Erster Teil Eistauchers Wanderung

1

Wir hatten einen schlimmen Schamanen.

Das sagte Dorn immer, wenn er selbst etwas Schlimmes tat. Beim geringsten Widerspruch, egal, worum es ging, hob er seine langen grauen Zöpfe an, um einem die fleischigen roten Knubbel um seine Ohrlöcher herum zu zeigen. Dorns Schamane hatte seinen Jungen Knochennadeln durch die Ohren gestochen und sie dann seitlich herausgerissen, damit sie bloß keine seiner Lektionen vergaßen. Dorn hingegen schlug Eistaucher bei solchen Gelegenheiten aufs Ohr und zeigte dann an seine eigene Schläfe, wobei er den Kopf schief legte, wie um zu sagen: Und du denkst, du hättest es schwer?

Im Moment hielt er Eistaucher am Arm gepackt und zerrte ihn über den Kammweg zum Pfeifhasenfels, von dem aus man das Ober- und das Untertal überblicken konnte. Es war spät am Nachmittag, und die schweren Wolken schoben sich wie ein graues Weltendach über die Landschaft. Darunter bewegte sich eine kleine Gruppe Männer im Gänsemarsch über den Grat, Dorn vorneweg. Sie hatten eine Schamanenangelegenheit zu erledigen. Es war an der Zeit für Eistauchers Wanderung.

— Warum heute?, wandte Eistaucher ein. — Ein Unwetter zieht auf, das siehst du doch.

— Wir hatten einen schlimmen Schamanen.

Und da waren sie also. Einer nach dem anderen umarmten die Männer Eistaucher, grinsten ihn mitleidig an und schüttelten die Köpfe. Ihre Blicke ließen ahnen, dass er eine scheußliche Nacht vor sich hatte. Dorn wartete, bis sie fertig waren, und stimmte dann krächzend das Abschiedslied an:

Auf diese Art beginnt es seit je

Nun wirst du als Mann neu geboren

Gib dich Mutter Erde hin

Sie wird dein Bitten erhören

— Wenn du höflich genug bittest, fügte Dorn hinzu und gab Eistaucher einen Klaps auf die Schulter. Dann wurde viel gelacht, und die Männer bedachten ihn mit teils hämischen, teils ermutigenden Blicken, während sie ihm Kleider, Gürtel und Schuhe abnahmen und alles an Dorn weiterreichten, der Eistaucher so böse anstarrte, als wollte er ihn gleich schlagen. Und als Eistaucher ganz nackt und all seiner Besitztümer beraubt war, versetzte Dorn ihm tatsächlich einen Schlag, wenn auch nur locker, mit dem Handrücken vor die Brust. — Geh. Mach dich davon. Wir sehen uns bei Vollmond. Bei klarem Himmel hätte man im Westen die erste schmale Sichel des Neumonds sehen können. Eine dreizehntägige Wanderschaft also, die er mit nichts begann, so wie jeder Schamane bei seiner ersten Wanderschaft. Doch diesmal zog ein Unwetter auf. Außerdem war erst der vierte Monat, und es lag noch Schnee.

Eistaucher wahrte eine ausdruckslose Miene und blickte zum westlichen Horizont. Es wäre würdelos gewesen, um einen Monat Aufschub zu betteln, und ohnehin sinnlos. Also starrte er an Dorn vorbei und überlegte, wie er hinunter ins Untertal gelangen sollte, wo der von Baumgrüppchen gesäumte Bach floss. Der übliche Abstieg vom Pfeifhasenfelsen war sehr steinig, weshalb er ihn barfuß besser nicht nehmen sollte. Die erste von vielen Entscheidungen, bei denen er sich nicht vertun durfte.

— Freund Rabe hinter dem Himmel, sagte er in einem lauten Singsang. — Führe mich nun, aber führe mich ohne Tücke!

— Wenn du Rabe dazu bewegen willst, dir zu helfen, dann viel Glück, sagte Dorn. Aber da Eistaucher im Gegensatz zu Dorn aus der Rabensippe stammte, beachtete er den Einwurf nicht und blickte auf der Suche nach einem Pfad ins Tal. Dorn versetzte ihm einen weiteren Klaps und führte die anderen Männer zurück über den Kammweg. Eistaucher stand allein da. Er spürte den schneidenden Wind auf der Haut. Zeit, seine Wanderschaft zu beginnen.

Aber es war nicht ersichtlich, welchen Weg er nach unten wählen sollte. Für eine Weile schien es, als würde er einfach an Ort und Stelle erfrieren und niemals die Reise seines Lebens antreten.

