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Ich muss einsehen, dass ich gewisse Dinge nie zu erklären vermag, auf keine Weise, nicht wenn ich sie von meiner Erwartung, von den Regeln, der Vernunft – im Ganzen also vom Leben und der allgemeinen Ordnung her betrachte, soweit ich sie kenne, zumindest. So habe ich zum Beispiel, nachdem man mich wieder vom Karren abgeladen hatte, irgendwohin auf den Boden, überhaupt nicht begriffen, was ich noch mit Rasiermesser und Haarschneidemaschine zu tun hatte. Jener bis zum Ersticken vollgepfropfte und auf den ersten Blick einem Duschbad täuschend ähnliche Raum, auf dessen glitschigem Holzrost man mich ablegte, zwischen unzählige Füße, geschwürige Waden und Schienbeine, die da herumwühlten und sich gegen mich pressten, entsprach im Großen und Ganzen schon eher meiner Erwartung. Zuletzt ging mir sogar noch flüchtig durch den Kopf: Na also, demnach ist, wie es scheint, auch hier der Auschwitzer Gebrauch üblich. Umso größer war meine Überraschung, als nach einer kurzen Wartezeit, nach schnaufenden, gurgelnden Tönen unerwartet Wasser, großzügig bemessenes, warmes Wasser aus den Hähnen dort oben zu strömen begann. Hingegen war ich nicht sehr erfreut, denn ich hätte mich gern noch ein wenig gewärmt, doch was konnte ich dagegen tun, dass mich auf einmal eine unwiderstehliche Kraft aus diesem Wald von wimmelnden Beinen in die Höhe riss, während eine Art großes Laken und darauf eine Decke sich um mich wickelten. Dann erinnere ich mich an eine Schulter, über die ich mit dem Kopf nach hinten, mit den Beinen nach vorn herunterhing; an eine Tür, an die steilen Stufen eines engen Treppenhauses, nochmals eine Tür, dann ein großer Raum, um nicht zu sagen ein Zimmer, wo neben Helle und Geräumigkeit ein nahezu schon kasernenmäßiger Luxus der Einrichtungsgegenstände mein ungläubiges Auge traf, und schließlich das Bett – ein richtiges, echtes, ganz offensichtlich für eine Person gedachtes Bett mit einem gutgestopften Strohsack und zwei grauen Decken –, auf das ich von dieser Schulter hinüberrollte. Des weiteren erinnere ich mich an zwei Männer – richtige, schöne Menschen mit Gesichtern, Haaren, in weißen Hosen, Trikothemden und Holzpantinen; ich sah sie mir an, konnte mich überhaupt nicht sattsehen an ihnen, während sie umgekehrt mich betrachteten. Da erst fielen mir ihre Lippen auf und dass schon eine Weile irgendeine Singsang-Sprache an mein Ohr drang. Ich hatte das Gefühl, sie wollten etwas von mir wissen, aber ich konnte bloß den Kopf schütteln: Ich verstand nichts. Darauf hörte ich den einen, allerdings mit recht seltsamer Betonung, auf Deutsch fragen: «Hast du Durchmarsch?», und mit einiger Überraschung stellte ich fest, dass meine Stimme – warum auch immer – erwiderte: «Nein», wahrscheinlich noch da, noch jetzt aus Eitelkeit vermutlich. Daraufhin – nachdem sie sich ein wenig beratschlagt, sich ein bisschen zu schaffen gemacht hatten – drückten sie mir zweierlei in die Hand. Ein Geschirr mit lauwarmem Kaffee und ein Stück Brot, so ungefähr ein Sechstel, schätzungsweise. Das durfte ich nehmen, durfte es verzehren, ohne jeglichen Preis, ohne jeglichen Handel. Dann nahm eine Zeit lang mein auf einmal Lebenszeichen gebendes, aufbegehrendes, unfolgsames Inneres meine ganze Aufmerksamkeit und vor allem meine ganzen Kräfte in Anspruch, denn es sollte ja keinesfalls das zuvor abgegebene Wort Lügen strafen. Später wurde ich plötzlich gewahr, dass der eine Mann wieder da war, nun in Stiefeln, mit einer schönen dunkelblauen Mütze, in einer Häftlingsjacke mit rotem Dreieck.

Also wieder hinauf auf die Schulter, die Treppe hinunter und diesmal durch die Tür direkt hinaus, ins Freie. Bald darauf sind wir in eine weitläufige graue Baracke eingetreten, so eine Art Heilanstalt oder Revier, wenn nicht alles täuschte. Hier nun schien alles wieder mehr oder weniger meinen Erwartungen zu entsprechen, war also alles in allem völlig in Ordnung, um nicht zu sagen geradezu heimisch – nur verstand ich jetzt die Behandlung vorher, den Kaffee und das Brot, nicht so recht. Entlang unseres Weges, über die ganze Länge der Baracke, grüßte eine Reihe wohlbekannter dreistöckiger Boxen. Alle vollgestopft, und ein einigermaßen geschultes Auge, wie zum Beispiel, das darf ich sagen, das meine, konnte auch in dem bis zur Unentwirrbarkeit verfilzten Knäuel einstiger Gesichter, von Haut, die mit Krätze und Geschwüren übersät war, von Knochen, Lumpen und spitzen Gliedmaßen sogleich erkennen, dass dieses ganze Zubehör mindestens fünf, im einen oder anderen Fall sogar sechs Körper je Verschlag bedeutete. Dazu suchte ich auf den nackten Brettern vergebens nach dem sogar noch in Zeitz als Streu dienenden Stroh – doch für die Zeit, der ich allem Anschein nach hier noch entgegensehen konnte, war das nicht mehr ein so wichtiges Detail, in der Tat, das gab ich zu. Dann aber – während wir stehen blieben und Worte einer Unterhaltung oder eher Verhandlung an mein Ohr drangen, offenbar von dem, der mich trug, und einem anderen geführt – folgte wieder eine Überraschung. Zuerst wusste ich gar nicht, ob ich recht sah – aber ich konnte mich nicht täuschen, denn die Baracke war dort sehr gut von starken Lampen beleuchtet. Zu meiner Linken auch hier die beiden Reihen gewöhnlicher Boxen, doch lag nun auf den Brettern eine Schicht roter, rosaroter, blauer, grüner und lilafarbener Steppdecken, darüber noch eine Schicht aus den gleichen Steppdecken, und dazwischen guckten, eng nebeneinander, kahlgeschorene Kinderköpfe hervor, größere und kleinere, aber im Allgemeinen Köpfe von Jungen so etwa in meinem Alter. Und kaum hatte ich das alles wahrgenommen, da wurde ich auf den Boden gestellt und gestützt, damit ich nicht etwa umkippte, wurde mir die Decke abgenommen und Knie und Hüfte in Eile mit Papier verbunden, und kaum hatten sie mir ein Hemd übergezogen, schlüpfte ich schon zwischen zwei Schichten von Steppdecken und zwei sich in Eile zur Seite drückende Jungen hinein, in der zweiten Etage.

Dann sind sie gegangen, auch dieses Mal ohne jede Erklärung, und da konnte ich mich eben wieder nur auf das Funktionieren meines eigenen Verstandes verlassen. Auf jeden Fall, das musste ich zugeben, war ich da, und diese Tatsache erneuerte sich unbestreitbar in jedem Augenblick, dauerte fort, dauerte noch immer und dauerte auch weiterhin beständig an. Später wurde mir noch einiges Wissenswerte klar. Das hier zum Beispiel war wohl eher der vordere als der hintere Teil der Baracke, wie an einer nach draußen führenden Tür gegenüber wie auch an der Weitläufigkeit des hellen Raums davor ersichtlich war – Tummel- und Arbeitsplatz von Würdenträgern, Schreibern, Ärzten, an der augenfälligsten Stelle eingerichtet mit einer Art Tisch, der von einem weißen Laken bedeckt war. Wer in den hinteren Holzboxen hauste, hatte meist die Ruhr oder Typhus, und hatte er sie noch nicht, dann würde er sie noch bekommen, das war sicher. Das erste Anzeichen dafür – wie auch der nicht zu unterdrückende Geruch anzeigt – ist der Durchfall, auch Durchmarsch genannt, wonach sich die Leute vom Badekommando ja auch sofort bei mir erkundigt hatten, und demzufolge, das sah ich ein, wäre mein Platz eigentlich dort gewesen, wenn ich ihre Frage zufällig wahrheitsgemäß beantwortet hätte. Tagesverpflegung und Küche schienen mir ebenfalls mit Zeitz vergleichbar: morgens Kaffee, die Suppe kam schon früh am Vormittag, die Brotration betrug ein Drittel oder ein Viertel, in letzterem Fall dann meistens mit Zulage. Auf die Tageszeiten konnte ich – wegen der immer gleichmäßigen Beleuchtung, die durch kein Fenster, hell oder dunkel, beeinflusst wurde – nur mit einiger Schwierigkeit und bloß nach gewissen untrüglichen Zeichen schließen: auf den Morgen nach dem Kaffee, auf die Schlafenszeit nach dem allabendlichen Abschied des Arztes. Schon am ersten Abend hatte ich mit ihm Bekanntschaft geschlossen. Ich war auf einen Mann aufmerksam geworden, der gerade bei unserer Box stehen geblieben war. Er konnte nicht besonders groß sein, denn sein Kopf befand sich etwa auf gleicher Höhe mit dem meinen. Sein Gesicht war nicht nur voll, sondern da und dort sogar schon zu füllig, und er hatte nicht nur einen hochgezwirbelten, fast grauen Schnurrbart, sondern auch – zu meinem größten Erstaunen, da ich so etwas in einem Konzentrationslager noch nie gesehen hatte – einen gleichfalls taubengrauen, höchst gepflegten kleinen Kinnbart, hübsch spitz zugeschnitten. Dazu trug er eine große, würdevolle Mütze, eine dunkle Tuchhose, aber auch – obwohl aus gutem Stoff – eine Sträflingsjacke mit einer Armbinde und dem roten Zeichen, darin ein F. Er nahm mich in Augenschein, so wie bei Neuankömmlingen üblich, und sagte auch etwas zu mir. Ich antwortete mit dem einzigen Satz, den ich auf Französisch kann: «Schö nö kompran pa, mössjöh.» – «Ui, uii», hat er darauf gesagt, mit einer vollen, freundlichen, ein bisschen heiseren Stimme, «bon, bon, mon fis», und damit ein Stück Zucker vor meiner Nase auf die Decke gelegt, richtigen Würfelzucker, so wie ich ihn von zu Hause kannte. Dann ist er an all den anderen Boxen entlanggegangen, auf beiden Seiten, allen drei Etagen, und für jeden Jungen hat es zu einem Würfelzucker aus seiner Tasche gereicht. Vor einige legte er das Stück einfach hin, bei anderen hingegen verweilte er länger, ja, einige konnten mit ihm sogar sprechen, und ganz besonders diesen tätschelte er das Gesicht, kitzelte sie am Hals, plauderte, zwitscherte gewissermaßen mit ihnen, so etwa, wie man zu Hause ein bisschen mit seinem Kanarienvogel herumtrillert, wenn gerade seine Stunde ist. Ich habe auch bemerkt, dass für einige seiner Lieblinge, vor allem für die, die seine Sprache verstanden, sich auch noch ein zweites Stückchen Zucker fand. Da erst begriff ich, was man mir zu Hause immer wieder eingetrichtert hatte, nämlich dass Bildung nützlich ist, vor allem, in der Tat, die Kenntnis von Fremdsprachen.

