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Es gibt wohl keinen neuen Gefangenen, meine ich, der sich nicht zu Anfang ein wenig über diese Situation wunderte: So haben wir Jungen uns auf dem Hof, auf dem wir nach dem Bad endlich anlangten, zunächst noch lange gegenseitig betrachtet, angestaunt und hin und her gedreht. Dabei wurde ich auf einen anscheinend noch jungen Mann in meiner Nähe aufmerksam, der seine ganze Kleidung lange versunken und doch auch irgendwie zaghaft abtastete, als wollte er sich nur von der Qualität des Stoffes, gewissermaßen von seiner Echtheit überzeugen. Dann sah er auf, als wollte er gerade zu einer Bemerkung ansetzen, doch dann, als er um sich herum auf einmal nur noch solche Bekleidung erblickte, sagte er doch nichts – so war zumindest in dem Augenblick mein möglicherweise natürlich auch falscher Eindruck. Auch so, wie er jetzt war, kahlgeschoren und in einem wegen seines hohen Wuchses etwas zu kurzen Sträflingsanzug, erkannte ich ihn an seinem knochigen Gesicht als den Verliebten, der ungefähr eine Stunde zuvor – denn so viel Zeit mochte von unserer Ankunft bis zu unserer Verwandlung vergangen sein – das schwarzhaarige Mädchen nur unter solchen Schwierigkeiten losgelassen hatte. Etwas bereute ich hier aber sehr. Ich hatte zu Hause einmal aufs Geratewohl ein Buch vom Regal genommen, das, wie ich mich erinnere, etwas versteckt war und wer weiß wie lange schon ungelesen dort verstaubte. Es war von einem Gefangenen geschrieben, und ich hatte es dann nicht zu Ende gelesen, weil ich seinen Gedanken nicht so recht folgen konnte, und dann auch, weil die Personen schrecklich lange Namen hatten, meist sogar drei, die man sich nicht merken konnte, und schließlich, weil es mich überhaupt nicht interessierte, nun ja, und dann auch, weil mich vor dem Leben der Gefangenen ein bisschen schauderte: Auf diese Weise war ich für den Bedarfsfall unvorbereitet geblieben. Ich habe mir von dem Ganzen nur gemerkt, dass der Gefangene, der das Buch geschrieben hat, sich angeblich an die erste, von ihm also weiter weg liegende Zeit der Gefangenschaft besser erinnern konnte als an die späteren, dem Zeitpunkt des Schreibens näher liegenden Tage. Das hielt ich damals für ein wenig zweifelhaft, sozusagen für eine Erfindung. Nun, ich glaube, er hat doch die Wahrheit geschrieben – auch ich erinnere mich nämlich am besten an den ersten Tag, tatsächlich, wenn ich’s bedenke, genauer als an die folgenden. Zuerst fühlte ich mich irgendwie als Gast in der Gefangenschaft – was ja leicht erklärlich ist und im Grunde genommen der trügerischen Gewohnheit von uns allen, ja im Grunde der menschlichen Natur überhaupt entspricht, wie ich glaube. Der Hof, dieser grell von der Sonne beschienene Platz, wirkte ein wenig kahl, von Fußballplatz, Gemüsegarten, Rasen oder Blumen sah ich hier keine Spur. Alles in allem stand da nur ein schmuckloses, von außen an einen großen Schuppen erinnerndes Holzgebäude: offensichtlich unser Zuhause. Es zu betreten – so erfuhr ich – würde uns erst zur Zeit der Nachtruhe möglich sein. Davor und dahinter eine lange Reihe ähnlicher Schuppen, bis an den Horizont, und auf der linken Seite noch einmal genau die gleiche Reihe, immer mit regelmäßigen Abständen und Zwischenräumen vorn, hinten und an den Seiten. Dahinter die breite, blendende Landstraße – oder eben wieder eine solche Straße, denn auf dem Weg vom Bad hierher waren Straßen, Plätze und die gleichförmigen Gebäude in diesem ungeheuren, überall flachen Gelände nicht mehr im Einzelnen auseinanderzuhalten gewesen, zumindest für meine Augen nicht. Dort, wo sich diese Ausfallstraße mit der zwischen den Schuppen verlaufenden Straße kreuzen musste, hinderte eine spielzeugartige, sehr hübsche rot-weiße Schranke am Weitergehen. Auf der rechten Seite hingegen der schon wohlbekannte stachelige Zaun, der, wie ich zu meiner Überraschung vernahm, mit elektrischem Strom geladen war, und tatsächlich, erst da entdeckte ich an den Betonpfeilern die vielen Porzellanhütchen, solche wie zu Hause an den elektrischen Leitungen oder Telegrafenmasten. Der elektrische Schlag – so wurde versichert – sei tödlich: Im Übrigen genüge es schon, wenn wir den losen Sand des schmalen, am Zaun entlanglaufenden Pfades beträten, um vom Wachtturm aus (sie zeigten darauf, und ich habe darin auch gleich erkannt, was ich von der Station aus für Hochsitze gehalten hatte) ohne jegliche Warnung erschossen zu werden – so warnten uns von allen Seiten eifrig und wichtigtuerisch diejenigen, die sich bereits informiert hatten. Schon bald ist dann die Freiwilligen-Truppe eingetroffen, mit großem Geklapper, unter dem Gewicht der ziegelroten Behälter fast zusammenbrechend. Davor war nämlich das Gerücht aufgekommen und sofort auf dem ganzen Hof aufgegriffen und des Langen und Breiten erörtert und verbreitet worden: «Bald gibt es eine warme Suppe!» Ohne Frage, auch ich fand es an der Zeit, aber diese vielen strahlenden Gesichter, diese Dankbarkeit, diese fast schon irgendwie kindlich wirkende Freude, mit der die Nachricht aufgenommen wurde, haben mich dann doch ein bisschen erstaunt: Deshalb hatte ich wohl das Gefühl, sie galten gar nicht so sehr der Suppe, sondern eher irgendwie der Fürsorge an sich, nach all den vorangegangenen Überraschungen – wenigstens hatte ich dieses Gefühl. Auch war ich ziemlich sicher, dass die Nachricht von dem Mann, dem Gefangenen stammte, der hier gleich als Vorsteher, um nicht zu sagen Hausherr, aufgetreten war. Sein taillierter Anzug, ganz ähnlich dem des Häftlings im Bad, das jetzt schon ungewohnte Haupthaar, darauf eine Kopfbedeckung aus dickem dunkelblauem Filz, die man bei uns zu Hause «Baskenmütze» nannte, die schönen gelben Halbschuhe an seinen Füßen sowie eine rote Binde um seinen Arm machten seine Würde sofort erkennbar, und ich begriff: Ich musste den Spruch, den man mir zu Hause beigebracht hatte und der besagte, «nicht die Kleider machen den Menschen aus», korrigieren. Ebenso trug er ein rotes Dreieck auf der Brust – auch das zeigte allen sofort, dass er nicht wegen seines Blutes, sondern lediglich wegen seiner Denkweise hier war, wie ich bald darauf erfahren habe. Zu uns war er, wenn auch vielleicht ein bisschen gemessen und kurz angebunden, so doch freundlich, und er erklärte auch gern alles Nötige, und daran fand ich damals auch gar nichts Besonderes, schließlich war er ja schon länger da – so dachte ich. Es war ein hochgewachsener, eher magerer Mann mit einem etwas zerknitterten, etwas ausgemergelten, doch insgesamt sympathischen Gesicht. Ich habe auch beobachtet, dass er sich öfter ein wenig abseits hielt, und von weitem sah ich ein-, zweimal seinen irgendwie leicht befremdeten, verständnislosen Blick und in seinen Mundwinkeln so etwas wie ein, sagen wir, kopfschüttelndes Lächeln, als würde er sich ein bisschen über uns wundern, ich weiß nicht, warum. Später hieß es, er komme aus der Slowakei. Einige von den Unseren sprachen seine Sprache und bildeten öfter eine kleine Gesellschaft um ihn.

