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Mag sein, dass es Fälle gibt, dass Umstände vorkommen, die, wie es scheint, durch keinerlei Kunst noch schwerer zu machen sind. Ich darf sagen, nach so viel Bemühung, so zahlreichen vergeblichen Versuchen und Anstrengungen fand auch ich mit der Zeit Frieden, Ruhe, Erleichterung. Gewisse Dinge zum Beispiel, denen ich zuvor irgendwie eine ungeheure, geradezu unbegreifliche Bedeutung beigemessen hatte, verloren in meinen Augen ihr ganzes Gewicht. Beim Appell zum Beispiel, wenn ich vom Stehen müde war, gab ich nichts mehr darauf, ob da Schlamm oder eine Pfütze war: Ich nahm einfach Platz, hockte mich hin und blieb so, bis mich meine Nachbarn mit Gewalt wieder hochzogen. Kälte, Feuchtigkeit, Wind oder Regen konnten mich nicht mehr stören: Sie kamen nicht mehr an mich heran, ich spürte sie nicht einmal. Auch mein Hunger verging; auch jetzt noch führte ich zum Mund, was immer ich an Essbarem fand, das aber nur noch ganz zerstreut, mechanisch, aus Gewohnheit, um es so zu sagen. Bei der Arbeit? – da achtete ich nicht einmal mehr auf den Schein. Wenn es ihnen nicht passte, dann verprügelten sie mich höchstens, doch auch damit konnten sie mir nichts weiter antun, auch so gewann ich nur Zeit: Schon beim ersten Schlag legte ich mich schleunigst zu Boden, und das Weitere spürte ich gar nicht mehr, weil ich schlief.

Nur eines wurde immer stärker in mir: die Gereiztheit. Wenn mir jemand ins Gehege kam, wenn er auch nur meine Haut streifte, wenn ich beim Marschieren aus dem Schritt fiel (was oft vorkam) und mir jemand von hinten auf die Ferse trat, ich hätte ihn, ohne auch nur einen Augenblick zu zögern, kurzerhand da auf der Stelle umbringen können – hätte ich es gekonnt, versteht sich, und hätte ich nicht, noch ehe ich die Hand gehoben hatte, bereits vergessen gehabt, was ich eigentlich wollte. Auch mit Bandi Citrom geriet ich hin und wieder aneinander: Ich «ließe mich gehen», ich fiele dem Kommando zur Last, ich stürzte alle ins Verderben, ich würde ihm noch meine Krätze anhängen – dergleichen warf er mir vor. Aber vor allem schien es, als würde ich ihn in einer bestimmten Hinsicht in Verlegenheit bringen, ihn irgendwie stören. Ich bemerkte es, als er mich eines Abends zu den Waschtrögen abschleppte. Ich strampelte und wehrte mich vergeblich, er zerrte mir mit Gewalt meine Kluft vom Leib, vergeblich versuchte ich, mit der Faust seinen Körper, sein Gesicht zu treffen, er rieb mir die fröstelnde Haut mit kaltem Wasser ab. Ich sagte ihm hundertmal, er belästige mich mit seiner Bevormundung, er solle mich in Ruhe lassen, sich verpissen. Ob ich denn hier verrecken, ob ich vielleicht nie wieder nach Hause wolle, fragte er, und ich weiß nicht, welche Antwort er aus meinem Gesicht gelesen haben mag, aber auf dem seinen sah ich plötzlich so etwas wie Bestürzung, eine Art Erschrecken, die Art, mit der man im Allgemeinen hoffnungslose Unglücksvögel, Verurteilte oder, sagen wir, Verseuchte anschaut: Da ist mir dann auch wieder eingefallen, wie er sich einmal über die Muselmänner geäußert hatte. Auf jeden Fall mied er mich von da an eher, wie ich sah, und ich meinerseits war nun auch diese Belastung los.