Wie gesagt, all das nahm ich auf, nahm es zur Kenntnis, doch immer mit dem Gefühl, um nicht zu sagen, schon fast mit der Einschränkung, dass ich währenddessen die ganze Zeit auf etwas wartete, und wenn ich auch nicht wusste, worauf eigentlich, so eben doch auf die Wende, darauf, dass das Geheimnis sich lüftete, auf das Erwachen sozusagen. Am nächsten Tag zum Beispiel, als er während seiner Arbeit einen Augenblick Zeit hatte, zeigte der Arzt mit dem Finger zu mir herüber. Man zog mich von meinem Platz und setzte mich vor ihn auf den Tisch. Er ließ ein paar freundliche Kehllaute erklingen, berührte mit seinem kalten Ohr, der stacheligen Spitze seines Schnurrbärtchens meinen Rücken und meine Brust, bedeutete mir, tief einzuatmen, zu husten. Dann legte er mich hin, ließ durch eine Art Gehilfen die Papierverbände entfernen und nahm sich meine Wunden vor. Er besah sie sich, zuerst nur aus einer gewissen Entfernung, dann betastete er sie vorsichtig, worauf sofort etwas von ihrer inneren Substanz zum Vorschein kam. Darauf machte er «hm, hm» und schüttelte besorgt den Kopf, als bedrückten ihn die Wunden ein wenig, als hätten sie ihm ein wenig die Laune verdorben, so schien mir. Dann hat er sie rasch wieder verbunden, so als wollte er sie aus seinen Augen verschwinden lassen, und ich hatte das Gefühl: Sie schienen nicht seinen Beifall zu finden, ihn nicht gerade zu befriedigen; er schien sich mit ihnen ganz und gar nicht abfinden zu können.

Aber auch sonst bin ich bei der Prüfung in dem einen oder anderen Punkt nicht gut weggekommen, wie ich nicht umhinkonnte festzustellen. Mit den Jungen neben mir zum Beispiel konnte ich mich in keiner Weise verständigen. Sie hingegen plauderten ungestört miteinander, über mich hinweg oder an mir vorbei, aber so, als sei ich bloß irgendein Hindernis, das ihnen einfach im Weg war. Zuvor noch hatten sie wissen wollen, was ich für einer sei. Ich sagte «Ungar» und hörte, wie sich die Neuigkeit in Windeseile links und rechts verbreitete: wengerski, wengrija, magyarski, matjar, ongroa und was sonst noch alles. Einer sagte auch: «Khenjir!», das heißt kenyér, Brot, und die Art, wie er und gleich der ganze Chor dazu lachten, ließ bei mir keinen Zweifel darüber, dass er meinesgleichen schon kannte, und zwar gründlich. Es war unangenehm, und ich hätte ihnen gerne irgendwie zu verstehen gegeben, dass da ein Irrtum war, weil die Ungarn ja mich wiederum gar nicht für ihresgleichen hielten, und dass ich ihre Meinung über sie im Großen und Ganzen einfach teilen und es kurios, ja vor allem ungerecht finden würde, wenn man mich hier nun ausgerechnet ihretwegen schief ansah – doch dann ist mir die dumme Behinderung eingefallen, dass ich ihnen das eben nur auf Ungarisch hätte erzählen können, oder allenfalls vielleicht auf Deutsch, was aber die Sache noch schlimmer gemacht hätte, das fand ich selbst auch.

Dann war da noch ein anderes Manko, ein weiterer Makel, den ich schließlich – es ging schon Tage – mit keiner Anstrengung mehr verbergen konnte. Ich hatte bald gelernt, dass es hier üblich war, bei Bedarf einen nur wenig älteren Jungen, so eine Art Hilfspfleger, zu rufen. Er erschien bei dieser Gelegenheit mit einem flachen und dem Zweck entsprechend langstieligen Geschirr, das unter die Decke geschoben wurde. Dann musste man ihn erneut rufen, «Bitte! Fertig! Bitte!», bis er es holen kam. Nun konnte niemand, auch er nicht, diesem Bedürfnis eine ein-, zweimalige Berechtigung täglich absprechen. Nur konnte ich nicht umhin, ihn täglich dreimal, wenn nicht viermal zu bemühen, und das, so bemerkte ich, ärgerte ihn nun doch – ganz und gar verständlicherweise übrigens, das war nicht zu bestreiten, durchaus nicht. Einmal hat er das Geschirr sogar dem Arzt gebracht, etwas dazu erklärt und argumentiert und immer wieder auf den Inhalt gezeigt, bis der Arzt angesichts des Beweisstücks dann auch ein wenig nachdenklich wurde, wenngleich der Wink seines Kopfes, seiner Hand unmissverständlich eine Zurückweisung bedeutete. Am Abend blieb auch der Zucker nicht aus: also alles in Ordnung – ich durfte mich von neuem fest zwischen den Steppdecken und zwischen den wärmenden Körpern einnisten, in einer Sicherheit, die unanfechtbar, wenigstens heute noch andauernd und nicht erschütterbar zu sein schien.

Am nächsten Tag, irgendwann zwischen dem Kaffee und der Suppenzeit, trat ein Mensch aus der Welt draußen herein, ein ganz hoher Würdenträger, wie ich gleich bemerkte. Die große Künstlermütze war aus schwarzem Filz, seine Kleidung ein makellos weißer Umhang, darunter eine Hose mit rasiermesserscharfer Bügelfalte, an den Füßen glänzend polierte Halbschuhe, und vor seinem Gesicht erschrak ich ein bisschen, nicht nur vor den irgendwie grob ausgeprägten, irgendwie allzu männlichen, wie mit dem Meißel herausgehauenen Zügen, sondern auch vor seiner auffällig violetten, fast wie geschunden wirkenden Haut, die gleichsam das rohe Fleisch durchscheinen ließ. Außerdem kennzeichneten ihn eine hohe, schwere Gestalt, schwarzes, an den Schläfen schon leicht ergrautes Haar, eine Armbinde, die von meinem Platz aus nicht zu entziffern war, da er die Hände auf dem Rücken verschränkt hielt, aber vor allem ein rotes Dreieck ohne weiteres Zeichen: das heißt also die unheilverkündende Tatsache unverfälschten deutschen Blutes. Im Übrigen konnte ich jetzt zum ersten Mal in meinem Leben jemanden sehen, dessen Sträflingsnummer nicht eine Zehntausender, nicht eine Tausender, ja nicht einmal eine Hunderter war, sondern im Ganzen nur aus zwei Zahlen bestand. Unser Arzt eilte gleichhin, um ihn zu begrüßen, ihm die Hand zu schütteln und ein bisschen den Arm zu tätscheln, mit einem Wort: sein Wohlwollen zu erregen, wie bei einem sehr willkommenen Gast, der endlich mit seinem Besuch das Haus beehrt – und zu meiner größten Verblüffung musste ich plötzlich sehen, dass er allem Anschein nach ohne Zweifel von mir sprach. Er zeigte sogar auf mich, mit einem schwungvollen Bogen seiner Hand, und aus der schnellen, dieses Mal deutschen Rede drangen deutlich die Worte «zu dir» an mein Ohr. Dann fuhr er fort, beteuerte, redete auf ihn ein, und das fortwährend mit erklärenden Gebärden, als würde er eine Ware anpreisen, die er so schnell wie möglich loswerden wollte. Und der andere, der es sich zunächst schweigend angehört hatte wie der gewichtigere Partner, um nicht zu sagen der schwierige Kunde, schien am Schluss, als er wegging, schon ganz überzeugt – so empfand ich es wenigstens, denn da war der kurze, stechende, schon jetzt irgendwie besitzergreifende Blick seiner winzigen, dunklen, auf mich gerichteten Augen, sein kurzes Kopfnicken, sein Händedruck, seine ganze Art – nun und dann war da auch die sich aufhellende, befriedigte Miene unseres Arztes.

Ich brauchte nicht lange zu warten, bald öffnete sich die Tür erneut, und auf den ersten Blick erfasste ich bei dem Mann, der eintrat, das rote Dreieck auf dem Sträflingsanzug, darin ein P – Kennzeichen der Polen, wie allgemein bekannt –, und auf seiner schwarzen Armbinde das Wort «Pfleger». Er schien jung, etwas über zwanzig ungefähr. Auch er hatte eine schöne blaue, allerdings kleinere Mütze, darunter weich über Ohren und Nacken fallendes kastanienbraunes Haar. In seinem langen, aber vollen, rundlichen Gesicht waren alle Züge so regelmäßig, so angenehm wie nur möglich, die rosige Farbe der Haut, der Ausdruck seines etwas großen, weichen Mundes außerordentlich sympathisch: Mit einem Wort, er war schön, und ich hätte mich wohl noch länger an seinem Anblick ergötzt – wenn er nicht gleich den Arzt gesucht, wenn dieser nicht gleich auf mich gezeigt und wenn er nicht eine Decke auf dem Arm gehabt hätte, in die er mich sogleich wickelte, nachdem er mich von meinem Platz heruntergezogen hatte, um mich dann in der hier offenbar üblichen Art über die Schulter zu nehmen. Er konnte nicht ganz unbehindert arbeiten, weil ich mich mit beiden Händen an der Querlatte festklammerte, die die Boxen voneinander trennte und gerade in meiner Griffweite war – ich tat es einfach so aufs Geratewohl, instinktiv sozusagen. Ich schämte mich auch ein bisschen dafür: Da machte ich wieder die Erfahrung, wie sehr bereits ein paar Tage Leben unseren Verstand irrezuführen, wie sehr sie uns die Sache zu erschweren vermögen. Doch erwies er sich als der Stärkere, ich hieb und hämmerte vergeblich mit beiden Fäusten auf seine Hüften, seine Nierengegend ein, auch darüber lachte er bloß, wie ich an der Erschütterung seiner Schultern spürte; da hörte ich auf und ließ zu, dass er mich trug, wohin es ihm beliebte.

Es gibt merkwürdige Orte in Buchenwald. Du gelangst etwa hinter einem Gitterzaun zu einer jener schmucken grünen Baracken, die du bisher – sofern du Einwohner des Kleinlagers bist – gewöhnlich nur aus der Ferne bewundern konntest. Jetzt kannst du erfahren, dass sich innen – das heißt wenigstens bei dieser hier – ein von verdächtiger Sauberkeit blitzender Flur befindet. Von dem Flur gehen Türen ab – richtige, echte weiße Türen –, und hinter einer von ihnen erwartet dich ein warmes, helles Zimmer und ein hergerichtetes, gewissermaßen nur deine Ankunft erwartendes Bett. Auf dem Bett eine rote Steppdecke. Dein Körper versinkt in einem wohlgefüllten Strohsack. Dazwischen eine weiße, kühle Schicht, kein Irrtum, du kannst dich überzeugen: ein Laken, tatsächlich. Auch in deinem Nacken ein ungewohnter, nicht gerade unangenehmer Druck, verursacht von einem gutgestopften Strohkissen, darüber ein weißer Bezug. Der Pfleger faltet die Decke, in der er dich hergebracht hat, zweimal und platziert sie zu deinen Füßen: Demgemäß steht dir auch sie zur Verfügung, offenbar für den Fall, dass du eventuell mit der Zimmertemperatur nicht zufrieden sein solltest. Dann setzt er sich mit einer Art Pappkarte und einem Bleistift zu dir auf den Bettrand und erkundigt sich nach deinem Namen. Du sagst: «Vier-und-sechzig, neun, ein-und-zwanzig.» Er schreibt das auf, drängt aber noch weiter, und es braucht einige Zeit, bis du begreifst, dass ihn auch der «Name» interessiert, und wiederum braucht es – wie etwa bei mir – einige Zeit, bis du, in deinen Erinnerungen kramend, tatsächlich auf ihn kommst. Ich musste ihn drei-, viermal wiederholen, bis er endlich zu verstehen schien. Danach zeigte er, was er geschrieben hatte, und über einer Art linierter Fiebertabelle las ich: «Kewischtjerd». Er fragte, ob es «dobro jesz», ob es gut sei, und ich sagte «gut», worauf er die Karte auf einen Tisch legte und wegging.