Er selbst teilte uns die Suppe aus, mit einem komischen langstieligen Schöpflöffel, der mehr die Form eines Trichters hatte; zwei andere Männer, so eine Art Gehilfen, die ebenfalls nicht zu uns gehörten, händigten dazu rote Emaillenäpfe und zerbeulte Löffel aus – je einen für zwei Personen, da der Bestand knapp sei, wie sie uns mitteilten: weshalb das Geschirr – so fügten sie hinzu – sofort nach Gebrauch zurückzuerstatten sei. Nach einiger Zeit kam auch ich an die Reihe. Suppe, Napf und Löffel erhielt ich mit dem «Zierlederer» zusammen: Ich war nicht gerade erfreut, da es noch nie meine Gewohnheit gewesen war, mit anderen zusammen aus ein und demselben Teller und mit ein und demselben Löffel zu essen, doch auch das, ich sah es ein, kann zuweilen im Bereich der Notwendigkeit liegen. Zuerst kostete er von der Suppe, dann reichte er sie sofort an mich weiter. Er machte ein etwas merkwürdiges Gesicht. Ich fragte ihn, wie die Suppe denn sei, aber er sagte, ich solle doch einfach mal probieren. Doch da sah ich schon, wie sich die Jungen ringsum teils entsetzt, teils prustend vor Lachen anschauten. Ich habe dann auch einen Löffel voll genommen und musste finden, dass die Suppe in der Tat leider nicht essbar war. Ich habe den «Zierlederer» gefragt, was wir machen sollten, und er hat gesagt, von ihm aus könne ich sie ruhig ausgießen. Zur gleichen Zeit ertönte von hinten eine heitere Stimme, die uns aufklärte: «Das ist sogenanntes Dörrgemüse», sagte sie. Ich erblickte einen untersetzten, schon erfahrenen Mann, unter seiner Nase die weißliche Spur eines ehemaligen eckigen Schnurrbarts, das Gesicht voll wohlmeinenden Wissens. Es standen noch ein paar andere um uns herum, mit angewiderter Miene Napf und Löffel festhaltend, und ihnen erzählte er, dass er schon an dem früheren, dem gegenwärtigen vorangegangenen Weltkrieg teilgenommen hatte, und zwar als Offizier. «Da hatte ich genügend Gelegenheit», so berichtete er, «dieses Essen gründlich kennenzulernen, und zwar im Kreis der deutschen Kameraden an der Front, mit denen wir uns damals gemeinsam schlugen» – so hat er es formuliert. Für ungarische Mägen sei solches gedörrtes Gemüse – so hat er mit einem irgendwie verständnisvollen, gewissermaßen nachsichtigen Lächeln hinzugefügt – natürlich ungewohnt. Doch er hat uns versichert, dass man sich daran gewöhnen könne, ja, seines Erachtens auch solle, da es viele «Nährstoffe und Vitamine» enthalte, wofür, so erklärte er, das Dörrverfahren und die Kundigkeit der Deutschen auf diesem Gebiet bürgten. «Und überhaupt», bemerkte er mit erneutem Lächeln, «für den guten Soldaten ist das erste Gebot: Alles essen, was es heute gibt, denn wer weiß, ob es auch morgen etwas geben wird», das waren seine Worte. Und dann hat er tatsächlich seine Ration ausgelöffelt, gleichmäßig, ruhig, ohne eine Miene zu verziehen, bis zum letzten Tropfen. Meine Ration habe ich dann doch an der Barackenwand ausgeleert, so wie ich es von einigen Erwachsenen und Jungen gesehen hatte. Aber ich kam in Verlegenheit, weil ich von weitem den Blick unseres Vorstehers sah und besorgt war, dass es ihn vielleicht kränken könnte; doch es war da nur wieder dieser eigentümliche Ausdruck, dieses unbestimmte Lächeln auf seinem Gesicht, wie ich flüchtig festzustellen meinte. Ich habe dann das Geschirr zurückgebracht und dafür eine dicke Scheibe Brot erhalten, darauf eine weiße Masse, die einem länglichen Klotz aus dem Baukasten ähnelte und auch ungefähr so dick war: Butter – nein, Margarine, wie es hieß. Das habe ich dann verspeist, obgleich ich auch solches Brot noch niemals gesehen hatte: viereckig und als wären die Rinde und das Innere aus dem gleichen schwarzen Schlamm gebacken, mit Strohhalmen und Körnchen dazwischen, die unter den Zähnen knirschten; aber immerhin, es war Brot, und ich hatte auf der langen Reise schließlich doch Hunger bekommen. Die Margarine verstrich ich mangels eines besseren Werkzeugs mit dem Finger, so nach Robinsonart, gewissermaßen, im Übrigen genau so, wie ich es bei den anderen gesehen hatte. Dann sah ich mich nach Wasser um, doch unangenehmerweise stellte sich heraus, dass es keines gab: Ich war ganz schön ärgerlich, na, nun durften wir also wieder Durst haben, genau das Gleiche wie in der Eisenbahn.

Zu dieser Zeit mussten wir, nun aber ganz ernsthaft, auf den Geruch aufmerksam werden. Es wäre schwer, ihn genau zu umschreiben: süßlich und irgendwie klebrig, auch das nun schon bekannte chemische Mittel darin, aber so, dass ich schon fast ein bisschen Angst hatte, das erwähnte Brot würde sich wieder in meiner Kehle zurückmelden. Es fiel uns nicht schwer festzustellen: Ein Schornstein war der Sünder, auf der linken Seite, in Richtung der Landstraße, aber noch viel weiter weg. Es war ein Fabrikschornstein, das sah man gleich, und so haben es die Leute auch von unserem Vorsteher in Erfahrung gebracht, und zwar der Schornstein einer Lederfabrik, wie viele auch gleich wussten. Tatsächlich, da fiel mir wieder ein, wenn ich am Sonntag mit meinem Vater ein Fußballspiel in Újpest besucht hatte, war die Straßenbahn an einer Lederfabrik vorbeigekommen, und da musste ich mir auch jedes Mal die Nase zuhalten. Im Übrigen – ging die Nachricht – würden wir zum Glück nicht in dieser Fabrik arbeiten müssen: Wenn alles gutging, wenn kein Typhus, keine Ruhr oder sonst eine Epidemie unter uns ausbrach, dann würden wir bald, so beruhigte man uns, zu einem freundlicheren Ort aufbrechen. Deshalb trügen wir auch auf den Kleidern, vor allem aber auch auf der Haut noch keine Nummer wie etwa unser Kommandant, der «Blockälteste», wie man ihn jetzt schon nannte. Von dieser Nummer hatten sich übrigens viele mit eigenen Augen überzeugt: Sie sei – so wurde verbreitet – mit grüner Tinte auf sein Handgelenk geschrieben und mit den Stichen einer besonderen Nadel unauslöschlich hineinpräpariert, eintätowiert, wie es hieß. Ungefähr zur gleichen Zeit ist mir auch der Bericht der freiwilligen Suppenholer zu Ohren gekommen. Auch sie hatten, in der Küche, die Nummern gesehen, und auch die waren Gefangenen, die schon länger hier weilten, in die Haut eingeritzt. Vor allem ging die Antwort von Mund zu Mund und wurde auf ihren Sinn hin untersucht und immer von neuem wiederholt, die ein Gefangener gegeben hatte, als einer unserer Leute wissen wollte, was das sei. «Die himmlische Telefonnummer», soll angeblich dieser Gefangene gesagt haben. Wie ich sah, gab die Sache allen ziemlich zu denken, und obwohl ich aus diesen Worten nicht recht klug wurde, mussten sie auch mir, zweifellos, seltsam erscheinen. Auf jeden Fall haben die Leute daraufhin begonnen, sich um den Blockältesten und seine beiden Gehilfen zu scharen, hin und her zu laufen, sie auszufragen, mit Fragen zu belagern und das Erfahrene rasch untereinander auszutauschen, so zum Beispiel die Frage betreffend, ob es Epidemien gebe. «Ja», lautete die Auskunft. Und was mit den Kranken geschehe. «Sie sterben.» Und mit den Toten? «Die werden verbrannt», erfuhren wir. Genau besehen – so stellte sich allmählich heraus, ohne dass ich genau hätte verfolgen können, auf welchem Weg – war der Schornstein dort gar nicht wirklich eine Lederfabrik, sondern es war ein «Krematorium», das heißt der Schornstein eines Einäscherungsofens, wie man mich über die Bedeutung des Wortes aufklärte. Da habe ich ihn mir noch etwas genauer angeschaut: Es war ein gedrungener, eckiger Schornstein mit einer breiten Öffnung, oben wirkte er wie plötzlich abgeschlagen. Ich kann sagen, dass ich, abgesehen von einer gewissen Ehrfurcht – nun ja, und abgesehen vom Geruch, natürlich, in dem wir schon förmlich stecken blieben wie in irgendeinem Matsch, einem Sumpf –, sonst nicht sehr viel spürte. Doch dann konnten wir zu unserer erneuten Überraschung in der Ferne noch einen, dann noch einen und dann, schon am Rand des leuchtenden Himmels, noch einen solchen Schornstein ausmachen, wobei aus zweien ähnlicher Rauch quoll wie aus dem unsrigen, und vielleicht hatten jene recht, denen auch die entfernten Rauchschwaden, die hinter einer Art kümmerlichem Wäldchen aufstiegen, allmählich verdächtig vorkamen und bei denen, meines Erachtens berechtigterweise, die Frage auftauchte, ob die Epidemie wohl solche Ausmaße habe, dass es so viele Tote gab.

