Erst in Zeitz bin ich dahintergekommen, dass auch die Gefangenschaft ihren Alltag hat, ja, dass echte Gefangenschaft im Grunde aus grauem Alltag besteht. Mir schien, dass ich schon einmal in einer etwa ähnlichen Lage gewesen war, und zwar in der Eisenbahn, unterwegs nach Auschwitz. Auch dort hatte alles von der Zeit abgehangen, nun ja, und dann auch von den Fähigkeiten jedes Einzelnen. Nur dass ich – um bei meinem Beispiel zu bleiben – in Zeitz allmählich das Gefühl hatte: Der Zug steht still. Andererseits – und auch das stimmte – raste er so schnell, dass ich den vielen Veränderungen vor mir, um mich herum, aber auch in mir selbst kaum folgen konnte. Eines kann ich zumindest sagen: Ich meinerseits habe den ganzen Weg zurückgelegt, habe sämtliche Möglichkeiten, die sich auf diesem Weg ergeben, redlich ausprobiert.
Auf jeden Fall nimmt man etwas Neues überall, selbst in einem Konzentrationslager, zunächst mit gutem Willen in Angriff – ich wenigstens habe es so erlebt: fürs Erste genügte es, ein guter Häftling zu werden, das Weitere mochte dann die Zukunft bringen – das war im Großen und Ganzen meine Auffassung, darauf gründete ich meine Lebensführung, ganz genauso übrigens, wie ich das im Allgemeinen auch bei den anderen sah. Ich habe natürlich bald gemerkt, dass die vorteilhafte Meinung, die noch in Auschwitz über die Einrichtung von Arbeitslagern geäußert worden war, auf einigermaßen übertriebenen Informationen beruhen musste. Über das ganze Ausmaß dieser Übertreibung, nun ja, und dann besonders über alle die daraus entstehenden Folgen habe ich mir allerdings nicht sofort in vollem Umfang Rechenschaft gegeben – und konnte es ja schließlich gar nicht –, und auch das war wieder so, wie ich es bei anderen, ich darf sagen: bei allen anderen wahrnahm, bei allen rund zweitausend Gefangenen unseres Lagers – ausgenommen natürlich die Selbstmörder. Aber ihr Fall war selten und keineswegs die Regel, keineswegs beispielhaft, so wussten hier alle. Auch mir kam hin und wieder so ein Vorfall zu Ohren, ich hörte, wie er diskutiert, erörtert wurde, von den einen mit offener Missbilligung, von den anderen mit mehr Verständnis, von den Bekannten mit Bedauern – insgesamt aber immer so, als versuche man sich über eine sehr seltene, sehr fernliegende, einigermaßen schwer erklärbare, vielleicht etwas leichtfertige, vielleicht auch achtunggebietende, auf jeden Fall aber voreilige Handlung ein Urteil zu bilden.
Die Hauptsache ist, sich nicht gehen zu lassen: Irgendwie wird es schon werden, denn es ist noch nie vorgekommen, dass es nicht irgendwie doch geworden wäre – wie mir Bandi Citrom beibrachte, der diese Weisheit seinerseits im Arbeitsdienst gelernt hatte. Das Allerwichtigste ist unter allen Umständen, sich zu waschen (parallel aufgereihte Tröge mit durchlöcherten Eisenrohren unter freiem Himmel, vorn, auf der zur Straße gehenden Seite des Lagers). Ebenso wichtig ist es, die Ration – daraufhin, ob es noch eine gibt oder nicht – sparsam einzuteilen. Vom Brot – so schwer uns diese strenge Selbstmaßregelung auch fallen mag – muss noch etwas zum Frühstückskaffee des nächsten Tages übrig bleiben, ja, ein Stück sogar – dank unbestechlicher Kontrolle unserer immer wieder in Richtung Jackentasche wandernden Gedanken und vor allem unserer Hände – noch bis zur Mittagspause: So und nur so können wir zum Beispiel die quälende Vorstellung vermeiden, wir hätten nichts zu essen. Dass der zu unserer Garderobe gehörende Fußlappen kein Taschentuch ist, wie ich bis dahin irrtümlich angenommen hatte; dass beim Appell oder in der Kolonne immer nur die Mitte sicher ist; dass wir bei der Suppenausgabe nicht nach vorn, sondern nach hinten streben müssen, weil da schon vom Grund des Kessels und infolgedessen aus der Einlage geschöpft wird; dass wir den Stiel unseres Löffels auf einer Seite zu einem auch als Messer verwendbaren Werkzeug zurechthämmern können: das alles und noch viel mehr, lauter nützliche Dinge auf dem Gebiet des Gefangenendaseins, lernte ich von Bandi Citrom, sah es ihm ab und versuchte, es so weit wie möglich in ähnlicher Weise anzuwenden.
Ich hätte es nämlich nie geglaubt, und doch ist es eine Tatsache: Nirgends ist eine gewisse Ordnung in der Lebensführung, eine gewisse Mustergültigkeit, ja Tugend offensichtlich so wichtig wie in der Gefangenschaft. Es genügt, sich ein bisschen in der Gegend von Block eins umzuschauen, wo die Alteingesessenen wohnen. An ihrer Brust verrät das gelbe Dreieck alles Wesentliche, ein L darin nebenbei auch noch den Umstand, dass sie aus dem fernen Lettland kommen, um genau zu sein, aus Riga – wie ich erfuhr. Unter ihnen sind jene merkwürdigen Wesen zu sehen, die mich zuerst sogar etwas erschreckt hatten. Aus einer gewissen Entfernung wirken sie alle wie uralte Greise, und mit ihren eingezogenen Köpfen, den hervorstehenden Nasen, den von den hochgezogenen Schultern herunterbaumelnden schmutzigen Sträflingsanzügen erinnern sie auch an den heißesten Sommertagen an ewig fröstelnde Krähen im Winter. Mit jedem einzelnen ihrer steifen, hin und wieder stockenden Schritte scheinen sie zu fragen: Ist diese Anstrengung überhaupt noch der Mühe wert? Diese lebenden Fragezeichen – denn nach ihrer äußeren Erscheinung, ja und in gewisser Weise auch ihrem Umfang nach könnte ich sie nicht anders bezeichnen – sind im Konzentrationslager unter dem Namen «Muselmänner» bekannt, wie ich erfuhr. Bandi Citrom hat mich gleich vor ihnen gewarnt. «Wenn man sie nur anschaut, vergeht einem die Lust am Leben», meinte er, und das hatte etwas für sich, auch wenn ich mit der Zeit zu der Einsicht kam: Dazu braucht es dann doch noch etwas mehr.
Nun, und dann gibt es vor allem das Mittel des Eigensinns: zwar in verschiedenen Abarten, aber ich kann doch sagen, auch daran mangelte es in Zeitz nicht, und manchmal konnte er von sehr großem Nutzen sein, merkte ich. Zum Beispiel erfuhr ich über jene seltsame Gesellschaft, Körperschaft, Sippschaft oder wie ich sie nennen soll, von der mir ein Exemplar – links in der Reihe – schon bei der Ankunft irgendwie aufgefallen war, dank Bandi Citrom noch weitere Einzelheiten. So hörte ich, dass man sie «Finnen» nennt. Wenn man sie nämlich fragt, woher sie kommen, antworten sie – falls sie einen dessen überhaupt für würdig erachten – zum Beispiel «fin Minkács», womit sie aus Munkács meinen, oder «fin Sadarada», und das heißt – man muss es erraten – aus Sátoraljaújhely. Bandi Citrom kennt ihre Brüderschaft schon vom Arbeitsdienst her und hat keine sonderlich hohe Meinung von ihnen. Überall, bei der Arbeit, beim Marschieren oder im Glied beim Appell kann man sehen, wie sie, sich im Takt hin- und herwiegend, unablässig ihre Gebete murmeln wie eine nie abzuzahlende Schuld. Wenn sie zwischendurch ihren Mund verziehen, um etwas herüberzuflüstern, zum Beispiel: «Messer zu verkaufen», dann achten wir nicht auf sie. Und noch weniger, so verlockend es auch sein mag, besonders am Morgen, wenn es heißt: «Suppe zu verkaufen», denn, seltsam genug, sie leben nicht von der Suppe, nein, nicht einmal von der gelegentlichen Wurst – von nichts, das den Vorschriften ihrer Religion nicht entspricht. Aber wovon dann, möchte man fragen, und Bandi Citrom würde darauf antworten: Um die brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Und tatsächlich, wie man sieht, leben sie. Unter sich, mit den Letten, benutzen sie die Sprache der Juden, aber sie können auch Deutsch und Slowakisch und wer weiß was alles noch: Nur Ungarisch können sie nicht – außer, es geht ums Geschäft, versteht sich. Einmal – es ließ sich in keiner Weise vermeiden – wollte es das Schicksal, dass ich mich in ihrem Kommando wiederfand. «Reds di jiddisch?», war ihre erste Frage. Als ich sagte: Tut mir leid, nix zu machen, waren sie mit mir fertig, ich hatte verspielt, sie behandelten mich, als ob ich Luft wäre, oder noch eher nichts. Ich versuchte, etwas zu sagen, mich bemerkbar zu machen – umsonst. «Di bist nischt ka jid, d’bist a schegetz», sagten sie, den Kopf schüttelnd, und ich konnte mich nur noch wundern, wie sie – angeblich doch im Geschäftlichen bewanderte Leute – derart unsinnig auf etwas bestanden, das ihnen ja sehr viel mehr zum Schaden gereichte und bei dem sie doch sehr viel mehr draufzahlten, als sie herausholten, alles in allem. Da, an diesem Tag, machte ich die Erfahrung wieder, dass ich bei ihnen zuweilen von dem gleichen Unbehagen, dem gleichen Juckreiz, der gleichen Unbeholfenheit befallen wurde, die ich noch von zu Hause kannte: als wäre etwas nicht ganz in Ordnung mit mir, als befände ich mich nicht mit den allgemeinen Vorstellungen im Einklang, kurzum: irgendwie so, als wäre ich ein Jude, und das war schließlich doch ein wenig merkwürdig, in dieser Situation, unter Juden, in einem Konzentrationslager, wie ich fand.