Daraufhin – denn offensichtlich hast du ja Zeit – kannst du dich ein bisschen umschauen, alles betrachten, dich zurechtfinden. Du kannst zum Beispiel feststellen – wenn es dir bisher entgangen sein sollte –, dass sich im Zimmer auch noch andere befinden. Du brauchst nur hinzusehen, um unschwer zu erraten: wahrscheinlich auch alles Kranke. Du kannst herausfinden, dass diese Farbe, dieser deinem Auge schmeichelnde Eindruck, dieses gewisse, alles beherrschende Dunkelrot, eigentlich die Farbe einer wie Lack schimmernden Substanz ist, welche die längsverlaufenden Dielenbretter deckt, nun und dann sind auch die Steppdecken sämtlicher Betten auf diesen Farbton abgestimmt. Es sind etwa zwölf an der Zahl. Meistens Einzelbetten, doppelstöckig nur dieses hier, in dessen unterer Etage du liegst, rechts von dir die weißgestrichenen Bretter der Trennwand, und ebenso die beiden vor dir und die beiden an der Trennwand gegenüber. Du magst ganz verdutzt sein wegen des vielen unausgenützten Platzes, der großen, bequemen, gut einen Meter breiten Zwischenräume zwischen den Betten, und magst staunen über die Vergeudung, wenn du da und dort sogar ein leeres Bett erblickst. Du entdeckst etwa das sehr hübsche, in viele kleine Vierecke aufgeteilte Glasfenster, das Helligkeit gibt, und der blassbraune, einen hakenschnabeligen Adler darstellende Stempel auf deinem Kopfkissen mag dir ins Auge stechen, worauf du wohl auch bald die dazugehörigen Buchstaben «Waffen-SS» entzifferst. In den Gesichtern ringsum hingegen wirst du vergeblich nach einem Zeichen, nach einer Äußerung forschen, vergeblich das Ereignis deiner Ankunft – das doch schließlich, so möchtest du meinen, irgendwie so etwas wie eine Neuigkeit ist –, vergeblich Interesse, Enttäuschung, Freude, Ärger, was immer, wenn es auch nur flüchtige Neugier wäre, in ihnen erkennen wollen – und so wird die Ruhe, die, je länger sie dauert, umso unbehaglicher, umso peinlicher, in gewisser Weise, möchte ich sagen, umso geheimnisvoller wird, das wirst du erfahren können, dein merkwürdigster Eindruck sein, falls es dich irgendwie hierher verschlägt. In dem viereckigen freien Raum, den die Betten umschließen, kannst du außerdem einen weißbedeckten kleineren, an der Wand gegenüber einen größeren Tisch ausmachen, darum herum ein paar Stühle mit Rückenlehne, bei der Tür einen großen prächtigen, tüchtig summenden Eisenofen, daneben einen schwarzglänzenden vollen Kohlebehälter.

Und da kannst du dann anfangen, dir den Kopf zu zerbrechen: was du denn eigentlich von alledem halten sollst, von diesem Zimmer, von diesem Scherz mit der Steppdecke, dem Bett, der Stille. Das eine oder andere mag dir in den Sinn kommen, du kannst versuchen, dich zu erinnern, Schlüsse zu ziehen, aus deinen Kenntnissen zu schöpfen, auszuwählen. Vielleicht – so magst du grübeln, wie etwa ich es tat – ist das auch so ein Ort, von dem wir noch in Auschwitz gehört haben, wo die Pfleglinge bei Milch und Butter gehalten werden, bis man ihnen – zum Beispiel – Stück für Stück sämtliche Eingeweide herausnimmt, zwecks Weiterbildung, zum Wohle der Wissenschaft. Aber das ist natürlich – du musst es einsehen – nur eine Annahme, eine von vielen Möglichkeiten; ja und vor allem, von Milch und Butter habe ich im Übrigen keine Spur gesehen. Im Gegenteil – so fiel mir ein –, drüben war um diese Zeit längst die Suppe fällig, hier aber konnte ich nicht einmal irgendein Anzeichen davon, ein Geräusch, einen Geruch, wahrnehmen. So kam mir dann ein Gedanke, möglicherweise ein etwas zweifelhafter – aber wer könnte schon beurteilen, was möglich und was glaubhaft ist, wer könnte das ermessen, wer könnte all den unzähligen, verschiedenerlei Einfällen, Erfindungen, Spielen, Scherzen und ernsthaften Überlegungen nachgehen, die in einem Konzentrationslager allesamt ausführbar, machbar sind, sich spielend aus dem Reich der Phantasie in die Wirklichkeit überführen lassen – wer könnte das, selbst wenn er sein ganzes Wissen zusammennähme. Man wird also – grübelte ich – zum Beispiel genau in ein Zimmer wie dieses gebracht. Man wird, sagen wir, genau in ein solches Bett mit Steppdecke gelegt. Gehegt, gepflegt, mit allem versorgt – nur nicht mit Essen, nehmen wir einmal an. Wenn man will, dann lässt sich zum Beispiel vielleicht sogar das beobachten, auf welche Art jemand verhungert – schließlich mag auch das auf seine Art interessant, in höherem Sinn nützlich sein, warum denn nicht, das musste ich zugeben. Wie ich es auch drehte und wendete, die Idee kam mir immer wirklichkeitsnäher, immer brauchbarer vor: Sie konnte also auch schon einem Zuständigeren als mir gekommen sein, fand ich. Ich nahm meinen Nachbarn in Augenschein, den Kranken, der etwa einen Meter links von mir lag. Er war ältlich, ein bisschen kahl, das Gesicht hatte noch etwas von den Zügen, ja sogar von dem Fleisch seines einstigen Gesichts bewahrt. Allerdings bemerkte ich, dass seine Ohren irgendwie den wächsernen Blättern von künstlichen Blumen verdächtig ähnlich sahen und dass die Nasenspitze und die Augengegend eine gelbe Färbung hatten, die mir auch schon recht gut bekannt war. Er lag auf dem Rücken, seine Decke bewegte sich sachte auf und ab: Anscheinend schlief er. Auf alle Fälle, sozusagen versuchshalber, flüsterte ich ihm zu: Versteht man Ungarisch? Nichts, er schien nicht nur nicht zu verstehen, sondern auch nicht zu hören. Ich hatte mich schon wieder abgewandt, um meine Gedankenfäden weiterzuspinnen, als unverhofft ein Wort, ein geflüstertes, dennoch gut verständliches, an mein Ohr drang: «Ja.» Er war es, ohne Zweifel, auch wenn er die Augen nicht geöffnet, seine Lage nicht verändert hatte. Ich hingegen war plötzlich irgendwie dummerweise so erfreut, ich weiß gar nicht, warum, dass ich ein paar Minuten lang ganz vergaß, was ich eigentlich von ihm hatte wissen wollen. Ich fragte: «Woher kommen Sie?», und er antwortete, wieder nach einer endlos scheinenden Pause: «Aus Budapest …» Ich wollte wissen: «Wann?», und nach einer kürzeren Geduldsprobe erfuhr ich: «Im November …» Erst dann fragte ich endlich: «Gibt es hier zu essen?», und wieder nach Ablauf der entsprechenden Zeit, die er offenbar jeweils brauchte, antwortete er: «Nein …» Ich wollte wissen …

Doch gerade in diesem Augenblick kam der Pfleger wieder herein, und zwar direkt zu ihm, und ich staunte nur so, mit welcher Leichtigkeit er diesen – wie ich erst jetzt sah – doch noch recht gewichtigen Körper auf die Schulter nahm und zur Tür hinaustrug, während ein loses Stück Papierverband in der Bauchgegend des Kranken gleichsam zum Abschied winkte. Zur gleichen Zeit war ein kurzes Knacken, dann ein elektrisches Knistern zu vernehmen. Darauf meldete sich eine Stimme: «Friseure zum Bad, Friseure zum Bad», sagte sie. Es war eine etwas schnarrende, sonst aber sehr angenehme, einschmeichelnde, ja fast schon betörend sanfte und melodiöse Stimme – die Art, bei der man gleichsam auch den Blick spürt, und zuerst hätte sie mich beinahe aus dem Bett geworfen. Bei den Kranken ringsum jedoch löste dieses Ereignis, wie ich sah, etwa genauso viel Aufregung aus wie zuvor meine Ankunft, und so dachte ich, also gehört das hier offensichtlich zur Tagesordnung. Rechts über der Tür entdeckte ich dann auch einen braunen Kasten, so eine Art Lautsprecher, und es ging mir auf, dass die Soldaten anscheinend über diesen Apparat irgendwoher ihre Befehle übermittelten. Kurz darauf kam abermals der Pfleger, abermals zu dem Bett neben mir. Er schlug die Decke und das Laken zurück, griff durch einen Schlitz in den Strohsack hinein, und die Art, wie er das Stroh, danach Laken und Decke wieder in Ordnung brachte, machte mir klar: den Mann von vorhin würde ich wohl kaum wiedersehen. Und ich konnte nichts dafür, dass meine Phantasie gleich wieder fragte: War das vielleicht die Strafe dafür, dass er das Geheimnis ausgeplaudert hatte, was sie – warum denn eigentlich nicht – über irgendeinen, dem anderen dort ähnlichen Apparat abgehört, abgefangen hatten? Ich wurde jedoch wieder auf eine Stimme aufmerksam – dieses Mal auf die eines Kranken, zum Fenster hin, auf dem dritten Bett von mir aus gesehen. Es war ein sehr magerer, bleicher junger Mann, und er trug noch Haare, und zwar dichte blonde, gewellte. Er sagte zwei-, dreimal dasselbe Wort, stöhnte es eher, die Vokale in die Länge ziehend, einen Namen, wie ich allmählich mitbekam: «Pjetka! … Pjetka! …» Worauf der Pfleger, auch er mit einer gedehnten und, so fühlte ich, recht herzlichen Stimme, nur ein Wort zu ihm sagte: «Co?» Darauf sagte der andere noch etwas Längeres, und Pjetka – denn ich hatte verstanden: so also hieß der Pfleger – ging zu seinem Bett. Er flüsterte lange auf ihn ein, so, wie wenn man jemandem ins Gewissen redet, ihn noch zu etwas Geduld, zu etwas längerem Ausharren mahnt. Inzwischen zog er ihn, eine Hand unter seinem Rücken, ein wenig hoch, klopfte unter ihm das Kissen zurecht, brachte auch seine Steppdecke in Ordnung, und das alles freundlich, herzlich, liebevoll – auf eine Art, die meine bisherigen Annahmen völlig durcheinanderbrachte, ja fast schon Lügen strafte. Diesen Ausdruck auf dem jetzt wieder liegenden Gesicht konnte ich wohl doch nur als Beruhigung, als eine gewisse Erleichterung verstehen, diese ersterbenden, seufzerartigen, aber doch gut hörbaren Worte: «Djinkuje … djinkuje bardzo …», doch wohl nur als Dank, wenn mich nicht alles täuschte. Und gänzlich über den Haufen geworfen wurden meine verzagten Erwägungen durch ein näher kommendes Geräusch, dann Lärm, dann das schließlich schon vom Flur hereindringende, unverwechselbare Geklapper, das mein ganzes Wesen aufwühlte, es mit beständig wachsender, immer unbezwingbarerer Erwartung erfüllte und zu guter Letzt gewissermaßen den Unterschied zwischen mir und dieser Bereitschaft verwischte. Draußen ein Lärmen, ein Kommen und Gehen, das Geklapper von Holzsohlen, schließlich das ungeduldige Rufen einer vollen Stimme: «Saal sechs! Essen holen!» Der Pfleger ging hinaus und zog dann mit Hilfe eines anderen, von dem im Türspalt nur die Arme zu sehen waren, einen schweren Kessel herein, und schon war das Zimmer mit dem Duft der Suppe erfüllt – auch wenn es heute deutlich nur der Duft von Dörrgemüse, der bekannten Lagersuppe, war: So hatte ich mich doch auch hierin geirrt.