Ich kann sagen, dass ich mir, noch bevor der Abend des ersten Tages herabsank, im Großen und Ganzen schon über alles so ziemlich genau im Klaren war. Ach ja, inzwischen hatten wir auch schon die Bedürfnisanstalt-Baracke aufgesucht – eine Örtlichkeit, die über ihre ganze Länge aus drei podestartigen Erhöhungen bestand, mit je zwei, das heißt insgesamt sechs Reihen von Löchern: Auf diesen musste man sich niederlassen oder in sie hineintreffen, je nachdem, je nach Bedarf. Auf jeden Fall war nicht viel Zeit, weil es nicht lange dauerte, bis ein wütender Gefangener erschien, diesmal mit schwarzer Armbinde, in der Hand einen schweren Knüppel, und man sich entfernen musste, so wie man eben war. Ein paar andere alteingesessene, aber einfachere Gefangene lungerten ebenfalls dort herum: Sie erwiesen sich als gutmütiger und ließen sich auch gern zu ein paar Auskünften herbei. Der Weg hin und zurück, den der Blockkommandant uns gewiesen hatte, war ziemlich lang, er führte an einer interessanten Siedlung vorbei: hinter dem Drahtzaun die üblichen Schuppen, dazwischen merkwürdige Frauen (von der einen habe ich mich schnell abgewandt, weil aus ihrem offenen Kleid gerade etwas heraushing, an das sich ein Säugling – sein kahler Schädel glänzte in der Sonne – krampfhaft klammerte) und noch merkwürdigere Männer, zumeist in abgetragenen Anzügen, aber alles in allem doch solchen, wie die Leute sie draußen trugen, in der Freiheit, wenn ich so sagen darf. Auf dem Rückweg wusste ich es dann auch schon: Es war das Lager der Zigeuner. Ich war auch etwas überrascht: Zu Hause hatten zwar mehr oder weniger alle, und auch ich, versteht sich, eine etwas zurückhaltende Meinung von den Zigeunern gehabt, aber bis dahin hatte ich noch nie gehört, dass sie Verbrecher seien. Gerade kam ein Fuhrwerk vorbei, das von kleineren Kindern gezogen wurde, über ihren Schultern ein Geschirr so wie bei Ponys, und neben ihnen ging ein Mann mit einem großen Schnurrbart, in der Hand eine Peitsche. Die Ladung war von Decken verhüllt, doch durch die vielen Lumpen und Löcher guckten unverkennbar Brote hervor, und zwar weiße Laibe: Auch daraus konnte ich schließen, dass sie doch irgendwie eine Stufe höher standen als wir. Noch ein anderes Bild ist mir von diesem Spaziergang im Gedächtnis geblieben: In der anderen Richtung, auf der Hauptstraße, sah ich einen Mann in weißer Kleidung gehen – an den Seiten der weißen Hose breite rote Streifen, auf dem Kopf eine große schwarze Künstlermütze, wie sie, ihren Bildern nach zu urteilen, die Maler im Mittelalter trugen, und in seiner Hand ein dicker, herrschaftlicher Stock –, der die ganze Zeit in der Gegend umherblickte, und mir fiel es ziemlich schwer zu glauben – wie jedoch behauptet wurde –, dass dieser Hochwohlgeborene auch nur ein Strafgefangener sein sollte, so wie wir auch.

Ich könnte es sogar beschwören: Ich habe auf diesem Weg mit keinem einzigen fremden Menschen gesprochen. Und dennoch, tatsächlich könnte ich meine genaueren Erkenntnisse an diesen Zeitpunkt knüpfen. Da, gegenüber, verbrannten in diesem Augenblick unsere Reisegefährten aus der Eisenbahn, alle, die im Auto hatten mitfahren wollen, und all die, die sich vor dem Arzt aus Alters- oder anderen Gründen als untauglich erwiesen hatten, genauso die Kleinen und mit ihnen die Mütter und die, die es in der Zukunft geworden wären, denen man es bereits hatte ansehen können, so hieß es. Auch sie seien vom Bahnhof zum Bad gegangen. Auch sie seien über die Kleiderhaken, die Nummern, den Ablauf im Bad unterrichtet worden, genauso wie wir. Auch Friseure seien dort gewesen – so wurde behauptet –, und auch die Seife habe man ihnen ausgehändigt. Und dann seien auch sie in den Baderaum geführt worden, wo, so hörte ich, auch solche Rohre und Duschen vorhanden waren: nur dass man aus ihnen nicht Wasser, sondern Gas auf sie herunterließ. All das habe ich nicht auf einmal, sondern eher nach und nach erfahren, durch immer neue Einzelheiten ergänzt, von denen einige angezweifelt, andere aber bestätigt, ja, sogar noch um weitere ergänzt wurden. In der Zwischenzeit – hörte ich – sei man sehr freundlich zu ihnen, sie würden liebevoll umsorgt, die Kinder sängen und spielten Ball, und der Ort, wo sie vergast wurden, sei sehr hübsch gelegen, zwischen Rasenplätzen, Wäldchen und Blumenbeeten: Deshalb hatte ich schließlich den Eindruck, es sei eine Art Schabernack, irgendetwas wie ein Studentenstreich. Dazu trug, wenn ich es recht überlegte, auch bei, wie geschickt sie mich zum Beispiel in andere Kleider gesteckt hatten, einfach so, dank dieses Einfalls mit den Haken und den darauf befindlichen Nummern, oder wie sie zum Beispiel diejenigen, die noch Wertsachen besaßen, mit dem Röntgen erschreckt hatten, was ja am Ende ein leeres Wort geblieben war. Freilich – das sah ich ein – war das Ganze, von der anderen Seite gesehen, natürlich nicht nur Schabernack, denn von dem Ergebnis – um es so zu formulieren – konnte ich mich schließlich mit meinen eigenen Augen überzeugen, und vor allem durch meinen ständig aufgewühlten Magen; aber das war nun einmal mein Eindruck, und im Grunde genommen – so stellte ich es mir wenigstens vor – konnte es auch gar nicht sehr viel anders vor sich gegangen sein. Schließlich setzte man sich wahrscheinlich auch hier gemeinsam an einen Tisch, steckte sozusagen die Köpfe zusammen, auch wenn es nicht gerade Studenten waren, versteht sich, sondern gestandene erwachsene Männer, vielleicht auch, ja höchstwahrscheinlich, wenn ich es recht überlegte, Herren, in würdigem Anzug, Zigarren im Mund, Orden auf der Brust, alles sicher Befehlshaber, die nicht gestört sein wollen – so stellte ich es mir vor. Einer kommt dann auf die Idee mit dem Gas, ein anderer dann gleich auf die Idee mit dem Bad, ein Dritter auf die mit der Seife, ein Vierter wiederum fügt die Blumen hinzu und so weiter. Ein paar Ideen hatten sie vielleicht etwas länger diskutiert, länger daran herumgefeilt, andere dagegen gleich freudig aufgenommen, waren von ihren Sitzen hochgeschnellt (ich weiß nicht, warum mir das wichtig war, aber sie schnellten hoch) und hatten sich an den Händen gefasst – all das ließ sich lebhaft vorstellen, zumindest was mich angeht. Die Ideen der Befehlshaber werden dann mittels vieler emsiger Hände, eifriger Betriebsamkeit verwirklicht, und am Erfolg der Darbietung, das sah ich wohl, konnte nicht der geringste Zweifel bestehen. Also war es ganz gewiss der alten Frau so ergangen, die am Bahnhof ihrem Sohn gehorcht hatte, und auch dem weißbeschuhten kleinen Jungen und seiner blonden Mama, dem stattlichen Weib, dem alten Herrn mit dem schwarzen Hut oder dem Nervenkranken, der vor den Arzt hingetreten war. Auch der «Experte» kam mir in den Sinn: Er war ganz bestimmt sehr verblüfft gewesen, der Arme. Und «Rosi» sagte dann mit bedauerndem Kopfschütteln: «Der arme Moskovics», und wir waren alle einer Meinung mit ihm. Und der «Halbseidene» schrie auf: «Jesus Maria!» Wie wir nämlich von ihm erfuhren, war die Vermutung der Jungen richtig gewesen: Zwischen ihm und dem erwähnten Mädchen aus der Ziegelei war tatsächlich «alles passiert», und jetzt dachte er an die möglichen Folgen, die mit der Zeit eventuell sichtbar würden. Die Besorgnis, da pflichteten wir ihm bei, bestand zu Recht, aber auf seinem Gesicht war außer der Sorge noch irgendetwas anderes zu sehen, der Ausdruck eines schon schwerer zu bestimmenden Gefühls, und die Jungen blickten in diesem Moment auch eher mit einer Art Achtung auf ihn, was mir leichtfiel zu verstehen, natürlich.