Von meinem Knie hingegen konnte ich mich in keiner Weise befreien, dieser Schmerz war fortwährend da. Nach einigen Tagen habe ich es mir schließlich auch angeschaut und, obwohl ich von meinem Körper schon allerhand gewöhnt war, es doch vorgezogen, diesen brandroten Sack, in den sich mein Knie ringsum verwandelt hatte, lieber gleich wieder vor meinen Blicken zu verstecken. Ich wusste natürlich sehr wohl, dass es in unserem Lager auch ein Krankenrevier gab, aber erstens fiel die Sprechstunde ausgerechnet in die Zeit des Abendessens, das mir nun doch wichtiger schien, als geheilt zu werden, und dann trugen die eine oder andere Erfahrung, mancherlei Orts- und Lebenskunde auch nicht gerade viel zum Vertrauen bei. Nun ja, und dann war es auch weit: zwei Zelte weiter, und so lange Wege unternahm ich, wenn es nicht unbedingt sein musste, nur noch ungern, schon weil mir das Knie nun bereits ziemlich wehtat. Schließlich haben mich Bandi Citrom und einer unserer Schlafgenossen dennoch mitgenommen, indem sie mit ihren Händen einen Sitz bildeten, so in der Art wie beim «Der Storch trägt sein Junges»-Spiel, und nachdem sie mich auf einem Tisch abgesetzt hatten, wurde ich gleich im voraus gewarnt: Es würde wahrscheinlich wehtun, weil ein sofortiger Eingriff unvermeidlich sei, man aber mangels Betäubungsmitteln gezwungen sei, ihn einfach so durchzuführen. So viel konnte ich zwischendurch beobachten: Man brachte mir mit dem Messer kreuzweise zwei Schnitte am Knie an, durch die man dann eine Unmenge Zeug aus meinem Schenkel herauspresste, worauf man das Ganze mit Papier verband. Darauf brachte ich auch gleich das Abendessen zur Sprache, und man versicherte mir: Alles Nötige werde geschehen, und das konnte ich dann auch bald erleben, in der Tat. Die Suppe war diesmal aus Futterrüben und Kohlrabi gekocht, was ich sehr mag, und für das Revier war offensichtlich aus der Einlage geschöpft worden, womit ich ebenfalls zufrieden sein konnte. Die Nacht verbrachte ich dort, im Revierzelt, in der obersten Etage einer Box, noch dazu ganz allein, und unangenehm war höchstens, dass ich zur gewohnten Stunde des Durchfalls das Bein nicht benutzen konnte und auch vergebens – zuerst flüsternd, dann laut, dann schon brüllend – um Hilfe nachsuchte. Am folgenden Morgen haben sie dann zusammen mit etlichen anderen Körpern auch den meinen auf das nasse Blech eines offenen Lastwagens geschmissen, und ich wurde in eine nahegelegene Ortschaft, die, wenn ich es richtig verstanden habe, «Gleina» hieß, transportiert, wo das eigentliche Krankenhaus unseres Lagers war. Hinten, auf einem hübschen Klappsitzstuhl sitzend, auf den Knien das von Nässe glänzende Gewehr, passte ein Soldat während der Fahrt auf uns auf, mit einer offensichtlich unangenehm berührten, unwirschen Miene, wohl wegen eines plötzlichen Geruchs, eines nicht vermeidbaren Anblicks, manchmal rümpfte er auch angeekelt die Nase – mit einigem Recht, wie ich zugeben musste. Vor allem kränkte mich, dass er sich irgendein Urteil zu bilden schien, anscheinend zu einer weitverbreiteten Schlussfolgerung gekommen war, und ich hätte mich gern gerechtfertigt: Ich bin schließlich nicht allein daran schuld, ursprünglich ist das eigentlich nicht meine Natur – nur wäre es schwierig gewesen, das zu beweisen, das sah ich ein, natürlich. Als wir dann angekommen waren, musste ich den plötzlich auf mich gerichteten und mir unerbittlich nachsetzenden Wasserstrahl eines Gummischlauchs, einer Art Gartenschlauch, über mich ergehen lassen, womit dann alles, die restlichen Lumpen, der Dreck, aber auch der Papierverband, von mir abgewaschen wurde. Dann aber brachten sie mich in einen Raum, in dem ich ein Hemd und von einem zweistöckigen Bretterbett das untere zugewiesen bekam, und da durfte ich mich auf einen zwar – vermutlich von meinem Vorgänger – schon ziemlich hartgelegenen, ziemlich flachgeklopften und -gedrückten, da und dort mit verdächtigen Flecken, verdächtig riechenden und verdächtig knisternden Verfärbungen verzierten, aber immerhin freien Strohsack legen, wo man es dann endlich ganz mir überließ, wie ich die Zeit verbringen wollte, und wo ich, vor allem, endlich einmal richtig ausschlafen konnte.