Bei anderer Gelegenheit wiederum musste ich mich ein bisschen über Bandi Citrom wundern. Ob bei der Arbeit, ob bei der Ruhepause, immer wieder hörte ich, und lernte es auch bald von ihm, sein Lieblingslied, das er aus seiner Zeit beim Arbeitsdienst in der Strafkompanie mitgebracht hatte. «In der Ukra-ine suchen wir Mi-nen/doch Furcht kennen wir ni-i-icht» – so begann es, und vor allem seine letzte Strophe ist mir ans Herz gewachsen: «Und fällt ein Kamerad, ein guter Gefährte/so sagt denen daheim/was immer geschieht/dir, teure Heimaterde/werden wir niemals treulos sein.» Das war schön, ganz unbestreitbar, und die etwas traurige, eher schleppende und keineswegs zackige Melodie und die Worte dieses Liedes verfehlten natürlich auch bei mir ihre Wirkung nicht – nur erinnerten sie mich eben auch an den Gendarmen, damals in der Eisenbahn, der uns auf unser Ungartum hingewiesen hatte: Schließlich waren auch sie von der Heimat bestraft worden, strenggenommen. Das habe ich dann Bandi Citrom gegenüber auch einmal erwähnt. Er fand zwar kein Gegenargument, aber er schien ein bisschen verlegen, um nicht zu sagen verärgert. Am nächsten Tag fing er es dann bei der ersten besten Gelegenheit, ganz selbstvergessen, wieder zu pfeifen, zu summen, zu singen an, als ob er von nichts mehr wüsste. Ein anderer Gedanke, den er nicht selten wiederholte, war, er werde schon «das Pflaster der Nefelejts-Straße noch unter den Füßen spüren» – da wohnte er nämlich, und diese Straße, aber auch die Hausnummer, hat er so häufig und in so vielen Abwandlungen erwähnt, dass ich ihre ganze Anziehungskraft schließlich schon selbst zu fühlen begann, mich beinahe schon selbst dahin zurücksehnte, obgleich ich sie eigentlich als eine eher abgelegene Seitenstraße in Erinnerung hatte, irgendwo in der Gegend des Ostbahnhofs. Er sprach noch oft von dieser Gegend, beschwor bestimmte Ecken für mich herauf, bestimmte, allgemein bekannte Ankündigungen und Reklamezeilen, die an den Häuserfronten und in den verschiedenen Schaufenstern leuchten, mit seinen Worten: «die Lichter von Budapest», wobei ich ihn dann aber doch berichtigen und erklären musste, dass es diese Lichter nicht mehr gab, wegen der Verdunkelungsvorschrift, und dass die Bomben in der Tat das Stadtbild da und dort schon einigermaßen verändert hatten. Er hörte mir zu, aber wie mir schien, waren diese Informationen nicht so recht nach seinem Geschmack. Am nächsten Tag fing er dann, sobald sich eine Gelegenheit bot, aufs neue von den Lichtern an.
Aber wer kennt schon alle Abarten des Eigensinns, und ich hätte in Zeitz bestimmt – wäre es möglich gewesen – noch zahlreiche andere herausfinden können. Ich hörte viel von der Vergangenheit, viel von der Zukunft, und vor allem hörte ich sehr viel – und ich kann sagen: nirgends kann man anscheinend davon so viel hören wie gerade unter Gefangenen – von der Freiheit, und das ist schließlich, so glaube ich, auch ganz verständlich. Andere wiederum schöpften eine eigentümliche Freude aus einem Spruch, einem Scherz, einer Art Witz. Ich hatte ihn natürlich auch schon gehört. Es gibt eine bestimmte Zeit des Tages, zwischen der Rückkehr aus der Fabrik und dem Abendappell, eine besondere, stets lebendige und zwanglose Stunde, die ich im Lager immer am meisten erwartete und liebte – im Übrigen ist das im Allgemeinen auch die Essenszeit. Ich bahnte mir gerade zwischen emsig Geschäfte machenden und tratschenden Gruppen einen Weg über den Hof, als jemand mit mir zusammenstieß, und unter der zu weiten Sträflingsmütze, über jener charakteristischen Nase, aus jenem charakteristischen Gesicht sah mich ein Paar winziger, bekümmerter Augen an; «da schau her», sagten wir beide mehr oder weniger gleichzeitig, nachdem er mich und ich ihn erkannt hatte: Es war der Pechvogel. Er schien gleich sehr erfreut und erkundigte sich, wo ich untergebracht sei. Ich sagte, in Block fünf. «Schade», sagte er bedauernd, er wohne woanders. Er klagte, dass er nie Bekannte sehe, und als ich ihm sagte, ich eigentlich auch nicht, wurde er plötzlich, ich weiß nicht warum, irgendwie traurig. «Wir verlieren uns aus den Augen, wir verlieren uns alle noch», so bemerkte er, und in seinen Worten, seiner Art, den Kopf zu schütteln, war noch irgendein anderer, für mich ziemlich undurchsichtiger Sinn. Dann aber leuchtete sein Gesicht plötzlich auf, und er fragte: «Wissen Sie, was das hier» – er zeigte auf seine Brust – «bedeutet, dieses U?» Ich sagte, ja natürlich: Ungar. «Nein», erwiderte er, «Unschuldig», dann hat er auf eine bestimmte Art kurz gelacht und danach noch lange mit sinnender Miene genickt, so als sei dieser Gedanke für ihn besonders wohltuend, ich weiß auch nicht, warum. Und genau das Gleiche sah ich dann bei den anderen im Lager, von denen ich, und das anfänglich ziemlich oft, diesen Witz auch noch hörte: Als schöpften sie daraus irgendein wärmendes, kraftspendendes Gefühl – darauf zumindest verwies das immer gleiche Lachen, die immer gleiche Gelöstheit in den Gesichtern, dieser schmerzlich lächelnde und doch auch irgendwie entzückte Ausdruck, mit dem sie den Witz jedes Mal erzählten oder anhörten, irgendwie so, wie wenn man eine sehr zu Herzen gehende Musik oder eine besonders bewegende Geschichte vernimmt.
Doch auch bei ihnen sah ich nichts anderes als das immer gleiche Bemühen, den gleichen guten Willen: Auch ihnen ging es darum, gute Häftlinge zu sein. Es bestand kein Zweifel, das war unser Interesse, das verlangten die Umstände, dazu zwang uns hier, wie soll ich sagen, das Leben selbst. Waren zum Beispiel die Reihen mustergültig ausgerichtet und stimmte der gegenwärtige Bestand, dann dauerte der Appell weniger lange – anfangs zumindest. Waren wir zum Beispiel bei der Arbeit fleißig, dann konnten wir Schläge vermeiden – öfter zumindest.
