9

Nach Hause kehrte ich ungefähr zu der gleichen Zeit zurück, wie ich fortgegangen war. Auf jeden Fall war der Wald ringsum schon längst grün, auch über den Leichengruben war Gras gesprossen, und der Asphalt des seit Anbruch der neuen Zeiten so vernachlässigten Appellplatzes, der mit den Resten erloschener Feuerstellen, mit Lumpen, Papier und Konservendosen übersät war, begann in der hochsommerlichen Hitze zu schmelzen, als man in Buchenwald auch mich fragte, ob ich Lust hätte, die Reise anzutreten. Wir wären zumeist junge Leute, so hieß es, unter der Führung einer stämmigen Exzellenz vom ungarischen Lagerkomitee, eines schon grau werdenden Mannes mit Brille, der unterwegs die Dinge für uns erledigen wollte. Es gebe einen Lastwagen, nun, und auch die Bereitschaft seitens der amerikanischen Soldaten, uns ein Stück nach Osten mitzunehmen: Das Weitere sei unsere Sache, sagte der Mann und forderte uns auf, ihn «Onkel Miklós» zu nennen. Das Leben, fügte er hinzu, müsse weitergehen, und, ja, wirklich, etwas anderes konnte es nicht tun, das sah ich ein, nachdem die Dinge nun einmal so standen, dass es überhaupt etwas tun konnte, versteht sich. Im Großen und Ganzen durfte ich mich wieder als gesund betrachten, abgesehen von einigen Seltsamkeiten, kleineren Unannehmlichkeiten. Wenn ich mir zum Beispiel an irgendeiner Stelle meines Körpers den Finger ins Fleisch bohrte, blieb die Spur, die Einbuchtung noch lange da, so als hätte ich ihn in irgendein lebloses, unelastisches Material, sagen wir in Käse oder Wachs gebohrt. Auch mein Gesicht überraschte mich etwas, als ich es in einem der wohnlichen, mit einem Spiegel eingerichteten Zimmer des SS-Krankenhauses zum ersten Mal erblickte, denn von früher her hatte ich ein anderes Gesicht in Erinnerung. Dieses, das ich nun anschaute, hatte unter dem ein paar Zentimeter nachgewachsenen Haar eine auffällig niedrige Stirn, unter dem merkwürdig verbreiterten Ohransatz zwei ganz neue, unförmige Geschwülste, andernorts weiche Taschen und Säcke, und es glich – zumindest wenn ich meiner Lektüre von früher glauben wollte – im Großen und Ganzen eher den faltigen, zerfurchten Gesichtern von Menschen, die sich in allen Lüsten und Wonnen umgetan hatten und deshalb früh vergreist waren, und auch den Blick der winzig gewordenen Augen hatte ich anders, freundlicher, ja vertrauenerweckender in Erinnerung. Nun und dann hinkte ich auch noch ein bisschen, zog ein wenig das rechte Bein nach: Kein Problem – sagte Onkel Miklós –, die Heimatluft bringt das dann schon in Ordnung. Zu Hause – ließ er verlauten – bauen wir uns eine neue Heimat, und fürs Erste brachte er uns auch gleich ein paar Lieder bei. Als wir dann zu Fuß durch Ortschaften und Kleinstädte zogen – was im Lauf unserer Reise hin und wieder vorkam –, sangen wir sie, militärisch in Dreierkolonne geordnet. Ich meinerseits lernte besonders «Vor Madrid auf Barrikaden» schätzen – warum, wüsste ich eigentlich gar nicht zu sagen. Aus anderweitigen Gründen, aber ebenso gern sang ich auch ein anderes, vor allem wegen folgender Stelle: «Wir schuften den lieben langen Tag/wir darben ohne Ende/doch schon nehmen wir das Gewehr/fest in die zerschundenen Hände!» Wieder aus anderen Gründen lag mir eines am Herzen, in dem die Zeile vorkam: «Wir sind die junge Gar-de, das Pro-le-tari-at», worauf wir mit gewöhnlicher Stimme dazwischenrufen mussten: «Rotfront!», denn da vernahm ich jedes Mal deutlich das Klirren von Fenstern, die geschlossen, das Knallen von Türen, die zugeschlagen wurden, und sah rasch von Tor zu Tor huschende oder eilig dahinter verschwindende Menschen, Deutsche.