Wir nehmen unsere alten Gewohnheiten anscheinend stets an neue Orte mit: Ich muss sagen, auch ich hatte im Krankenhaus anfangs mit zahlreichen eingefleischten, festgefahrenen Gewohnheiten zu kämpfen. Da war zum Beispiel die Sache mit dem Gewissen: In der ersten Zeit weckte es mich jeweils pünktlich am frühen Morgen. Ein andermal schreckte ich auf, weil mir war, als hätte ich den Appell verpasst, sie suchten mich draußen schon, und mit nur langsam abflauendem Herzklopfen nahm ich den Irrtum zur Kenntnis und erfasste den sich mir darbietenden Anblick, das Zeugnis der Wirklichkeit, dass ich ja gewissermaßen zu Hause war, alles in Ordnung, da stöhnt jemand ein bisschen, weiter weg unterhalten sich zwei, dort schaut jemand seltsam stumm und mit spitzer Nase, starren Augen und offenem Mund zur Decke, nur meine Wunde tut weh, nun, und höchstens bin ich – wie immer – durstig, wahrscheinlich wohl wegen des Fiebers. Kurz und gut, ich brauchte etwas Zeit, um es ganz zu glauben: kein Appell, ich brauche die Soldaten nicht zu sehen und vor allem nicht zur Arbeit zu gehen – und all diese Vorteile konnten, für mich jedenfalls, von keinen Begleitumständen, keinerlei Krankheit wirklich geschmälert werden. Von Zeit zu Zeit brachten sie mich auch in ein kleines Zimmer im ersten Stock hinauf, wo zwei Ärzte am Werk waren, ein jüngerer und ein älterer, dessen Patient ich war, um es so zu sagen. Es war ein dünner, schwarzhaariger, sympathischer Mann, in sauberem Anzug und Schuhen, mit einer Armbinde und mit einem richtigen, erkennbaren Gesicht, das an einen freundlichen alten Fuchs erinnerte. Er fragte mich, woher ich komme, und erzählte, dass er aus Siebenbürgen stamme. Unterdessen hatte er mir schon den auseinanderfallenden, in der Gegend meines Knies bereits wieder verhärteten und gelbgrün gewordenen Papierwickel abgerissen, stützte sich mit beiden Händen auf meinen Schenkel und presste heraus, was sich dort in der Zwischenzeit angesammelt hatte, und zum Schluss stopfte er mir mit einer Art Häkelnadel zusammengerollte Gazestücke zwischen Haut und Fleisch, um, so erklärte er, «den Fluss aufrechtzuerhalten», für den «Reinigungsprozess», damit die Wunde nicht etwa vor der Zeit verheile. Ich für meinen Teil hörte das ganz gern, schließlich hatte ich draußen nichts verloren, von mir aus war die Heilung gar nicht so dringend, wenn ich es recht bedachte, verständlicherweise. Etwas weniger nach meinem Geschmack war eine weitere Beobachtung von ihm. Er hielt das Loch in meinem Knie für nicht ausreichend. Seiner Ansicht nach sollte auch seitlich noch ein Schnitt angebracht werden und dieser, mit Hilfe eines dritten Schnittes, mit dem ersten verbunden werden. Er fragte, ob ich dafür zu haben wäre, und ich war ganz erstaunt, denn er sah mich an wie jemand, der tatsächlich auf meine Antwort, vielleicht sogar auf meine Einwilligung, um nicht zu sagen meine Ermächtigung wartete. Ich sagte: «Wie Sie meinen», und darauf befand er, es wäre am besten, wenn er sich unverzüglich ans Werk machte. Das hat er dann auch auf der Stelle getan, nur konnte ich nicht umhin, mich etwas laut zu benehmen, und das, so sah ich, war ihm unbehaglich. Er bemerkte auch mehrmals: «So kann ich nicht arbeiten», und ich versuchte mich zu verteidigen: «Ich kann nichts dafür.» Nachdem er einige Zentimeter vorangekommen war, hat er dann aufgehört, ohne sein Vorhaben in vollem Umfang ausgeführt zu haben. Aber auch so schien er leidlich zufrieden, denn er bemerkte: «Immerhin etwas», weil er mir von nun an wenigstens an zwei Stellen Eiter abzapfen konnte, wie er sagte.

Die Zeit verging im Krankenhaus leicht: Wenn ich nicht gerade schlief, beschäftigten mich Hunger, Durst, der Schmerz in der Wunde, da und dort eine Unterhaltung oder das Ereignis der Behandlung – aber auch ohne Beschäftigung, ja, ich darf sagen: gerade dank des angenehm kribbelnden Bewusstseins davon, dank dieses unversiegbare Freude bietenden Privilegs befand ich mich sehr wohl. Hie und da fragte ich auch die Neuankömmlinge aus: Was es Neues im Lager gebe, aus welchem Block sie kämen und ob sie nicht zufällig einen gewissen Bandi Citrom aus Block fünf kennten, einen Mittelgroßen mit gebrochener Nase und Zahnlücken vorn, aber keiner wusste etwas. Was ich im Behandlungszimmer an Wunden sah, war der meinen ähnlich, ebenfalls hauptsächlich am Ober- oder Unterschenkel, obwohl die Wunden manchmal auch weiter oben vorkamen, an der Hüfte, hintenherum, an den Armen, sogar am Hals und am Rücken; es waren von der Wissenschaft so genannte Phlegmone, so