Und doch, glaube ich, war es nicht allein dieser Gewinn, nicht allein dieser Nutzen, der unser aller Denken bestimmte, zumindest am Anfang nicht, das kann ich ehrlich sagen. Da war zum Beispiel die Arbeit, der erste Arbeitsnachmittag, um gleich damit anzufangen: Die Aufgabe war, einen Waggon mit grauem Schotter auszuladen. Wenn Bandi Citrom, nachdem wir uns – natürlich mit Erlaubnis des Aufsehers, diesmal eines schon älteren und auf den ersten Blick eher harmlosen Soldaten – obenherum ausgezogen hatten (da sah ich zum ersten Mal Bandis gelblichbraune Haut, das Spiel seiner großen, glatten Muskeln darunter und das Muttermal unter der linken Brust), wenn er also sagte: «Na, dann zeigen wir denen mal, wozu ein Budapester in der Lage ist!», dann meinte er das völlig ernst. Und ich kann sagen, in Anbetracht dessen, dass ich ja zum ersten Mal in meinem Leben eine eiserne Forke in der Hand hatte, schienen sowohl unser Aufseher wie auch der hin und wieder vorbeischauende, wie eine Art Polier aussehende Mann, der wohl in der Fabrik tätig war, recht zufrieden, was unseren Schwung natürlich noch steigerte, versteht sich. Wenn aber, als sich mit der Zeit an meinen Handflächen ein Brennen bemerkbar machte und ich sah, dass die Haut unterhalb der Finger ganz blutig war, wenn da unser Aufseher herüberrief: «Was ist denn los?», und wenn er sich darauf, als ich ihm lachend meine Hände zeigte, auf einmal sehr verfinsterte, sogar an seinem Gewehrriemen riss und befahl: «Arbeiten! Aber los!», dann ist es letztlich nur natürlich, dass sich auch mein Interesse auf etwas anderes richtete. Von da an hatte ich nur noch das eine im Kopf: Wie kann ich, wenn er nicht hersieht, ganz kurz eine Pause einschalten, wie kann ich möglichst wenig auf Schaufel, Forke, Spaten nehmen, und ich muss sagen, dass ich später in solchen Kniffen ziemliche Fortschritte gemacht und wenigstens auf diesem Gebiet eine viel größere Kundigkeit, Kenntnis und Übung erworben habe als bei jeder der Arbeiten, die mir aufgegeben wurden. Und wer hatte denn eigentlich etwas davon? – wie einst, ich erinnere mich, die Frage des «Experten» gelautet hatte. Ich behaupte: Da stimmte etwas nicht, da war ein Fehler im Getriebe, ein Versäumnis, ein Versagen. Schon irgendein Wort, irgendein Zeichen, ein Aufblitzen der Anerkennung, nur hin und wieder ein Funken davon: Mir jedenfalls hätte das mehr genützt. Denn was haben wir uns denn persönlich vorzuwerfen, wenn wir es recht bedenken? Und das Gefühl der Eitelkeit bleibt uns ja auch in der Gefangenschaft erhalten; wer hätte nicht heimlich das Bedürfnis nach ein klein wenig Freundlichkeit, und mit einsichtigen Worten kämen wir weiter, fand ich.
Aber solche Erfahrungen konnten mich im Grunde noch nicht wirklich erschüttern. Der Zug fuhr noch; wenn ich vorwärtsblickte, ahnte ich in der Ferne auch ein Ziel, und in der ersten Zeit – der goldenen, wie Bandi Citrom und ich sie später nannten – schien Zeitz bei entsprechender Lebensführung und mit ein wenig Glück ein durchaus erträglicher Ort zu sein, vorläufig, vorübergehend, bis uns, das versteht sich, die Zukunft davon erlösen würde. Zweimal wöchentlich ein halbes Brot, dreimal ein drittel und nur zweimal bloß ein viertel. Häufig Zulage. Einmal wöchentlich gekochte Kartoffeln (sechs Stück, in die Mütze abgezählt, und dass es dabei keine Zulage mehr geben kann, ist einzusehen), einmal wöchentlich Milchnudeln. Den ersten Ärger des frühen Aufstehens machen die betaute sommerliche Morgendämmerung, der heitere Himmel, nun und dann der dampfende Kaffee bald wieder wett (um diese Zeit heißt es geschickt sein in der Latrine, denn bald ertönt der Ruf «Appell! Antreten!»). Der Morgenappell ist mit Sicherheit immer kurz, denn schließlich wartet, drängt ja die Arbeit. Das Seitentor der Fabrik, das auch wir Häftlinge benutzen dürfen, links von der Landstraße, auf einem sandigen Hang, ist in zehn bis fünfzehn Minuten Fußmarsch erreichbar. Schon von weitem ein Rauschen, Rasseln, Surren, Keuchen, ein paarmal das Krächzen aus eisernen Schlünden: Da grüßt die Fabrik – mit dem Labyrinth ihrer Haupt- und Querstraßen, mit ihren vorwärts holpernden Kränen, den Erde fressenden Maschinen, ihren vielen Schienen, Kesseln, Rohren, Kühltürmen, Werkstätten viel eher eine richtige Stadt. Zahlreiche Krater und Gräben, Schutt und Trümmer, aufgerissene Kanäle und Mengen von hervorquellenden Kabeln deuten auf den Besuch von Flugzeugen hin. Der Name der Fabrik – so habe ich schon in der ersten Mittagspause erfahren – ist «Brabag», was eine Abkürzung für «Braunkohle-Benzin-Aktiengesellschaft» und so «einmal sogar an der Börse notiert» gewesen ist. Und man hat mir auch den dicken, sich mit mühsamem Schnaufen auf den Ellbogen stützenden, gerade ein angeknabbertes Brot aus der Tasche klaubenden Mann gezeigt, von dem die Information stammte und von dem man dann später, immer mit einer gewissen Heiterkeit, im Lager erzählt hat – obwohl ich es nie von ihm selbst gehört habe –, auch er sei einmal Besitzer von einigen hiesigen Aktien gewesen. Wie es heißt, bemüht man sich auch hier – und deshalb hat mich wohl der Geruch gleich an die Ölraffinerie von Csepel erinnert –, Benzin herzustellen, mit Hilfe einer Erfindung jedoch nicht aus Öl, sondern aus Braunkohle. Ich fand den Einfall interessant – allerdings erwartet man verständlicherweise nicht das von mir, das sehe ich schon ein. In welches «Arbeitskommando» man eingeteilt wird, ist immer eine spannende Frage. Die einen schwören auf den Spaten, die anderen auf die Spitzhacke, die einen preisen die Vorteile des Kabelverlegens, die anderen schätzen es mehr, die Mörtelmischer zu bedienen, und wer weiß, welcher heimliche Grund, welche verdächtige Vorliebe einige ausgerechnet zu den Kanalisationsarbeiten hinzieht, wo man bis zu den Hüften in gelbem Schlamm oder schwarzem Öl steht – wenn auch niemand daran zweifelt, dass ein solcher Grund existiert, da es meistens die Letten sind, nun, und dann ihre gleichgesinnten Freunde, die «Finnen». Das Wort «Antreten» hat nur einmal am Tag diese abfallende, wehmütig-süß in die Länge gezogene, lockende Melodie: am Abend nämlich, wenn es die Heimkehr anzeigt. In das Gewimmel bei den Waschbecken drängt sich Bandi Citrom mit einem: «Platz da, ihr Muselmänner!», und an mir ist kein Körperteil, der seinem prüfenden Blick verborgen bliebe. «Wasch dir auch den Pimmel, dort wohnen die Läuse!» sagt er, und ich gehorche ihm lachend. Jetzt beginnt jene gewisse Stunde: die der kleinen Erledigungen hier und da, der Scherze und Klagen, der Besuche, Besprechungen, des Geschäftemachens und der Nachrichten, und nur das Scheppern der Kessel, dieses alle in Bewegung setzende, alle zu raschem Handeln anspornende Signal, kann sie unterbrechen. Dann: «Appell!» – und wie lange der dauert, ist allein eine Frage des Glücks. Aber nach ein, zwei, na schön, höchstens drei Stunden dann (inzwischen sind auch die Scheinwerfer angegangen) ein großes Gerenne auf dem schmalen Pfad im Zelt, den auf beiden Seiten dreistöckige Kästen, hier «Boxen» genannt, unsere Schlafstätten, säumen. Dann ist das Zelt eine Zeit lang voll von Dämmerlicht und Geflüster – es ist die Stunde des Erzählens, von der Vergangenheit, der Zukunft, der Freiheit. Wie ich erfahre, sind zu Hause alle beispiellos glücklich und zumeist auch noch reich gewesen. Und sogar davon kann ich mir bei solcher Gelegenheit ein Bild machen, was sie abends zu essen pflegten, ja auch von gewissen anderen, unter Männern in vertraulichem Ton erwähnten Bereichen. Da wird auch erzählt – was ich dann später nie wieder gehört habe –, dass, wie einige annehmen, die Suppe aus einem bestimmten Grund mit einer Art Beruhigungsmittel, nämlich «Brom», versetzt werde – so haben sie es auf jeden Fall behauptet, einträchtig und mit einem immer etwas geheimnisvollen Gesichtsausdruck. Bandi Citrom erwähnt in solchen Momenten unweigerlich die Nefelejts-Straße, die Lichter oder – auch das eigentlich nur anfangs, und ich habe da natürlich nicht so recht mitreden können – «die Frauen von Budapest». Zu anderer Zeit werde ich auf ein verdächtiges Gemurmel, ein leises, litaneiartiges, hin und wieder lauter herausgestoßenes Singen und abgeblendetes Kerzenlicht aufmerksam, in einer Ecke des Zelts, und ich höre, dass es Freitagabend ist und der dort ein Geistlicher, ein Rabbi. Auch ich wate oben über die Pritschen hinweg, um von dort hinunterzuschauen, und tatsächlich, er ist es, inmitten einer Gruppe von Leuten, der Rabbi, den ich bereits kenne. Er hat die Andacht einfach so, in Sträflingskleidung und Mütze, verrichtet, aber ich habe nicht lange zugeschaut, weil ich mich eher nach Schlafen als nach Beten sehnte. Bandi Citrom und ich wohnen in der obersten Etage. Wir teilen die Box mit noch zwei weiteren Schlafgenossen, beide jung, freundlich und auch aus Budapest. Als Unterlage dient Holz, darauf Stroh und darauf Sackleinen. Zu zweit sind wir im Besitz einer Decke, aber es ist ja Sommer, und da ist auch das zu viel. An Platz herrscht nicht gerade Überfluss: Wenn ich mich umdrehe, muss sich auch mein Nachbar umdrehen, wenn der Nachbar die Beine anzieht, muss auch ich sie anziehen, aber auch so ist der Schlummer tief und macht alles vergessen – goldene Zeiten, in der Tat.
