnere mich nur noch, wie mich irgendwie ein Druck ergriff, mich ein Schwung mitnahm und vorwärts schob und noch etwas stolpern ließ in meinen neuen Schuhen, in einer Staubwolke und unter einem seltsamen Knallen von hinten – als würde vielleicht jemand auf den Rücken geschlagen –, immer weiter, durch immer neue Höfe, zu immer neuen Toren, Hecken und Zäunen aus Draht; ein sich öffnendes und schließendes System, das zuletzt vor meinen Augen zu verschwimmen und verwirrend durcheinanderzugeraten begann.