hörte ich es immer wieder, deren Entstehen und gehäuftes Auftreten unter den gewöhnlichen Umständen eines Konzentrationslagers keineswegs etwas Besonderes oder Erstaunliches war, wie ich von den Ärzten erfuhr. Etwas später kamen dann die, denen man ein, zwei, ja sogar manchmal alle Zehen abschneiden musste, und sie berichteten, draußen sei es Winter, und in den Holzschuhen seien ihnen die Füße erfroren. Ein andermal betrat, in maßgeschneidertem Sträflingsanzug, ein offensichtlich hochrangiger Würdenträger den Behandlungsraum. Ich hörte das leise, aber gut verständliche Wort «Bonjour!», und daraus sowie aus dem F in seinem roten Dreieck folgerte ich sogleich, dass er Franzose, und aus seiner mit «O.-Arzt» beschriebenen Armbinde, dass er offenbar der Oberarzt unseres Krankenhauses war. Ich schaute mir ihn gut an, denn ich hatte schon lange keinen so schönen Mann gesehen, der mit ihm vergleichbar gewesen wäre: Er war nicht sehr groß, sein Anzug aber in den richtigen Proportionen ausgefüllt mit Fleisch, das sich überall in ausreichender Menge über die Knochen spannte, sein Gesicht ebenso voll, jeder Zug unverwechselbar der seine, mit erkennbarem Ausdruck und Mienenspiel, sein Kinn rund, mit einer Vertiefung in der Mitte, seine etwas dunkle, olivfarbene Haut schimmerte im Licht, so wie einst Haut geschimmert hatte, früher einmal, zu Hause, unter den Menschen. Mir schien er noch nicht sehr alt, so um die dreißig herum. Wie ich sah, wurden auch die Ärzte sehr munter, sie bemühten sich, ihm gefällig zu sein, ihm alles zu erklären, das aber, wie ich merkte, nicht so sehr nach dem lagerüblichen Brauch, sondern eher nach alter, heimatlicher und irgendwie sogleich Erinnerungen heraufbeschwörender Gewohnheit und mit der Gewähltheit, Freude und dem gesellschaftlichen Eifer, die aufkommen, wenn man Gelegenheit hat, zu zeigen, dass man eine Kultursprache hervorragend verstehen und sprechen kann, wie etwa in diesem Fall Französisch. Andererseits – so musste ich sehen – bedeutete das dem Oberarzt offenbar nicht viel: Er schaute sich alles an, gab da und dort eine kurze Antwort, oder er nickte, das alles aber langsam, leise, schwermütig, gleichgültig, mit einem irgendwie unveränderlichen Ausdruck von Entmutigung, ja, beinahe schon Trauer im Gesicht und in den nussbraunen Augen. Ich war ganz verdutzt, weil ich überhaupt nicht begriff, woran das bei einer so wohlhabenden, gutgestellten, vornehmen Person liegen konnte, die es außerdem zu einem so hohen Rang gebracht hatte. Ich versuchte in seinem Gesicht zu lesen, seine Bewegungen zu verfolgen, und nur allmählich kam ich dahinter: Auch er war, da gab es nichts dran zu rütteln, letzten Endes gezwungen, hier zu sein, und nur allmählich und nicht ohne ein Staunen, eine heitere Verblüfftheit, verstärkte sich bei mir ein Eindruck, eine Vermutung, nämlich dass es eben dies war – mit einem Wort, dass ihn die Gefangenschaft an sich bedrückte, wie es schien. Ich hätte ihm schon beinahe gesagt, er solle nicht traurig sein, das sei ja noch das Geringste – aber ich fürchtete doch, es wäre vermessen, nun, und dann fiel mir auch noch ein, dass ich gar kein Französisch konnte.

Den Umzug habe ich im Großen und Ganzen verschlafen. Es war auch mir vorher zu Ohren gekommen: Anstelle der Zeitzer Zelte sei ein Winterlager erstellt worden, nämlich Steinbaracken, unter denen man nun auch eine als Krankenhaus geeignete nicht vergessen hatte. Wieder schmissen sie mich auf einen Lastwagen – aus der Dunkelheit konnte ich ersehen, dass es Abend, und aufgrund der Kälte, dass es mitten im Winter war –, und das Nächste, was ich erkannte, war dann schon der gutbeleuchtete, kalte Vorraum zu einem riesengroßen Saal und eine nach Chemikalien riechende Holzwanne: Darin musste auch ich – da nützten keine Klagen, keine Bitten und Proteste – zwecks Reinigung bis zum Scheitel untertauchen, was mich, abgesehen von der Kälte des Wanneninhalts, auch deshalb schaudern ließ, weil, wie ich sah, alle anderen Kranken vor mir auch schon – samt Wunden und allem – in diese braune Brühe getaucht waren. Und danach hat auch hier die Zeit angefangen zu vergehen, auch hier im Wesentlichen so, insgesamt mit nur wenigen Abweichungen, wie an dem Ort vorher. In unserem neuen Krankenhaus waren die Pritschen zum Beispiel dreistöckig. Auch zum Arzt wurde ich seltener gebracht, und so reinigte sich meine Wunde einfach so, an Ort und Stelle, auf ihre Art von selbst. Dazu machte sich bald auch an meiner Hüfte ein Schmerz, dann der schon bekannte brandrote Sack