Noch etwas anderes hat mir an diesem Tag einigermaßen zu denken gegeben: die Tatsache nämlich, dass dieser Ort – wie ich erfuhr –, diese Einrichtung, schon seit Jahren hier existierte, vorhanden war, funktionierte, Tag für Tag auf gleiche Weise, und gewissermaßen – ich sah zwar ein, dass dieser Gedanke etwas übertrieben sein mochte, aber doch: schon auf mich gewartet hatte. Auf jeden Fall – so erwähnten es gleich mehrere mit einer eigentümlichen, sozusagen schaudernden Hochachtung – war unser Blockkommandant schon vor vier Jahren hierhergekommen. Mir fiel ein, dass jenes Jahr auch für mich ziemlich bedeutsam gewesen war, denn damals war ich gerade ins Gymnasium eingetreten. Ich erinnerte mich noch sehr gut an die Eröffnungsfeier – ich selbst hatte in einem dunkelblauen, schnurbesetzten Ungarnanzug teilgenommen, der sogenannten Bocskaer-Tracht. Ich habe mir auch die Worte des Direktors gemerkt – eines würdigen Mannes mit gestrenger Brille und einem schönen weißen Schnurrbart, der, wenn ich es nun im Nachhinein bedachte, auch ein bisschen etwas von einem Kommandeur hatte. Zum Schluss, so erinnere ich mich, hatte er sich auf einen Weisen der Antike berufen: «Non scolae, sed vitae discimus – Nicht für die Schule, sondern fürs Leben lernen wir», zitierte er. Dann hätte ich jedoch, das war meine Ansicht, die ganze Zeit ausschließlich für Auschwitz lernen müssen. Es wäre alles erklärt worden, offen, ehrlich, vernünftig. Bloß hatte ich während der ganzen vier Jahre in der Schule kein einziges Wort davon gehört. Aber ich sah natürlich ein, dass die Sache peinlich gewesen wäre, ja und dann gehört es auch nicht zur Allgemeinbildung, ich musste es zugeben. Das hatte dann den Nachteil, dass ich mich erst hier belehren lassen musste, zum Beispiel darüber, dass wir uns in einem «Konzentrationslager» befanden. Aber auch die seien nicht alle gleich, so wurde erklärt. Das hier zum Beispiel sei ein «Vernichtungslager», erfuhr ich. Etwas ganz anderes sei dagegen – so wurde gleich hinzugefügt – das «Arbeitslager»: Dort sei das Leben leicht, die Verhältnisse und die Lebensmittelversorgung, hieß es, unvergleichlich besser, was nur natürlich ist, denn auch das Ziel war ja schließlich ein anderes. Nun, auch wir würden noch an einen solchen Ort verbracht, falls nicht irgendetwas dazwischenkäme, was – wie man um mich herum zugab – in Auschwitz durchaus möglich sei. Auf jeden Fall – erklärte man weiter – sei es keineswegs ratsam, sich krank zu melden. Das Krankenhaus-Lager befinde sich im Übrigen dort, am Fuß des einen Schornsteins, von den Eingeweihteren nur noch kurz «der Zweier» genannt. Die Gefahr lauere vor allem im Wasser, in nicht abgekochtem Wasser, wie ich selbst es zum Beispiel auf dem Weg vom Bahnhof zum Bad getrunken hatte – aber das hatte ich ja schließlich nicht wissen können. Nun gut, da war die Tafel gewesen, unbestreitbar, aber immerhin, der Soldat hätte ja auch etwas sagen können, fand ich. Doch halt – fiel mir ein –, ich musste ja das Ziel in Betracht ziehen: Gott sei Dank konnte ich feststellen, dass ich mich wohlfühlte, und auch von den Jungen hatte ich bis dahin keine Klagen gehört.

Später habe ich an diesem Tag dann noch mehr Wissenswertes erfahren, bin weiterer Dinge zum ersten Mal ansichtig geworden, habe weitere Gebräuche kennengelernt. Im Allgemeinen, so kann ich sagen, hörte ich am Nachmittag schon mehr Neuigkeiten, es wurde um mich herum schon mehr von unseren Zukunftsaussichten, Möglichkeiten und Hoffnungen gesprochen als von dem Schornstein hier. Zeitweise nahmen wir ihn gar nicht zur Kenntnis, so als wäre er gar nicht da, das hing ganz von der Windrichtung ab, hatten viele herausgefunden. An diesem Tag habe ich auch zum ersten Mal die Frauen gesehen. Die Männer, die sich aufgeregt am Drahtzaun zusammengeschart hatten, haben sie mir gezeigt: Tatsächlich, da waren sie, auch wenn es mir schwerfiel, sie zu erkennen, nun ja, sie vor allem als Frauen auszumachen, da in der Ferne, jenseits des lehmigen Feldes, das vor uns lag. Ich bin sogar ein bisschen erschrocken vor ihnen, und wie ich merkte, sind nach der ersten Aufregung, der ersten Freude an der Entdeckung auch die Männer um mich herum ziemlich still geworden. Nur eine dumpfe, etwas zittrig klingende Bemerkung in der Nähe ist an mein Ohr gedrungen: «Sie sind kahl.» Und in dieser großen Stille hörte ich nun auf einmal, wie im leichten Wind des Sommerabends eine zwar dünne, zirpende und kaum vernehmbare, eindeutig aber friedliche, fröhliche Melodie in Wellen herüberwehte, was uns – so, zusammen mit diesem Anblick – alle irgendwie ungeheuer überraschte. Des weiteren war es auch das erste Mal, dass ich in einer der hinteren Reihen des Zehnerblocks stand, in dem wir vor unserer Baracke aufgestellt wurden, damals noch ohne zu wissen, worauf wir da warteten – gleicherweise übrigens wie alle anderen Gefangenen vor allen anderen Baracken links, rechts, vorn und hinten, so weit das Auge reichte –, und es war zum ersten Mal, dass ich mir, wie befohlen, die Mütze vom Kopf riss, während draußen auf der Hauptstraße, in der lauen Abendluft lautlos dahingleitend, die Gestalten von drei Soldaten auf Fahrrädern auftauchten: ein schöner – wie ich nicht umhinkonnte zu empfinden – und schneidender Anblick. Sieh an, dachte ich, wie lange habe ich eigentlich schon keine Soldaten mehr gesehen. Nur musste ich staunen, dass es mir schwerfiel, in diesen Menschen, die sich von der anderen Seite der Schranke her so abweisend, so eisig, wie von einer unerreichbaren Höhe herab das anhörten – einer von ihnen machte darüber auch Notizen in ein längliches Buch –, was auf dieser Seite unser Blockkommandant (auch er die Mütze in der Hand haltend) zu ihnen sagte; dass es mir also schwerfiel, in diesen ohne ein Wort, einen Laut oder auch nur ein Kopfnicken auf der leeren Hauptstraße davongleitenden und irgendwie fast schon unheilverkündenden Allmächtigen Mitglieder der gesprächigen, gemütlichen Einheit zu erkennen, die uns heute Morgen an der Eisenbahn begrüßt hatte. Zur gleichen Zeit vernahm ich einen leisen Laut, eine Stimme, und ich sah neben mir ein vorgestrecktes Profil, die pralle Wölbung eines Brustkastens: Es war der ehemalige Offizier. Er flüsterte so, dass seine Lippen dabei kaum auch nur zitterten: «Abendliche Bestandskontrolle», und dabei nickte er ein klein wenig, mit einem Lächeln, dem wissenden Gesicht eines Menschen, für den alles ganz und gar verständlich, mit vollkommener Klarheit, in gewisser Weise fast schon zu seinem Gefallen abläuft. Und dann sah ich auch zum ersten Mal – denn noch die Dunkelheit fand uns in der gleichen Stellung vor – die Farbe der hiesigen Nacht und eine ihrer Erscheinungen: die bengalischen Feuer, ein wahres Feuerwerk aus Flammen und Funken über dem ganzen linken Rand des Himmels. Um mich herum wurde von vielen geflüstert, gemurmelt und wiederholt: «Die Krematorien!», aber doch schon eher, um es so zu sagen, irgendwie mit dem Staunen, das einer Naturerscheinung gilt. Dann: «Abtreten», und ich hatte auch schon einigermaßen Hunger, doch dann erfuhr ich, dass unser Abendessen eigentlich das Brot gewesen war, und das hatte ich ja schon am Morgen gegessen. Die Baracke hingegen, der «Block», erwies sich als eine innen völlig kahle Räumlichkeit, mit Zementfußboden und ohne jedes Mobiliar, ohne jede Einrichtung, ja ohne Beleuchtung, wo die Nachtruhe wiederum nur so zu bewerkstelligen war wie im Pferdestall der Gendarmerie: Ich lehnte den Rücken an die Unterschenkel eines Jungen, der hinter mir saß, während sich der vor mir an meine Beine anlehnte; und da ich von den vielen neuen Erlebnissen, Eindrücken und Erfahrungen müde und schläfrig war, bin ich auch bald eingeschlummert.