Also regte ich mich in ihm und gab ihm ein wenig Kraft.

Ich bin der dritte Atem.

Er begann, über die Felsen hinabzusteigen. Einmal drehte er sich noch um, um Dorn die Zähne zu zeigen, aber der war mit den anderen bereits an der Flanke des Höhenzugs hinabgestiegen und außer Sicht. Eistaucher lief weiter abwärts und schleuderte jeden Gedanken an Dorn weit von sich. Die zersplitterten Steine unter seinen Füßen waren hier und da mit Schnee bedeckt, der sich in Senken und neben Erhebungen sammelte, ein Muster, das seine Schritte lenkte. Lauf geschmeidig wie eine Katze, von Fels zu Fels hinab, immer bereit, kleine Sprünge mit den Händen abzufangen. Seine Zehen waren eiskalt, und er überließ sie ihrem frostigen Schicksal und konzentrierte sich darauf, seine Hände warm zu halten. Dort unten zwischen den Bäumen würde er sie brauchen. Es begann zu schneien, erste, feine, kalt piksende Flöckchen. Auf dem Hang gab es große Schneeflächen, auf denen er besser laufen konnte als auf den Steinen.

Er zog den Brustkorb zusammen und presste alle Wärme nach außen in seine Gliedmaßen, schnaufte, bis etwas Hitze in ihm aufflackerte und der Nadelschnee auf seiner Haut schmolz. Manchmal konnte man nur durch noch größere Eile warm werden.

Er kletterte abwärts und dann über die Felsbrocken in der Rinne, die der Bach unten im Tal eingegraben hatte. Auf der anderen Seite konnte er über den dünnen Waldboden wieder hochlaufen. Der Untergrund war unangenehm schwammig, durchweicht von Regen und geschmolzenem Schnee. Hier ging er den Schneeflecken aus dem Weg. Der erste Tag des vierten Monats: Es würde nicht leicht werden, ein Feuer zu machen. Doch wenn es ihm gelang, hatte er eine um vieles angenehmere Nacht vor sich.

Das obere Ende des Untertals verengte sich zu einer steilen, gekrümmten Schlucht. Um die Quelle des Bachs stand eine kleine Gruppe von Fichten und Erlen. Dort würde er Schutz vor dem Wind finden und Zweige, aus denen er sich Kleider machen konnte, und unter den Bäumen dort lag mit Sicherheit nicht mehr viel Schnee. Eilig lief er zu dem Wäldchen, achtete dabei allerdings darauf, sich nicht die fühllosen Zehen anzustoßen.

Zwischen den Bäumen an der Quelle angekommen, zog er grüne Fichtenzweige herab und brach mehrere davon ab. Er fluchte laut darüber, wie nass sie waren, doch selbst feuchte Nadeln würden ein wenig seiner Körperwärme bewahren. Er verflocht zwei Fichtenzweige miteinander und steckte den Kopf durch eine Lücke in der Mitte, sodass eine Art Überwurf entstand.

Dann brach er ein totes Stück Wurzelholz von einer Krüppelkiefer ab, um es als Untergrund für sein Feuerzeug zu verwenden. Bei der Quelle fand er einen guten Hackstein, mit dem er einen gerade gewachsenen abgestorbenen Erlenzweig zum Feuerstock abschlug. Er hatte gerade noch genug Gefühl in den Händen, um den Stein zu halten. Ansonsten war ihm nicht besonders kalt, mit Ausnahme seiner Füße, die sich tot stellten. Die schwarze Matte aus Fichtennadeln, die den Boden unter den Bäumen bedeckte, war größtenteils schneefrei. Er kauerte sich unter einen der höchsten Bäume, bohrte die Zehen zwischen die Nadeln und wackelte so ausgiebig wie möglich mit ihnen. Als er ein leichtes Brennen verspürte, zog er sie wieder heraus und machte sich auf die Suche nach trockenem Mulm. Selbst bei den besten Feuerzeugen brauchte man etwas Mulm als Brennstoff.