bemerkbar. Nach ein paar Tagen, als ich abgewartet hatte, ob es vergehen oder ob vielleicht sonst etwas dazwischenkommen würde, musste ich wohl oder übel dem Pfleger Mitteilung machen, und nach erneutem Drängen, nach weiteren Tagen des Wartens bin ich dann auch an die Reihe gekommen, bei den Ärzten im Vorraum der Baracke; so hatte ich nun nicht nur am Knie, sondern auch an der Hüfte einen Schnitt ungefähr von der Länge meiner Hand. Ein weiterer unangenehmer Umstand ergab sich aus meinem Platz auf einem der unteren Betten, gerade gegenüber einem hohen, schmalen, auf einen ewig grauen Himmel hinausgehenden, scheibenlosen kleinen Fenster, dessen Eisengitter wahrscheinlich wegen der hier drinnen dampfenden Ausdünstungen fortwährend von Eiszapfen und stacheligem Raureif überzogen war. Ich hingegen trug einzig, was eben einem Kranken zukam: ein kurzes Hemd ohne Knöpfe, na und dann im Hinblick auf den Winter eine seltsame grüne Strickmütze, die sich in Bögen über die Ohren und keilförmig über die Stirn legte und an einen Eisschnellläufer oder einen Darsteller des Satans auf der Bühne erinnerte, sonst aber sehr nützlich war. So fror ich dann viel, vor allem nachdem ich auch noch eine von meinen beiden Decken verloren hatte, mit deren Lumpen ich bis dahin die Mängel der anderen ganz ordentlich hatte ergänzen können: Ich solle sie ihm nur rasch leihen, er würde sie mir dann zurückbringen – so der Pfleger. Ich versuchte umsonst, sie mit beiden Händen festzuhalten, mich an ihr Ende zu klammern, er erwies sich als der Stärkere, und neben dem Verlust schmerzte mich auch der Gedanke einigermaßen, dass Decken – jedenfalls soviel ich wusste – hauptsächlich denen weggenommen wurden, bei denen man mit einem voraussichtlich baldigen Ende rechnete, ja, darauf wartete, wie ich wohl sagen dürfte. Ein andermal warnte mich eine inzwischen wohlbekannte, gleichfalls von einem der unteren Betten, aber irgendwo weiter hinten kommende Stimme: Es war anscheinend wieder ein Pfleger aufgetaucht, wieder mit einem neuen Kranken auf den Armen, und anscheinend eben dabei herauszufinden, zu wem, in welches unserer Betten er ihn legen könnte. Der mit der Stimme aber – so konnten wir erfahren – war aufgrund der Schwere seines Falls und ärztlicher Erlaubnis zu einem eigenen Bett berechtigt, und er schmetterte, donnerte mit so mächtiger Stimme: «Ich protestiere!» und berief sich darauf: «Ich habe das Recht! Fragen Sie den Arzt!», und erneut: «Ich protestiere!», dass die Pfleger ihre Last in der Tat jedes Mal zu einem anderen Bett weitertrugen – so zum Beispiel zu meinem, und auf diese Weise erhielt ich einen ungefähr gleichaltrigen Jungen als Schlafgenossen. Mir schien, als hätte ich sein gelbes Gesicht, seine großen, brennenden Augen schon irgendwo gesehen – ein gelbes Gesicht und große brennende Augen hatte allerdings jeder. Sein erstes Wort war, ob ich wohl einen Schluck Wasser hätte, und ich sagte, den würde ich auch nicht verschmähen; sein zweites, gleich nach dem ersten: und Zigaretten?, doch damit hatte er natürlich auch kein Glück. Er bot mir Brot dafür an, aber ich sagte ihm, Worte nützten da nichts, an ihnen liege es nicht, sondern ich hätte eben keine; daraufhin verstummte er für eine Weile. Ich vermute, dass er Fieber hatte, weil seinem ununterbrochen zitternden Körper eine ständige Hitze entströmte, die mir von angenehmem Nutzen war. Schon weniger freute mich, dass er sich nachts so viel herumwarf und -drehte, und das auch nicht immer mit der gebotenen Rücksicht auf meine Wunden. Ich sagte ihm dann auch, he, genug, er solle ein bisschen Ruhe geben, und irgendwann hat er meine Worte dann auch beherzigt. Erst am Morgen habe ich gesehen, warum: Zum Kaffee versuchte ich bereits vergeblich, ihn zu wecken. Ich habe dem Pfleger aber doch eiligst auch seinen Napf hingehalten, als dieser, gerade als ich ihm den Fall melden wollte, das unwirsch von mir verlangte. Dann habe ich auch seine Brotration in Empfang genommen sowie seine Suppe am Abend, und so auch im weiteren, bis er eines Tages anfing, sich ziemlich seltsam aufzuführen: Da blieb mir dann doch nichts anderes übrig, als es zu melden, ich konnte ihn nicht länger in meinem Bett aufbewahren, schließlich und endlich. Ich war ein bisschen beklommen, denn die Verspätung war schon recht gut festzustellen und der Grund, bei einiger Sachkenntnis, mit der ich ja rechnen durfte, ebenso leicht zu erraten – aber man hat ihn mit den anderen weggebracht und Gott sei Dank nichts gesagt und mich auch vorläufig ohne Genossen sein lassen.