Von den folgenden Tagen sind mir – ähnlich wie bei denen in der Ziegelei – schon weniger Einzelheiten in Erinnerung geblieben, sondern mehr ihre Stimmung, ein Gefühl, ein allgemeiner Eindruck sozusagen. Nur fiele es mir schwer, diesen genauer zu umschreiben. Auch in diesen Tagen gab es noch immer Neues zu erfahren, zu sehen, aufzunehmen. Hin und wieder spürte ich auch die Kälte dieses merkwürdigen fremden Gefühls, das mir zum ersten Mal beim Anblick der Frauen begegnet war, und ein-, zweimal kam es auch vor, dass ich mich in einem Kreis bestürzter Menschen wiederfand, die sich mit langen Gesichtern anstarrten und einander immer von neuem fragten: «Was sagen Sie dazu? Was sagen Sie dazu?» – und die Antwort darauf war entweder Schweigen oder aber fast immer das Gleiche: «Entsetzlich.» Doch es ist nicht dieses Wort, nicht genau dieses Erlebnis – jedenfalls nicht für mich, versteht sich –, mit dem ich Auschwitz wirklich kennzeichnen würde. Unter den mehreren hundert Bewohnern unseres Blocks war, wie sich herausstellte, auch der Pechvogel. Er wirkte etwas seltsam in seinem zu weiten Sträflingsanzug, der zu weiten Mütze, die ihm immer wieder in die Stirn rutschte. «Was sagen Sie dazu», fragte auch er, «was sagen Sie dazu?» Aber wir konnten natürlich nicht sehr viel sagen. Ich habe seinen hastigen, wirren Worten dann nicht mehr recht folgen können. Man dürfe nicht nachdenken, behauptete er, oder doch, an eines könne und müsse man unablässig denken, an die nämlich, die er «zu Hause zurückgelassen» habe und um derentwillen er «stark sein» müsse, da sie ihn ja zurückerwarteten: seine Frau und seine beiden kleinen Kinder – das war, soviel ich verstand, ungefähr der Sinn. Und doch, die Hauptsorge war im Grunde genommen auch hier nur, genau wie im Zollhaus, in der Ziegelei, in der Eisenbahn: die Länge der Tage. Sie begannen schon recht früh, nur wenig nach dem mittsommerlichen Sonnenaufgang. Da habe ich erfahren, wie kalt die Morgen in Auschwitz sind: Wir Jungen kauerten uns an die Barackenwand auf der Seite des Drahtzauns, schmiegten uns eng aneinander, wärmten einander, im Angesicht der noch schrägstehenden roten Sonne. Ein paar Stunden später hätten wir hingegen eher den Schatten gesucht. Auf jeden Fall verging die Zeit auch hier, auch hier war der «Zierlederer» bei uns, auch hier erklang hin und wieder ein Scherz, und es fanden sich, wenn auch keine Hufnägel, so doch Kiesel, die uns der «Halbseidene» einen nach dem anderen wegschnappte, auch hier ließ sich gelegentlich «Rosis» Stimme vernehmen: «Und jetzt auf Japanisch!» Außerdem die zwei täglichen Gänge zum Abort, morgens dazu in die Waschbaracke (ein ähnlicher Ort, bloß mit Zinktrögen auf der ganzen Länge statt Podesten und über jeder Trogreihe ein waagrechtes Eisenrohr, durch dessen viele kleine Löcher das Wasser rieselte), dann die Essensausgabe, abends der Appell, ja und dann natürlich auch die Bekanntmachungen – damit hatten wir uns zu begnügen, so war der Tag eingeteilt. Dazu kam, was man so erlebte: etwa die «Blocksperre» am zweiten Abend – da sah ich unseren Kommandanten zum ersten Mal ungeduldig, ja, um nicht zu sagen: gereizt – mit den Geräuschen, die in diesem Augenblick aus der Ferne hereindrangen, einem ganzen Wirrwarr von Tönen, in dem, wenn wir die Ohren spitzten, Schreie, Hundegebell und das Knallen von Schüssen auszumachen waren, in dem ziemlich stickigen Dunkel der Baracke; oder dann wieder der Anblick einer Kolonne, wieder jenseits des Drahtzauns, sie kämen von der Arbeit zurück, hieß es, und ich musste es wohl glauben, denn auch ich sah es so, dass auf den Gestellen, die von den am Schluss Marschierenden getragen wurden, tatsächlich Tote lagen, genau so, wie es um mich herum behauptet wurde. Eine Zeit lang gab das meinem Vorstellungsvermögen immer wieder Arbeit auf, versteht sich. Aber – das darf ich sagen – doch nicht genug, um einen ganzen langen Tag des Nichtstuns auszufüllen. So habe ich dann gemerkt: Selbst in Auschwitz kann man sich offenbar langweilen – vorausgesetzt, man gehört zu den Privilegierten. Wir warteten und warteten – und wenn ich es recht bedenke, so warteten wir eigentlich darauf, dass nichts geschähe. Die Langeweile, zusammen mit diesem merkwürdigen Warten: Das, ungefähr dieser Eindruck, glaube ich, ja, mag in Wirklichkeit Auschwitz bedeuten – zumindest in meinen Augen.

Noch etwas muss ich gestehen: Die Suppe habe ich am zweiten Tag gegessen, am dritten wartete ich sogar schon darauf. Überhaupt war ich von der Verpflegungsordnung in Auschwitz einigermaßen befremdet. Morgens kam schon bald eine bestimmte Flüssigkeit, der Kaffee, wie sie sagten. Das Mittagessen, das heißt die Suppe, brachten sie überraschend früh, schon etwa um neun Uhr. Dann aber geschah in dieser Hinsicht bis zur Abenddämmerung nichts mehr, nichts mehr bis zu Brot und Margarine vor der Zeit des Appells: So hatte ich dann bis zum dritten Tag schon eingehend Bekanntschaft mit dem ärgerlichen Gefühl des Hungers gemacht, und auch die Jungen beklagten sich alle darüber. Nur der Raucher bemerkte, dieses Gefühl bedeute für ihn gar nichts Neues, und er seinerseits vermisse eher die Zigaretten – dabei hatte er, abgesehen von seiner gewohnten, merkwürdig knappen Art, einen irgendwie fast schon befriedigten Ausdruck im Gesicht, der mich gerade da ein bisschen reizte, und das war, glaube ich, auch der Grund, warum die Jungen so rasch abwinkten.

Wie sehr es mich auch überrascht hat, als ich nachrechnete, es war tatsächlich so: In Auschwitz habe ich insgesamt eigentlich nur drei volle Tage verbracht. Am vierten Abend saß ich schon wieder in der Eisenbahn, in einem der nun schon bekannten Güterwaggons. Das Ziel – so erfuhren wir – war «Buchenwald», und wenn ich so vielversprechende Namen jetzt auch schon vorsichtiger aufnahm, der unmerkliche Schimmer von Freundlichkeit, ja Wärme, der Abglanz eines irgendwie zärtlichen, irgendwie träumerischen, irgendwie neidartigen Gefühls auf den Gesichtern einiger Gefangener, die uns verabschiedeten, konnten dennoch nicht reine Täuschung sein, wie mir schien. Ich bemerkte auch, dass unter ihnen viele alteingesessene, gutinformierte Häftlinge waren, sogar Würdenträger, wie an den Armbinden, den Mützen und Schuhen zu sehen war. Auch an der Eisenbahn erledigten alles sie, Soldaten sah ich nur ein paar mittleren Ranges, am Rand der Rampe, und an diesem stillen Ort, in den sanften Farben dieses friedlichen Abends erinnerte nichts, es sei denn seine Größe, an den quirlenden, vor Aufregung, Licht, Bewegung, Stimmen und Lebendigkeit bebenden, an jeder Stelle pulsierenden und vibrierenden Bahnhof, an dem ich einst, beziehungsweise genau vor dreieinhalb Tagen, ausgestiegen war.

Von der Reise kann ich nun noch weniger berichten: Alles verlief in der gewohnten Weise. Jetzt waren wir nicht zu sechzig, sondern zu achtzig, wobei wir aber kein Gepäck hatten, nun, und dann brauchten wir auch nicht auf Frauen zu achten. Auch hier gab es einen Kübel, auch hier war es heiß, und wir waren durstig, dafür aber auch weniger Versuchungen ausgesetzt, ich meine, was das Essen angeht: Die Rationen – ein größeres Stück Brot als gewöhnlich, ein doppelter Streifen Margarine und dazu noch ein Stück von etwas anderem, das äußerlich einigermaßen der heimatlichen Zervelat glich und «Wurst» hieß – wurden am Zug ausgeteilt, und da habe ich sie auch gleich gegessen, einerseits weil ich hungrig war, andererseits weil ich sie im Zug gar nicht recht hätte verstauen können, nun ja, und dann hatten sie uns schließlich auch nicht mitgeteilt, dass die Reise auch diesmal drei Tage dauern würde.