Er langte ins Innere toter Fichtenstämme und tastete nach Mulm oder Zunderholz. Schließlich fand er ein wenig von Letzterem, das nur leicht feucht war. Dann brach er eine Handvoll toter Zweige ab, die im Schutz größerer Äste hingen. Von außen waren sie feucht, aber innen trocken; sie würden brennen. Auch ein paar größere tote Äste konnte er abbrechen. In dem Wäldchen gab es genug totes Holz, um ein Feuer zu versorgen, wenn es erst einmal brannte. Die Frage war, ob er genug Mulm oder Zunder fand. Weder Fichten noch Erlen ergaben beim Verrotten guten Zunder, also brauchte er Glück. Vielleicht würde er etwas ameisenzerfressenes Holz finden. Er ging auf die Knie und begann, unter den größten umgestürzten Bäumen zu suchen, wobei er sich von den Schneeflecken fernhielt. Auf der Suche nach etwas Brauchbarem drehte er größere Äste um und durchwühlte die Erde. Schnell war er bis zu den Ellenbogen mit Dreck verklebt, aber auch das würde ihn warm halten.

Und vielleicht würde es genau darauf ankommen, weil er nämlich weder trockenen Zunder noch Mulm fand. Er wrang das Wasser aus einem stark verrotteten Holzklumpen, aber der braune Schmier, der in seinen Händen zurückblieb, erinnerte eher an totes Moos oder Wollkraut und war noch immer feucht. Dieses Zeug ließ sich mit der rauen Spitze des Feuerstocks unmöglich in Brand setzen.

— Bitte, sagte er flehend zu dem Wäldchen. Er bat es um Verzeihung, dass er bei seinem Eintreffen auf die Bäume geflucht hatte. — Gib mir etwas Zunder, bitte, Göttin.

Nichts. Es wurde zu kalt, um weiter auf dem nassen Boden zu knien und zwischen herabgefallenen Ästen herumzuwühlen. Um etwas Wärme zu erzeugen, stand er auf und tanzte. Dadurch gelang es ihm, seine Hände aufzuwärmen; es war wichtig, dass sie nicht ebenso taub wurden wie seine Füße. Ach, mit einem Feuer wäre die Nacht so viel angenehmer! Hier musste sich doch etwas finden lassen, das sich unter der Hitze seines Feuerstocks entzünden würde!

Nichts. An seinem Gürtel waren viele kleine Gänselederbeutel befestigt, in denen er Feuersteine, trockenes Moos, einen Feuerstock und ein kleines Brett verwahrte. Wäre er angezogen gewesen und hätte all das bei sich gehabt, dann hätte er diese Nacht und die kommenden zwei Wochen in bester Verfassung überstehen können. Eben deshalb hatte man ihn nackt losgeschickt: Bei der Wanderschaft ging es darum, zu beweisen, dass man ohne jedes Hilfsmittel mit Ausnahme der eigenen Hände losziehen konnte und trotzdem nicht nur überlebte, sondern sogar gut zurechtkam. Er musste Eindruck machen, wenn er bei Vollmond wieder ins Lager einzog.

Aber zuerst einmal musste er die Nacht überleben. Er verausgabte sich beim Tanzen, warf die Arme herum, beschrieb große Kreise mit den Händen. Er sang ein warmes Lied und wackelte mit Fingern und Zehen. Nachdem er das eine Weile getan hatte, spürte er ein Brennen am ganzen Körper, mit Ausnahme der Füße. Aber er wurde auch müde. Er achtete darauf, ein Gleichgewicht zwischen der Kälte und seinen Anstrengungen zu finden, ging in engen Kreisen und suchte dabei weiter den Waldboden nach Stellen ab, an denen sich Zunder oder Mulm gesammelt haben konnte. Nichts!

In jedem Hain findet sich etwas Holz, das brennt.

Das war eine der Redensarten, die Heide oft verwendete, obwohl es dabei nur selten um Feuer ging. Eistaucher sprach die Worte laut aus, mit Nachdruck, beschwörend: — In jedem Hain findet sich etwas Holz, das brennt! Aber heute Nacht überzeugten sie ihn nicht. Sie machten ihn nur wütend.

Grabe!

Er machte sich an der Unterseite eines Stamms zu schaffen, der vor langer Zeit beim Umstürzen auf einem anderen zerbrochen war. Es handelte sich fast nur noch um zwei über Kreuz liegende Erdanhäufungen. An sich hätte er dort durchaus fündig werden können, wenn nicht alles völlig durchnässt gewesen wäre. Und kalt.

Als er das erkannte, schlug er mit den Fäusten auf die weichen, feuchten Stämme. Ihm blieb nichts anderes übrig, als wieder im Kreis zu gehen.

Später förderte er beim Graben in einem anderen Stück Holz einen Astknoten zutage, der noch hart war und aus dem zwei Sporne in beinahe dem richtigen Winkel für eine Speerschleuder wuchsen. Er ersetzte sein ursprüngliches Feuerbrett durch den flachen Astknoten, der besser geeignet war. Sein Erlen-Feuerstock machte nach wie vor einen guten Eindruck. Alles war bereit, er musste nur noch etwas finden, das trocken genug war, um Feuer zu fangen.