Später machte ich dann noch weitere Beobachtungen, und während die Stunden, die Tageszeiten und schließlich die Tage vergingen, wurde mir allmählich alles klar. Jedenfalls musste ich mich nach einiger Zeit, wenn auch nur langsam, zurückhaltend und vorsichtig, von den Tatsachen überzeugen lassen, nämlich dass – wie es schien – auch das möglich und denkbar war, es mochte zwar ungewohnter sein, ja, und auch angenehmer, natürlich, aber im Grunde genommen, wenn ich es recht bedachte, war es nicht merkwürdiger als alle anderen Merkwürdigkeiten, die – es war ja schließlich ein Konzentrationslager – sonst noch möglich und denkbar waren, sowohl so als auch umgekehrt, natürlicherweise. Andererseits war es jedoch gerade dies, was mich störte, meine Sicherheit irgendwie untergrub: Letzten Endes, wenn ich es vernünftig betrachtete, konnte ich überhaupt keinen Grund, irgendeine denkbare, erkennbare, verständliche Begründung dafür sehen, dass ich zufällig gerade hier und nicht anderswo war. Nach und nach entdeckte ich, dass die Kranken hier alle einen Verband trugen, anders als in der Baracke vorher, und so wagte ich mit der Zeit die Annahme, dass sich dort womöglich die Abteilung für innere Krankheiten und hier – wer weiß – vielleicht die Chirurgie befand; doch konnte ich das natürlich noch nicht als hinreichenden Grund, als nötige Erklärung für die Mühe ansehen, für das ganze Unterfangen, dieses wahrlich wohlabgestimmte Zusammenspiel von Händen, Schultern, Überlegungen, das mich – wenn ich es richtig überdachte – von dem Karren bis hierher, in dieses Zimmer, in dieses Bett gebracht hatte. Ich versuchte auch, mir von den Kranken ein Bild zu machen, mich unter ihnen ein wenig auszukennen. Im Allgemeinen, so bemerkte ich, mussten es altgediente, alteingesessene Häftlinge sein. Wie eine Exzellenz kam mir keiner vor, obwohl ich sie andererseits auch mit den Zeitzern nicht hätte vergleichen können. Allmählich fiel mir auch auf, dass an der Brust der Besucher, die immer zur gleichen Abendstunde für eine Minute, auf einen Schwatz bei ihnen hereinschauten, stets nur rote Dreiecke zu sehen waren und zum Beispiel weder grüne noch schwarze – was ich übrigens keineswegs vermisste –, aber auch – und das vermisste mein Auge nun schon eher – keine gelben. Kurz und gut, sie waren anders, dem Blut, der Sprache, dem Alter nach, aber abgesehen davon auch sonst noch anders als ich oder die anderen, die ich bisher immer leicht verstanden hatte, und das beengte mich einigermaßen. Doch gerade darin – so spürte ich – lag irgendwo vielleicht die Erklärung. Da ist zum Beispiel Pjetka: Abends schlafen wir mit seinem Gruß «dobra noc» ein, morgens erwachen wir auf sein «dobre rano» hin. Die stets tadellose Ordnung im Zimmer, das Aufwischen des Fußbodens mit einem feuchten, um einen Stock gewickelten Lappen, das Beschaffen der täglichen Kohleration und das Heizen des Ofens, das Verteilen der Portionen und die Reinigung der dazugehörigen Näpfe und Löffel, im Bedarfsfall das Umhertragen der Kranken und wer weiß, was sonst noch: alles, alles das Werk seiner Hände. Wenn er auch nicht viele Worte macht, so sind doch sein Lächeln, seine Hilfsbereitschaft immer gleich, mit einem Wort: als wäre er nicht Inhaber eines wichtigen Amtes – schließlich ist er ja die erste Exzellenz des Zimmers –, sondern ganz einfach eine Person, die in erster Linie den Kranken zur Verfügung steht, ein Pfleger, in der Tat, so wie es auf seiner Armbinde steht.

Oder dann ist da der Arzt – denn wie sich herausgestellt hat, ist der mit dem nackten Gesicht hier der Arzt, ja sogar Oberarzt. Sein Besuch, um nicht zu sagen seine Visite, verläuft jeden Morgen nach dem gleichen, nie abgewandelten Ritual. Eben ist das Zimmer fertig, eben haben wir den Kaffee getrunken, und auch das Geschirr ist hinter dem aus einer Decke fabrizierten Vorhang verschwunden, wo Pjetka es aufbewahrt, und schon werden im Flur die vertrauten Schritte hörbar. Im nächsten Augenblick reißt eine energische Hand die Tür sperrangelweit auf, und mit einem Gruß, der wahrscheinlich «Guten Morgen» heißen soll, von dem man aber nur ein langgezogenes, kehliges «Moo’gn» hört, tritt der Arzt ein. Den Gruß zu erwidern ist – wer weiß, warum – unangebracht, und er erwartet es auch nicht, höchstens von Pjetka, der ihn mit seinem Lächeln, barhäuptig und in ehrerbietiger Haltung empfängt, aber – wie ich über eine lange Zeit hinweg öfter beobachten konnte – nicht mit der so wohlbekannten Ehrerbietung, die man den höhergestellten Exzellenzen schuldet, sondern eher so, als achte er ihn ganz einfach, aus eigener Einsicht, aus dem eigenen freien Willen sozusagen. Dann hebt der Arzt die schon von Pjetka vorbereiteten Krankenblätter einzeln hoch und studiert sie mit strenger, prüfender Miene – als ob es, sagen wir, wirkliche Krankenblätter wären, in einem wirklichen Krankenhaus, wo nichts wichtiger, nichts selbstverständlicher ist als die Frage nach dem Befinden des Kranken. Dann wendet er sich an Pjetka und macht da und dort ein, zwei, genauer: immer nur zweierlei Bemerkungen. «Kewisch … was? Kewischtjerd!» liest er zum Beispiel, und sich darauf zu melden, eine Antwort, irgendein Lebenszeichen zu geben wäre – wie ich bald gelernt habe – ebenso ungehörig, wie den Morgengruß zu erwidern. «Der kommt heute raus!», womit er – wie ich mit der Zeit herausfand – jedes Mal sagen will, dass der Kranke im Lauf des Vormittags, sofern er dazu imstande ist, auf den eigenen Beinen, sonst eben auf Pjetkas Schulter, aber auf jeden Fall bei ihm zu erscheinen hat, bei seinen Messern, Scheren und Papierverbänden, in seinem Untersuchungszimmer, das so zehn bis fünfzehn Meter Weges vom Ausgang unseres Flurs entfernt liegt. (Er bat mich übrigens nicht um Erlaubnis, wie der Arzt in Zeitz, und auch mein Lärmen schien ihn überhaupt nicht zu stören, als er mit einer seiner seltsam geformten Scheren zwei neue Schnitte ins Fleisch meiner Hüfte machte – doch so, wie er dann meine Wunden ausdrückte, sie innen mit Gaze ausstopfte und zuletzt sogar, wenn auch sehr sparsam, noch mit einer Salbe bestrich, musste er, wie mir schien, unbestreitbar ein Fachmann sein.) Die zweite mögliche Bemerkung: «Der geht heute nach Hause!» bedeutet hingegen, dass er diesen Pflegling nunmehr als geheilt betrachtet und dieser also zurückkann – nach Hause, das heißt zurück in seinen Block im Lager, zu seiner Arbeit, zu seinem Kommando, versteht sich. Am folgenden Tag geht alles wieder ganz genau in der gleichen Weise vor sich, als genaue Kopie dieses Vorgangs, ganz ordnungsgemäß, wobei Pjetka und wir Kranken, ja beinahe schon die Einrichtungsgegenstände selbst mit gleichbleibendem Ernst teilnehmen und ihre Rollen spielen, zur Verfügung stehen, um Tag für Tag etwas Unveränderliches zu wiederholen, zu bekräftigen, einzuüben, zu bezeugen – mit einem Wort: als wäre nichts natürlicher, nichts unzweifelhafter, als dass für ihn, den Arzt, das Heilen, für uns Kranke aber die baldige Genesung, die rasche Wiederherstellung und darauf das Nachhausegehen die einzige Sorge ist, das einzige, sehnlich erwartete Ziel, in der Tat.

Später habe ich dann auch etwas über ihn erfahren. Es kommt nämlich vor, dass im Behandlungszimmer reger Verkehr herrscht, dass dort auch andere sind. Bei solcher Gelegenheit lässt mich Pjetka von seiner Schulter auf eine kleine, seitlich stehende Bank herunter, und ich muss dann dort warten, bis mich der Arzt gutgelaunt ruft, zum Beispiel mit einem drängenden «Komm, komm, komm, komm!», um mich mit einer eigentlich freundlichen, aber trotzdem nicht sehr angenehmen Bewegung am Ohr zu packen, zu sich heranzuziehen und mit einem Schwung auf den Operationstisch zu heben. Ein andermal gerate ich vielleicht in ein richtiges Gedränge hinein, Pfleger holen und bringen Patienten, ambulante Kranke treffen ein, in dem Raum sind auch andere Ärzte und Pfleger tätig, und es kann sich ergeben, dass ein anderer Arzt, von niedrigerem Rang, die fällige Behandlung an mir vornimmt, bescheiden irgendwo am Rand, in einiger Entfernung von dem Operationstisch in der Mitte. Mit einem von ihnen, einem kleineren, grauhaarigen Mann mit Raubvogelnase, der gleichfalls ein nicht markiertes rotes Dreieck und eine wenn auch nicht zwei- oder dreistellige, aber immer noch vornehme Tausender-Nummer trug, habe ich dann auch Bekanntschaft, ja Freundschaft geschlossen. Er erwähnte – was übrigens später auch Pjetka bestätigte –, dass unser Arzt schon seit zwölf Jahren im Konzentrationslager war. «Zwölf Jahre im Lager», sagte er leise, nickend, mit einer Miene, die gleichsam einer seltenen, nicht ganz wahrscheinlichen und – seiner Ansicht nach jedenfalls, wie mir schien – geradezu unvorstellbaren Leistung galt. Ich fragte ihn: «Und Sie?» – «Oh, ich», sagte er und veränderte sofort das Gesicht, «seit sechs Jahren bloß», er winkte ab, als wäre das nichts, eine Kleinigkeit, nicht der Rede wert. Doch eigentlich war ich derjenige, der ausgefragt wurde; er wollte mein Alter wissen und wie und warum ich hier gelandet sei, so weit weg von zu Hause, damit begann unser Meinungsaustausch. «Hast du irgendetwas gemacht?», fragte er, irgendetwas Schlimmes vielleicht, und ich sagte: nein, «nichts», rein gar nichts. Warum ich dann trotzdem hier sei, wollte er wissen, und ich sagte, aus dem gleichen einfachen Grund wie andere meiner Rasse auch. Ja, aber – so bohrte er weiter –, warum man mich denn «verhaftet» habe, und ich erzählte ihm kurz, so gut ich konnte, von jenem Morgen, von dem Autobus, dem Zollhaus und der Gendarmerie später. «Ohne dass deine Eltern …», also ohne dass sie etwas davon wussten, und ich sagte: «ohne», versteht sich. Er schien ganz verdutzt, als hätte er so etwas noch nie gehört, und ich dachte bei mir: Na, der hat nach sechs Jahren anscheinend auch keine Ahnung mehr von der Welt. Er gab die Neuigkeit dann auch gleich an den Arzt weiter, der neben ihm beschäftigt war, und dieser wiederum an die anderen Ärzte, die Pfleger und die Kranken, die nach etwas Besserem aussahen. Schließlich ist es so weit gekommen, dass mich von allen Seiten Menschen anschauten, die mit dem Kopf schüttelten und dabei eine besondere Art von Gefühl im Gesicht hatten, was mir ein wenig peinlich war, denn wie mir schien, bemitleideten sie mich. Es fehlte nicht viel, dass ich ihnen gesagt hätte: aber keine Ursache, wenigstens zur Zeit nicht – aber ich habe dann doch nichts gesagt, irgendetwas hielt mich zurück, ich brachte es gewissermaßen nicht übers Herz, sagen wir es einmal so; denn wie ich merkte, tat ihnen dieses Gefühl gut, es bereitete ihnen eine gewisse Freude, schien mir. Ja, später, denn es widerfuhr mir noch ein-, zweimal, dass man mich so ausfragte, gewann ich den Eindruck – vielleicht fälschlicherweise, obwohl ich das nicht glaube –, sie suchten geradezu eine Gelegenheit, eine Möglichkeit, einen Vorwand für dieses Gefühl, aus irgendeinem Grund, irgendeinem Bedürfnis, gewissermaßen um irgendetwas zu beweisen, ihre Methode vielleicht, oder vielleicht, wer weiß, dass sie zu solchen Gefühlen überhaupt noch fähig waren – mir jedenfalls kam es irgendwie so vor. Hinterher sahen sie sich dann jedes Mal auf eine Art und Weise an, dass ich erschrocken um mich blickte, ob nicht Unberufene uns beobachteten; aber ich sah überall nur ebenso verdüsterte Stirnen, verengte Augen und zusammengepresste Lippen – so als ob ihnen etwas Bestimmtes in den Sinn gekommen wäre und sich in ihren Augen bestätigt hätte, und ich sagte mir, dass sie vielleicht an den Grund dachten, aus dem sie hier waren.