Im Übrigen hatte ich mich mit leichtem Gepäck: einem einigermaßen unhandlichen, weil zu engen und dafür zu langen hellblauen Leinending – einem amerikanischen Militärsack auf den Weg gemacht. Darin meine beiden dicken Decken, Unterwäsche zum Wechseln und ein grauer, schön gestrickter Pullover aus SS-Beständen, an den Handgelenken und am Hals mit einem grünen Streifen verziert, na und dann auch noch Proviant: Konserven und dergleichen. Ich selbst trug die grüne Tuchhose der amerikanischen Armee, ebenso deren sehr dauerhaft wirkende Schnürschuhe mit Gummisohlen, darüber die Gamaschen aus unverwüstlichem Leder, mit all den entsprechenden Riemen und Schnallen. Für meinen Kopf hatte ich mir eine seltsam geformte, zumindest der Jahreszeit nicht ganz gemäße, ein wenig zu schwere Mütze beschafft, die eine hohe Blende und oben Kanten und Ecken: ein schiefes Viereck, ein – wie mir aus der längst vergangenen Schulzeit einfiel – Rhombus schmückte und die vor mir ein polnischer Offizier getragen haben soll, wie man mir sagte. Es hätte mir aus den Magazinen wohl auch zu einer besseren Jacke gereicht, aber das bewährte alte, bis auf das fehlende Dreieck und die fehlende Nummer unveränderte Stück tat es letzten Endes auch, ja, ich hatte es mir geradezu ausgesucht, ich hing geradezu daran: So konnte es wenigstens keine Missverständnisse geben – meinte ich –, nun, und dann war es auch eine recht angenehme, zweckmäßige, leichte Bekleidung, zumindest so im Sommer, wie ich fand. Den Weg legten wir auf Lastwagen, Fuhrwerken, zu Fuß und mit öffentlichen Verkehrsmitteln zurück – je nachdem, womit uns die verschiedenen Armeen dienen konnten. Wir schliefen auf Ochsenfuhrwerken, auf den Bänken und Kathedern verlassener Schulzimmer oder ganz einfach unter dem sommerlichen Sternenhimmel, in den Beeten, auf dem weichen Rasen von Parks zwischen schmucken Pfefferkuchenhäusern. Wir fuhren sogar mit dem Schiff, auf einem – zumindest für das an die Donau gewöhnte Auge – nicht sonderlich großen Strom, der, wie ich erfuhr, Elbe heißt, und ich passierte einen Ort, der offensichtlich früher eine Stadt gewesen war, jetzt aber insgesamt nur noch aus Schutthaufen und ein paar schwarzen, nackten Mauern bestand. Am Fuß dieser Mauern und Trümmer, nun und dann unter den Überresten von Brücken lebten, wohnten und schliefen die Einheimischen jetzt, und ich versuchte mich darüber zu freuen, versteht sich, nur musste ich spüren: Gerade sie machten mich dabei verlegen. Ich schaukelte in einer roten Straßenbahn dahin und reiste mit einer richtigen Eisenbahn, die richtige Waggons mit richtigen, für Menschen bestimmten Abteilen hatte – auch wenn ich zufällig nur noch auf ihrem Dach Platz fand. In einer Stadt stieg ich aus und hörte da neben dem Tschechischen schon viele ungarische Wörter, und während wir am Bahnhof auf den versprochenen Anschlusszug am Abend warteten, scharten sich Frauen, Alte, Männer, allerlei Leute um uns. Sie wollten wissen, ob wir aus dem Konzentrationslager kämen, und fragten viele von uns, so auch mich, ob wir dort nicht vielleicht einem ihrer Angehörigen begegnet seien, einem mit diesem oder jenem Namen. Ich sagte ihnen, im Konzentrationslager hätten die Menschen im Allgemeinen keinen Namen. Daraufhin bemühten sie sich, das Äußere, das Gesicht, die Haarfarbe, die besonderen Merkmale des Betreffenden zu beschreiben, und ich versuchte ihnen begreiflich zu machen, dass das keinen Zweck habe, weil sich die Menschen im Konzentrationslager zumeist sehr verändern. Worauf sie sich dann langsam verliefen, bis auf einen, der ganz sommerlich nur mit Hemd und Hose bekleidet war und die Daumen seitlich, wo die Hosenträger befestigt waren, hinter den Bund geklemmt hatte, während die übrigen Finger außen auf dem Stoff herumspielten und trommelten. Er war neugierig, zu erfahren – worüber ich ein bisschen lächeln musste –, ob ich die Gaskammern gesehen hätte. Ich sagte: «Dann würden wir jetzt nicht miteinander sprechen.» – «Na ja», sagte er, aber ob es wirklich Gaskammern gegeben habe, und ich sagte, aber ja, unter anderem gebe es auch Gaskammern, natürlich, und alles habe davon abgehangen, in welchem Lager welche Gebräuche herrschten. In Auschwitz zum Beispiel habe man mit ihrem Vorhandensein rechnen müssen. Ich hingegen – bemerkte ich – käme aus Buchenwald. «Woher?», fragte er, und ich musste es wiederholen: «Aus Buchenwald.» – «Also aus Buchenwald», sagte er und nickte dazu, und ich antwortete: «Ja.» Worauf er sagte: «Also, Moment mal», und das mit einer starren, strengen, beinahe schon schulmeisterlichen Miene. «Demnach hat der Herr», und ich weiß gar nicht, warum, aber irgendwie berührte mich diese ernsthafte, um nicht zu sagen einigermaßen feierliche Anrede, «von den Gaskammern gehört», und ich sagte wieder: «Aber ja.» – «Wobei Sie sich», so fuhr er fort, noch immer mit dieser starren Miene, gleichsam in den Dingen Ordnung und Klarheit schaffend, «aber doch nicht persönlich, mit eigenen Augen davon überzeugt haben», und ich musste zugeben: «Nein.» Worauf er bemerkte: «Aha», um dann weiterzutrippeln, steif, gerade aufgerichtet und, wie mir schien, irgendwie auch befriedigt, sofern mich nicht alles getäuscht hat. Bald darauf hieß es dann: Los, der Zug ist da, und ich konnte mir sogar einen recht guten Platz ergattern, auf einem Trittbrett der breiten, hölzernen Wagentreppe. Gegen Morgen bin ich erwacht, und da dampften wir gerade munter dahin. Und später wurde ich darauf aufmerksam, dass ich die Ortstafeln schon auf Ungarisch lesen konnte. Die Wasserfläche da – man wies auf sie hin –, welche die Augen blendete, das war schon die Donau, und das Land hier ringsum, das im frühen, aber schon starken Licht nur so glühte und flimmerte, das war – so wurde gesagt – bereits Ungarn. Nach einiger Zeit fuhren wir unter ein ramponiertes Dach ein, standen dann in einer Halle mit lauter ausgeschlagenen Scheiben: der Westbahnhof, wie man um mich herum feststellte, und tatsächlich, er war es, im Großen und Ganzen erkannte ich ihn wieder.

Draußen, vor dem Gebäude, brannte die Sonne senkrecht auf den Gehsteig herunter. Die Hitze war groß, viel Lärm, viel Staub und viel Verkehr. Gelbe Straßenbahnwagen mit einer Sechs darauf: Also hatte sich auch das nicht geändert. Ein paar Händler, mit merkwürdigem Gebäck, Zeitungen und anderen Sachen. Die Menschen waren sehr schön, und offenbar hatten sie alle zu tun, hatten alle etwas Wichtiges vor, alle waren in Eile, alle liefen drängelnd irgendwohin, strebten in die verschiedensten Richtungen. Auch wir – so erfuhr ich – mussten sofort zur Hilfsstelle, dort unverzüglich unseren Namen angeben, damit wir so schnell wie möglich zu Geld und Papieren kämen – nunmehr unvermeidlichem Zubehör des Lebens. Diese betreffende Stelle befand sich – wie es hieß – nun aber gerade in entgegengesetzter Richtung, in der Nähe des Ostbahnhofs, und so bestiegen wir gleich an der ersten Straßenecke eine Straßenbahn. Die Straßen kamen mir zwar etwas schäbig vor, in den Häuserzeilen da und dort Lücken, die noch vorhandenen Häuser wirkten mitgenommen oder unvollständig, löcherig, scheibenlos, aber ich erkannte die Strecke ungefähr doch, auch den Platz, wo wir ausstiegen. Die Hilfsstelle fanden wir gleich gegenüber einem – tatsächlich noch in meiner Erinnerung existierenden – Kino, in einem hässlichen, grauen, großen öffentlichen Gebäude: der Hof, die Halle, die Gänge schon voller Menschen. Sie saßen, standen, machten sich zu schaffen, lärmten, schwatzten oder schwiegen. Viele trugen irgendwelche zusammengewürfelten Kleider, abgelegte Sachen aus Lagermagazinen und Armeebeständen, Mützen und zuweilen gestreifte Jacken, so wie ich, aber manchmal waren sie auch schon ganz bürgerlich ausstaffiert, in weißem Hemd, mit Krawatte, die Hände auf dem Rücken verschränkt, schon wieder über wichtige Angelegenheiten beratschlagend, würdevoll, so wie damals, als sie nach Auschwitz gingen. Einige beschworen die Verhältnisse in den Lagern herauf, stellten Vergleiche an, andere erörterten die möglichen Aussichten, was die Summe, die Höhe des Beitrags betraf, wieder andere vermeinten Umständlichkeiten, unzulässige Bevorzugungen, Übervorteilungen durch andere, Ungerechtigkeiten entdeckt zu haben, doch eines war allen klar: Man hatte zu warten, und zwar lange. Nur fand ich das zu langweilig, und so habe ich meinen Sack geschultert und bin wieder in den Hof zurückgewandert und vor das Tor hinaus. Wieder habe ich das Kino erblickt, und da ist mir eingefallen: Wenn ich rechter Hand vielleicht einen, höchstens zwei Blocks weiterginge, müsste – falls mein Gedächtnis mich nicht ganz im Stich ließ – die Nefelejts-Straße meinen Weg kreuzen.