Wenn nur dieses heftige Unwetter aufgehört hätte. Eine Weile war der Schneeregen in kalten Böen niedergeprasselt. In dem beißenden Wind fühlte es sich an, als würde man von eisigem Sand getroffen. Ihm war nichts anderes übrig geblieben, als sich einen Unterschlupf zu suchen, und so war er unter eine Fichte gekrochen, deren ausladende Äste bis auf den Boden reichten, hatte sich fest an den Stamm geschmiegt und nur ein paar Tropfen und das leichte Kitzeln des Windes auf der Haut gespürt. Die Fichtennadeln kratzten, und der Boden war kalt, aber Eistaucher bewegte die Schultern, sang ein wärmendes Lied und schwor Rache an Dorn. Der sollte ihm noch mal mit schlimmen Schamanen kommen!

Aber alle Jungen mussten auf die eine oder andere Art Männer werden, ihre Fähigkeiten und ihr Durchhaltevermögen auf einer solchen Wanderschaft unter Beweis stellen. Die Wanderungen von Jägern waren kein bisschen weniger unangenehm. Und es hieß, dass die Schamanen anderer Rudel auf sogar noch härteren Prüfungen bestanden.

Eistaucher verbannte alle Gedanken an Dorn. Er prüfte alle Äste am Fuß der Fichte. Wenn er einen toten Ast fand, der vertrocknet, aber innen noch leicht harzig war, dann konnte er vielleicht einen Teil von seinem Innern mit einer Steinspitze zu Fasern zermahlen, die dünn genug waren, um unter dem sich drehenden Stock Feuer zu fangen. Es war einen Versuch wert, und seine Anstrengungen würden ihn warm halten.

Doch er musste feststellen, dass es unten an diesem Baum keinen Ast gab, den er abbrechen konnte.

Als der Regen nachließ, kroch er wieder nach draußen und tastete auf der Suche nach einem passenden Zweig die anderen Fichten ab. Seine Hände waren so kalt, dass er die Äste kaum greifen konnte, um sie zu begutachten.

Nach einer Weile hatte er ein paar geeignet erscheinende Äste abgebrochen. Wenn es ihm gelang, einem von ihnen eine Flamme zu entlocken, dann konnte er das Feuer mit den anderen nähren.

Er fand einen geeigneten Herdstein und einen besseren Hackstein. Dann wählte er seinen besten toten, trockenen Fichtenzweig aus, platzierte ihn auf seinem Herdstein und schlug mit seinem Hackstein darauf. Der Ast war fest. Offenbar würde es eine Weile dauern, seinen Plan in die Tat umzusetzen, aber es war ein vielversprechender Anfang. Krach, krach, krach. Weil er so wenig Gefühl in den Händen hatte, musste er vorsichtiger sein als sonst, wenn er sich nicht auf die Finger schlagen wollte. Vor zwei Jahren hatte er sich einmal eine Fingerspitze zerquetscht, und bis heute war sie dicker als die anderen und leicht taub, mit Einkerbungen im Nagelbett. Er nannte diesen Finger Dickerchen. Entsprechend vorsichtig hieb er also mit seiner Hacke seitlich auf den abgebrochenen Ast ein. Ein- oder zweimal traf er versehentlich den Herd, und die ein oder zwei Funken, die dabei aufstoben, erinnerten ihn schmerzlich an seine Feuersteine. Aber ein paar vereinzelte Funken würden in einer solchen Nacht nicht genügen. Der feuchte, in den Bäumen rauschende Wind lachte ihn aus.

Schließlich hatte er ein Ende des Astes zu wunderbar trockenen Splittern zerquetscht. Im Schneidersitz saß er da, den Oberkörper über den Ast gebeugt, und kam zu dem Schluss, dass das zersplitterte Astende vielleicht wirklich brennen würde. Schwer atmend und warm mit Ausnahme seiner Füße, kroch er unter die beste Fichte in seinem Hain und breitete sein neues Feuerzeug um sich herum aus. Er hielt den Feuerstock fast senkrecht zwischen den Handflächen in die Splittermasse. Alles war bereit: Er drehte den Feuerstock hin und her.