Dann zum Beispiel die Besucher: Auch die sah ich mir an und versuchte herauszufinden, welcher Wind, welche Absicht sie wohl hierherführte. Vor allem fiel mir auf, dass sie meistens gegen Abend, im Allgemeinen immer zur gleichen Zeit kamen. Daraus habe ich dann geschlossen, dass es auch hier in Buchenwald, im großen Lager, offenbar eine Stunde gab wie in Zeitz, wahrscheinlich auch hier in der Zeit zwischen der Rückkehr der Kommandos und dem Abendappell. Zumeist kamen Leute mit dem Buchstaben P, es gab aber auch solche mit J, R, T, F, N, ja sogar No und wer weiß, was alles noch: Auf jeden Fall kann ich sagen, dass ich dank ihrer viel Wissenswertes erfahren, viel Neues gelernt habe, ja, ich habe eigentlich erst auf diese Art einen genaueren Einblick in die hiesigen Umstände gewonnen, die Bedingungen, das gesellschaftliche Leben, um es so zu sagen. Die Alteinwohner von Buchenwald sind beinahe schön, ihre Gesichter sind voll, ihre Bewegungen und ihr Gang flink, vielen sind Haare zu tragen erlaubt, und den gestreiften Sträflingsanzug tragen sie nur so im Alltag, zur Arbeit, wie ich es auch bei Pjetka beobachtet habe. Wenn er sich am Abend, nachdem er unser Brot verteilt hat (das übliche Drittel oder Viertel, mit der üblichen Zulage oder eben ohne), zum Ausgehen zurechtmacht, zieht er ein Hemd oder einen Pullover an und dazu – was er vor uns Kranken vielleicht ein wenig zu verbergen sucht, obgleich auf seinem Gesicht und in seinen Bewegungen der Genuss, den er empfindet, offensichtlich ist – einen modischen, blassgestreiften braunen Anzug, dessen einzige Makel darin bestehen, dass auf dem Rücken ein viereckiges Stück herausgeschnitten und mit Sträflingsstoff geflickt ist und dass an den Hosennähten zwei lange, unauslöschliche Pinselstriche von roter Ölfarbe leuchten, nun und dann auf der Brust und am linken Hosenbein das rote Dreieck und die Häftlingsnummer. Etwas mehr Unannehmlichkeiten, ich könnte sagen Heimsuchungen, ergeben sich für mich, wenn er seinerseits einen Abendbesuch erwartet. Grund dafür ist ein unglücklicher Umstand in der Einrichtung: Warum auch immer, auf jeden Fall befindet sich zufällig gerade am Fußende meines Bettes der elektrische Wandstecker. Nun kann ich mich bei solcher Gelegenheit noch so angestrengt mit etwas anderem beschäftigen, das makellose Weiß der Zimmerdecke, den Emailleschirm der Lampe bewundern, mich in meine Gedanken versenken – ich kann dennoch nicht umhin, zu bemerken, wie sich Pjetka dort niederkauert, mit einem Napf und seinem persönlichen elektrischen Kocher, ich kann nicht umhin, das Brutzeln der sich erhitzenden Margarine zu hören, den Duft der darin bratenden Zwiebelringe, der darübergelegten Kartoffelscheiben und der vielleicht noch dazugeschnittenen Zulagewurst einzuatmen, wobei ich einmal auch auf ein leichtes, besonderes Klacken aufmerksam geworden bin, auf ein plötzlich ertönendes Zischen, das – wie mein sich sogleich wieder abwendendes, doch vor Verblüffung noch lange flimmerndes Auge feststellte – von etwas verursacht wurde, das innen gelb und ringsherum weiß war: einem Ei. Wenn dann alles gebraten, fertig zubereitet ist, trifft auch der zum Abendessen geladene Gast ein: «Dobre wetscher!» sagt er mit freundlichem Kopfnicken, denn auch er ist Pole, sein Name ist Zbischek, was manchmal, vielleicht in anderer Zusammensetzung, vielleicht in Koseform, als Zbischku zu hören ist; auch er bekleidet das Amt eines Pflegers, irgendwo da drüben, wie ich erfahre, in einem anderen Saal. Auch er kommt in den guten Kleidern, in Stiefeln und einer kurzen Jacke aus dunkelblauem Filz, einer Art Sport- oder Jagdjacke, die allerdings, versteht sich, am Rücken gleichfalls geflickt und an der Brust mit der Sträflingsnummer versehen ist, darunter ein bis zum Kinn reichender schwarzer Pullover. Mit seiner hohen, stattlichen Gestalt, seinem vielleicht der Notwendigkeit halber, vielleicht aus eigenem Ermessen kahlgeschorenen Kopf und dem heiteren, schlauen, intelligenten Ausdruck seines fleischigen Gesichts scheint er mir alles in allem ein angenehmer, sympathischer Mensch zu sein, wenn ich ihn meinerseits auch nicht gern gegen Pjetka eintauschen würde. Dann setzen sie sich an den hinteren, größeren Tisch, nehmen ihr Abendessen ein, plaudern, wobei hin und wieder einige der polnischen Kranken im Zimmer das eine oder andere leise Wort, die eine oder andere Bemerkung beisteuern, oder sie machen ein bisschen Spaß, die Ellbogen aufgestützt, die Hände verschränkt, probieren sie ihre Kraft aus, wobei zur Freude des ganzen Zimmers – und auch zu meiner, selbstverständlich – meistens Pjetka es fertigbringt, Zbischeks dem Anschein nach stärkeren Arm niederzuzwingen: Kurzum, es war zu sehen, dass die beiden Gutes und Schlechtes, Freud und Leid, alle Angelegenheiten, alle Probleme, aber anscheinend auch ihren Besitz und ihre Rationen miteinander teilten – dass sie also Freunde waren, wie man so sagt. Außer Zbischek schauten auch noch andere bei Pjetka vorbei, ein eiliges Wort wurde gewechselt, hin und wieder auch irgendein Gegenstand, und wenn ich auch nie recht sah, worum es sich dabei handelte, so war die Sache doch im Grunde genommen immer völlig klar, ich konnte es ohne weiteres begreifen, selbstverständlich. Wieder andere kamen zu dem einen oder anderen Kranken, eilig huschend, verstohlen, fast schon heimlich. Sie setzten sich für eine Minute zu ihnen ans Bett, legten vielleicht auch noch ein ungeschickt in Papier gewickeltes Päckchen auf die Decke, bescheiden, sich eher noch dafür entschuldigend. Und dann – obwohl ich ihr Geflüster nicht hören konnte, und selbst wenn ich es gehört hätte, doch nicht hätte verstehen können – schienen sie nachzufragen: wie steht es um die Genesung, was gibt es Neues; zu berichten: draußen hingegen, da stehen die Dinge so und so; zu übermitteln: der und der lässt grüßen und fragen, wie das werte Befinden ist; zu versichern: auch die Grüße des Kranken werden bestellt, aber sicher; plötzlich zu merken: na, jetzt ist die Zeit abgelaufen, worauf sie ihm auf Arme und Schultern klopften und zu sagen schienen: keine Sorge, wir kommen bald wieder, und damit huschten sie schon wieder hinaus, hastig, meist auch zufrieden – doch sonst ohne irgendein anderes Ergebnis, ohne einen Vorteil oder greifbaren Nutzen, wie mir schien, und so musste ich denn annehmen, dass sie offenbar allein deswegen gekommen waren, allein wegen dieser paar Worte, wegen nichts anderem, als um diesen ihren Kranken zu sehen. Und dazu zeigte, selbst wenn ich es nicht gewusst hätte, auch ihre Hast deutlich: Offenbar taten sie da etwas Verbotenes, das überhaupt nur dank Pjetkas Nachsicht, nun, und wohl auch unter der Bedingung, dass es so schnell ging, ausführbar war. Ja, ich habe sogar den Verdacht und möchte nach längerer Erfahrung auch rundheraus zu behaupten wagen, dass das Risiko an sich, diese Eigenmächtigkeit, um nicht zu sagen dieser Trotz, irgendwie zu dem Unterfangen dazugehörten – so jedenfalls las ich es auf diesen eilig entschwindenden Gesichtern, aus ihrem schwer bestimmbaren, aber irgendwie von gelungenem Ungehorsam aufgeheiterten Ausdruck, als hätte damit – so kam es mir vor – irgendetwas ein bisschen verändert, aufgebrochen, verfälscht werden können, eine bestimmte Ordnung, die Eintönigkeit des Alltags, ein bisschen vielleicht sogar die Natur selbst, so dachte ich es mir auf jeden Fall. Die seltsamsten Männer aber sah ich am Bett eines Kranken, der ein Stück von mir entfernt, an der gegenüberliegenden Trennwand, lag. Erst am Vormittag hatte ihn Pjetka auf der Schulter hereingebracht und sich danach ziemlich eifrig um ihn bemüht. Ich sah, dass es ein schwerer Fall sein musste, und ich hörte, der Kranke sei Russe. Am Abend dann füllten die Besucher das halbe Zimmer. Ich sah viele R, aber auch andere Buchstaben, Fellmützen und merkwürdige, wattierte Hosen. Männer, die auf der einen Seite Haare, auf der anderen dagegen einen völlig kahlen Kopf hatten. Andere mit gewöhnlichem Haar, das nur in der Mitte, von der Stirn bis in den Nacken von einer langen Bahn, einem Kahlschlag, genau in der Breite einer Haarschneidemaschine, durchzogen war. Jacken mit dem üblichen Flicken, aber auch mit zwei gekreuzten roten Pinselstrichen, solcherart, wie man etwa bei Geschriebenem etwas Unnötiges streicht, einen Buchstaben, eine Zahl, ein Zeichen. Auf anderen Rücken ein weithin sichtbarer, großer roter Kreis und darin ein großer roter Punkt, herausfordernd, verführerisch, in der Art einer Zielscheibe gleichsam signalisierend: Hierauf ist zu schießen, im Fall der Fälle. Da standen sie, trappelten hin und her, berieten sich leise, einer beugte sich herunter, um das Kissen des Kranken zurechtzurücken, ein anderer bemühte sich, wie mir schien, ein Wort, einen Blick von ihm zu erhaschen, und auf einmal sah ich etwas Gelbes zwischen ihnen aufblitzen, irgendwoher kam ein Messer zum Vorschein und mit Pjetkas Hilfe auch ein Metallbecher, dann ein dünnes Plätschern – und wenn ich meinen Augen nicht getraut hatte, so konnte jetzt meine Nase einwandfrei bezeugen, dass das gelbe Ding, das ich gerade gesehen hatte, tatsächlich und unbestreitbar eine Zitrone war. Dann öffnete sich die Tür erneut, und ich war ganz verblüfft, denn da kam der Arzt hereingeeilt, was es noch nie gegeben hatte zu einem so ungewohnten Zeitpunkt. Sie haben ihm sofort Platz gemacht, er hat sich über den Kranken gebeugt und ihn ein bisschen untersucht, ein bisschen an ihm herumgetastet, nur kurz, worauf er dann gleich wieder gegangen ist, und zwar mit einer recht mürrischen, strengen, um nicht zu sagen bissigen Miene, ohne auch nur ein Wort an irgendjemanden zu richten, ohne auch nur jemanden eines Blickes zu würdigen, ja, er schien auch die auf ihn gerichteten Blicke eher meiden zu wollen – mir auf jeden Fall kam das so vor. Bald darauf sah ich, wie die Besucher auf merkwürdige Art still wurden. Der eine oder andere löste sich noch aus der Gruppe, trat ans Bett, beugte sich darüber – dann begannen sie zu gehen, allein, zu zweit, so wie sie gekommen waren. Aber jetzt ein bisschen betretener, ein bisschen gebrochener, ein bisschen müder, und irgendwie hatte auch ich in diesem Augenblick Mitleid mit ihnen, denn ich musste ja sehen: Sie hatten eine wenn auch vielleicht noch so grundlos gehegte Hoffnung, eine wenn auch noch so heimlich genährte Zuversicht endgültig verloren. Etwas später hat Pjetka die Leiche sehr vorsichtig auf die Schulter genommen und sie irgendwohin weggebracht.