Das Haus habe ich leicht gefunden: Es war noch da und unterschied sich in nichts von den übrigen gelben oder grauen, einigermaßen baufälligen Häusern dieser Straße – zumindest mir schien es so. Im kühlen Tordurchgang entnahm ich dem uralten, eselsohrigen Namensverzeichnis, dass auch die Wohnungsnummer stimmte und ich in den zweiten Stock hinaufsteigen musste. Ich zog mich langsam durch das schimmlige, etwas säuerlich riechende Treppenhaus hoch, durch dessen Fenster ich auf die Außengänge und den trostlos sauberen Innenhof sah: in der Mitte ein bisschen Gras, nun und dann das übliche, traurig bemühte Bäumchen mit seinem kümmerlichen, verstaubten Laub. Gegenüber trat gerade eilig und geschäftig eine Frau mit Kopftuch heraus, den Staublappen in der Hand, anderswoher drang Radiomusik zu mir, und irgendwo brüllte auch ein Kind, und zwar wie am Spieß. Als dann vor mir eine Tür aufging, war ich sehr überrascht, denn nach langer Zeit habe ich auf einmal wieder die winzigen, schrägen Augen Bandi Citroms vor mir gesehen, bloß diesmal im Gesicht einer noch recht jungen schwarzhaarigen, ein wenig untersetzten und nicht sehr großen Frau. Sie wich etwas zurück, wahrscheinlich – wie ich meinte – wegen meiner Jacke, und damit sie mir nicht eventuell auch noch die Tür vor der Nase zumachte, fragte ich gleich: «Ist Bandi Citrom zu Hause?» Sie sagte: «Nein.» Ich fragte, ob er bloß jetzt nicht hier sei, im Moment, worauf sie, den Kopf ein wenig schüttelnd und die Augen kurz zudrückend, sagte: «Überhaupt», und erst als sie die Augen wieder öffnete, bemerkte ich, dass ihre unteren Augenwimpern ein bisschen feucht glänzten. Ein wenig verzog sich auch ihr Mund, und da dachte ich, es wäre wohl am besten, wenn ich mich so schnell wie möglich wieder davonmachte – doch da ist auf einmal aus dem Dämmer des Flurs eine magere alte Frau mit Kopftuch und dunklem Kleid aufgetaucht, und so musste ich auch ihr noch sagen: «Ich habe Bandi Citrom gesucht», und auch sie sagte: «Er ist nicht zu Hause.» Doch sie meinte: «Kommen Sie ein andermal wieder. In ein paar Tagen vielleicht …», und da bemerkte ich, wie die jüngere Frau mit einer seltsamen, abwehrenden und gleichzeitig doch irgendwie kraftlosen Bewegung den Kopf etwas abwandte, während sie den Handrücken an den Mund hob, als wollte sie ein hervordrängendes Wort, einen Laut unterdrücken, gewissermaßen ersticken. Dann musste ich noch der alten Frau berichten: «Wir waren zusammen», und dazu erklären: «in Zeitz», und mich auf ihre irgendwie strenge, fast schon Rechenschaft fordernde Frage hin: «Und warum sind Sie nicht zusammen nach Hause gekommen?», fast schon verteidigen: «Wir sind getrennt worden. Und dann hat man mich an einen anderen Ort gebracht.» Und sie wollte auch noch wissen: «Sind denn noch Ungarn draußen?», und ich habe geantwortet: «Aber ja, viele.» Worauf sie, mit einer Art sichtlichen Triumphs, zu der jungen Frau sagte: «Siehst du!» und zu mir: «Ich sage ja immer, dass sie erst jetzt zu kommen beginnen. Aber meine Tochter hat keine Geduld, sie will es nicht mehr glauben …», und ich hätte beinahe gesagt, dass sie nach meiner Ansicht sicher die Klügere sei und Bandi Citrom besser kenne, aber ich schwieg dann doch lieber. Sie hat mich dann auch noch eingeladen hereinzukommen, aber ich habe gesagt, ich müsse zuerst nach Hause. «Bestimmt warten Ihre Eltern auf Sie», meinte sie, und ich habe geantwortet: «Aber ja.» – «Na dann», hat sie noch bemerkt, «gehen Sie schnell, damit sie sich freuen», und so bin ich dann auch gegangen.