Hin und her, zwischen den Händen hin und her, wobei er die Spitze des Stocks behutsam auf den Ast drückte. Hin und her, hin und her. Seine Hände glitten durch den Druck, den er ausübte, am Stock entlang abwärts, und wenn sie bei der Spitze ankamen, musste er ihn mit einer Hand greifen, die andere wieder ans obere Ende legen, die zweite hochbewegen, den Stock zwischen den Handflächen fassen und weiterreiben, so schnell es ging. Derweil hatte der Regen wieder eingesetzt, und selbst dicht am Stamm seiner Fichte fielen nun Tropfen durch die Äste. Langsam verließ ihn die Hoffnung, doch noch wollte er sich das nicht eingestehen. Denn dann würde ihm rasch sehr viel kälter werden.

Nach langer Zeit, vielleicht nach einer Faust oder mehr, musste er aufgeben, zumindest mit diesem Ast. Der Splitterbrei war etwas zu dicht und nach einer Weile auch leicht feucht geworden. Die Stelle unter dem Feuerstock hatte er so weit erhitzt, dass man sich die Fingerspitze daran verbrennen konnte, und die Splitter darum herum waren sogar etwas angekohlt, aber sie wollten einfach nicht Feuer fangen.

Eistaucher saß da. Es würde ihn einiges an Überwindung kosten, Dorn davon zu erzählen, vorausgesetzt, er überlebte. Der alte Zauberer würde ihm sicher einen Schlag auf die Ohren verpassen. Man musste jederzeit und überall ein Feuer entfachen können. Je schlechter die Bedingungen waren, desto wichtiger war das. Wie die meisten Schamanen beim Großen Tanz war Dorn außergewöhnlich gut im Feuermachen und hatte viel Zeit damit verbracht, Eistaucher und den anderen Kindern seine Kniffe beizubringen. Er hatte ihnen Feuerstöcke auf die Unterarme gedrückt und sie gedreht, um ihnen zu zeigen, wie heiß sie wurden. Irgendwann war Eistaucher dazu in der Lage gewesen, immer Feuer zu machen, egal, wie schwierig der Alte es ihm machte. Aber es hatte immer etwas trockenen Mulm gegeben.

Jetzt kroch er schluchzend vor Enttäuschung unter der Fichte hervor, stand auf und tanzte, bis die Kälte von einer dünnen Schweißschicht abgehalten wurde. Als der Regen etwas nachließ, dampfte er. Schon jetzt war er hungrig, aber dagegen war nichts zu machen. Am besten kaute er auf einem Steinchen herum und dachte an etwas anderes. Kaute auf einem Steinchen herum und tanzte im Regen. Ob er nun fror oder nicht, dies war seine Wanderschaft. Wenn es endlich hell wurde, würde er schließlich einen besseren Unterschlupf, trockenen Mulm und eine Balme oder einen kleineren Überhang finden. Dann konnte er sich für seine Rückkehr bei Vollmond ausstaffieren. Er würde bekleidet ins Lager einziehen, mit vollem Bauch und einen Speer in der Hand! In ein Löwenfell gehüllt! Mit einer Kette aus Bärenzähnen um den Hals! Im Kopf sah er es alles vor sich. Er schrie seine Geschichte in die Nacht hinaus.

Nach einer Weile saß er wieder unter der besten Fichte, den Kopf auf den Knien, die Arme um die Beine geschlungen. Später ging er hinaus und schleppte sich durch das Wäldchen, auf der Suche nach einem besseren Unterschlupf. Einen nach dem anderen probierte er aus. Die guten fügte er einer stetig wachsenden Runde von Rastplätzen hinzu, jeder mit seinen eigenen Stärken und Schwächen. Über weite Strecken sang er, und dann und wann fluchte er auf Dorn. Möge dir der Pimmel abfallen, mögest du von einem Löwen gefressen werden … und von Zeit zu Zeit schrie er laut. — Es ist kalt! Dorn brüllte seine Gedanken manchmal auf diese Art hinaus, wobei er alte Worte aus der Schamanensprache ausstieß, Worte, die wie die Dinge selbst klangen: Esch var kelt! Esch var k-k-k-KEEEELT!

Er stieß sich den großen Zeh an und spürte es nur im Knochen; das Fleisch war taub. Wieder fluchte er. Mögen die Raben auf dich scheißen, mögen deine Kinder sterben … Dann legte er sich unter einer großen Fichte auf den Boden, sodass nur seine Kniescheiben und Zehen und seine Handflächen und seine Stirn den Boden berührten. Immer wieder drückte er sich mit den Armen hoch und hielt seinen Körper dabei starr. Wenn er nur mit der Erde hätte ficken können, um sich warm zu halten, doch sie war zu kalt, sein armer Pimmel wollte nicht zum Horn werden, der war ebenso taub wie seine Zehen, und er würde wie verrückt wehtun, wenn er sich wieder erwärmte, er würde kribbeln und brennen, bis Eistaucher die Tränen kämen. Vielleicht, wenn er an das Mädchen aus dem Löwenrudel dachte, das ebenfalls zur Rabensippe gehörte und ihm deshalb verboten war, zumindest im Prinzip, schöne Augen hatten sie einander trotzdem gemacht, und der Gedanke daran, in sie einzudringen, würde ihn wärmen. Oder Salbei aus seinem eigenen Rudel.