Des weiteren lernte ich hier das Ungeziefer wirklich kennen. Die Flöhe konnte ich überhaupt nicht fangen: Sie waren flinker, verständlicherweise, denn sie waren ja auch besser genährt, nämlich an mir. Die Läuse dagegen ließen sich leicht kriegen, nur war es zwecklos. Wenn ich sehr wütend auf sie war, zog ich den Daumennagel über das auf meinem Rücken gespannte Leinen des Hemdes, und an dem lang anhaltenden Geknister konnte ich das Ausmaß der Rache, der Vernichtung ermessen und genießen – doch nach einer Minute hätte ich wieder von vorn beginnen können, an derselben Stelle und mit demselben Ergebnis. Sie waren überall, sie drängten sich in jeden versteckten Winkel, meine grüne Mütze war schon ganz grau, wimmelte nur so von ihnen, sie bewegte sich beinahe schon. Aber immerhin, am meisten war ich überrascht, verblüfft und dann auch entsetzt, als ich an der Hüfte plötzlich ein Kitzeln verspürte, den Papierverband hob und sah, dass sie schon in meinem Fleisch saßen und sich von meiner Wunde nährten. Ich fuchtelte herum, versuchte, sie loszuwerden, sie wenigstens dort herauszuwürgen, herauszuklauben, sie wenigstens noch zu ein bisschen Geduld, ein bisschen Abwarten zu zwingen – und ich kann behaupten, dass mir noch nie ein Kampf so aussichtslos erschienen ist, ein Widerstand so hartnäckig, ja unverschämt, wie dieser. Nach einer Weile habe ich es dann auch aufgegeben und dieser Gefräßigkeit nur noch zugesehen, diesem Gewimmel, dieser Gier, diesem Appetit, diesem hemmungslosen Glück: Es war irgendwie, als würde ich das von irgendwoher ein wenig kennen. Mir ging auf, dass ich sie in gewisser Hinsicht verstehen konnte, wenn ich es mir recht überlegte. Zu guter Letzt war ich schon fast erleichtert, es schauderte mich fast nicht mehr. Auch jetzt freute ich mich nicht gerade, ich war immer noch ein wenig verbittert, verständlicherweise, wie ich meine – aber eher so allgemein, ohne wütend zu sein, eher so ein bisschen wegen der gesamten Ordnung der Natur, um es so zu sagen; auf jeden Fall habe ich das Ganze schnell wieder zugedeckt, mich danach auf keinen Kampf mehr mit ihnen eingelassen und sie nicht wieder behelligt.

Ich kann behaupten: Es gibt keine noch so große Erfahrung, keine noch so vollkommene Ergebenheit, keine noch so tiefe Einsicht, dass man seinem Glück nicht doch noch eine letzte Chance gäbe – vorausgesetzt, man hat die Möglichkeit dazu, versteht sich. Als ich nämlich mit all denen, an deren Arbeitsfähigkeit offensichtlich keine großen Hoffnungen mehr zu knüpfen waren, nach Buchenwald, an den Absender gewissermaßen, zurückgeschickt wurde, da teilte ich mit allen mir verbliebenen Fähigkeiten natürlich die Freude der anderen, weil mir ja sofort die schönen Tage von damals, nun und dann ganz besonders die morgendlichen Suppen in den Sinn kamen. Hingegen habe ich nicht daran gedacht, das muss ich gestehen, dass ich vorher ja auch noch dorthin kommen musste, und zwar mit der Bahn und unter den bei solchen Reisen üblichen Bedingungen; jedenfalls kann ich sagen, dass es Dinge gibt, die ich bis dahin nie verstanden hatte und die ich auch schwerlich überhaupt hätte glauben können. Zum Beispiel ließ sich ein früher oft gehörter Ausdruck wie «sterbliche Überreste» nach meinem vormaligen Wissen ausschließlich auf einen Verstorbenen beziehen. Ich jedoch, daran war kein Zweifel, lebte noch, wenn auch flackernd, ganz hinuntergeschraubt gewissermaßen, aber etwas brannte noch in mir, die Lebensflamme, wie man so sagt – andererseits war da mein Körper, ich wusste alles von ihm, nur war ich selbst irgendwie nicht mehr in ihm drin. Ich konnte ohne weiteres feststellen, dass dieses Ding, zusammen mit ähnlichen Dingen neben und über ihm, hier lag, auf dem kalten und von verdächtigen Säften feuchten Stroh des rumpelnden Wagenbodens, dass der Papierverband sich schon längst gelöst hatte, zerfleddert und weggerissen war, dass mein Hemd und die Sträflingshose, die man mir für die Reise angezogen hatte, sich mit den offenen Wunden verklebten – aber all das berührte mich nicht wirklich, interessierte mich nicht, es beeinflusste mich nicht mehr, ja, ich darf sagen, dass ich mich schon lange nicht mehr so leicht, so friedlich, fast schon verträumt, um es rundheraus zu sagen: so angenehm gefühlt