Auch in Buchenwald kamen wir morgens an, bei sonnigem, aber von durchziehenden Wolken und leichten Windstößen aufgefrischtem, klarem Wetter. Der hiesige Bahnhof schien, zumindest nach jenem in Auschwitz, bloß so eine freundliche, ländliche Station zu sein. Der Empfang war dann schon weniger herzlich: Hier schoben nicht Häftlinge, sondern Soldaten die Tür auf, und das war sogar – wie mir durch den Kopf ging – die erste wirkliche, ich könnte sagen, unverhüllte Gelegenheit, bei der ich in einen so nahen Kontakt, in so enge Berührung mit ihnen kam. Ich konnte nur noch staunen, mit welcher Geschwindigkeit, welcher korrekten Genauigkeit alles vonstatten ging. Ein paar kurze Befehle: «Alle raus!» «Los!» «Fünferreihen!» «Bewegt euch!», hier und da ein Knall, mal dumpf, mal scharf, ein paar ausholende Bewegungen mit dem Stiefel, ein paar Stöße mit dem Gewehrkolben, hin und wieder ein unterdrückter Schmerzensschrei – und schon hatte sich unser Zug formiert, schon marschierte er, als würde er von einer Schnur gezogen, schon gesellte sich, am Ende des Bahnsteigs, mit der immer gleichen halben Drehung von beiden Seiten je ein Soldat dazu, immer, wie ich beobachtete, zu jeder fünften Fünferreihe beziehungsweise immer bei jedem fünfundzwanzigsten Mann im gestreiften Anzug – zwei also, so ungefähr in einem Meter Abstand von der Kolonne, den Blick nicht einen Moment abwendend, jetzt aber schon wortlos, Richtung und Tempo allein durch ihren Schritt bestimmend und so diese ganze, ein wenig der in meiner Kindheit mit Hilfe von Papierschnitzeln und Stäbchen in eine Streichholzschachtel gelenkten Raupe ähnlich, in allen ihren Gliedern sich unablässig bewegende und wellende Marschsäule gleichsam ständig am Leben erhaltend; all das hat mich ein wenig betäubt, irgendwie sogar überwältigt. Ich musste aber auch ein bisschen lächeln, weil mir die nachlässige, sozusagen verschämte Polizeibegleitung einfiel, damals zu Hause, auf dem Weg zur Gendarmerie. Aber selbst all die von den Gendarmen verübten Übertreibungen, so musste ich eingestehen, waren nichts als lärmende Wichtigtuerei gewesen, verglichen mit diesem schweigenden, sämtliche Einzelheiten zu vollkommener Übereinstimmung bringenden Sachverstand. Umsonst, dass ich zum Beispiel ihre Gesichter, ihre Mienen ganz genau sehen konnte, die Farbe ihrer Augen oder ihres Haars, den einen oder anderen persönlichen Zug, sogar Fehler, etwa einen Pickel auf der Haut – ich konnte mich an alldem doch nicht festhalten, ich musste irgendwie fast schon bezweifeln, ob die, die hier neben uns marschierten, wahrhaftig und trotz allem unsereinem ähnlich waren, letzten Endes doch aus demselben menschlichen Stoff, im Wesentlichen jedenfalls. Doch dann fiel mir ein, dass vielleicht meine Betrachtungsweise falsch war, denn gewiss war ich ja nicht aus demselben Stoff, natürlich.

Bei alledem beobachtete ich aber, dass wir eine allmählich mehr und mehr von Wiesen bedeckte Anhöhe hinauftrotteten, wieder auf einer ausgezeichneten, aber nicht wie in Auschwitz geraden, sondern kurvenreichen Landstraße. Ich sah in der Gegend viel natürliches Grün, hübsche Gebäude, weiter entfernt zwischen Bäumen versteckte Villen, Gärten, Parks, und die ganze Landschaft, ihre Ausmaße, alle Proportionen schienen mir gemäßigt, ja, ich darf sagen lieblich – zumindest für das an Auschwitz gewöhnte Auge. Am rechten Straßenrand überraschte uns auf einmal ein richtiger kleiner Tiergarten: Rehe, Nager und noch andere Tiere waren seine Bewohner, darunter ein etwas heruntergekommener Braunbär, der auf das Geräusch unserer Schritte hin in seinem Käfig gleich ganz aufgeregt und bettelnd Männchen machte und sogleich auch ein paar spaßige Bewegungen vorführte – wobei seine Anstrengungen aber diesmal unbelohnt blieben, wie sich versteht. Dann sind wir an einem Denkmal vorbeigekommen, das auf einer Lichtung stand, zwischen zwei sich hier verzweigenden Wegstücken. Die Figur ruhte auf einem weißen Sockel und war aus demselben weißen, weichen, körnigen und matten Stein gefertigt, ein etwas rohes, eher mit improvisierter Kunstfertigkeit ausgeführtes Werk. An den in das Gewand eingehauenen Streifen, dem kahlen Schädel, vor allem aber an ihrem Tun war sogleich ersichtlich: Die Figur sollte einen Gefangenen darstellen. Der vorgestreckte Kopf, das nach hinten ausschwingende Bein ahmten den Laufschritt nach, während die Hände sich vorn unter einem gewaltigen würfelförmigen Stein anspannten. Im ersten Augenblick betrachtete ich die Figur nur mit Kunstverstand, ja – so, wie wir es in der Schule gelernt hatten – ohne jede Absicht, erst dann kam mir in den Sinn, dass sie ja bestimmt auch etwas zu bedeuten hatte und nicht gerade als ein besonders vielversprechendes Vorzeichen angesehen werden konnte, wenn man es recht bedachte. Doch dann fiel mein Blick auf dichten Gitterdraht, darauf auf ein prächtiges, sich zwischen zwei mächtigen Steinsäulen öffnendes eisernes Tor mit einem verglasten, irgendwie an die Kommandobrücke von Schiffen erinnernden Aufbau darüber, und gleich darauf schritt ich darunter auch schon hindurch: Ich war im Konzentrationslager Buchenwald angekommen.