Und schließlich war da auch noch das Beispiel meines Helfers. Ich hatte ihn im Waschraum getroffen – denn, nun ja, allmählich konnte ich mir gar nicht mehr vorstellen, dass ich mich woanders waschen könnte als an dem auf- und zudrehbaren Wasserhahn in dem sich am Ende des Flurs zur Linken öffnenden Waschraum, das aber auch hier nicht wegen der Vorschrift, sondern einfach wegen der Schicklichkeit, wie mir allmählich klar wurde; ja, mit der Zeit merkte ich sogar, wie ich es beinahe schon übelnahm, dass der Ort ungeheizt, das Wasser kalt war und ein Handtuch fehlte. Dort befand sich auch die rote, tragbare, einem offenen Schrank ähnelnde Örtlichkeit, deren stets sauberer Behälter weiß Gott von wem gepflegt, ausgetauscht, gereinigt wurde. Bei einer solchen Gelegenheit, als ich gerade beim Gehen war, betrat ein Mann den Raum. Ein schöner Mann, mit zurückgekämmtem, trotzdem ungebärdig in die Stirn fallendem, glattem schwarzem Haar und dem da und dort etwas grünlich schattierten Gesicht schwarzhaariger Menschen; in Anbetracht seines schon vollen Mannesalters, seines gepflegten Äußeren und des schneeweißen Mantels hätte ich ihn für einen Arzt gehalten, wenn die Aufschrift auf seiner Armbinde mich nicht darüber belehrt hätte, dass er nur Pfleger war, während das T in seinem roten Dreieck ihn als Tschechen auswies. Er stutzte und schien von meinem Anblick etwas überrascht, ja sogar ein bisschen betroffen, nach der Art, wie er mein Gesicht, meinen aus dem Hemd herausragenden Hals, mein Brustbein und meine Beine betrachtete. Er fragte auch gleich etwas, und ich antwortete, wie ich es aus den polnischen Gesprächen aufgeschnappt hatte: «Nje rosumjem.» Daraufhin erkundigte er sich auf Deutsch, wer ich sei, woher ich komme. Ich sagte «Ungar», hier aus Saal sechs. Worauf er, zur Verdeutlichung auch noch seinen Zeigefinger benutzend, sagte: «Du: warten hier. Ik: wek. Ein Moment zurück. Verstehn?» Ich sagte: «Verstehen.» Er ging weg, kam zurück, und auf einmal hatte ich ein viertel Brot und eine kleine, hübsche Konservendose mit schon hochgebogenem Deckel in der Hand, eine Dose mit noch unberührtem, haschiertem rosarotem Fleisch. Ich blickte auf, um mich zu bedanken – doch da konnte ich nur noch sehen, wie die Tür hinter ihm zuging. Als ich dann wieder im Zimmer war und versuchte, Pjetka von dem Mann zu berichten, mit ein paar Worten auch sein Äußeres zu beschreiben, wusste er sofort, dass es der Pfleger vom Zimmer neben uns, von Saal sieben, sein musste. Er hat auch seinen Namen genannt. Ich verstand Ba-usch, obgleich er wohl eher Bohusch gesagt haben musste, wie ich mir dann überlegte. So habe ich es später auch von meinem Nachbarn gehört – denn zwischendurch lösten sich die Kranken in unserem Zimmer ab, alte gingen, neue kamen. Auch in das Bett über mir brachte Pjetka, nachdem er noch am ersten Nachmittag jemanden hinausgetragen hatte, bald einen neuen, mir im Alter und – wie ich später erfuhr – auch rassenmäßig entsprechenden, aber Polnisch sprechenden Jungen, dessen Namen ich als Ku-halski oder Ku-harski verstand, wenn Pjetka oder Zbischek ihn nannten, wobei sie ihn immer so aussprachen, dass das «harski» herausgehoben, betont wurde; hin und wieder scherzten sie mit ihm, und vielleicht neckten, ja, ärgerten sie ihn auch, denn er war oft wütend, wie zumindest sein schnelles Mundwerk deutlich machte, der gereizte Tonfall seiner schon voller werdenden Stimme und sein unablässiges Herumzappeln, bei dem dann durch die Querlatten immer ein Regen von Strohhalmen auf mein Gesicht herunterkam – das alles, wie ich sehen konnte, zum größten Vergnügen eines jeden Polen im Zimmer. Neben mich, in das Bett des ungarischen Kranken, kam auch jemand, auch wieder ein Junge, was für einer es war, konnte ich zunächst nicht so recht ausmachen. Er konnte sich zwar mit Pjetka gut verständigen, und doch schien sein Polnisch meinem allmählich schon geübten Ohr nicht ganz geheuer. Wenn ich ihn ungarisch anredete, antwortete er nicht, wobei er mir aber mit seinem wieder nachwachsenden roten Haar, seinem ziemlich vollen, recht ansehnlichen sommersprossigen Gesicht, den alles rasch erfassenden, sich sofort zurechtfindenden blauen Augen gleich irgendwie verdächtig vorkam. Während er sich niederließ, sich einrichtete, bemerkte ich an der Innenseite seines Handgelenks blaue Zeichen, die Auschwitzer Nummerierung, eine Zahl in den Millionen. Erst als eines Vormittags ganz plötzlich die Tür aufging und Bohusch hereinkam, um mir, wie er es ein-, zweimal in der Woche zu tun pflegte, die aus Brot und Fleischkonserve bestehende Gabe auf die Decke zu legen, wonach er, für einen Dank keine Zeit lassend und auch Pjetka nur kurz zunickend, schon wieder draußen war: Da erst hat sich herausgestellt, dass der Rothaarige doch Ungarisch konnte, und zwar mindestens ebenso gut wie ich, denn er hat sofort gefragt: «Wer war das?» Ich habe gesagt, soviel ich wisse, sei es der Pfleger aus dem Nebenzimmer, ein gewisser Ba-usch, und da hat er mich korrigiert: «Bohusch vielleicht», denn das sei, behauptete er, ein sehr verbreiteter Name in der Tschechoslowakei, woher übrigens auch er käme. Ich erkundigte mich, wieso er denn bisher kein Ungarisch verstanden habe, und er sagte, weil er die Ungarn überhaupt nicht möge. Ich musste zugeben, dass er da recht hatte und dass ich im Großen und Ganzen auch nicht viel Anlass fand, sie zu mögen. Daraufhin schlug er vor, wir sollten in der Sprache der Juden sprechen, doch da musste ich eben zugeben, dass ich sie nicht verstand, und so sind wir schließlich doch beim Ungarischen geblieben. Er nannte auch seinen Namen: Luis oder vielleicht Lojis, ich verstand es nicht ganz. Ich bemerkte dann: «Also Lajos», wogegen er sich aber sehr wehrte, denn das sei Ungarisch, er aber sei Tscheche und bestehe auf dem Unterschied: Lois. Ich fragte ihn, wieso er so viele Sprachen spreche, und da erzählte er, er stamme eigentlich aus dem Oberland, von wo sie vor den Ungarn, wie er sagte: «vor der ungarischen Besetzung», geflohen seien, die ganze Familie samt Verwandten und zahlreichen Bekannten, und tatsächlich, da kam mir wieder ein Tag in den Sinn, ein ferner, ferner Tag, noch zu Hause, als Fahnenschmuck, Musik und seit dem Morgen andauernde Feierlichkeiten der Freude kundgaben, dass das Oberland wieder ungarisch war. Ins Konzentrationslager war er aus einem Ort gekommen, der – wenn ich es recht verstand – «Teresin» heißt. Er bemerkte: «Du kennst es bestimmt als Theresienstadt.» Ich sagte nein, überhaupt nicht, weder so noch so, ich kenne es einfach nicht, worüber er sehr verwundert war, aber in einer Weise, wie ich mich etwa über die wundern würde, die noch nie etwas vom Zollhaus in Csepel gehört haben. Daraufhin hat er mich aufgeklärt: «Das ist das Ghetto von Prag.» Wie er behauptete, konnte er sich außer mit den Ungarn und den Tschechen, na, und dann den Juden und den Deutschen auch noch mit den Slowaken, den Polen, den Ukrainern, ja, wenn es sein muss, sogar auch noch mit den Russen unterhalten. Am Ende schlossen wir regelrecht Freundschaft, und da er neugierig darauf war, erzählte ich ihm, wie ich Bohusch kennengelernt hatte, und dann berichtete ich ihm auch noch von meinen ersten Erlebnissen, Eindrücken, von den Gedanken, die ich am ersten Tag bezüglich des Zimmers gehabt hatte, was er so interessant fand, dass er es auch Pjetka übersetzte, der mich ganz schön ausgelacht hat; ebenso übersetzte er ihm, wie ich wegen der Sache mit dem ungarischen Kranken erschrocken gewesen war, und gab mir Pjetkas Antwort weiter, nämlich dass der Tod des Kranken seit Tagen erwartet worden und aus reinem Zufall gerade da eingetreten war, und noch vieles andere mehr, und mir war nur ein wenig peinlich, dass er jeden seiner Sätze mit «ten matjar», also «dieser Ungar», begann, auf diese Art leitete er offensichtlich jeweils das ein, was er weitersagte – wobei dieser Sprachgebrauch Pjetkas Aufmerksamkeit zum Glück irgendwie entging, wie mir schien. Mir fiel dann auf, ohne dass ich mir dabei etwas dachte, ohne dass ich etwas daraus folgerte, wie auffällig oft und lange er draußen etwas zu erledigen hatte, und erst als er einmal mit Brot und Konservendose: Sachen, die offensichtlich von Bohusch stammten, ins Zimmer zurückkam, war ich einigermaßen überrascht – übrigens unvernünftigerweise, versteht sich, das musste ich zugeben. Wie er sagte, war auch er zufällig im Waschraum mit ihm zusammengetroffen, genauso wie ich. Und auch er sei von ihm angesprochen worden, genau wie ich, und auch der Rest habe sich ganz genauso abgespielt wie bei mir. Den Unterschied hatte es immerhin gegeben, dass er mit ihm sprechen konnte, und da habe sich herausgestellt, dass sie aus der gleichen Heimat stammten, worüber sich Bohusch sehr, sehr gefreut habe, was schließlich nur natürlich sei, so meinte er, und das sah auch ich ein, in der Tat. Das alles fand ich – wenn ich es mit Vernunft betrachtete – durchaus klar, verständlich und einsehbar, und ich hatte die gleiche Einstellung dazu, die offensichtlich auch er hatte, wie zumindest aus dem letzten kurzen Zusatz: «Sei mir nicht böse, dass ich dir deinen Mann weggenommen habe», hervorging; das heißt, dass nun also ihm zukäme, was bisher mir zugekommen war, und ich würde jetzt zuschauen dürfen, während er schmauste, so wie er vorher mir zugeschaut hatte. Umso mehr staunte ich, als kaum eine Minute später die Tür aufging und Bohusch hereingeeilt kam, und zwar geradewegs zu mir. Von da an galt sein Besuch immer uns beiden. Einmal brachte er zwei Portionen, einmal bloß eine – je nachdem, wozu es reichte, denke ich, wobei er in letzterem Fall nie vergaß, mit einer Handbewegung das brüderliche Teilen zu verfügen. Nach wie vor war er jedes Mal in Eile, nach wie vor vergeudete er keine Zeit mit Worten, seine Miene war nach wie vor stets geschäftig, manchmal besorgt, ja, hin und wieder wütend, fast schon erbost, so wie jemand, der nunmehr die Last einer doppelten Sorge hat, dem eine doppelte Verpflichtung auf den Schultern liegt, der aber nichts anderes tun kann, als das zu tragen, was ihm aufgebürdet ist – und ich dachte mir, der Grund dafür kann eigentlich nur sein, dass er selbst seine Freude daran findet, weil er das, wie es scheint, in einem gewissen Sinn nötig hat, es war seine Methode, um es so zu sagen; einen anderen Grund konnte ich, insbesondere in Anbetracht der Nachfrage nach einer so raren Ware und ihres entsprechenden Preises, in keiner Weise finden, wie immer ich es auch drehte, wendete, erwog. Das war der Augenblick, in dem ich, glaube ich, diese Menschen begriff, so im Großen und Ganzen zumindest. Denn wenn ich meine ganze Erfahrung zu Hilfe nahm, alle Zusammenhänge herstellte, ja, dann blieb kein Zweifel mehr, dann erkannte ich ihn, wenn er sich auch in einer anderen Form zeigte, letztlich war es ein und dasselbe Mittel: Eigensinn – freilich unbestreitbar eine recht ausgefeilte, die nach meinem bisherigen Wissen erfolgreichste, nun, und vor allem die für mich nützlichste Form von Eigensinn, ganz ohne Zweifel.