hatte. Nach so langer Zeit war ich zum ersten Mal endlich auch die Qual der Gereiztheit los: Die Körper, die an mich gepresst waren, störten mich nicht mehr, irgendwie freute es mich eher, dass sie bei mir waren, mir so vertraut und dem meinen so ähnlich, und jetzt zum ersten Mal erfasste mich ihnen gegenüber ein ungewohntes, regelwidriges, irgendwie linkisches, um nicht zu sagen ungeschicktes Gefühl – möglicherweise vielleicht Liebe, glaube ich. Und Gleiches wurde mir von ihnen zuteil. Hoffnungen, wie zu Anfang, versuchten sie mir allerdings nicht mehr zu machen. Möglicherweise war das, was sie hin und wieder kundgaben – abgesehen von dem allgemeinen leichten Stöhnen, dem Atemholen zwischen den Zähnen, den leisen Klagen –, gerade deswegen, natürlich aber auch wegen der übrigen Schwierigkeiten, so still und andererseits auch so familiär: hier ein tröstendes Wort, da ein beruhigender Zuspruch. Aber ich kann sagen, auch mit Taten geizte nicht, wer dazu nur noch irgend fähig war, und auch zu mir reichten Hände in barmherziger Fürsorge aus wer weiß welcher Entfernung die Konservendose weiter, nachdem ich gemeldet hatte, dass ich urinieren musste. Als dann am Ende auf einmal – ich weiß nicht, wie, wann und vermittels welcher Hände – statt der Bretter des Eisenbahnwagens die von einer Eishaut überzogenen Pfützen eines gepflasterten Bodens unter meinem Rücken waren, da bedeutete es mir allerdings nicht mehr viel, glücklich in Buchenwald angekommen zu sein, und ich hatte längst vergessen, dass es eigentlich der Ort war, an den es mich so sehr gezogen hatte. Ich hatte auch keine Ahnung, wo ich war: noch am Bahnhof oder schon ein Stück weiter drinnen, ich erkannte die Gegend nicht und sah auch nicht die Straße, die Villen und das Denkmal, an das ich mich doch so gut erinnern konnte.

Auf jeden Fall schien mir, dass ich lange so lag, und ich war einfach da, friedlich, sanft, ohne Neugier, voller Geduld, einfach da, wo sie mich hingelegt hatten. Ich spürte weder Kälte noch Schmerz, und auch dass mir irgendwie ein stechender Niederschlag, zwischen Schnee und Regen, das Gesicht nass machte, wurde mir eher von meinem Verstand als von meiner Haut vermittelt. Ich sann der einen oder anderen Sache nach, schaute mir an, was mir eben so, ohne unnötige Bewegung, ohne Anstrengung vor die Augen kam: so etwa den niedrigen, grauen, undurchsichtigen Himmel über meinem Gesicht, genauer, die bleigrauen, trägen Winterwolken, die ihn vor meinen Augen verbargen. Hin und wieder entstand unverhofft ein Spalt, ein helleres Loch, für einige Augenblicke, als sei da plötzlich eine Tiefe zu erahnen, aus der von dort oben ein Strahl auf mich herabzufallen schien, ein rascher, forschender Blick, von der Farbe her unbestimmbare, aber zweifellos helle Augen – irgendwie denen des Arztes ähnlich, vor den ich damals, in Auschwitz, gekommen war. Gleich neben mir geriet ein unförmiger Gegenstand: ein Holzschuh in meinen Blick, auf der anderen Seite hingegen eine der meinen ähnliche Teufelsmütze mit spitzem Zubehör: einer Nase und einem Kinn, dazwischen eine hohle Vertiefung, ein Gesicht. Dahinter weitere Köpfe, Gegenstände, Körper – ich begriff: der Rest der Ladung, der Abfall, um es genauer zu sagen, den man offenbar erst einmal hier aufbewahrte. Nach einiger Zeit, und ich weiß nicht, ob es eine Stunde, ein Tag oder ein Jahr war, hörte ich dann schließlich Stimmen, Laute, das Geräusch von Aufräumarbeiten. Der Kopf neben mir hob sich auf einmal in die Höhe, und weiter unten, an seinen Schultern, erblickte ich Arme im Sträflingsanzug, die gerade im Begriff waren, den Körper auf eine Art Gefährt, eine Art Karren hinaufzuwerfen, obendrauf auf einen Haufen weiterer Körper. Gleichzeitig drangen Wortfetzen an mein Ohr, die ich gerade eben herauszuhören vermochte, und mit noch größerer Mühe erkannte ich in diesem heiseren Geflüster eine vordem – wie ich erinnern musste – doch so eherne Stimme: «Ich pro … tes … tiere», murmelte sie. Da blieb der Körper für einen Augenblick in der Luft hängen, bevor er weitergeschwungen wurde, gewissermaßen vor Überraschung, wie ich empfand, und gleich darauf hörte ich eine andere Stimme, offenbar von demjenigen, der ihn an den Schultern hielt. Es war eine angenehme, männliche, freundliche