Mit diesen Gedanken konnte er etwas Zeit einfangen: damit, all das hinter seinen Lidern zu beobachten, zuzusehen, wie sie die Schenkel vor ihm spreizte. Dort in ihrer Kolbi konnte er diesen kalten Regen vergessen. In ihrer Kolbi, ihrer Baginare, ihrem Fuchs. Er wollte ein kleines Feuer hinter seinem Bauchnabel entfachen und seinen Visel spritzen lassen. Aber es war zu kalt. Er konnte nur das geschundene Fleisch etwas kneten und leicht zum Brennen bringen, es wärmen, damit es nicht vor Kälte abstarb. Das wäre wirklich schlimm.

Nach einer Weile ließ der Regen nach. Der graue, wolkendunkle Himmel wirkte etwas heller. Kein Mond, keine Sterne, an denen sich erkennen ließ, ob die Morgendämmerung nahte. Aber er hatte das Gefühl, dass sie nicht mehr fern sein konnte. Bald musste es so weit sein. Es war eine lange, lange Nacht gewesen.

Schwankend erhob er sich. Das Grau am Himmel war eindeutig heller geworden. Er sang ein warmes Lied, ein Lied für die Sonne. Er rief nach der Sonne, dem großen Gott der Wärme und des Frohsinns. Er war müde, und ihm war kalt. Aber die Kälte würde ihn nicht umbringen. Er würde bis zur Morgendämmerung durchhalten, das spürte er. Das war seine Wanderung, so wurde ein Schamane geboren. Er heulte, bis er eine raue Kehle hatte.

Schließlich kam die Morgendämmerung, feucht, grau, trübe, kalt. Unter dem Gewitterhimmel blieben alle Farben gedämpft, aber immerhin konnte Eistaucher nun sehen. Von Westen her schoben sich weitere, tief hängende Wolken heran und kappten die Höhenzüge. Ihre Unterseiten hingen durch wie fette schwarze Brüste. Stromabwärts von ihm gingen breite Regenschleier im Untertal nieder. Sie sahen aus wie Ginstergesträuch, das zwischen Wolken und Wald in der Luft hing. Durch die großen Schneeflecken überall war der Boden heller als der Himmel.

Und dann wurde innerhalb weniger Lidschläge alles sehr viel heller, und ein weißer Fleck glomm in den Wolken über den östlichen Höhenzügen auf. Die Sonne, der wunderbare Gott der Wärme, war endlich über den Berg gekrochen. So bewölkt es auch sein mochte, jetzt würde es sicher bald angenehmer werden. Nur bei den schlimmsten Gewitterstürmen war der Tag kälter als die vorangegangene Nacht. Und derzeit sah der Himmel in Windrichtung gar nicht so übel aus: Zwischen den Wolken, die über den grauen Hügeln wogten, war helles Weiß zu sehen. Es war allerdings nach wie vor windig, und Regen ging in kleinen Schauern nieder.

Doch ob der Tag nun wärmer als die Nacht würde oder nicht, er musste in Bewegung bleiben, wenn er nicht frieren wollte. Erholen konnte er sich erst, wenn er ein Feuer in Gang gebracht hatte. Also sammelte er die Ausrüstung für sein missglücktes Feuer ein, nahm sie in die linke Hand, ergriff mit der rechten einen guten Wurfstein und folgte dem Bachlauf. Er brauchte ein größeres Wäldchen, mit einer guten Mischung aus Fichten und Kiefern, Zedern und Erlen. Die Hänge und Höhenzüge und auch das dahinterliegende Hochland bestanden vor allem aus kahlem, von Grasbüscheln übersätem Felsgestein, auf dem noch alter Schnee lag. Aber an den Wasserläufen wuchsen meistens Bäume, ausgefranste grüne Bänder in den Talsohlen. Ein kurzes Stück stromabwärts, wo ein Rinnsal über den Osthang in den Bach des Untertals mündete, befand sich an einer flachen Stelle ein größeres Wäldchen, das sich zu beiden Seiten an den Talwänden emporzog, in der Mitte eine kleine, ovale Wiese.