Ich kann sagen, mit der Zeit gewöhnt man sich auch an Wunder. Allmählich konnte ich schon zu Fuß zur Behandlung gehen – falls der Arzt das am Morgen zufällig verfügte –, einfach so, barfuß, über das Hemd eine Decke gewickelt, und in der beißenden Luft entdeckte ich unter den vielen vertrauten Gerüchen einen neuen Hauch: den des aufkeimenden Frühlings, er musste es sein, wenn ich bedachte, dass die Zeit ja weiterging. Auf dem Rückweg sah ich flüchtig, wie aus der grauen Baracke jenseits unserer Drahthecke gerade so etwas, wie ein größerer, gummibereifter Anhänger, wohl der eines Lastwagens, von ein paar Sträflingen herausgezogen, herausgeschleppt wurde, und in der vollen Ladung erblickte ich gelbe Gliedmaßen, die erfroren herausragten, verdorrte Körperteile: Ich zog die Decke enger zusammen, um mich ja nicht irgendwie zu erkälten, und bemühte mich, so schnell wie möglich in mein warmes Zimmer zurückzuhumpeln, mir anstandshalber noch ein wenig die Füße zu putzen und dann schleunigst unter der Decke zu verschwinden, mich in mein Bett zu kuscheln. Da unterhielt ich mich dann ein bisschen mit meinem Nachbarn, solange er noch da war (denn nach einer gewissen Zeit ist er gegangen, «nach Hause», und ein älterer polnischer Mann hat seinen Platz eingenommen), schaute mir ein bisschen an, was es zu sehen gab, hörte mir die aus dem Lautsprecher ertönenden Befehle an, und ich kann sagen: Allein schon mit ihrer Hilfe, nun, und dann mit Hilfe von etwas Phantasie konnte ich hier vom Bett aus einen völligen Überblick gewinnen, konnte verfolgen, gewissermaßen herbeibeschwören, was sich im Lager alles ereignete, seine ganzen Farben, Gerüche, seinen Geschmack, das ganze Kommen und Gehen, die kleineren und größeren Geschehnisse von der ersten Morgenröte bis zum späten Feierabend und manchmal noch darüber hinaus. So etwa ertönt das «Friseure zum Bad, Friseure zum Bad» mehrmals täglich, und das immer öfter, und die Sache ist klar: Ein neuer Transport ist eingetroffen. Dazu kommt ebenso oft «Leichenkommando zum Tor»; und wenn da noch um Nachschub gebeten wird, so kann ich auf den Bestand, die Beschaffenheit dieses Transports schließen. Ich habe erfahren können, dass bei solcher Gelegenheit auch die «Effekten», das heißt die Arbeiter im Kleidermagazin, zu den Garderoben zu eilen haben, und zwar zuweilen «im Laufschritt». Wenn jedoch zwei oder vier «Leichenträger» verlangt werden, sagen wir «mit einem» oder «mit zwei Tragbetten sofort zum Tor!», so kann man gewiss sein, dass diesmal irgendwo ein besonderes Unglück passiert ist, bei der Arbeit, beim Verhör, im Keller, auf dem Dachboden, wer weiß, wo. Ich habe erfahren, dass das «Kartoffelschäler-Kommando» nicht nur tagsüber arbeitet, sondern auch eine «Nachtschicht» hat, und noch vieles andere mehr. Doch jeden Nachmittag ertönte immer um die gleiche Stunde eine rätselhafte Botschaft: «Ellä zwo, Ellä zwo, aufmarschieren lassen!» – und darüber habe ich mir anfänglich viel den Kopf zerbrochen. Dabei war es leicht, aber es brauchte seine Zeit, bis ich aufgrund der irgendwie feierlichen großen Stille, die darauf folgte, aufgrund der Befehle «Mützen ab!», «Mützen auf!», aufgrund der dünn zirpenden Musik, die hin und wieder auch zu hören war, das Rätsel lösen konnte: Draußen steht also das Lager beim Appell, «Ellä» heißt ganz offensichtlich L. Ä., also Lagerältester, und das «zwo» bedeutet demnach, dass in Buchenwald zwei Lagerälteste im Amt sind, ein erster und ein zweiter – kein Wunder, wenn ich es bedenke, in einem Lager, wo inzwischen längst die Neunzigtausender-Nummer ausgehändigt worden ist, wie es heißt. Dann wird es allmählich auch in unserem Zimmer still, auch Zbischek ist schon gegangen, falls sein Besuch fällig gewesen ist, und Pjetka wirft noch einen letzten Blick in die Runde, bevor er mit dem gewohnten «dobra noc» das Licht löscht. Da suche ich mir die bequemste Lage, die mein Bett bieten kann und meine Wunden erlauben, ziehe mir die Decke über die Ohren, und schon übermannt mich sorgloser Schlaf: Nein, mehr kann ich mir nicht wünschen, zu mehr kann ich es – das muss ich zugeben – in einem Konzentrationslager nicht bringen.