Die Veränderungen begannen sich ein wenig später bemerkbar zu machen – vor allem auf dem Gebiet der Tagesrationen. Wir konnten uns nur noch fragen, wohin eigentlich die Zeit der halben Brote so schnell verflogen war: An ihre Stelle war unwiderruflich die Ära der Drittel und Viertel getreten, und auch die Zulage war nicht mehr immer unbedingt gewährleistet. Da hat auch der Zug begonnen, langsamer zu werden, und schließlich ist er ganz stehen geblieben. Ich versuchte vorwärtszublicken, aber Aussicht bestand immer nur auf den morgigen Tag, und der morgige Tag war derselbe Tag, oder eben ein genau gleicher Tag – wenn wir Glück hatten, heißt das. Meine Laune wurde schlechter, der Schwung ließ nach, jeden Tag stand ich mit größerer Mühe auf, jeden Abend begab ich mich etwas müder zur Ruhe. Ich war ein bisschen hungriger, ich bewegte mich ein bisschen gezwungener, irgendwie wurde alles schwerer, ja ich selbst fiel mir zur Last. Ich war, wir waren – das kann ich ruhig sagen – schon lange keine guten Häftlinge mehr, und den Beweis dafür konnten wir dann sehr bald an den Soldaten, freilich auch an unseren eigenen Amtsträgern feststellen, vor allem, schon dem Rang nach, am Lagerältesten.
Ihn sah man auch weiterhin, an jedem Ort und zu jeder Zeit, nur in Schwarz. Er gab am Morgen das Pfeifzeichen zum Wecken, er kontrollierte alles noch einmal am Abend, und von seinem Appartement irgendwo da vorn wurde einiges erzählt. Seine Sprache war Deutsch, dem Blut nach war er Zigeuner – auch wir untereinander nannten ihn nur so: «der Zigeuner» –, und das war auch der Hauptgrund, warum ihm das Konzentrationslager als Aufenthaltsort zugeteilt worden war, ein weiterer Grund: jene vom Üblichen abweichende Neigung seiner Natur, die Bandi Citrom gleich auf den ersten Blick bei ihm festgestellt hatte. Die grüne Farbe seines Dreiecks hingegen war der Hinweis für jedermann, dass er angeblich eine etwas ältere und – so heißt es – recht wohlhabende Dame ermordet und ausgeraubt hatte, der er eigentlich sein Auskommen verdankte, sagte man: Auf diese Weise bekam ich zum ersten Mal in meinem Leben aus nächster Nähe auch einen Raubmörder zu Gesicht. Es war sein Amt, die Vorschriften zu pflegen, seine Arbeit, im Lager für Gerechtigkeit und Ordnung zu sorgen – keine sehr angenehme Vorstellung, so auf den ersten Blick, wie alle fanden, ich selbst auch. Andererseits werden, das musste ich einsehen, auf einer gewissen Stufe die Nuancen austauschbar. Ich persönlich zum Beispiel hatte eher Schwierigkeiten mit einem vom Stubendienst, obwohl es ein untadeliger Mann war. Gerade deshalb hatten ihn seine Bekannten gewählt, dieselben, die auch für Doktor Kovács (der Titel bezeichnete in dem Fall – wie ich erfuhr – nicht einen Arzt, sondern einen Anwalt) gestimmt hatten und die, wie ich hörte, alle aus dem gleichen Ort kamen: vom schönen Balaton, aus der Gemeinde Siófok. Es war ein rothaariger Mann, Fodor mit Namen, wie jedermann wusste. Nun gab es, ob zu Recht oder nicht, bei allen die einhellige Meinung, dass der Lagerälteste seinen Stock oder seine Faust zum Vergnügen gebrauchte, weil ihm das, zumindest dem Lagerklatsch zufolge, angeblich eine gewisse Lust verschaffte, etwas, das damit zusammenhing – so wollten die Erfahreneren wissen –, worauf er bei Männern, bei Jungen, ja, zuweilen auch bei Frauen aus war. Für jenen hingegen war die Ordnung nicht nur ein Vorwand, sondern eine echte Voraussetzung, und er tat es – wie er nie zu erwähnen versäumte – im allgemeinen Interesse, wenn er zufällig einmal genötigt war, in gleicher Weise zu verfahren wie der Zigeuner. Andererseits war die Ordnung nie – und nun immer weniger – vollkommen. Deshalb musste er dann mit dem langen Stiel des Schöpflöffels zwischen die Drängelnden fahren, sodass jeder von uns – falls er nicht wissen sollte, wie an den Kessel heranzutreten, wie das Geschirr an einen ganz bestimmten Punkt seines Randes zu halten war – zu den Geschädigten gehören konnte, denen bei solcher Gelegenheit Napf und Suppe aus der Hand flogen, denn, das war ja klar, und auch das zustimmende Gemurmel hinter einem belegte es, so behinderten wir seine Arbeit und infolgedessen auch die Nächsten in der Reihe; deshalb zog er auch die Langschläfer an den Füßen von der Pritsche, denn schließlich büßten ja immer alle für die Vergehen eines Einzelnen. Den Unterschied – ich sah das schon – musste man natürlich in der Absicht suchen, doch wie gesagt, an einem bestimmten Punkt verwischen sich solche Feinheiten, und das Ergebnis empfand ich als das Gleiche, von welcher Seite ich es auch betrachtete.
Dann war da auch noch, mit gelber Armbinde und in einem stets tadellos gebügelten gestreiften Anzug, der deutsche Kapo, den ich zum Glück nicht oft zu Gesicht bekam; und dann tauchten, zu meinem größten Erstaunen, auch in unseren Reihen hier und da schwarze Armbinden auf, mit der bescheideneren Aufschrift «Vorarbeiter». Ich war zufällig dabei, als ein Mann aus unserem Block, ein kräftiger und stämmiger zwar, der mir aber sonst kaum aufgefallen und der, wie ich mich erinnerte, im Allgemeinen auch nicht besonders beliebt oder bekannt war, zum ersten Mal mit der nagelneuen Binde am Ärmel beim Abendessen erschien. Nun aber, das sah ich, war es nicht mehr der unbekannte Mann von vorher: Freunde und Bekannte fanden kaum genug Platz um ihn herum, von allen Seiten freudige Glückwünsche zu seiner Beförderung, ihm entgegengestreckte Hände, von denen er einige ergriff, andere wieder nicht, deren Besitzer sich dann, wie ich sah, eilig davonschlichen. Und danach folgte – für mein Gefühl zumindest – der feierlichste Augenblick, als er nämlich unter allgemeiner Aufmerksamkeit und in einer respektvollen, um nicht zu sagen ehrfürchtigen Stille, mit großer Würde, kein bisschen eilig, kein bisschen überstürzt, im Kreuzfeuer der bewundernden oder neidischen Blicke, ein zweites Mal vortrat, um eine zweite Portion in Empfang zu nehmen, wie es seinem Rang jetzt gebührte, eine Portion vom Kesselboden, die der Stubendienst ihm bereits mit der einem Gleichgestellten gebührenden Achtung ausschöpfte.
Ein andermal leuchteten mir die Buchstaben vom Ärmel eines mit geschwellter Brust einherstolzierenden Mannes entgegen, den ich sofort als den Berufsoffizier aus Auschwitz erkannte. Eines Tages bin auch ich ihm zwischen die Finger geraten, und wirklich, es stimmte: dass er für gute Leute durchs Feuer ging, für Taugenichtse hingegen nicht einen Kreuzer übrig hatte, schon gar nicht für solche, die sich von anderen die Kastanien aus der Glut holen ließen – wie er es selbst, mit seinen eigenen Worten, zu Beginn der Arbeit angekündigt hatte. Deshalb sind dann Bandi Citrom und ich am folgenden Tag lieber in ein anderes Kommando hinübergeschlüpft.