Vorbei am überfluteten Teil der Wiese ging er in den dichtesten Teil des Wäldchens. Dort schlüpfte er zwischen die Stämme, dankbar für ihren Schutz. Es war windiger geworden und regnete heftiger, als er es beim Verlassen seines Nachtlagers gedacht hatte. Doch in diesem größeren Wäldchen war seine Lage sehr viel besser. Er war hier gut geschützt, und jetzt, wo es Tag war, konnte er bei der Arbeit sehen. Sein Blick fiel auf eine umgestürzte Zeder in der Mitte des Wäldchens, deren innere Rinde er herausziehen konnte, um sich Kleidung daraus zu fertigen. Und mehrere schneeberingte Ameisenhaufen vor einer weiteren, verrotteten Zeder verrieten ihm, wo er Zunder finden konnte. Am Ende des Stamms befand sich ein kleines Loch. Er schlug mit seinem Stein dagegen, um es zu weiten, griff hinein und drehte die Finger tastend nach oben. An der Unterseite des noch festen Außenholzes befand sich ein Bereich mit zundrigem Mulm, der ziemlich trocken war — O Mutter!, rief er. — Danke!

Er zog eine große Handvoll heraus und trug sie hastig auf die windabgewandte Seite einer knorrigen alten Fichte. — In jedem Wäldchen, DAS GROSS GENUG WAR, findet sich etwas Holz, das brennt, schrie er seine Richtigstellung von Heides Redensart laut heraus. Das würde er ihr klar und deutlich sagen. Sie würde ihn auslachen, das wusste er, aber er würde es ihr trotzdem sagen. Irrtümer konnten verhängnisvoll sein, insbesondere, wenn man etwas zu einer Redensart machte.

Er ließ den trockenen Mulm gut geschützt in einer Vertiefung am Fuß einer gesplitterten alten Kiefer zurück, sammelte hastig trockene Zweige und brach noch einige weitere ab. Die verstaute er zusammen mit dem Mulm, bevor er zehn bis zwanzig kleinere lebende Äste abbrach und sie über und rund um die gesplitterte Kiefer anordnete, die er sich ausgesucht hatte, um so seinen Windschutz zu verbessern. Krüppelkiefern wie diese besonders alte hatten mehrere Stämme und einen dichten Nadelwuchs; der Baum hier war an sich schon ein wunderbar geschützter Platz, und mit seinen Astwänden kam praktisch kein Wind und Regen zur Feuerstelle durch.

Anschließend legte er sich sein Feuerholz bereit und hockte sich mit dem Rücken zum Stamm vorgebeugt hin, sodass sein Körper ebenfalls zum Windschutz beitrug. Er spreizte die Knie ab und klemmte sich sein Feuerbrett zwischen die fühllosen Füße.

Dann hackte er seinen Feuerstock zurecht, um ihn etwas ordentlicher und spitzer zu machen, und setzte ihn in die Vertiefung seines Bretts, sehr dicht bei seinem frischen Mulm. Als alles seine Richtigkeit hatte, begann er, um sein Leben zu reiben, hin und her, vor und zurück. Er spürte, wie seine Hände an dem Stock herabrutschten, und er spürte, wie der Stock sich im Drehen gegen das Brett presste, und er versuchte, die Kombination von Geschwindigkeit und Druck aufrechtzuerhalten, die am meisten Hitze erzeugen würde. Es war ein ganz eigenes Gefühl, und die Art, wie die Hände jedes Mal vom unteren Ende des Stocks ans obere zurückkehrten, hatte etwas von einem kleinen, schnellen Tanzschritt. Als er einen guten Rhythmus gefunden und mehrmals umgegriffen hatte, schob er mit den Zehen einen Teil des Mulms dichter an die sich langsam schwärzende Mulde, eine kleine Vertiefung in dem Astknoten, die ihn überhaupt erst veranlasst hatte, dieses Holzstück auszuwählen; es war genau das, was man sonst mit einer Klinge in eine ebene Oberfläche geschnitzt hätte.