Am Bahnhof habe ich die Straßenbahn genommen, weil ich mein Bein sehr zu spüren begann, nun, und weil unter vielen auch eine mit der von einst bekannten Nummer kam. Eine dürre alte Frau mit einem merkwürdigen altmodischen Spitzenkragen rückte auf der offenen Plattform ein wenig von mir ab. Bald ist dann ein Mann mit Mütze und Uniform gekommen und hat meine Fahrkarte verlangt. Ich sagte ihm, dass ich keine habe. Er schlug vor, ich solle eine lösen. Ich sagte, ich käme aus der Fremde und hätte kein Geld. Da sah er meine Jacke an, dann mich, dann auch die alte Frau, und schließlich gab er mir zu verstehen, dass die Benutzung von Verkehrsmitteln Vorschriften unterworfen sei, und diese Vorschriften habe nicht er erfunden, sondern diejenigen, die über ihm säßen. «Wenn Sie keine Fahrkarte lösen, müssen Sie aussteigen», war seine Ansicht. Ich sagte ihm, dass mir aber das Bein schmerze, worauf sich die alte Frau abwandte und in die Gegend hinausschaute, das aber irgendwie so beleidigt, als hätte ich es, weiß Gott, warum, ihr zum Vorwurf gemacht. Doch da kam aus dem Wageninnern, schon von weitem lärmend, ein stattlicher, schwarzhaariger, zerzauster Mensch herausgetrampelt. Er trug ein offenes Hemd, einen hellen Leinenanzug, eine schwarze, an einem Riemen von seiner Schulter hängende Schachtel und in der Hand eine Aktentasche. Was denn das sei, schrie er und befahl: «Geben Sie mir eine Fahrkarte!», während er dem Schaffner ein Geldstück reichte oder besser: hinstieß. Ich versuchte, ihm zu danken, doch er unterbrach mich und blickte erregt in die Runde: «Es müssten sich eher gewisse Leute schämen», sagte er, doch der Schaffner war schon im Wageninnern, die alte Frau aber schaute nach wie vor hinaus. Darauf wandte er sich an mich, das Gesicht jetzt milde: «Kommst du aus Deutschland, mein Junge?» – «Ja.» – «Aus dem Konzentrationslager?» – «Natürlich.» – «Aus welchem?» – «Aus dem in Buchenwald.» Ja, er hatte davon gehört, wusste auch, dass es «einer der Kreise des Nazi-Infernos» war, so hat er sich ausgedrückt. «Von wo haben sie dich verschleppt?» – «Aus Budapest.» – «Wie lange warst du dort?» – «Ein Jahr, alles in allem.» – «Du hast wahrscheinlich viel gesehen, mein Junge, viele Gräuel», meinte er da, und ich habe nichts gesagt. «Na ja», fuhr er fort. «Hauptsache, es ist aus und vorbei», seine Miene hellte sich auf, er zeigte auf die Häuser, an denen wir gerade vorbeirumpelten, und erkundigte sich, was ich jetzt wohl empfand, wieder zu Hause, beim Anblick der Stadt, die ich damals verlassen hatte. Ich sagte: «Hass.» Er schwieg eine Weile, bemerkte dann aber, er müsse mein Gefühl leider verstehen. Im Übrigen habe «je nach den Umständen», so meinte er, auch der Hass seinen Platz, seine Rolle, «ja seinen Nutzen», und er nehme an, fügte er hinzu, wir seien uns da einig, und er wisse wohl, wen ich hasste. Ich sagte: «Alle.» Er schwieg wieder, dieses Mal etwas länger, und fragte dann: «Hast du viel Schreckliches durchmachen müssen?», und ich sagte, es käme darauf an, was er unter schrecklich verstehe. Bestimmt, sagte er da, mit einem etwas unbehaglichen Ausdruck im Gesicht, hätte ich viel entbehren, hungern müssen, und wahrscheinlich sei ich auch geschlagen worden, und ich sagte: «Natürlich.» – «Lieber Junge», rief er da, wobei er, wie mir schien, doch langsam die Geduld verlor, «warum sagst du bei allem, es sei natürlich, und immer bei Dingen, die es überhaupt nicht sind!» Ich sagte, im Konzentrationslager sei so etwas natürlich. «Ja, ja», sagte er, «dort schon, aber …», und hier stockte, zögerte er ein bisschen, «aber … ich meine, das Konzentrationslager an sich ist nicht natürlich!», endlich hatte er gewissermaßen das richtige Wort erwischt, und ich erwiderte dann auch nichts darauf, denn ich begann allmählich einzusehen: Über bestimmte Dinge kann man mit Fremden, Ahnungslosen, in gewissem Sinn Kindern, nicht diskutieren, um es so zu sagen. Und im Übrigen – so fiel mir beim Anblick des Platzes, der noch immer vorhanden, höchstens etwas kahler und ungepflegter geworden war, plötzlich ein –, ich musste ja aussteigen, und das teilte ich ihm auch mit. Doch er kam mit mir, zeigte dann auf eine schattige Bank ohne Rückenlehne und schlug vor, wir sollten uns dort für einen Augenblick hinsetzen.

Zunächst schien er einigermaßen unsicher. Tatsächlich – so hat er bemerkt – kämen «die Schrecklichkeiten erst jetzt wirklich an den Tag», und er fügte hinzu, dass «die Welt vorläufig verständnislos vor der Frage steht, wie, auf welche Art, das alles überhaupt geschehen konnte». Ich sagte nichts, und da hat er sich auf einmal ganz zu mir gewandt und gesagt: «Mein Junge, möchtest du nicht über deine Erlebnisse berichten?» Ich staunte ein bisschen und sagte, sehr viel Interessantes könnte ich ihm nicht erzählen. Da hat er ein wenig gelächelt und gesagt: «Nicht mir: der Welt.» Darauf staunte ich noch mehr und wollte wissen: «Aber worüber denn?» – «Über die Hölle der Lager», antwortete er, worauf ich bemerkte, darüber könne ich schon gar nichts sagen, weil ich die Hölle nicht kenne und sie mir nicht einmal vorstellen kann. Aber er sagte, das sei bloß so ein Vergleich: «Haben wir uns denn», fragte er, «das Konzentrationslager nicht als Hölle vorzustellen?», und ich sagte, während ich mit dem Absatz ein paar Kreise in den Staub zeichnete, jeder könne es sich vorstellen, wie er wolle, ich meinerseits könne mir jedenfalls nur das Konzentrationslager vorstellen, denn das kenne ich bis zu einem gewissen Grad, die Hölle aber nicht. «Aber wenn nun doch?», drängte er, und nach ein paar weiteren Kreisen sagte ich: «Dann würde ich sie mir als einen Ort vorstellen, wo man sich nicht langweilen kann», wohingegen man das, so fügte ich hinzu, im Konzentrationslager könne, sogar in Auschwitz – unter bestimmten Voraussetzungen, versteht sich. Daraufhin schwieg er ein Weilchen, und dann fragte er, irgendwie aber schon widerwillig, wie mir schien: «Ja, und womit erklärst du das?», und da habe ich nach einigem Nachdenken gefunden: «Mit der Zeit.» – «Was heißt das, mit der Zeit?» – «Das heißt, dass die Zeit hilft.» – «Hilft …? Wobei?» – «Bei allem», und ich versuchte ihm zu erklären, wie es ist, an einem nicht gerade luxuriösen, im Ganzen aber doch annehmbaren, sauberen und hübschen Bahnhof anzukommen, wo einem alles erst langsam, in der Abfolge der Zeit, Stufe um Stufe klar wird. Wenn man die eine Stufe hinter sich gebracht hat, sie hinter sich weiß, kommt bereits die nächste. Wenn man dann alles weiß, hat man auch alles bereits begriffen. Und indes man alles begreift, bleibt man ja nicht untätig: Schon erledigt man die neuen Dinge, man lebt, man handelt, man bewegt sich, erfüllt die immer neuen Forderungen einer jeden neuen Stufe. Gäbe es jedoch diese Abfolge in der Zeit nicht und würde sich das ganze Wissen gleich dort auf der Stelle über uns ergießen, so hielte es unser Kopf vielleicht gar nicht aus, und auch unser Herz nicht – so versuchte ich, es für ihn ein wenig zu beleuchten, worauf er aus seiner Tasche eine zerfledderte Zigarettenschachtel hervorklaubte und auch mir eine der zerknitterten Zigaretten hinhielt, die ich ablehnte, und nach zwei tiefen Zügen, die Ellbogen auf die Knie gestützt, so, vorgebeugt und ohne mich anzuschauen, sagte er mit einer etwas klanglosen, dumpfen Stimme: «Ich verstehe.» Andererseits, fuhr ich fort, sei da gerade der Fehler, ich könnte sagen der Nachteil, dass man die Zeit auch irgendwie verbringen muss. Zum Beispiel habe ich – erzählte ich ihm – Gefangene gesehen, die schon vier, sechs oder auch zwölf Jahre im Konzentrationslager waren – oder genauer: noch da waren. Nun aber haben diese Menschen all die vier, sechs oder zwölf Jahre, das heißt im letzteren Fall zwölf mal dreihundertfünfundsechzig Tage, das heißt zwölf mal dreihundertfünfundsechzig mal vierundzwanzig Stunden, und noch weiter zwölf mal dreihundertfünfundsechzig mal vierundzwanzig mal … und das Ganze zurück, in Sekunden, Minuten, Stunden, Tagen: also dass sie es von A bis Z irgendwie hinter sich bringen mussten. Wiederum andererseits, so fügte ich hinzu, mochte gerade das ihnen geholfen haben, denn wenn diese ganze, zwölf mal dreihundertfünfundsechzig mal vierundzwanzig mal sechzig mal sechzig genommene Zeit auf einmal, auf einen Schlag über sie hereingebrochen wäre, dann hätten sie es nicht ausgehalten – so wie sie es auf die Art eben doch ausgehalten haben –, dann hätten sie es weder körperlich noch geistig verkraftet. Und da er schwieg, habe ich noch hinzugefügt: «So ungefähr muss man es sich vorstellen.» Worauf er, in der gleichen Weise wie vorhin, nur jetzt statt der Zigarette, die er inzwischen fortgeworfen hatte, das Gesicht mit beiden Händen haltend, mit einer wohl dadurch noch dumpferen, erstickten Stimme sagte: «Nein, das kann man sich nicht vorstellen», und ich meinerseits sah das auch ein. Ich dachte bei mir: Nun, das wird es wohl sein, warum sie stattdessen lieber von Hölle sprechen, wahrscheinlich.