Noch eine Veränderung stach mir ins Auge, und zwar seltsamerweise gerade an Außenstehenden, an den Leuten von der Fabrik, an unseren Aufsehern und allenfalls noch an der einen oder anderen Exzellenz im Lager: Wie ich feststellte, hatten sie sich verwandelt. Zuerst konnte ich mir die Sache nicht so recht erklären: Irgendwie sahen sie auf einmal alle sehr schön aus, zumindest in meinen Augen. Dann erst bin ich, aufgrund von ein paar Anzeichen, dahintergekommen, dass wahrscheinlich wir uns verändert hatten, nur hatte ich das eben nicht so leicht wahrnehmen können. Wenn ich mir zum Beispiel Bandi Citrom anschaute, so bemerkte ich nichts Besonderes an ihm. Aber dann versuchte ich, mich zurückzuerinnern, seinen Anblick mit dem zu vergleichen, als ich ihn zum ersten Mal sah, damals, als er rechts neben mir in der Reihe stand, oder das erste Mal bei der Arbeit, mit seinen auffälligen Muskeln und Sehnen, die in gewisser Weise einer naturkundlichen Darstellung glichen, sich ein- und ausgebuchtet, sich elastisch gebogen oder hart gespannt, sich auf und ab bewegt hatten, und das konnte ich nun gar nicht mehr recht glauben. Erst da begriff ich, dass die Zeit offenbar hin und wieder unsere Wahrnehmung täuschen kann. So hatte dieser – in seinem Ergebnis zwar durchaus fassbare – Prozess auch meiner Aufmerksamkeit entgehen können, als er sich zum Beispiel an einer ganzen Familie vollzog, nämlich an der Familie Kollmann. Ein jeder im Lager kannte sie. Sie kamen aus einem gewissen Ort namens Kisvárda, aus dem auch noch viele andere hier waren, und aus der Art, wie man mit ihnen oder von ihnen sprach, schloss ich, dass sie zu Hause angesehene Leute gewesen sein mussten. Sie waren zu dritt: der kleinwüchsige, kahle Vater, ein größerer und ein kleinerer Junge, die dem Vater überhaupt nicht, einander aber – und demzufolge wahrscheinlich der Mutter, denke ich – im Gesicht auffällig ähnlich waren, die gleichen blonden Borsten, die gleichen blauen Augen. Sie gingen immer zu dritt, und wenn nur irgend möglich Hand in Hand. Nun habe ich nach einer gewissen Zeit bemerkt, dass der Vater hin und wieder zurückblieb und die beiden Jungen ihm helfen und ihn an der Hand mitziehen mussten. Nach einer Weile war dann der Vater gar nicht mehr bei ihnen. Dann aber musste der Größere bald den Kleineren nachziehen. Noch später ist dann auch dieser verschwunden, und da schleppte der Größere bloß noch sich selbst, und in der letzten Zeit sah ich auch ihn nirgends mehr. Wie gesagt, das alles habe ich wahrgenommen, aber eben nicht so, wie ich es dann nachträglich – wenn ich darüber nachdachte – zusammenfassen, gewissermaßen vor mir abrollen lassen konnte, sondern nur Stufe um Stufe und indem ich mich an jede Stufe immer wieder einzeln gewöhnte – und so habe ich dann eigentlich doch nichts wahrgenommen. Und dabei hatte ich mich offenbar selbst auch verändert, denn der «Zierlederer», den ich eines Tages ganz lässig aus dem Küchenzelt treten sah – und ich vernahm dann auch, dass er sich eine Einteilung zu diesen beneidenswerten Honoratioren, den Kartoffelschälern, ergattert hatte –, wollte mich zunächst gar nicht erkennen. Ich musste ihm eine Weile versichern, dass ich es sei, aus der «Shell», und ich fragte ihn, ob sich da, also in der Küche, nicht wahr, zufällig vielleicht irgendetwas zu beißen finden ließe, vielleicht irgendwelche Reste, eventuell etwas vom Kesselboden. Er sagte, er würde nachschauen, und er selbst habe zwar keine Wünsche, aber ob ich nicht zufällig Zigaretten hätte, der Vorarbeiter in der Küche sei «ganz verrückt auf Zigaretten», so sagte er. Ich musste gestehen, dass ich keine hatte, und da ist er weggegangen. Ich habe dann bald eingesehen, dass es keinen Sinn hatte, länger auf ihn zu warten, und dass anscheinend auch Freundschaft nur etwas Begrenztes ist, etwas, dem das Gesetz des Lebens einmal ein Ende setzt – natürlicherweise übrigens, ganz klar. Ein andermal war ich es dann, der ein seltsames Wesen nicht wiedererkannte: Es stolperte da vorbei, vermutlich gerade auf dem Weg zur Latrine. Die Mütze war ihm bis über die Ohren hinuntergerutscht, sein Gesicht voller Kerben, Ecken und Kanten, die Nase gelb, an ihrer Spitze ein zitternder Tropfen. «Halbseidener», rief ich hinüber: Er sah nicht einmal auf. Er schlurfte bloß weiter, wobei er sich mit einer Hand die Hose festhielt, und ich dachte: Also wirklich, das hätte ich auch nie geglaubt. Wieder ein andermal war da einer, noch gelber, noch magerer, mit noch größeren und fiebrigeren Augen, es muss, so glaube ich, der Raucher gewesen sein, den ich da bemerkt habe. Um diese Zeit tauchte beim Abend- und Morgenappell in der Meldung des Blockältesten eine neue Wendung auf, die später zu einer ständigen wurde, nur hinsichtlich der Ziffern abgewandelt: «Zwei im Revier» oder «Fünf im Revier», «Dreizehn im Revier» und so weiter, und dann ein neuer Begriff, nämlich «Abgang». Nein, unter gewissen Umständen ist auch der beste Wille nicht genug. Ich hatte zu Hause gelesen, mit der Zeit, freilich mit der erforderlichen Anstrengung, könne man sich sogar an die Gefangenschaft gewöhnen. Und das mag sogar stimmen, zweifellos, zu Hause etwa, in einem regelrechten, einem anständigen, so einem zivilen Gefängnis, oder wie ich es nennen soll. Nur bietet sich dafür eben, nach meiner Erfahrung, in einem Konzentrationslager nicht recht Gelegenheit. Und ich kann sagen, es hat jedenfalls – bei mir – nicht an Bemühung, nicht an gutem Willen gemangelt: Das Problem ist, dass sie einem dafür zu wenig Zeit lassen, ganz einfach.
Ich weiß – nach dem, was ich gesehen, gehört oder erfahren habe – von drei Arten und Wegen, einem Konzentrationslager zu entkommen. Ich selbst lebte mit der ersten und, von mir aus, bescheidensten Möglichkeit – doch nun: Es gibt Bereiche unserer Natur, die ihr, so hatte ich es auch gelernt, ein für allemal unveräußerlich angehören. Tatsache ist: Unser Vorstellungsvermögen bleibt auch in der Gefangenschaft frei. Ich brachte es zum Beispiel so weit, während meine Hände mit Schaufel oder Hacke beschäftigt waren – mit sparsam eingeteilten, stets nur auf das Allernotwendigste beschränkten Bewegungen –, einfach gar nicht zugegen zu sein. Aber auch die Phantasie ist nicht völlig unbegrenzt, zumindest gibt es da – wie ich erfahren habe – Schranken. Denn eigentlich hätte ich ja mit der gleichen Anstrengung überall sein können, in Kalkutta, in Florida, an den schönsten Orten der Welt. Und doch, das war nicht ernst genug, ich vermochte – um es so zu sagen – nicht daran zu glauben, und so fand ich mich dann meistens einfach zu Hause wieder. Ja, natürlich, auch das war nicht weniger tollkühn, als wenn ich mich zum Beispiel nach Kalkutta versetzt hätte; nur konnte ich darin doch etwas finden, eine gewisse Bescheidenheit, sozusagen eine Art Arbeit, die meine Anstrengung sofort richtig machte und damit irgendwie beglaubigte. Zum Beispiel wurde mir bald klar, dass ich zu Hause nicht richtig gelebt, meine Tage nicht richtig genutzt hatte und dass es viel, sehr viel zu bereuen gab. So waren da – wie ich mich erinnern musste – Speisen gewesen, in denen ich wählerisch herumgestochert und die ich dann beiseitegeschoben hatte, ganz einfach, weil ich sie nicht mochte, und in diesem Augenblick erschien mir das als ein unverständliches und nicht wiedergutzumachendes Versäumnis. Oder dann war da zwischen meinem Vater und meiner Mutter dieses sinnlose Hin und Her, meine Person betreffend. Wenn ich wieder nach Hause komme, so dachte ich, so, mit diesem einfachen, selbstverständlichen Gebrauch der Worte, ohne auch nur zu stocken, so als interessierte mich überhaupt nichts anderes als die Fragen, die aus dieser allernatürlichsten Tatsache folgen: Also, wenn ich wieder nach Hause komme, mache ich dem auf jeden Fall ein Ende, da muss Friede sein – so beschloss ich. Dann hatte es zu Hause Dinge gegeben, die mich nervös gemacht hatten, ja, vor denen ich mich – so lächerlich es sein mag – gefürchtet hatte, so etwa vor bestimmten Unterrichtsfächern, vor den Lehrern, davor, dass ich aufgerufen und dabei vielleicht versagen würde, und schließlich vor meinem Vater, wenn ich ihm dann das Ergebnis berichtete: Jetzt beschwor ich diese Ängste immer wieder herauf, und zwar allein um des Vergnügens willen, sie wieder durchleben und über sie lächeln zu können. Doch meine Lieblingsbeschäftigung bestand darin, mir einen vollständigen, lückenlosen Tag zu Hause vorzustellen, immer wieder, möglichst vom Morgen bis zum Abend, und mich dabei nach wie vor in Bescheidenheit zu üben. Denn es hätte mich ja Kraft gekostet, wenn ich mir einen besonderen, gar einen vollkommenen Tag vorgestellt hätte – und so stellte ich mir einfach einen schlechten Tag vor, mit dem frühen Aufstehen, der Schule, dem unbehaglichen Gefühl, dem schlechten Mittagessen, und hier im Konzentrationslager verwirklichte ich all die vielen Möglichkeiten, die ich dabei verpasst, verworfen, ja nicht einmal bemerkt hatte, verwirklichte sie, ich darf es sagen, so vollkommen wie nur möglich. Ich hatte schon davon gehört, und nun konnte ich es auch selbst bezeugen: Tatsächlich, nicht einmal enge Gefängnismauern können den Flügelschlag der Vorstellungskraft hemmen. Das Problem war nur: Wenn sie mich so weit wegtrug, dass ich dabei sogar meine Hände vergaß, dann trat bald mit größtem Nachdruck, größter Bestimmtheit die schließlich doch durchaus hier vorhandene Wirklichkeit wieder in Kraft.