Buchenwald liegt in einer hügeligen Gegend, auf dem Rücken einer Anhöhe. Die Luft ist rein, das Auge wird von einer abwechslungsreichen Landschaft erfreut, dem Wald ringsum und den roten Ziegeldächern der Bauernhäuser im Tal. Das Bad befindet sich hier auf der linken Seite. Die Häftlinge sind größtenteils freundlich, dies aber irgendwie anders als in Auschwitz. Nach der Ankunft erwarten einen auch hier Bad, Friseur, Desinfektionsmittel und Kleiderwechsel. Die Garderobevorschriften sind im Übrigen genau die gleichen wie in Auschwitz. Nur dass hier das Wasser wärmer ist, die Friseure ihre Arbeit umsichtiger verrichten und sich der Kleiderverwalter die Mühe nimmt, und sei es auch nur mit einem flüchtigen Blick, von dir Maß zu nehmen. Danach kommst du in einen Flur, vor ein Schiebefenster, und sie möchten von dir wissen, ob du nicht zufällig Goldzähne hast. Dann schreibt ein schon länger hier wohnender Landsmann von dir, der sogar über Haare verfügt, deinen Namen in ein großes Buch, händigt dir ein gelbes Dreieck aus sowie einen breiten Lappen, einen Stoffstreifen, beides aus Leinen. In der Mitte des Dreiecks kannst du, zum Zeichen, dass du ja schließlich Ungar bist, ein großes U, auf dem Stoffstreifen eine gedruckte Nummer lesen, auf meinem zum Beispiel die 64 921. Es sei ratsam, erfuhr ich, die klare, deutliche und verständliche Aussprache der Zahl so schnell wie möglich auch auf Deutsch zu erlernen, so: «vier-und-sechzig, neun, ein-und-zwanzig», weil von nun an immer das meine Antwort zu sein habe, falls jemand wissen wolle, wer ich sei. Doch diese Nummer wird dir hier nicht in die Haut geschrieben, und stellst du noch zuvor, zur Zeit des Duschens etwa, diesbezüglich besorgte Fragen, so protestiert der alte Häftling mit hocherhobenen Händen und zur Decke verdrehten Augen: «Aber Mensch, um Gottes willen, wir sind doch hier nicht in Auschwitz!» Dessenungeachtet müssen sowohl Nummer wie Dreieck bis zum Abend auf der Brust des Anzugs aufgenäht sein, und zwar mit Hilfe der alleinigen Besitzer von Nadel und Faden: der Lagerschneider; solltest du des Schlangestehens bis zum Abend überdrüssig sein, kannst du ihnen mit einem bestimmten Teil deiner Ration Brot beziehungsweise Margarine etwas mehr Lust machen, wenngleich sie es auch so gern tun, denn schließlich ist es ihre Pflicht, wie es heißt. In Buchenwald ist es kühler als in Auschwitz, die Tage sind grau, und es nieselt häufig. Doch in Buchenwald kann es passieren, dass man schon zum Frühstück mit einer Art heißen Einbrennsuppe überrascht wird; wie ich im weiteren erfuhr, beträgt die Brotration normalerweise ein drittel, manchmal sogar ein halbes Brot – und nicht, wie in Auschwitz, normalerweise ein drittel, an bestimmten Tagen ein fünftel – und kann die Mittagssuppe eine Einlage und darin auch rote Fleischfasern, ja, im glücklichen Fall sogar den einen oder anderen Fleischbrocken enthalten; auch bin ich hier mit dem Begriff der «Zulage» vertraut geworden, die man in Form von Wurst oder einem Löffel Marmelade zusätzlich zur ständigen Margarine «fassen» kann – wie es der ebenfalls hier anwesende und bei solcher Gelegenheit höchst zufrieden wirkende Berufsoffizier ausdrückte. In Buchenwald wohnten wir in Zelten, dem sogenannten Zeltlager oder Kleinlager, und schliefen auf Stroh, zwar nicht voneinander abgesondert, sondern recht eng, aber immerhin waagerecht; der Drahtzaun war im hinteren Teil noch nicht geladen, allerdings würden auf den, der etwa nachts aus dem Zelt heraustritt, Schäferhunde gehetzt werden – so wurde gewarnt, und am Ernst der Warnung solltest du, auch wenn sie dich beim ersten Anhören überraschen mochte, nicht zweifeln. Am anderen Drahtzaun hingegen, wo das große, nach allen Seiten hin – links, rechts, den Hügel hinauf – wuchernde eigentliche Lager mit seinen gepflasterten Straßen, den schmucken grünen Baracken und flachen Steinhäuschen begann, eröffnete sich jeden Abend die Aussicht auf einen guten Gelegenheitskauf: Löffel, Messer, Näpfe, Kleidungsstücke, feilgeboten von ortsansässigen Häftlingen, die um diese Zeit hier Handel trieben; einer von ihnen bot mir einen Pullover an, für den Preis von nur einem halben Brot, wie er andeutete, vormachte, erklärte – aber ich habe ihn ihm nicht abgekauft, da ich ja im Sommer keinen Pullover brauchte und der Winter schließlich, so befand ich, noch weit entfernt war. Da habe ich auch gesehen, wie viele verschiedenfarbige Dreiecke und wie viel verschiedenerlei Buchstaben darin es gab, sodass ich mich zu guter Letzt kaum mehr auskannte, wer eigentlich woher kam. Aber auch in meiner Umgebung ließ sich manches ländlich gefärbte Wort aus der ungarischen Rede heraushören, ja, des öfteren vernahm ich auch die seltsame Sprache, die ich zuerst in Auschwitz, noch in der Eisenbahn, von den merkwürdigen Häftlingen gehört hatte, die uns in Empfang genommen hatten. In Buchenwald gibt es für die Bewohner des Zeltlagers keinen Appell, und die Waschanlage steht unter freiem Himmel, genauer, unter schattigen Bäumen: im Wesentlichen die gleiche Konstruktion wie in Auschwitz, aber mit Becken aus Stein, und – vor allem – den ganzen Tag fließt, spritzt oder rieselt zumindest Wasser aus den Rohren, und zum ersten Mal, seit ich in die Ziegelei gekommen war, wurde ich hier des Wunders teilhaftig, dass ich trinken konnte, wenn ich Durst hatte, ja sogar dann, wenn ich einfach nur Lust dazu bekam. Auch in Buchenwald gibt es ein Krematorium, versteht sich, aber insgesamt nur eines, denn das ist hier nicht der Zweck, nicht das Wesen der Sache, nicht Seele und Sinn des Ganzen – wenn ich so sagen darf –, sondern es werden nur solche verbrannt, die im Lager verscheiden, unter den gewöhnlichen Umständen des Lagerlebens sozusagen. In Buchenwald – die Nachricht ging wahrscheinlich von den alten Häftlingen aus und drang auch bis zu mir – sei es vor allem ratsam, sich vor dem Steinbruch in Acht zu nehmen, obwohl dieser – so wurde hinzugefügt – kaum noch in Betrieb sei, nicht so wie früher, zu ihrer Zeit, wie sie sagten. Das Lager besteht, wie ich erfahre, schon seit sieben Jahren, es gibt hier aber auch Leute, die aus noch älteren Lagern kommen, so zum Beispiel habe ich hier die Namen von einem gewissen «Dachau» sowie «Oranienburg» und «Sachsenhausen» erfahren können: Da verstand ich auch das nachsichtige Lächeln, das bei unserem Anblick auf dem Gesicht manch eines von jenseits des Drahtzauns stammenden Würdenträgers erschien, der eine Zehn- oder Zwanzigtausender-Nummer trug, wenngleich es da und dort auch vier- oder dreistellige Zahlen gab. In der Nähe unseres Lagers liegt – wie ich erfahre – eine bildungsmäßig gesehen namhafte Stadt, Weimar, deren Ruhm zu Hause auch schon Lernstoff gewesen war, versteht sich: Hier hatte unter anderen jener Mann gelebt und gewirkt, dessen Gedicht «Wer reitet so spät durch Nacht und Wind» auch ich ohne Buch auswendig kann und von dem sich hier irgendwo – wie es heißt – ein eigenhändig gepflanzter und seither tiefverwurzelter und weitverzweigter Baum, mit einer Gedenktafel versehen und vor uns Häftlingen durch einen Zaun geschützt, auf dem Lagergelände befindet – so heißt es. Alles in allem fiel es mir überhaupt nicht schwer, jene Gesichter in Auschwitz zu verstehen: Ich kann sagen, auch ich habe Buchenwald bald liebgewonnen.

Zeitz, genauer: Das nach dieser Ortschaft benannte Konzentrationslager liegt eine Nachtfahrt mit dem Güterzug von Buchenwald entfernt, dann noch weitere zwanzig, fünfundzwanzig Minuten zu Fuß, im Geleit von Soldaten, auf einer von wohlbestellten Äckern und ländlicher Umgebung gesäumten Landstraße – wie ich selbst bald erfahren konnte. Wenigstens würde das nun unser endgültiger Wohnsitz sein – so wurde versichert –, zumindest für die, deren Namen im Alphabet vor dem M kommen; das Ziel der anderen hingegen sei das – aufgrund des geschichtlichen Rufs der Stadt auch für mich schon vertrauter klingende – Arbeitslager Magdeburg, so wurde uns von den verschiedenen Würdenträgern, die alle lange Listen in der Hand hielten, mitgeteilt, und zwar noch in Buchenwald, auch hier am Abend des vierten Tages, auf einem riesengroßen, mit Bogenlampen beleuchteten Platz, und mich schmerzte nur, dass ich mich auf diese Art von vielen Jungen, vor allem von «Rosi», endgültig trennen musste, und zu guter Letzt trennte mich die Laune der Namen, denen entsprechend wir in den Zug gesetzt wurden, leider auch noch von all den anderen.

Ich muss sagen, es gibt nichts, was mühseliger und aufreibender ist als die quälenden Strapazen, die man offensichtlich jedes Mal auf sich nehmen muss, wenn man wieder in ein neues Konzentrationslager kommt – jedenfalls war das nach Auschwitz und Buchenwald auch in Zeitz meine Erfahrung. Im Übrigen habe ich gleich gesehen, dass ich diesmal nur in so ein kleines, armseliges, abgelegenes, sozusagen in ein Provinz-Konzentrationslager gekommen war. Ein Bad oder gar ein Krematorium – offenbar nur Bestandteile von wichtigeren Konzentrationslagern – hätte ich hier vergeblich gesucht. Auch die Gegend war wieder eine eintönige Ebene, nur vom Ende des Lagers sah man in der Ferne irgendeinen bläulichen Gebirgszug: den «Thüringer Wald» – wie ich jemanden sagen hörte. Der Stacheldraht, mit vier Wachttürmen an den Ecken, zog sich direkt an der Landstraße hin. Das Lager selbst hatte im Übrigen die Form eines Quadrats – eigentlich war es nicht mehr als ein großer, staubiger Platz, zum Tor und der Straßenseite hin frei, auf den anderen drei Seiten umgeben von riesigen Zelten in der Größe von Flugzeughallen oder wie beim Zirkus; das lange Abzählen und Einordnen, das Gehetze und Geschiebe diente, wie sich herausstellte, nur dazu, die künftigen Bewohner eines jeden Zelts, des «Blocks», wie sie sagten, festzulegen und davor antreten zu lassen, in Zehnerreihen. Zu einem der Zelte hat es dann auch mich mitgewirbelt, um ganz genau zu sein: zu dem rechts außen in der hinteren Reihe, wenn man in Richtung Tor blickt und die Zelte im Rücken hat, so wie ich auch jetzt stand – und zwar schon recht lange, bis zur Erstarrung, unter der immer unangenehmer drückenden Sonne. Vergeblich hielt ich nach den Jungen Ausschau: um mich herum lauter Unbekannte. Zu meiner Linken hatte ich einen großen, mageren, etwas seltsamen Nachbarn, der fortwährend irgendetwas murmelte und dabei den Oberkörper wiegte, rechts von mir vertrieb sich dagegen einer, der eher klein und breitschultrig war, die Zeit damit, in regelmäßigen Abständen mit kleinen Portionen Spucke spitz und genau vor sich in den Sand zu zielen. Auch er sah mich an, flüchtig zunächst, dann noch einmal, schon forschender, mit schrägen, lebhaft leuchtenden Knopfaugen. Unter ihnen erblickte ich eine lustig wirkende winzige, fast knochenlose Nase, und die Häftlingsmütze saß ihm fröhlich schief auf dem Kopf. Na – erkundigte er sich beim dritten Mal, und mir fiel auf, dass ihm sämtliche Vorderzähne fehlten –, woher ich denn käme. Als ich sagte, aus Budapest, wurde er gleich ganz munter: ob es den Großen Ring noch gebe und die Straßenbahnlinie sechs, so, wie er es «zuletzt verlassen» habe. Ich habe gesagt, ja klar, alles vorhanden; er schien zufrieden. Er wollte auch wissen, wie ich «hierhergeraten» sei, und ich habe gesagt: «Ganz einfach. Sie haben mich aus dem Autobus geholt.» – «Und?», wollte er noch wissen, und ich habe gesagt: Nichts weiter, man hat mich dann hierhertransportiert. Es schien, als staune er irgendwie ein bisschen, so als sei er sich über das Leben zu Hause vielleicht nicht ganz im Klaren, und ich wollte ihn schon fragen … aber das konnte ich nicht mehr, weil ich in dem Augenblick von der anderen Seite die Ohrfeige erhielt.