Dann aber hat er sich bald wieder aufgerichtet, auf seine Uhr geschaut, und sein Ausdruck veränderte sich. Er ließ mich wissen, er sei Journalist, und zwar – wie er hinzufügte – «bei einer demokratischen Zeitung», und da erst bin ich darauf gekommen, an wen mich der eine oder andere seiner Sätze schon die ganze Zeit von ferne erinnerte: an Onkel Vili – freilich, das musste ich zugeben, mit dem Unterschied, auch an Glaubwürdigkeit sozusagen, den ich erkennen müsste, wenn ich etwa die Worte und vor allem die Taten und den Eigensinn des Rabbi beispielsweise mit denen von Onkel Lajos vergliche. Dieser Gedanke erinnerte mich auf einmal daran, brachte es mir eigentlich erst jetzt wirklich zum Bewusstsein, dass ein Wiedersehen wahrscheinlich bald bevorstand, und so folgte ich den Sprüchen des Journalisten nur noch mit halbem Ohr. Er würde – so sagte er – den Zufall unserer Bekanntschaft gern zu einem «glücklichen Zufall» machen. Er schlug vor, wir sollten einen Artikel schreiben, eine «Artikelserie» beginnen. Die Artikel würde er schreiben, aber ausschließlich aufgrund meines Berichts. So würde ich auch zu ein wenig Geld kommen, das mir auf der Schwelle zum «neuen Leben» gewiss von Nutzen sein würde, auch wenn er – so fügte er mit einem irgendwie um Verzeihung bittenden Lächeln hinzu – nicht sehr viel «anbieten könne», weil das Blatt noch neu sei und «vorerst auf einer schwankenden finanziellen Grundlage» stehe. Aber im Augenblick, befand er, sei sowieso nicht das die Hauptsache, sondern vielmehr, «die noch blutenden Wunden zu heilen und die Schuldigen zu bestrafen». Vor allem aber müsse man «die öffentliche Meinung aufrütteln» und «Apathie, Gleichgültigkeit, ja Skepsis» ausräumen. Gemeinplätze würden dabei nicht helfen, sondern es gehe, so sagte er, darum, die Ursachen aufzudecken, es gehe um die Wahrheit, welch «schmerzliche Prüfung» es auch bedeute, ihr ins Gesicht zu schauen. In meinen Worten sehe er «viel Originalität» und alles in allem die Zeichen der Zeit, ihren – wenn ich es richtig verstanden habe – «traurigen Stempel», und das bedeute «in der ermüdenden Flut des Tatsachenmaterials einen neuen, persönlichen Ton» – so hat er es gesagt und mich gefragt, was ich dazu meinte. Ich bemerkte, zunächst müsste ich meine eigenen Angelegenheiten erledigen, was er offenbar missverstand, denn er sagte: «Nein. Das ist nicht mehr nur deine Angelegenheit. Sondern unsere, die der ganzen Welt», und ich sagte ihm, ja, schon, nur sei es jetzt an der Zeit, dass ich nach Hause ginge; daraufhin bat er mich um «Verzeihung». Wir sind aufgestanden, aber es schien, als zögere er noch, als habe er noch etwas auf dem Herzen. Ob wir die Artikel – fragte er – nicht mit einem Foto vom Augenblick des Wiedersehens beginnen könnten? Ich sagte nichts, und da hat er mit einem schiefen kleinen Lächeln die Bemerkung gemacht, der Journalist werde «von seinem Handwerk hin und wieder zu Taktlosigkeit gezwungen», aber wenn es mir nicht behage, so würde er seinerseits nicht «insistieren» wollen. Dann setzte er sich wieder hin, öffnete auf den Knien ein schwarzes Notizbuch und schrieb eilig etwas hinein, das Blatt riss er dann heraus und überreichte es mir, während er wieder aufstand. Das sei sein Name und die Adresse seiner Redaktion, und er verabschiede sich «in der Hoffnung auf ein baldiges Wiedersehen», wie er sagte, worauf ich den freundlichen Druck seiner warmen, fleischigen, etwas verschwitzten Hand spürte. Auch ich hatte das Gespräch mit ihm als angenehm, entspannend empfunden und ihn selbst als sympathisch und guten Willens. Ich wartete noch, bis seine Gestalt im Strudel der Fußgänger verschwand, erst dann warf ich den Zettel weg.

Nach ein paar Schritten erkannte ich unser Haus. Es stand noch, unversehrt, völlig in Ordnung. Der vertraute Geruch des Tordurchgangs, der in seinem vergitterten Schacht ruhende wacklige Aufzug und die gelblich gewordenen, ausgetretenen Stufen bereiteten mir den Empfang, und weiter oben konnte ich auch den an einen bestimmten traulichen Augenblick erinnernden Treppenabsatz begrüßen. Auf unserem Stockwerk klingelte ich dann an unserer Tür. Sie öffnete sich auch bald, aber nur so weit, wie der innere Verschluss, irgend so ein Haken oder eine Sperrkette, es zuließ, und ich war etwas überrascht, da ich mich von früher nicht an eine solche Vorrichtung erinnerte. Aus dem Türspalt schaute mich das gelbe, knochige Gesicht einer fremden Frau etwa mittleren Alters an. Sie fragte, wen ich suche, und ich sagte zu ihr, ich wohnte hier. «Nein», sagte sie, «hier wohnen wir» und wollte die Tür schon wieder schließen, was ihr aber nicht gelang, da ich den Fuß dazwischengestellt hatte. Ich versuchte ihr zu erklären, das sei ein Irrtum, denn von hier sei ich weggegangen, und es sei ganz sicher, dass wir hier wohnten, sie hingegen versicherte mir, ich täuschte mich, weil ohne jeden Zweifel sie hier wohnten, und gleichzeitig schüttelte sie freundlich, höflich, aber bedauernd den Kopf und versuchte, die Tür zu schließen, während ich versuchte, sie aufzuhalten. In einem Augenblick, als ich zu der Nummer hochsah, ob ich mich nicht vielleicht doch in der Tür geirrt hätte, gab offenbar wohl mein Fuß nach, denn da hat sich ihr Bemühen als erfolgreich erwiesen, und ich hörte noch, wie sie in dem zufallenden Schloss den Schlüssel gleich zweimal umdrehte.