Um diese Zeit begann es sich in unserem Lager hin und wieder zuzutragen, dass beim Morgenappell die Bestandszahlen nicht stimmten – wie kürzlich etwa neben uns, in Block sechs. Alle wissen sehr wohl, was da geschehen ist, denn das Wecken in einem Konzentrationslager weckt nur die nicht, die man sowieso nicht mehr wecken kann, und die sind erfasst. Das aber ist nun die zweite Art, zu entkommen, und wer wäre nicht – einmal nur, wenigstens ein einziges Mal – in Versuchung geraten, wer wäre imstande, stets unerschütterlich festzubleiben, und das vor allem morgens, wenn man zu einem neuen Tag aufwacht, nein – schreckt, in dem schon lärmenden Zelt, inmitten sich schon aufrappelnder Leute – ich jedenfalls könnte nicht widerstehen, ich würde es versuchen, wenn mich Bandi Citrom nicht immer daran hinderte. Schließlich ist der Kaffee nicht so wichtig, zum Appell aber ist man dann schon da – so denkt man, so dachte auch ich. Selbstverständlich bleiben wir nicht auf unserem Schlaflager – so kindisch kann ja schließlich niemand sein –, sondern wir stehen auf, anständig, wie es sich gehört, so wie die anderen, und dann … wir kennen da einen Ort, einen garantiert sicheren Winkel, da wetten wir hundert zu eins. Gestern, vielleicht schon früher, haben wir ihn uns ausersehen, ihn bemerkt, entdeckt, ganz zufällig, ohne Plan, ohne Absicht, nur so mit dem Gedanken spielend. Und jetzt kommt er uns in den Sinn. Wir kriechen zum Beispiel unter die untersten Boxen. Oder wir suchen jenen hundertprozentig sicheren Spalt auf, jenen Winkel, jene Vertiefung, jene Ecke. Da decken wir uns dann gut mit Heu, Stroh und Decken zu. Und das immer mit dem Gedanken, dass wir beim Appell wieder präsent sind – wie gesagt, es gab Zeiten, da ich das gut, sehr gut verstand. Die Waghalsigeren mochten vielleicht auch denken, dass eine einzelne Person noch irgendwie durchschlüpft: Zum Beispiel verzählt man sich – schließlich sind wir ja alle nur Menschen; dass eine einzige Abwesenheit – nur heute, ausschließlich heute Morgen – nicht unbedingt ins Auge fällt, und am Abend, dafür sorgen wir schon, stimmt dann der Bestand wieder; die noch Waghalsigeren: dass man sie an jenem sicheren Ort auf keine Weise, unter keinen Umständen finden kann. Doch wer wirklich zu allem entschlossen ist, denkt noch nicht einmal daran, sondern ist ganz einfach der Meinung – und zuweilen dachte auch ich so –, dass eine Stunde guten Schlafs jedes Risiko und jeden Preis wert ist, schließlich und endlich.
Aber zu so viel reicht es dann meistens nicht, denn morgens geht alles ganz schnell, sieh da, schon hat sich der Suchtrupp in größter Eile formiert: zuvorderst der Lagerälteste, in Schwarz, frisch rasiert, mit keckem Schnurrbart, duftend, dicht hinter ihm der deutsche Kapo, dahinter ein paar von den Blockältesten und vom Stubendienst, mit einsatzbereiten Keulen, Knüppeln und Stöcken, und schon biegen sie geradewegs zum Block sechs ein. Drinnen dann Lärm und Durcheinander, und schon nach ein paar Minuten – man höre nur! –, da schmettert es siegesbewusst, da hat die Spur zum Ziel geführt. Eine Art Fiepsen mischt sich hinein, immer schwächer, bis es verstummt, und bald erscheinen auch die Jäger wieder auf dem Plan. Was sie aus dem Zelt mit sich schleppen – nur noch ein Haufen scheint es, ein toter Gegenstand, ein Lumpenbündel –, werfen sie am Ende der Reihe hin, richten es aus: Ich bemühte mich, nicht hinzuschauen. Und doch hat der Bruchteil irgendeiner Einzelheit hier, eine noch immer erkennbare Linie dort, ein Zug, ein Kennzeichen meinen Blick in die Richtung gezwungen und mir verraten, wer das gewesen ist: der Pechvogel. Dann: «Arbeitskommandos antreten!», und wir können ganz sicher sein, dass die Soldaten heute strenger sein werden.
Und zu guter Letzt ist auch noch die dritte, die wirkliche, wörtliche Art des Entkommens zu erwägen, offensichtlich, denn auch dafür hat es einmal, ein einziges Mal, in unserem Lager ein Beispiel gegeben. Die Flüchtigen waren zu dritt, alles Letten, erfahren, in Ortskenntnis und deutscher Sprache bewandert, ihrer Sache gewiss – so flüsterte man die Neuigkeit herum –, und ich kann sagen, dass wir, nach der ersten Anerkennung, der ersten heimlichen Schadenfreude, unsere Wächter betreffend, ja, der ersten da und dort aufkeimenden Bewunderung, einer aufflackernden Stimmung, in der fast schon eine Nachahmung erwogen, auf ihre Möglichkeiten hin abgeschätzt wurde – dass wir dann alle recht wütend waren auf sie, will sagen, in der Nacht, so gegen zwei, drei Uhr, als wir zur Strafe für ihre Tat noch immer beim Appell standen, besser gesagt: schwankten. Am nächsten Abend, bei der Heimkehr, gab ich mir dann wiederum Mühe, nicht nach rechts zu schauen. Da standen nämlich drei Stühle und darauf saßen drei Menschen, so etwas wie Menschen. Welchen Anblick sie im Einzelnen boten, wie die in großen, ungeschlachten Buchstaben gehaltene Aufschrift auf den Papptafeln um ihre Hälse lautete: Es schien mir einfacher, all das nicht so genau zu erkunden (es ist mir dann trotzdem zur Kenntnis gebracht worden, weil man im Lager noch lange davon sprach: «Hurra! Ich bin wieder da!»); außerdem erblickte ich ein Gebilde, ein Gestell, das ein bisschen an die Teppichklopfstangen in den Höfen zu Hause erinnerte, daran drei Stricke, zu Schlingen gebunden – so begriff ich es dann: ein Galgen. Von Abendessen konnte natürlich nicht die Rede sein, es hieß sofort: «Appell!», dann: «Das ganze Lager: Achtung!», wie da vorn aus voller Kehle der Lagerälteste höchstpersönlich anordnete. Die üblichen Strafvollzieher stellten sich auf, nach einer weiteren Wartezeit erschienen auch die Vertreter der militärischen Macht, und dann ging alles vonstatten, wie sich’s gehörte, um es so zu sagen – zum Glück ziemlich weit von uns entfernt, vorn, in der Nähe der Waschtröge, und ich habe auch gar nicht hingeschaut. Ich horchte eher nach links, woher plötzlich die Stimme kam, ein Gemurmel, eine Art Melodie. Auf einem dünnen, vorgestreckten Hals erblickte ich, da in der Reihe, einen etwas zittrigen Kopf – vor allem eigentlich eine Nase und ein riesiges, in dem Augenblick irgendwie in ein verrücktes Licht getauchtes, feuchtes Auge: der Rabbi. Bald darauf verstand ich auch seine Worte, umso mehr, als sie von mehreren in der Reihe aufgenommen wurden. Von allen «Finnen» zum Beispiel, aber von vielen anderen auch. Ja, ich weiß gar nicht, wie, aber sie waren schon in die Nachbarschaft, zu den anderen Blocks hinübergedrungen, hatten sich verbreitet, sich gleichsam durchgefressen, denn auch dort bemerkte ich immer mehr bewegte Lippen und sich vorsichtig, aber dennoch entschlossen vor und zurück wiegende Schultern, Hälse, Köpfe. Das Murmeln war hier, mitten im Glied, nur eben knapp hörbar, dafür aber andauernd, wie ein unterirdisches Grollen: «Jiskadal, wöjiskadal», erklang es in einem fort, und so viel weiß sogar ich, dass es das sogenannte Kaddisch ist, das Gebet der Juden zu Ehren der Toten. Und möglich, dass auch das nur eine Art des Eigensinns war, die letzte, einzig verbliebene, vielleicht – das musste ich zugeben – ein wenig zwangsmäßige, sozusagen vorgeschriebene, in gewissem Sinn zugeschnittene, gleichsam auferlegte und zugleich nutzlose Variante des Eigensinns (denn im Übrigen veränderte sich ja da vorn überhaupt nichts, regte sich, abgesehen von den letzten Zuckungen der Gehenkten, überhaupt nichts, geschah auf die Worte hin gar nichts); und doch musste ich das Gefühl irgendwie verstehen, in dem das Gesicht des Rabbi sich gewissermaßen aufzulösen schien und dessen Stärke sogar noch seine Nasenflügel so seltsam erbeben ließ. Als wäre jetzt der lang ersehnte Augenblick, jener siegreiche Augenblick gekommen, von dessen Eintritt er, wie ich mich erinnerte, noch in der Ziegelei gesprochen hatte. Und tatsächlich, jetzt zum ersten Mal, warum, weiß ich nicht, hatte ich auf einmal das Gefühl, dass mir etwas fehlte, ja in gewisser Weise sogar das Gefühl von Neid, jetzt zum ersten Mal bedauerte ich es ein wenig, dass ich nicht – wenigstens ein paar Sätze – in der Sprache der Juden zu beten verstand.