Stimme, und ihr etwas fremd klingendes Lagerdeutsch zeugte meinem Gefühl nach eher von einem gewissen Staunen, einer gewissen Verblüffung, als von Unwillen: «Was? Du willst noch leben?», fragte er, und auch ich fand das, in der Tat, etwas komisch und unbegründbar, im Großen und Ganzen ziemlich vernunftwidrig von ihm, in diesem Moment. Und ich beschloss: Ich meinerseits werde vernünftiger sein. Aber da hatten sie sich schon über mich gebeugt, und ich musste zwinkern, weil sich eine Hand irgendwie in der Gegend meiner Augen zu schaffen machte, bevor sie auch mich auf die Ladung eines kleineren Karrens fallen ließen und mich irgendwohin zu schieben begannen, wohin, darauf war ich gar nicht so neugierig. Nur eines beschäftigte mich, ein Gedanke, eine Frage, die mir eben erst gekommen war. Mag sein, es war mein Fehler, dass ich es nicht wusste, aber ich war nie so vorausblickend gewesen, mich nach den Buchenwalder Gebräuchen, nach der Ordnung, der Verfahrensweise zu erkundigen, nämlich, mit einem Wort, wie sie es hier eigentlich machten: mit Gas, wie in Auschwitz, oder vielleicht mit Hilfe von Medikamenten, wovon ich dort ebenfalls gehört hatte; vielleicht mit der Kugel, vielleicht anderswie, mit einer der tausenderlei Methoden, für die meine Kenntnisse nicht ausreichten – ich wusste es einfach nicht. Auf jeden Fall hoffte ich, es würde nicht wehtun, und es mutet vielleicht seltsam an, aber diese Hoffnung war genauso echt, erfüllte mich genauso wie andere, wirklichere Hoffnungen – um es so zu sagen –, die man an die Zukunft knüpft. Und erst da habe ich erfahren, dass die Eitelkeit ein Gefühl ist, das einen anscheinend bis zum allerletzten Augenblick begleitet, denn wie sehr mir diese Ungewissheit auch zusetzte, ich richtete nicht eine einzige Frage, nicht eine einzige Bitte, nicht ein einziges Wort, keinen einzigen Blick nach hinten, zu dem oder denen, die mich schoben. Der hochgelegene Weg aber machte jetzt eine Biegung, und da unten tat sich mit einemmal eine weite Aussicht auf. Da lag das ganze Gelände, der riesige, dichtbevölkerte Abhang, die einförmigen Steinhäuschen, die schmucken grünen, und dazu, in einer gesonderten Gruppe, etwas düstere, vielleicht neue und noch nicht angestrichene Baracken, die gewundenen, aber sichtlich geordneten Drahtzaunhecken, welche die verschiedenen inneren Zonen voneinander trennten, und weiter entfernt die sich im Nebel verlierende Masse mächtiger, jetzt kahler Bäume. Ich weiß nicht, worauf bei dem Gebäude dort die vielen nackten Muselmänner warteten, umgeben von einigen auf und ab spazierenden Würdenträgern und, wenn ich es richtig sah, ja, in der Tat, an ihren Schemeln und ihren eifrigen Bewegungen erkannte ich sie: von Friseuren – sie warteten offenbar darauf, zum Bad und danach ins Lager eingelassen zu werden. Aber auch weiter innen, etwas weiter entfernt, waren die gepflasterten Lagerstraßen von Bewegung, leichter Beschäftigung, sachtem Treiben, den Zeichen des Zeitvertreibs belebt – Alteingesessene, Kränkelnde, Amtsträger, Lagerwarte, die glücklichen Auserwählten der inneren Kommandos kamen und gingen, erledigten ihre tägliche Arbeit. Da und dort vermischten sich verdächtige Rauchschwaden mit freundlicheren Dämpfen, von irgendwoher drang vertrautes Geklapper zu mir herauf, so wie der Glockenschlag in unsere Träume, und mein suchender Blick fiel bald auf einen Trupp dort unten, von dem mühsam dampfende Kessel geschleppt wurden, mit quer über die Achseln gelegten Stangen, und in der herb riechenden Luft erkannte ich von fern her, kein Zweifel, den Duft von Kohlrübensuppe. Das war schade, denn dieser Anblick, dieser Duft mögen in meiner sonst schon abgestumpften Brust ein Gefühl ausgelöst haben, dessen anschwellende Woge sogar aus meinen ausgetrockneten Augen noch ein paar wärmere Tropfen in die kalte Nässe auf meinem Gesicht zu pressen vermochte. Und alles Abwägen, alle Vernunft, alle Einsicht, alle Verstandesnüchternheit half da nichts – in mir war die verstohlene, sich ihrer Unsinnigkeit gewissermaßen selbst schämende und doch immer hartnäckiger werdende Stimme einer leisen Sehnsucht nicht zu überhören: Ein bisschen möchte ich noch leben in diesem schönen Konzentrationslager.

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