Auf dem Weg zum Treppenhaus zurück stockte ich vor einer vertrauten Tür. Ich klingelte, und bald erschien eine dicke, stattliche Frau. Schon wollte sie – auf bereits bekannte Art – die Tür wieder zumachen; da blitzte hinter ihr eine Brille auf, und aus dem Halbdunkel schälte sich das graue Gesicht von Herrn Fleischmann heraus. Neben ihm tauchten ein umfangreicher Bauch, Pantoffeln, ein großer roter Kopf, ein kindlicher Scheitel und der ausgebrannte Stummel einer Zigarre auf: der alte Steiner, beide, wie ich sie zurückgelassen hatte, so als wäre es gestern gewesen, am Vorabend des Zollhaus-Tages. Sie standen da, schauten mich an, riefen meinen Namen, und der alte Steiner umarmte mich, so, wie ich war, samt Mütze, verschwitzt, in meiner gestreiften Jacke. Sie holten mich herein, ins Zimmer, und Frau Fleischmann ist in die Küche geeilt, um zu schauen, ob «ein Häppchen zu essen» da sei, wie sie sich ausdrückte. Ich musste die üblichen Fragen beantworten: woher, wie, wann, auf welche Weise, dann fragte ich und erfuhr, dass in unserer Wohnung tatsächlich inzwischen andere Leute wohnten. Ich wollte wissen: «Und wir?», und weil sie sich irgendwie schwertaten, fragte ich: «Mein Vater?», worauf sie dann endgültig verstummt sind. Nach kurzer Zeit hob sich langsam eine Hand – ich glaube, die von Herrn Steiner – in die Höhe, machte sich auf den Weg und ließ sich dann, wie eine vorsichtige alte Fledermaus, auf meinem Arm nieder. Dem, was sie dann sagten, konnte ich im Wesentlichen so viel entnehmen, dass «wir an der Echtheit der Trauerbotschaft leider nicht zweifeln können», weil sie auf dem «Zeugnis ehemaliger Kameraden» beruhe, demgemäß mein Vater «nach kurzem Leiden verschieden» sei, in einem «deutschen Lager», das sich aber eigentlich auf österreichischem Gebiet befinde, na … wie heißt es doch gleich …, und ich sagte: «Mauthausen.» – «Mauthausen!» riefen sie erfreut, worauf sie sich wieder verdüsterten: «Ja, genau.» Ich fragte sie dann, ob sie nicht vielleicht Nachricht von meiner Mutter hätten, und sie sagten gleich: Aber ja, doch, und zwar eine erfreuliche, sie lebt, ist gesund, vor ein paar Monaten war sie hier im Haus, sie selbst hatten sie gesehen und mit ihr gesprochen, sie hatte nach mir gefragt. Und meine Stiefmutter?, wollte ich auch noch wissen und erfuhr: «Na ja, sie hat inzwischen wieder geheiratet.» – «Ach», forschte ich weiter, «wen denn?», und da sind sie wieder über den Namen gestolpert. Der eine hat gesagt: «Irgendeinen Kovács, wenn ich mich nicht irre», der andere: «Nein, nicht Kovács, eher Futó.» Ich habe gesagt: «Sütő», und auch jetzt nickten sie erfreut und waren nun ganz sicher: «Richtig, Sütő, natürlich» – genauso wie gerade zuvor. Sie verdanke ihm viel, «eigentlich alles», sagten sie dann: Er habe «das Vermögen hinübergerettet», er habe «sie in den schweren Zeiten versteckt» – so haben sie es formuliert. «Vielleicht», sann Herr Fleischmann noch ein wenig nach, «hat sie es ein bisschen eilig gehabt», und dem stimmte auch der alte Steiner zu. «Aber letzten Endes», meinte er noch, «ist das verständlich», was dann wieder der andere Alte zugab.

Dann saß ich noch ein Weilchen bei ihnen herum, weil ich schon lange nicht mehr so gesessen hatte, in einem bordeauxrot bezogenen, weichen Samtfauteuil. Auch Frau Fleischmann war inzwischen zurückgekommen und hatte auf einem weißen Porzellanteller mit Zierrand Schmalzbrote gebracht, mit Streupaprika und dünnen Zwiebelringen verziert, denn sie erinnerte sich, dass ich das früher sehr gern gemocht hatte, was ich auch sogleich bezüglich der Gegenwart bekräftigte. Unterdessen erzählten die beiden Alten, «ja, auch hier zu Hause» sei es «nicht leicht» gewesen. Ihr Bericht gab mir den Eindruck eines wirren, verwickelten und nicht nachvollziehbaren Geschehens von nebelhaften Umrissen, die eigentlich nichts so recht erkennen und verstehen ließen. Es war mehr die häufige, fast schon ermüdende Wiederholung eines Wortes, was mir an ihrer Litanei auffiel, ein Wort, mit dem sie jede neue Wende, jede Veränderung, jede Bewegung bezeichneten: So «kamen» zum Beispiel die Judensternhäuser, «kam» der fünfzehnte Oktober, «kamen» die Pfeilkreuzler, «kam» das Ghetto, «kam» die Sache am Donau-Ufer, «kam» die Befreiung. Nun und dann war da der übliche Fehler: Als hätte dieses ganze verwischte, in Wirklichkeit unvorstellbar erscheinende und auch in den Einzelheiten – so wie ich sah – für sie nicht mehr vollständig nachvollziehbare Geschehen nicht in der gewohnten Abfolge von Minuten, Stunden, Tagen, Wochen und Monaten stattgefunden, sondern gewissermaßen auf einmal, irgendwie in einem einzigen Wirbel, Taumel, etwa auf so einer merkwürdigen, unerwartet in eine Ausschweifung ausartenden Nachmittagsgesellschaft, wo die Teilnehmer – weiß Gott, warum – plötzlich alle aus dem Häuschen geraten und zuletzt überhaupt nicht mehr wissen, was sie tun. Irgendwann sind sie dann verstummt, und nach einer kurzen Stille hat der alte Fleischmann auf einmal die Frage an mich gerichtet: «Und was für Pläne hast du für die Zukunft?» Ich war etwas überrascht und habe gesagt, daran hätte ich noch nicht so recht gedacht. Da regte sich auch der andere Alte und beugte sich auf seinem Stuhl zu mir. Auch die Fledermaus erhob sich wieder und ließ sich diesmal auf meinem Knie nieder statt auf meinem Arm. «Vor allem», sagte er, «musst du die Gräuel vergessen.» Ich war noch mehr überrascht und habe gefragt: «Wieso?» – «Damit du», antwortete er, «leben kannst», und Herr Fleischmann nickte und fügte hinzu: «Frei leben», worauf der andere Alte nickte und hinzufügte: «Mit einer solchen Last kann man kein neues Leben beginnen», und da hatte er bis zu einem gewissen Grad recht, das musste ich zugeben. Nur verstand ich nicht ganz, wie sie etwas verlangen konnten, was unmöglich ist, und ich habe dann auch bemerkt, was geschehen sei, sei geschehen, und ich könne ja meinem Erinnerungsvermögen nichts befehlen. Ein neues Leben – meinte ich – könnte ich nur beginnen, wenn ich neu geboren würde oder wenn irgendein Leiden, eine Krankheit oder so etwas meinen Geist befiele, was sie mir ja hoffentlich nicht wünschten. «Und überhaupt», fügte ich hinzu, «habe ich von Gräueln nichts bemerkt», und da sah ich, dass sie ziemlich verblüfft waren. Was das heißen solle, wollten sie wissen, ich hätte «nichts bemerkt»? Da habe ich sie nun aber gefragt, was sie denn wohl in diesen «schweren Zeiten» gemacht hätten. «Na ja … wir haben gelebt», sagte der eine nachdenklich. «Wir haben zu überleben versucht», fügte der andere hinzu. Also hatten auch sie einen Schritt nach dem anderen gemacht – wie ich bemerkte. Was für Schritte, wollten sie wissen, und da habe ich auch ihnen erzählt, wie das zum Beispiel in Auschwitz zugegangen war. Pro Eisenbahnzug – ich will nicht behaupten, dass es unbedingt jedes Mal so war, denn das kann ich nicht wissen –, zumindest in unserem Fall aber ist mit ungefähr dreitausend Personen zu rechnen. Nehmen wir davon etwa tausend Männer an. Rechnen wir für die Untersuchung ein, zwei Sekunden, eher eine als zwei. Den ersten und den letzten lassen wir weg, die zählen ja nie. In der Mitte jedoch, wo auch ich stand, muss man also mit einer Wartezeit von zehn bis zwanzig Minuten rechnen, bis man zu dem Punkt gelangt, wo sich entscheidet: gleich das Gas oder noch einmal davongekommen. In der Zwischenzeit aber bewegt sich die Reihe ständig fort, geht immer weiter voran, und ein jeder macht immer einen Schritt, einen kleineren oder einen größeren, je nach Betriebsgeschwindigkeit.