Eigentlich saß ich bereits am Boden, ehe ich das Klatschen vernahm, und meine linke Wange begann auch dann erst zu brennen. Ein Mann stand vor mir, von Kopf bis Fuß in schwarzer Reitkleidung, mit einer schwarzen Künstlermütze, mit Haar, ja sogar mit einem dünnen schwarzen Schnurrbärtchen im bräunlichen Gesicht, umgeben von einem für mich überraschenden Geruch – wirklich: von einer süßlichen Wolke echten Parfüms. Seinem wirren Gebrüll konnte ich nur die mehrfache Wiederholung des Wortes «Ruhe» entnehmen. Ohne jeglichen Zweifel handelte es sich um eine sehr hochrangige Respektsperson, wie die vornehm niedrige Nummer sowie das grüne, mit dem Buchstaben Z versehene Dreieck auf seiner Brust, die andererseits ein Metallkettchen mit einer silbernen Trillerpfeife schmückte, ja und dann das weithin sichtbare weiße LÄ auf seinem Arm je einzeln betonten. Aber ich war trotzdem ziemlich wütend, denn schließlich war ich es nicht gewohnt, geschlagen zu werden, von wem auch immer, und ich bemühte mich, wenn auch nur im Sitzen und nur durch meine Miene, dieser Wut möglichst deutlich Ausdruck zu geben. Er hat es wohl auch gemerkt, glaube ich, denn mir fiel auf, dass seine großen, dunklen, gleichsam in Öl schwimmenden Augen allmählich einen immer sanfteren, schließlich – obwohl er noch immer brüllte – beinahe schon schuldbewussten Ausdruck annahmen, während er den Blick aufmerksam über mich gleiten ließ, von den Füßen bis zum Gesicht: ein irgendwie unangenehmes, peinliches Gefühl. Dann stürzte er davon, zwischen den Leuten, die ihm Platz machten, hindurch, mit der gleichen stürmischen Geschwindigkeit, mit der er gerade aufgetaucht war.

Als ich mich wieder hochgerappelt hatte, fragte mich mein Nachbar zur Rechten gleich, ob es weh getanhabe. Ich erwiderte absichtlich ganz laut: überhaupt nicht. «Dann», meinte er, «wäre es ganz gut, du würdest dir die Nase abwischen.» Ich fasste hin: Tatsächlich, meine Finger waren rot. Er zeigte mir, wie ich den Kopf in den Nacken legen sollte, um das Blut zu stillen, über den Schwarzgekleideten aber bemerkte er: «Ein Zigeuner»; und, nach kurzem Nachdenken, hat er noch festgestellt: «Ein warmer Bruder, so viel ist sicher.» Ich verstand nicht ganz, was er wohl sagen wollte, und habe ihn dann auch gefragt, was der Ausdruck bedeute. Darauf hat er ein bisschen gelacht und gesagt: «Na, eben ein Schwuler!» Da war ich mir über den Begriff schon eher im Klaren, so ungefähr, glaube ich. «Übrigens», bemerkte er noch und streckte mir sogar die Hand von der Seite hin, «ich heiße Bandi Citrom», worauf auch ich ihm meinen Namen gesagt habe. Er seinerseits ist – wie ich dann von ihm erfahren habe – vom Arbeitsdienst hierhergekommen. Er war gleich einberufen worden, als sie mit dem Krieg anfingen, da er einundzwanzig war, von Alter, Blut und Gesundheit her also damals für den Arbeitsdienst tauglich, und seit vier Jahren nicht mehr daheim gewesen. Er war auch in der Ukraine gewesen, als Minensucher. Ja, und was war mit seinen Zähnen, wollte ich wissen. «Ausgeschlagen», sagte er. Ich war ziemlich erstaunt: «Wieso denn das …?», aber er nannte es nur «eine lange Geschichte» und sagte sonst nicht viel über die Angelegenheit. Auf jeden Fall sei er «mit dem Zugführer aneinandergeraten», und auch das Nasenbein habe er sich bei dieser Gelegenheit gebrochen – so viel konnte ich von ihm erfahren. Auch über das Mineneinsammeln hat er sich nur kurz geäußert: einen Spaten, ein Stück Draht, na und etwas Glück braucht man dazu, nach seinen Worten. Deshalb seien zuletzt auch nur noch ziemlich wenige in der «Strafkompanie» übriggeblieben, und anstelle der ungarischen Mannschaft seien dann Deutsche gekommen. Sie selbst seien erfreut gewesen, denn man hatte ihnen sogleich leichtere Arbeit und eine bessere Behandlung in Aussicht gestellt. Natürlich sind sie dann auch in Auschwitz aus dem Zug gestiegen.

Ich wollte ihn gerade noch weiter ausfragen, doch da sind die drei Leute zurückgekommen. Ich hatte von dem, was sich etwa zehn Minuten zuvor da vorn ereignet hatte, vor allem einen Namen mitbekommen, genauer das einhellige Schmettern mehrerer Stimmen, die alle den gleichen Namen riefen: «Doktor Kovács!», worauf bescheiden, sich zierend, gleichsam nur diesem drängenden Ruf nachgebend, ein dicklicher, weichgesichtiger, auf dem Scheitel von Natur aus und darum herum von der Haarschneidemaschine kahler Mann vortrat und dann seinerseits auf zwei andere zeigte. Darauf waren sie gleich mit dem Schwarzgekleideten weggegangen, und erst hinterher ist die Nachricht auch bis zu mir, in die hinteren Ränge, gedrungen, dass wir eigentlich einen Kommandeur, den «Blockältesten», wie sie es nannten, und dazu «Stubendienste» gewählt hatten – Begriffe, die ich für Bandi Citrom, der kein Deutsch kann, so schlecht und recht übersetzte. Jetzt wollten sie uns einige Kommandos und die dazugehörigen Bewegungen beibringen, die uns – so waren die drei gewarnt worden und so leiteten sie es an uns weiter – nicht ein zweites Mal beigebracht würden. Einige davon, so etwa die Rufe «Achtung!», «Mützen … ab!» und «Mützen … auf!», kannte ich schon aus meiner bisherigen Erfahrung, neu war hingegen das «Korrigiert!» – nämlich die Mützen, versteht sich – und ebenso das «Aus!», worauf die Hände, so hieß es, «stramm an die Hosennaht zu legen sind». Das haben wir dann mehrere Male geübt. Der Blockälteste hat dabei – so erfuhren wir – noch eine eigene Aufgabe: das Erstatten der Meldung, was er dann auch dort vor uns mehrmals probte, und zwar indem einer vom Stubendienst – ein untersetzter Mann mit rötlichem Haar und leicht violetten, länglichen Wangen – den Soldaten darstellte. «Block fünf», hörte ich ihn sagen, «zum Appell angetreten. Soll zweihundertfünfzig … Ist …», und so weiter, und dem entnahm ich, dass auch ich also Bewohner von Block fünf war, der einen Bestand von zweihundertfünfzig Mann aufwies. Nach einigen Wiederholungen war alles klar, verständlich und ohne weiteres auszuführen, wie jeder fand. Darauf folgten wieder Minuten ohne Beschäftigung, und da ich inzwischen auf eine Aufwerfung rechts von unserem Zelt mit einer langen Stange darüber und offenbar einer tiefen Grube dahinter aufmerksam geworden war, fragte ich Bandi Citrom, welchem Zweck das diene. «Die Latrine», erklärte er sofort, nach einem einzigen Blick. Er schüttelte dann ein bisschen den Kopf, als sich herausstellte, dass ich auch diesen Ausdruck nicht kannte. «Man merkt, du hast bis jetzt am Rockzipfel deiner Mutter gehangen», war seine Meinung. Dann hat er es mit einem einfachen kurzen Satz doch noch erklärt. Und er fügte noch etwas hinzu, nämlich, um seine Worte lückenlos wiederzugeben: «Na, ehe wir die vollgeschissen haben, sind wir wieder frei!» Ich lachte, er aber blieb ernst, so als sei er wirklich davon überzeugt, um nicht zu sagen: dazu entschlossen. Doch weiter konnte er diesen Gedanken nicht ausführen, denn vom Tor her näherten sich auf einmal die strengen, eleganten Gestalten von drei Soldaten, die sich ohne alle Eile, aber offensichtlich mit großer Gelassenheit, großer Sicherheit bewegten, woraufhin der Blockälteste, in der Stimme einen irgendwie neuen, eifrigen und gellenden Ton, den ich während der Probe kein einziges Mal bemerkt hatte, losschrie: «Achtung! Mützen … ab!», um sich dann die Mütze vom Kopf zu reißen wie alle anderen und wie auch ich, versteht sich.

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