Doch weder Eigensinn noch Beten, noch sonst irgendeine Art von Flucht hätten mich von einem befreien können: vom Hunger. Auch zu Hause war ich hungrig gewesen – oder hatte zumindest geglaubt, es zu sein; hungrig war ich auch in der Ziegelei, in der Eisenbahn, in Auschwitz und sogar in Buchenwald gewesen – so andauernd aber, auf so lange Frist, sozusagen, hatte ich dieses Gefühl noch nicht gekannt. Ich verwandelte mich in ein Loch, in Leere, und mein ganzes Bemühen, mein ganzes Bestreben ging dahin, diese bodenlose, diese unablässig fordernde Leere aufzuheben, zu stopfen, zum Schweigen zu bringen. Nur dafür hatte ich Augen, nur dem konnte mein ganzer Verstand dienen, nur das all mein Tun bestimmen, und wenn ich nicht Holz, Eisen oder Stein aß, dann nur, weil es Dinge sind, die sich nicht zerkauen und verdauen lassen. Aber mit Sand zum Beispiel habe ich es versucht, und wenn ich zufällig Gras sah, zögerte ich nie – nur gab es in der Fabrik und auf dem Lagergelände nicht gerade viel Gras, leider. Für eine einzige magere kleine Zwiebel wurden zwei Schnitten Brot verlangt, und für ebenso viel verkauften Glückliche, Begüterte die Zucker- und die Futterrübe: Im Allgemeinen zog ich die Letztere vor, weil sie saftiger und meistens auch größer ist, obwohl die Sachkundigen dafürhalten, dass die Zuckerrübe mehr Gehalt, mehr Nährwert besitze – doch wer wollte da wählerisch sein; bloß ertrug ich ihr zähes Fleisch, ihren scharfen Geschmack weniger gut. Aber es genügte mir auch schon und war mir ein gewisser Trost, wenn wenigstens andere aßen. Unseren Aufsehern zum Beispiel wurde das Mittagessen in die Fabrik gebracht, und ich konnte den Blick nicht von ihnen abwenden. Ich muss sagen, viel Freude hatte ich nicht an ihnen: Sie aßen hastig, kauten gar nicht richtig, sie überstürzten das Ganze und hatten, wie ich sah, keine Ahnung, was sie da eigentlich taten. Ein andermal war ich einem Werkstattkommando zugeteilt: Da packten die Meister aus, was sie von zu Hause mitgebracht hatten, und – ich erinnere mich – lange schaute ich einer gelben, schwieligen Hand zu, wie sie aus einem länglichen Glas lange, grüne Bohnen herausangelte, eine nach der anderen, und mag sein, ich schaute vielleicht auch noch mit irgendeiner leicht unsicheren, irgendwie unbestimmten Hoffnung zu. Doch die schwielige Hand – ich kannte schon jede ihrer Schwielen und schon jede ihrer Bewegungen im voraus – wanderte immer nur zwischen Glas und Mund hin und her, erging sich nach wie vor nur auf dieser Strecke. Nach einer Weile wurde auch das vom Rücken verdeckt, denn der Mann hatte sich abgewandt, und ich verstand natürlich, warum: aus Menschlichkeit, obwohl ich ihm gern gesagt hätte, nur ruhig zu, nur weiter, ich meinerseits halte schon den Anblick hoch, auch das ist schon mehr als nichts, in gewisser Weise. Kartoffelschalen vom Vortag, einen ganzen Napf voll, sind das Erste gewesen, was ich einem «Finnen» abkaufte. Er holte sie während der Mittagspause hervor, ganz locker, und zum Glück war an diesem Tag Bandi Citrom nicht im gleichen Kommando und konnte so keine Schwierigkeiten machen. Der «Finne» legte ein zerfleddertes Stück Papier vor sich hin, klaubte klumpiges Salz daraus hervor, alles ganz langsam, ganz ausführlich, und mit den Fingerspitzen führte er auch noch eine Prise zum Mund, prüfte den Geschmack, bevor er mir nur so nebenbei, über die Schulter, hinwarf: «Zu verkaufen!» Normalerweise kostete so etwas zwei Scheiben Brot oder die Margarine: er hingegen wollte die Hälfte der Abendsuppe dafür. Ich versuchte zu feilschen, berief mich auf alles, sogar auf die Gleichheit. «Di bist nicht ka jid, d’bist a schegetz», sagte er darauf, mit dem typischen Kopfschütteln der Finnen. Ich fragte ihn: «Und warum bin ich dann hier?» Er zuckte die Schultern: woher er das wissen solle. Ich sagte: «Scheißjude!» Deswegen gebe er es auch nicht billiger, war seine Antwort. Schließlich habe ich es ihm abgekauft, für so viel, wie er wollte, und ich weiß nicht, wie er dann am Abend genau in dem Augenblick auftauchen konnte, als mir die Suppe ausgeschenkt wurde, und ich weiß auch nicht, wie er davon Wind bekommen hatte, dass es Milchnudeln geben würde.
Ich möchte behaupten, dass wir bestimmte Begriffe erst in einem Konzentrationslager wirklich verstehen. In den dummen Märchen meiner Kindheit kam zum Beispiel häufig jener «Wandergesell» oder «arme Bursche» vor, der sich um der Königstochter Hand willen beim König verdingt, und das umso lieber, als es nur für sieben Tage ist. «Aber sieben Tage sind bei mir sieben Jahre!» sagt ihm der König; nun, also, genau das Gleiche könnte ich auch vom Konzentrationslager sagen. Ich hätte zum Beispiel nie gedacht, dass aus mir so schnell ein verschrumpelter Greis werden könnte. Zu Hause braucht das Zeit, mindestens fünfzig bis sechzig Jahre: Hier hatten schon drei Monate genügt, bis mich mein eigener Körper im Stich ließ. Ich kann sagen, es gibt nichts Peinlicheres, nichts Entmutigenderes, als Tag für Tag zu verfolgen, Tag für Tag in Rechnung zu stellen, dass an uns schon wieder soundso viel abgestorben ist. Zu Hause war ich, auch wenn ich nicht besonders viel Aufmerksamkeit darauf verwendet hatte, so im Allgemeinen mit meinem Organismus im Einklang gewesen, ich hatte diese Maschine, um sie so zu nennen, gemocht. Ich erinnerte mich an einen Sommernachmittag, wie ich im schattigen Zimmer einen aufregenden Roman las, während meine Hand mit wohltuender Zerstreutheit die nachgiebig glatte, goldflaumige Haut meiner von Muskeln gespannten, sonnengebräunten Oberschenkel streichelte. Jetzt hing dieselbe Haut schlaff und faltig hinunter, war gelb und ausgedörrt, bedeckt mit allerlei Geschwüren, braunen Ringen, Rissen und Sprüngen, Falten und Schuppen, die besonders zwischen den Fingern unangenehm juckten. «Krätze», stellte Bandi Citrom mit sachverständigem Kopfnicken fest, als ich es ihm zeigte. Ich konnte nur so staunen über die Geschwindigkeit, das entfesselte Tempo, mit dem die deckende Schicht, die Elastizität, das Fleisch von meinen Knochen dahinschwand, schmolz, abfaulte und allmählich ganz verschwand. Täglich wurde ich von etwas Neuem überrascht, von einem neuen Makel, einer neuen Scheußlichkeit an diesem immer merkwürdiger, immer fremder werdenden Gegenstand, der einst mein guter Freund: mein Körper gewesen war. Ich konnte ihn schon gar nicht mehr ohne ein zwiespältiges Gefühl, ohne Schaudern betrachten; deshalb zog ich mich mit der Zeit nicht mehr aus, wusch mich nicht mehr, schon weil sich alles in mir gegen solche unnötigen Anstrengungen sträubte, auch schon wegen der Kälte, nun ja, und dann natürlich wegen der Schuhe.