Daraufhin ist eine Stille entstanden, die bloß von einem Geräusch unterbrochen wurde: Frau Fleischmann nahm mir den leeren Teller weg und trug ihn hinaus, und ich sah sie nicht mehr zurückkommen. Die zwei Alten aber fragten, was das mit der Sache zu tun habe und was ich damit sagen wolle. Ich sagte, nichts Besonderes, nur war es nicht einfach so, dass die Dinge «kamen», wir sind auch gegangen. Nur jetzt wirkt alles so fertig, so abgeschlossen, unveränderlich, endgültig, so ungeheuer schnell und so fürchterlich verschwommen, so, als sei es «gekommen»: nur jetzt, wenn wir es im Nachhinein, von hinten her sehen. Und, freilich, auch wenn wir das Schicksal schon im voraus kennen. Dann bleibt uns, in der Tat, nur noch die einleuchtende Erkenntnis, wie die Zeit vergeht. Dann ist zum Beispiel ein dummer Kuss vom gleichen Grad der Notwendigkeit wie, sagen wir, ein Tag des Stillhaltens im Zollhaus oder wie die Gaskammern. Bloß, ob wir von hinten oder von vorn schauen, beides sind falsche Betrachtungsweisen – war meine Meinung. Schließlich sind mitunter auch zwanzig Minuten, für sich genommen, eine lange Zeit. Jede Minute hat begonnen, hat gedauert und ist zu Ende gegangen, bevor die nächste begann. Nun aber – sagte ich – ziehen wir doch einmal in Betracht: Jede dieser Minuten hätte eigentlich auch etwas Neues bringen können. In Wirklichkeit hat sie nichts gebracht, natürlich – aber dennoch muss man zugeben: Sie hätte etwas bringen können, schließlich hätte während einer jeden etwas anderes geschehen können als das, was zufällig geschah, in Auschwitz ebenso wie etwa, nehmen wir einmal an, hier zu Hause, als wir Vater verabschiedet haben.