Zwei Dinge nur erfüllen mich mit Besorgnis. Das eine sind meine Wunden: Sie sind da, niemand kann das bestreiten, ringsum noch feuerrot, das Fleisch noch roh, doch ganz außen bildet sich schon ein dünnes Häutchen, da und dort bräunlicher Schorf, der Arzt stopft sie nicht mehr mit Gaze aus, lässt mich auch kaum noch zur Behandlung holen, und wenn doch, dann sind wir in beunruhigend kurzer Zeit fertig, und seine Miene ist dabei beunruhigend zufrieden. Das andere ist ein im Grunde sehr erfreuliches Ereignis, zweifellos, das kann ich nicht bestreiten. Wenn zum Beispiel Pjetka und Zbischek plötzlich, mit gespannter Miene in die Ferne horchend, ihren Meinungsaustausch unterbrechen und mit erhobenem Zeigefinger auch von uns Ruhe verlangen, dann vernimmt auch mein Ohr ein dumpfes Grollen, dazu hin und wieder abgehackte, fernem Hundegebell ähnliche Töne, in der Tat. Auch drüben, wo ich jenseits der Trennwand das Zimmer von Bohusch vermute, geht es neuerdings sehr lebhaft zu, den Stimmen nach zu urteilen, die noch lange nach Lichtlöschen herüberdringen. Der wiederholte Sirenenklang ist jetzt schon üblicher Bestandteil des Tages, und es ist etwas Gewohntes, dass ich nachts erwache, weil die Sprechanlage verfügt: «Krematorium ausmachen!», dann eine Minute später, aber jetzt schon gereizt schnarrend: «Khematohium! Sofoht ausmachn!» – was mir sagt: Es ist keineswegs erwünscht, dass der ungelegene Feuerschein womöglich die Flugzeuge anlockt. Wann die Friseure schlafen, weiß ich auch nicht, wie ich höre, kann man neuerdings zwei, drei Tage lang nackt vor dem Bad herumstehen, bis man als Neuankömmling an die Reihe kommt, und auch das Leichenkommando hat – so höre ich – ununterbrochen alle Hände voll zu tun. In unserem Zimmer ist kein Bett mehr frei, und außer den üblichen Geschwüren und aufgeschnittenen Wunden habe ich kürzlich, dank eines ungarischen Jungen, der eines der gegenüberliegenden Betten belegt hat, zum ersten Mal auch von einer Wunde gehört, die ein Gewehrschuss verursacht hat. Er hat sie sich während eines mehrtägigen Fußmarsches zugezogen, auf dem Weg von einem Lager auf dem Lande, das «Ohrdruf» heißt, wenn ich es richtig verstanden habe, und im Großen und Ganzen, wie ich seinem Bericht entnommen habe, Zeitz ähnelt: Sie waren die ganze Zeit vor dem Feind, das heißt der amerikanischen Armee geflohen, und die Kugel hatte dem Mann neben ihm gegolten, der ermüdet aus der Reihe taumelte, aber sie hatte eben auch den Jungen am Bein erwischt. Ein Glück, hat er hinzugefügt, dass sie wenigstens keinen Knochen getroffen hat, und ich dachte: Na, bei mir zum Beispiel würde das anders ablaufen. Mein Bein hätte die Kugel überall treffen können und immer nur Knochen erwischt, das steht fest, daran ist nicht zu rütteln. Es hat sich dann auch herausgestellt, dass er überhaupt erst seit dem Herbst im Konzentrationslager ist, seine Nummer beläuft sich auf achtzigtausend und noch etwas – nicht gerade vornehm, hier, in diesem Zimmer. – Kurzum: Von einer sich nahenden Änderung, von Unbequemlichkeiten, Durcheinander, Umsturz, Mühsal und Sorge erfahre ich neuerdings allerseits. Einmal geht Pjetka von Bett zu Bett, in der Hand einen Bogen Papier, und fragt jeden von uns, ob er «laufen» könne. Ich sage: «Nje, nje, ich kann nicht.» – «Tak, tak», sagt er, «du kannst», und damit schreibt er meinen Namen auf, ebenso übrigens wie die Namen aller anderen im Zimmer, sogar Kuharskis, obwohl dessen geschwollene Beine, wie ich einmal im Behandlungszimmer sah, übersät sind mit parallelen, offenen Mündern gleichenden Schnitten. An einem anderen Abend hingegen – ich kaue gerade an meinem Brot herum – höre ich aus dem Radio: «Alle Juden im Lager sofort antreten!», und das mit einer so fürchterlichen Stimme, dass ich mich im Bett gleich aufrichte. «Co to robisch?», fragt Pjetka, mit neugieriger Miene. Ich zeige auf den Apparat, aber er lächelt nur in seiner gewohnten Art und bedeutet mit beiden Händen: zurück, keine Eile, wozu diese Aufregung, diese Hast? Doch der Lautsprecher tönt, knattert, redet den ganzen Abend: «Lagerschutz», sagt er, womit er die knüppelbewehrten Exzellenzen dieses Kommandos zur sofortigen Arbeit ruft, und auch mit diesen ist er, wie es scheint, nicht ganz zufrieden, denn bald darauf bittet er – und ich kann es nicht ohne Schaudern hören – den Lagerältesten und den Kapo des Lagerschutzes, das heißt unter den Mächtigen des Lagers geradewegs die beiden denkbar Mächtigsten, zum Tor, «aber im Laufschritt!». Andere Male ist der Apparat voller Fragen, voller Vorwürfe: «Lagerältester! Aufmarschieren lassen! Lagerältester! Wo sind die Juden?!», forscht, ruft, befiehlt, knistert und knattert der Kasten in einem fort, und Pjetka winkt bloß wütend ab und sagt zu ihm: «Kurwa jego match!» Und da überlasse ich die Sache eben ihm, denn er muss es ja schließlich wissen, und bleibe ruhig weiter liegen. Doch wenn es mir an diesem Abend noch nicht gepasst hat, am nächsten Tag gibt es offenbar kein Pardon mehr: «Lagerältester! Das ganze Lager: antreten!», und kurz darauf zeigen Motorengeheul, Hundegebell, das Knallen von Schüssen, das Klatschen von Stöcken, das Klappern rennender Füße und gleich darauf das schwere Getrampel von Stiefeln, dass schließlich und endlich – wenn es so gewünscht wird – auch die Soldaten die Dinge in die Hand nehmen können und dass Ungehorsam eben solche Früchte trägt, bis es dann auf einmal – auf welche Art immer – ganz still wird. Dann aber taucht plötzlich vollkommen unerwartet der Arzt auf, nachdem seine Visite, als wäre draußen überhaupt nichts los, wie üblich am Morgen stattgefunden hat. Jetzt aber ist er nicht so kühl, nicht so gepflegt wie üblich: Sein Gesicht ist zerknittert, sein nicht ganz einwandfreier Mantel ist von rostfarbenen Flecken verunziert, er lässt den schweren Blick seiner blutunterlaufenen Augen in die Runde schweifen: offensichtlich sucht er ein leeres Bett, kein Zweifel: «Wo ist der», sagt er zu Pjetka, «der mit dieser kleinen Wunde hier?!», seine Hand beschreibt mit einer unbestimmten Bewegung so ungefähr die Gegend von Hüfte und Oberschenkel, während sein forschender Blick kurz bei jedem Gesicht, so auch bei meinem hält, und ich würde bezweifeln, dass er mich nicht erkannt hat, auch wenn er sich zufällig gleich wieder abwendet, um erneut Pjetka anzuschauen, wartend, drängend, fordernd, ihn gewissermaßen zu einer Antwort verpflichtend. Ich sage nichts, bin aber innerlich schon bereit, aufzustehen, etwas anzuziehen und hinauszugehen, irgendwohin mitten im Durcheinander: Doch da sehe ich zu meinem größten Erstaunen, dass Pjetka – wie zumindest seine Miene anzeigt – keine Ahnung hat, wen der Arzt da wohl meinen könnte, und dann, nach kurzer Ratlosigkeit plötzlich erleuchtet, als sei er nun doch darauf gekommen, «Ach ja» sagt, den Arm ausstreckt und auf den Jungen mit dem Gewehrschuss zeigt, womit auch der Arzt sofort einverstanden ist und sich gleichsam auch aufzuhellen scheint, so als habe man sein Problem sofort richtig erkannt und endlich gelöst, in der Tat. «Der geht sofort nach Hause», verfügt er unverzüglich, und da kommt es zu einem sehr seltsamen, ungewohnten, ich könnte sagen ungehörigen Vorfall, wie ich ihn in unserem Zimmer noch nie gesehen habe und den ich dann auch ohne ein gewisses Unbehagen, ein gewisses Erröten überhaupt nicht mit ansehen kann. Der Junge mit dem Gewehrschuss nämlich faltet, nachdem er aufgestanden ist, zuerst nur die Hände vor dem Arzt, so als wolle er beten, und als der Arzt daraufhin verblüfft und für einen Augenblick verständnislos zurückweicht, lässt er sich geradewegs vor ihm auf die Knie fallen, greift mit beiden Händen nach ihm, fasst und umklammert seine Beine; darauf nehme ich nur noch wahr, wie die Hand des Arztes aufblitzt, und danach den mächtigen Knall der Ohrfeige, verstehe aber nur, dass er aufgebracht ist, nicht aber, was er sagt; darauf stößt er das Hindernis mit dem Knie aus dem Weg und eilt hinaus, das Gesicht aufgewühlt und noch stärker blutunterlaufen als sonst. In das leer gewordene Bett ist dann ein neuer Kranker gekommen, wieder ein Junge – der mir schon wohlbekannte stumpfe, harte Verband zeugt davon, dass am Ende seiner Füße keine einzige Zehe mehr ist –, und als Pjetka dann bei mir vorbeigekommen ist, habe ich leise, unter uns, zu ihm gesagt: «Djinkuje, Pjetka.» Er aber hat gefragt: «Was?», und auch als ich beharre: «Aber vorhin, eben …», hat er ein völlig verständnisloses, ahnungsloses Gesicht gemacht und erstaunt und ratlos den Kopf geschüttelt, sodass ich mir sagen muss, dass diesmal wohl ich eine Ungehörigkeit begangen habe und man gewisse Dinge offenbar mit sich allein abzumachen hat, wie es scheint. Aber ja nun, schließlich hatte sich alles nach den Regeln der Gerechtigkeit abgespielt – zumindest war das meine Meinung –, denn ich war ja vor dem Jungen da gewesen, und dann war er auch besser bei Kräften, und so bestand kein Zweifel, dass er da draußen mehr Chancen hatte; und außerdem fiel es mir offensichtlich leichter, mich in das Unglück eines anderen zu schicken als in das eigene: Diesen Schluss zu ziehen, diese Lehre anzunehmen blieb mir, wie immer ich es sehen, abwägen, umkreisen mochte, nicht erspart. Vor allem aber: Was sind schon solche Sorgen, wenn geschossen wird – denn zwei Tage später klirrte bei uns die Fensterscheibe, bohrte sich eine verirrte Kugel in die gegenüberliegende Wand. Des weiteren geschah es an diesem Tag, dass Pjetka, nachdem andauernd verdächtige Leute auf ein eiliges Wort zu ihm hereingeschaut hatten und er oft, manchmal auch länger, irgendwo verschwunden gewesen war, gegen Abend mit irgendeinem länglichen Bündel unter dem Arm im Zimmer wiederauftauchte. Ein Laken, dachte ich – aber nein, da war auch ein Stiel, also eine weiße Fahne, so schien mir, und mitten darin, gut eingewickelt, guckte so eine Spitze, ein Ende hervor, das ich in den Händen von Gefangenen bisher noch nie gesehen hatte, etwas, wodurch das ganze Zimmer in Bewegung, in ein Zischen, ein Aufstöhnen geriet, ein Gegenstand, den uns Pjetka – bevor er ihn unter seinem Bett versorgte – einen flüchtigen Augenblick lang sehen ließ, aber mit einem Lächeln, das Ding mit einer Bewegung an die Brust pressend, dass ich mich auch schon fast fühlte wie unter dem Weihnachtsbaum und endlich im Besitz des langersehnten kostbaren Geschenks: ein braunes Teil aus Holz und daraus hervorragend ein bläulich schimmerndes kurzes Stahlrohr, ein Karabiner mit abgesägtem Lauf, so fiel mir plötzlich auch die Bezeichnung ein, die ich einst in meinen von Räubern und Detektiven handelnden Lieblingsbüchern gelesen hatte.

Auch der folgende Tag versprach aufregend zu werden – aber wer vermöchte schon jeden einzelnen Tag mit all seinen Ereignissen gegenwärtig zu halten. Auf jeden Fall kann ich berichten, die Küche funktionierte bis zuletzt ordnungsgemäß, und auch der Arzt war zumeist pünktlich. Eines Morgens dann, nicht lange nach dem Kaffee, eilige Schritte im Flur, ein schmetternder Ruf, so etwas wie eine Losung, worauf Pjetka schleunigst sein Paket aus seinem Versteck hervorholte, es sich unter den Arm klemmte und verschwand. Bald darauf, etwa gegen neun Uhr, hörte ich, wie sich der Kasten zum ersten Mal nicht an die Gefangenen, sondern an die Soldaten wandte: «An alle SS-Angehörigen», und zwar gleich zweimal hintereinander: «Das Lager ist sofort zu verlassen!» Darauf hörte ich näher kommenden, sich entfernenden, eine Zeit lang mir gleichsam um die Ohren sausenden, dann allmählich abebbenden Gefechtslärm, worauf es still wurde – allzu still, denn umsonst wartete, lauschte, lauerte und horchte ich: Weder zur gewohnten Zeit noch danach gelang es mir, das – doch schon längst fällige – Geklapper, die dazugehörigen Rufe der Suppenträger auszumachen. Es war ungefähr gegen vier Uhr nachmittags, als der Kasten endlich knackte und uns nach einem kurzen Knistern und etlichen Blasgeräuschen mitteilte, hier sei der Lagerälteste, hier spreche der Lagerälteste. «Kameraden», sagte er, hörbar mit einem Gefühl kämpfend, das ihn in der Kehle würgte, was seine Stimme einmal abbrechen, dann wieder zu scharf werden, beinahe schon in ein Pfeifen übergehen ließ, «wir sind frei!», und ich dachte daran, dass also in diesem Punkt der Lagerälteste die gleiche Einstellung haben musste wie Pjetka, Bohusch, der Arzt und andere Gleichgesinnte, dass er anscheinend mit ihnen unter einer Decke steckte, um es so zu sagen, wenn er das Ereignis nun in dieser Weise und auch noch mit so offensichtlicher Freude verkünden konnte. Dann hat er eine kurze, hübsche Rede gehalten, und nach ihm kamen noch andere, redeten in verschiedensten Sprachen: «Attention, attention!» hörte ich zum Beispiel auf Französisch; «Posor, posor!», auf Tschechisch, glaube ich; «Njimanje, njimanje, ruski to warischtschi, njimanje!», und der melodische Tonfall beschwor für mich mit einemmal eine liebe Erinnerung herauf, denn es war die Sprache, die damals bei meiner Ankunft hier die Leute des Badekommandos gesprochen hatten; «Uwaga, uwaga!», worauf sich der polnische Kranke neben mir sogleich erregt in seinem Bett aufsetzte und uns alle anherrschte: «Tschicha bendsch! Teras polski kommunjiki!», und erst da fiel mir wieder ein, wie nervös er diesen ganzen Tag über gewesen war und wie er sich eins zusammengehaspelt und zusammengezappelt hatte; und dann, zu meiner größten Verblüffung, auf einmal: «Figyelem, figyelem! … Das ungarische Lagerkomitee …», und ich dachte: Nun, sieh an, das hätte ich auch nicht geglaubt, dass es so etwas gibt. Aber ich konnte noch so achtgeben, auch bei ihnen war, wie bei allen anderen vorher, nur von Freiheit die Rede und keine Andeutung, kein Wort von der noch ausstehenden Suppe. Auch ich war, natürlich, äußerst erfreut, dass wir frei waren, aber ich konnte halt nichts dafür, ich musste andererseits einfach denken: Gestern hätte so etwas zum Beispiel noch nicht vorkommen können. Draußen war der Aprilabend schon dunkel, auch Pjetka war wieder da, erhitzt, aufgewühlt, voll von unverständlichen Worten, als sich der Lagerälteste endlich über den Lautsprecher wieder meldete. Diesmal wandte er sich an die ehemaligen Mitglieder des Kartoffelschäler-Kommandos und bat sie, so freundlich zu sein und ihre alten Plätze in der Küche wieder einzunehmen, die anderen Bewohner des Lagers hingegen ersuchte er, wach zu bleiben, und wenn es sein müsse, bis Mitternacht, denn man sei im Begriff, sich an die Zubereitung einer kräftigen Gulaschsuppe zu machen: Da erst sank ich erleichtert auf mein Kissen zurück, da erst löste sich langsam etwas in mir, da erst dachte auch ich – wohl zum ersten Mal ernstlicher – an die Freiheit.

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