Diese Gerätschaften machten, jedenfalls mir, sehr viel Ärger. Überhaupt konnte ich mich mit den Kleidungsstücken, mit denen ich im Konzentrationslager ausgestattet worden war, nicht verstehen: Es fehlte ihnen an Zweckmäßigkeit, dafür besaßen sie viele Mängel, ja, sie wurden geradezu zu einem Quell von Unannehmlichkeiten – ich kann allgemein sagen: Sie bewährten sich nicht. So etwa verwandelt sich zur Zeit des grauen Nieselregens – der mit dem Wechsel der Jahreszeit ein dauernder wird – das Drillichzeug in ein steifes Ofenrohr, dessen nasser Berührung unsere von Schaudern überlaufene Haut nach Möglichkeit auszuweichen versucht – vergeblich natürlich. Auch der Sträflingskittel – den sie, das ist unbestreitbar, pflichtschuldig ausgeteilt haben – nützt da nichts, er ist nur ein weiteres Joch, eine weitere nasse Schicht, und nach meiner Ansicht ist auch das grobe Papier der Zementsäcke keine Lösung, wie es sich Bandi Citrom, ähnlich wie viele andere, geschnappt hat und nun unter den Kleidern trägt, allem Risiko zum Trotz, denn solche Vergehen kommen schnell ans Licht: Ein Stockschlag auf den Rücken, einer auf die Brust, und das Knistern bringt die Tat sogleich an den Tag. Knistert das Papier aber nicht mehr, wozu dann – frage ich – diese zu Brei gewordene neue Tortur, die man zudem nur noch heimlich wieder loswerden kann?
Aber wie gesagt, das Ärgerlichste waren die Holzschuhe. Das Ganze begann eigentlich mit dem Schlamm. Übrigens muss ich sagen, dass meine bisherigen Vorstellungen auch in dieser Hinsicht ungenügend waren. Auch zu Hause hatte ich Schlamm gesehen und war auch schon darin herumgelaufen, versteht sich – dass er aber einmal unsere Hauptsorge, dass er der Schauplatz unseres Lebens werden könnte, das hatte ich nicht gewusst. Was es heißt, bis zu den Waden darin zu versinken, das Bein dann mit aller Kraft, mit einem einzigen schmatzenden Ruck zu befreien, und das nur, um zwanzig, dreißig Zentimeter weiter vorn von neuem einzusinken: Auf all das war ich nicht vorbereitet, und wäre es auch vergeblich gewesen. Nun stellte sich aber heraus, dass bei den Holzschuhen mit der Zeit die Absätze abbrachen. Da konnten wir dann auf einer dicken, ab einem bestimmten Punkt plötzlich dünn werdenden, gondelförmig gebogenen Sohle einherwandeln, indem wir auf dieser gerundeten Sohle vorwärtsschaukelten, in der Art von Stehaufmännchen. Außerdem entstand an der Stelle des einstigen Absatzes zwischen dem Schaft und der hier recht dünnen Sohle ein Tag für Tag breiter werdender Spalt, durch den bei jedem unserer Schritte kalter Schlamm und mit ihm Steinchen und allerlei spitzes Zeug ungehindert eindringen konnten. Inzwischen hatte uns der Schaft schon längst die Knöchel und die darunter befindlichen weicheren Bereiche wund gerieben. Nun waren diese Wunden – wie es ihre Eigenschaft ist – aber nass, und zwar von einer klebrigen Nässe: So konnten wir uns dann mit der Zeit überhaupt nicht mehr von den Schuhen befreien, konnten sie nicht mehr ausziehen, sie hatten sich mit den Füßen verklebt, waren, neuen Körperteilen gleich, angewachsen. Sie trug ich bei Tage, in ihnen begab ich mich auch zur Nachtruhe, schon um keine Zeit zu verlieren, wenn ich dann von meinem Lager auf-, genauer: hinunterspringen musste, zwei-, drei-, ja viermal in einer Nacht. Und nachts geht es ja noch an: Nach einigen Schwierigkeiten, einigem Gestolper und Gerutsche im Schlamm draußen erreichen wir im Scheinwerferlicht das Ziel doch irgendwie. Aber was sollen wir tagsüber tun; was, wenn uns der Durchfall im Kommando ereilt – was doch unvermeidbar war? Man nimmt seinen ganzen Mut zusammen, reißt sich die Mütze vom Kopf und bittet den Aufseher um Erlaubnis: «Gehorsamst, zum Abort», vorausgesetzt natürlich, es gibt eine Bude in der Nähe, und zwar eine auch von Häftlingen zu benutzende Bude. Aber nehmen wir an, da ist eine, nehmen wir an, unser Aufseher ist gütig und erteilt uns einmal, erteilt uns ein zweites Mal die Erlaubnis: Wer nun – möchte ich fragen – wäre so tollkühn, so zu allem entschlossen, dass er seine Geduld ein drittes Mal auf die Probe stellte? Da bleibt dann nur noch der stumme Kampf, mit zusammengebissenen Zähnen, mit ständig zitterndem Hohlbauch, bis die Prüfung entschieden ist und entweder unser Körper oder unser Wille die Oberhand gewinnt.
Und zuletzt sind da – erwartet oder unerwartet, herausgefordert oder eben gemieden – immer und überall die Schläge. Auch davon habe ich meinen Teil abbekommen, versteht sich, aber nicht mehr – und auch nicht weniger – als üblich, durchschnittlich, alltäglich war, nicht mehr als sonst jemand, sonst jeder von uns Prügel erhielt, so viel also, wie nicht mit einem eigenen, persönlichen Missgeschick, sondern einfach mit den gewohnten Bedingungen im Lager einhergeht. Nur das ist eine Unstimmigkeit, wenn ich berichten muss, dass mir Prügel einmal auch nicht durch einen dazu eher berufenen, eher berechtigten, eher verpflichteten – oder wie ich es sagen soll – SS-Mann zuteil geworden sind, sondern einen Soldaten in gelber Uniform, der, so hörte ich, einer etwas undurchsichtigeren Organisation namens «Todt», einer Art Arbeitsaufsicht, angehörte. Er war gerade anwesend und sah – begleitet von was für einer Stimme, von was für einem Sprung –, wie ich den Zementsack fallen ließ. Tatsächlich, Zementschleppen war in jedem Kommando – völlig zu Recht, wie auch ich fand – nur mit der Freude zu begrüßen, die seltenen Gelegenheiten gebührt und die man sich auch untereinander kaum eingesteht. Man neigt den Kopf, jemand lädt einem den Sack auf den Nacken, man wandert zu einem Lastwagen, dort nimmt einem ein anderer den Sack wieder ab, dann trottet man mit einem schönen großen Umweg, dessen Grenzen von den augenblicklichen Gegebenheiten gesteckt sind, wieder zurück, und im Glücksfall stehen vor einem sogar noch welche an, sodass man noch mehr Zeit herausschinden kann bis zum nächsten Sack. Nun wiegt so ein Sack insgesamt etwa zehn bis fünfzehn Kilo – ein Kinderspiel unter heimischen Verhältnissen, da könnte ich sogar noch Ball damit spielen: Hier aber stolperte ich, ließ ihn fallen. Und vor allem sprang auch das Papier des Sackes auf, und der Inhalt, das Material, der Wert, der teure Zement rann durch den Schlitz heraus und staubte über den Boden. Schon war er da, schon spürte ich seine Faust im Gesicht und dann, nachdem er mich niedergeschlagen hatte, auch seine Stiefel in den Rippen und im Nacken seine Hände, wie er mir das Gesicht immer wieder zu Boden drückte, in den Zement: Ich solle ihn aufnehmen, zusammenkratzen, auflecken – verlangte er, unsinnigerweise. Dann zerrte er mich wieder hoch: «Dir werd ich’s zeigen, Arschloch, Scheißkerl, verfluchter Judenhund», sodass ich nie wieder einen Sack fallen ließe, wie er versprach. Von da an lud er mir bei jeder Wende persönlich den Sack auf den Nacken, nur um mich kümmerte er sich, nur ich gab ihm zu tun, nur mich verfolgte er mit den Blicken bis zum Wagen und zurück, und mich holte er nach vorn, auch wenn der Reihe und der Gerechtigkeit nach andere dran gewesen wären. Zu guter Letzt spielten wir einander beinahe schon in die Hände, kannten uns schon, beinahe las ich schon so etwas wie Befriedigung, Zuspruch, um nicht zu sagen Stolz auf seinem Gesicht, womit er, das musste ich zugeben, unter einem bestimmten Blickwinkel gesehen sogar recht hatte: Wenn auch schwankend, gekrümmt, zuweilen mit Schwärze vor den Augen, so hielt ich doch durch, ich kam und ging, ich trug und schleppte, und zwar ohne einen einzigen weiteren Sack fallen zu lassen, und das war ja – das musste ich einsehen – alles in allem die Bestätigung für ihn. Andererseits fühlte ich am Ende dieses Tages, dass etwas in mir unwiederbringlich kaputtgegangen war, von da an dachte ich jeden Morgen, es sei der letzte, an dem ich noch aufstehen würde, bei jedem Schritt, dass ich den nächsten nicht mehr tun, bei jeder Bewegung, dass ich die nächste nicht mehr schaffen würde; aber ja nun, vorläufig schaffte ich sie noch jedes Mal.