Auf diesen letzten Satz hin ist der alte Steiner irgendwie in Bewegung geraten. «Aber was hätten wir denn tun können?!», fragte er mit einer halb zornigen, halb klagenden Miene. Ich sagte: nichts, natürlich; oder – so fügte ich hinzu – irgendetwas, was genauso unvernünftig gewesen wäre, wie dass wir nichts getan haben, natürlich, wie immer natürlich. «Aber es geht ja gar nicht darum», versuchte ich weiter, es ihnen zu erklären. «Also worum denn eigentlich?», fragten sie, nun schon etwas die Geduld verlierend, und ich erwiderte, wobei ich fühlte, wie ich selbst immer wütender wurde: «Um die Schritte.» Jeder hat seine Schritte gemacht, solange er konnte: auch ich, und das nicht nur in der Kolonne in Birkenau, sondern schon hier zu Hause. Ich habe sie mit meinem Vater gemacht, mit meiner Mutter, mit Annamaria und auch – vielleicht die schwersten – mit der älteren Schwester. Jetzt könnte ich ihr sagen, was es bedeutet, «Jude» zu sein: nichts, für mich nichts und ursprünglich nichts, solange die Schritte nicht einsetzen. Nichts von alldem ist wahr, es gibt kein anderes Blut, es gibt nichts, bloß …, ich stockte, doch da ist mir plötzlich der Ausdruck des Journalisten eingefallen: es gibt bloß die gegebenen Umstände und in ihnen neue Gegebenheiten. Auch ich habe ein gegebenes Schicksal durchlebt. Es war nicht mein Schicksal, aber ich habe es durchlebt – und ich begriff nicht, warum es ihnen nicht in den Kopf ging, dass ich nun eben etwas damit anfangen, es irgendwo festmachen, irgendwo anfügen musste, dass es jetzt nicht mehr genügen konnte, mir zu sagen, dass es ein Irrtum war, ein Unfall, so eine Art Ausrutscher, oder dass es eventuell gar nicht stattgefunden hat, womöglich. Ich sah schon, sah es sehr wohl, dass sie mich nicht recht verstanden, dass meine Worte ihnen nicht so recht behagten, ja, dass das eine oder andere ihnen geradezu auf die Nerven ging. Ich sah, wie Herr Steiner mich hie und da unterbrechen, hie und da beinahe schon aufspringen wollte, ich sah, wie ihn der andere Alte zurückhielt, und ich hörte, wie er zu ihm sagte: «Lassen Sie ihn, sehen Sie denn nicht, dass er einfach reden will? Lassen Sie ihn doch reden», und ich redete auch, wahrscheinlich umsonst und wohl auch etwas unzusammenhängend. Aber auch so habe ich ihnen erklärt, dass man nie ein neues Leben beginnen, sondern immer nur das alte fortsetzen kann. Ich und kein anderer hat meine Schritte gemacht, und ich behaupte, mit Anstand. Der einzige Fleck, der einzige Schönheitsfehler, den man mir eventuell vorwerfen könnte, das einzig Zufällige sei, dass wir uns jetzt hier unterhielten – doch dafür konnte ich nichts. Ob sie denn wollten, dass diese ganze Anständigkeit und alle meine vorangegangenen Schritte nun ihren ganzen Sinn verlören? Warum dieser plötzliche Gesinnungswandel, warum diese Widerspenstigkeit, warum dieser Unwille, einzusehen: wenn es ein Schicksal gibt, dann ist Freiheit nicht möglich: Wenn es aber – so fuhr ich fort, selbst immer überraschter, immer erhitzter – die Freiheit gibt, dann gibt es kein Schicksal, das heißt also – ich hielt inne, aber nur, um Atem zu holen –, das heißt also, wir selbst sind das Schicksal – dahinter war ich plötzlich gekommen, und zwar in diesem Augenblick mit einer solchen Klarheit wie bisher noch nie. Ein bisschen bedauerte ich sogar, nur sie und nicht intelligentere, sozusagen würdigere Gegner vor mir zu haben. Aber sie waren nun einmal da, sie sind – so ahnte ich wenigstens in diesem Augenblick – überall da, und jedenfalls waren sie auch da gewesen, als wir meinen Vater verabschiedet hatten. Auch sie hatten ihre Schritte gemacht. Auch sie hatten im voraus alles gewusst, auch sie hatten alles vorausgesehen, auch sie hatten sich von Vater verabschiedet, als sei es schon sein Begräbnis, und später waren sie sich auch bloß darüber in die Haare geraten, ob ich mit der Vorortbahn oder besser mit der Straßenbahn nach Auschwitz fahren sollte … da aber ist nicht nur Herr Steiner, sondern auch der alte Fleischmann aufgesprungen. Er versuchte zwar noch immer, den anderen zurückzuhalten, aber es gelang ihm nicht mehr. «Was?», fuhr dieser mich an, mit hochrotem Gesicht, sich mit der Faust auf die Brust schlagend: «Am Ende sind wir noch die Schuldigen, wir, die Opfer?», und ich versuchte, ihm zu erklären: Es gehe nicht um Schuld, sondern nur darum, dass man etwas einsehen müsse, schlicht und einfach, allein dem Verstand zuliebe, des Anstands wegen, sozusagen. Man könne mir, das sollten sie doch versuchen zu verstehen, man könne mir doch nicht alles nehmen; es gehe nicht, dass mir weder vergönnt sein sollte, Sieger, noch, Verlierer zu sein, weder Ursache noch Wirkung, weder zu irren noch recht zu behalten; ich könne – sie sollten doch versuchen, das einzusehen, so flehte ich beinahe schon: ich könne die dumme Bitternis nicht herunterschlucken, einfach nur unschuldig sein zu sollen. Doch freilich, ich merkte, sie wollten gar nichts einsehen, und so bin ich dann, Sack und Mütze nehmend, gegangen, begleitet von ein paar wirren Worten, Bewegungen, einigen unvollendeten Gebärden und in der Schwebe bleibenden Sätzen.

Unten nahm mich die Straße in Empfang. Zu meiner Mutter musste ich die Straßenbahn nehmen. Aber jetzt ist mir schon eingefallen: Richtig, ich habe ja kein Geld, und so habe ich dann beschlossen, zu Fuß zu gehen. Um Kraft zu sammeln, bin ich noch für einen Augenblick auf dem Platz, bei der Bank von vorhin stehen geblieben. Dort vorn, wo ich dann würde gehen müssen und wo die Straße sich zu verlängern, zu verbreitern, ins Unendliche zu verlieren schien, waren die Schäfchenwolken über den bläulichen Hügeln schon violett und der Himmel purpurn. Auch war es, als hätte sich um mich herum etwas verändert: Der Verkehr hatte sich beruhigt, die Schritte der Menschen waren langsamer geworden, ihre Stimmen leiser, ihre Blicke milder, und es schien, als würden sie ihre Gesichter einander zuwenden. Es war die gewisse Stunde – selbst jetzt, selbst hier erkannte ich sie –, die mir liebste Stunde im Lager, und ein schneidendes, schmerzliches, vergebliches Gefühl ergriff mich: Heimweh. Alles war auf einmal wieder da, wurde lebendig und stieg in mir hoch, all die seltsamen Stimmungen, all die winzigen Erinnerungen überfielen, durchzitterten mich. Ja, in einem gewissen Sinn war das Leben dort reiner und schlichter gewesen. Alles fiel mir wieder ein, an alle erinnerte ich mich der Reihe nach, an die, die mich nicht interessierten, ebenso wie an die, die allein schon durch diese Registratur, allein schon durch mein Dasein gerechtfertigt waren: Bandi Citrom, Pjetka, Bohusch, der Arzt und alle anderen. Und zum ersten Mal dachte ich jetzt mit einem ganz kleinen Vorwurf an sie, irgendwie mit einem liebevollen Groll.

Aber wir wollen es nicht übertreiben, denn gerade da ist ja der Haken: Ich bin da, und ich weiß wohl, dass ich jeden Gesichtspunkt gelten lasse, um den Preis, dass ich leben darf. Ja, und wie ich so über den sanft in der Abenddämmerung daliegenden Platz blicke, die vom Sturm geprüfte und doch von tausend Verheißungen erfüllte Straße, da spüre ich schon, wie in mir die Bereitschaft wächst und schwillt: Ich werde mein nicht fortsetzbares Dasein fortsetzen. Meine Mutter wartet auf mich und wird sich wahrscheinlich sehr über mein Auftauchen freuen, die Arme. Ich erinnere mich, früher hatte sie den Plan, dass aus mir einst ein Ingenieur, ein Arzt oder dergleichen werde. Es wird aller Wahrscheinlichkeit nach auch so werden, wie sie es wünscht; es gibt keine Absurdität, die man nicht ganz natürlich leben würde, und auf meinem Weg, das weiß ich schon jetzt, lauert wie eine unvermeidliche Falle das Glück auf mich. Denn sogar dort, bei den Schornsteinen, gab es in der Pause zwischen den Qualen etwas, das dem Glück ähnlich war. Alle fragen mich immer nur nach Übeln, den «Gräueln»: obgleich für mich vielleicht gerade diese Erfahrung die denkwürdigste ist. Ja, davon, vom Glück der Konzentrationslager, müsste ich ihnen erzählen, das nächste Mal, wenn sie mich fragen.

Wenn sie überhaupt fragen. Und wenn ich es nicht selbst vergesse.

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