Er sah, wie der Mulm sich schwarz verfärbte, hielt den Atem an; und dann begannen einige der angekohlten Stellen, erst gelb und dann weiß zu glühen. Er blies behutsam auf die weißen Spitzen, verrenkte sich fast, um mit dem Gesicht dichter heranzukommen, und blies genau in der richtigen Art und Weise, um das Weiß weg von der Vertiefung und hin zu dem größeren Büschel Mulm zu treiben. Er krümmte den Rücken wie die Gewundene Au und blies so behutsam wie nur möglich, um die weiße Hitze wachsen zu lassen, nährte sie mit einem bisschen Atem, ohne sie dabei auszupusten, gab ihr genau das, was sie brauchte, entleerte sich für sie, puff puff puff, puffff, das konnte er, damit kannte er sich aus, puff puff puff, puff puff puff, pufffff

Und dann fuhren Flammen aus dem Mulm. FEUER! Selbst diese winzige Flamme schlug ihm ihre Wärme ins Gesicht, und er atmete gierig ein und blies dann noch hingebungsvoller ins Feuer, nach wie vor behutsam, aber mit einem zunehmenden Gefühl der Dringlichkeit, wie wenn man einer Flöte den Zweiklang eines Wolfsschreis entlocken wollte. Dabei erhob er sich auch auf Knie und Ellenbogen und setzte sein Gesicht als dichten Windschutz für diese wunderschöne kleine Flamme ein, blies in genau der richtigen Weise in sie hinein, um sie wachsen zu lassen, liebkoste sie, o ja, wie sehr er sich wünschte, dass sie sich wohlfühlte, dass sie glücklich war und wuchs! Er gab ihr seinen Atem, seinen Geist, seine Liebe, er wollte, dass sie aufloderte, dass sie wie die zähe Milch aus einem Visel emporschoss, dass sie ihm das Gesicht verbrannte: Und sie tat es!

Als er sah, dass die kleine Flamme sich hielt, begann er, die kleinsten und trockensten Zweige so darüberzuschichten, dass möglichst viele von ihnen Feuer fingen, ohne dabei die Glut darunter zu ersticken. Man musste genau das richtige Maß wahren, aber damit kannte Eistaucher sich aus; er war gut darin, weil Dorn ihn dazu gezwungen hatte, es zwanzigzwanzigzwanzigzwanzigmal zu üben. O ja, Feuer, Feuer, FEUER! Die meisten Leute waren ziemlich gut im Feuermachen, aber Eistaucher hielt sich für einen der Besten, weshalb ihm sein Versagen in der vergangenen Nacht auch so zusetzte. Es würde ihm schrecklich peinlich sein, die Geschichte jener ersten Nacht zu erzählen. Er würde betonen müssen, wie ungeheuer wild das Unwetter gewesen war, allerdings hatte sein Rudel die Nacht nur ein Tal weiter verbracht und würde ihm nicht glauben, wenn er allzu sehr übertrieb. Letztlich würde er zugeben müssen, dass er in jener Nacht einfach nicht in Bestform gewesen war.

Aber jetzt war es Morgen, und er hatte ein Feuer in Gang gebracht, und die ersten Zweige entzündeten sich und ließen die Flammen wachsen, sodass er mehr Holz aufschichten konnte, darunter auch einige dickere Zweige. Schon bald brannten zehn bis zwanzig Zweige in einem kräftigen Gelb über der ersten Glut. Jetzt konnte er gefahrlos eine ordentliche Handvoll trockener Zweige auf seinem kleinen Feuer platzieren, die praktisch sofort aufloderten. — Ha! Ha!, sagte er und legte ein paar größere Stücke dazu. Erst fingerdicke Stöcke, dann Äste vom Durchmesser seines Handgelenks. Glücklich sah er zu, wie die wachsenden Flammen über das Holz leckten und es verkohlten. Wenn man ein Feuer hat, ist man mit der Welt im Reinen.

Jetzt stieg auch Rauch auf, und das Zischen und Knacken des Holzes verriet, wie heiß die Flammen inzwischen waren. Die Hitze knallte ihm auf die nackte Brust, auf den Bauch und den Pimmel, der schrecklich brannte, als er sich erwärmte; ein qualvolles, wohlbekanntes Kribbeln. Er umfasste ihn mit einer Hand, um den Schmerz festzuhalten, und stellte fest, dass es ein guter Schmerz war, so gut, dass man ihn leicht als eine raue Art von Wohlbehagen empfinden könnte; ah, das nur zu vertraute Brennen tauben Fleisches, das wieder zum Leben erwacht, dieses Jucken tief unter der Haut, das schmerzhafte Kitzeln der Lebendigkeit! Jetzt konnte er sich sogar die Füße wärmen! Sie würden beim Auftauen wie wahnsinnig brennen. Ach, das Feuer, das prachtvolle Feuer, so gütig und warm, so wunderschön!

— Welch ein Segen, welch ein Freund! Welch ein Segen, welch ein Freund! Das war eines von Heides kleinen Feuerliedern.

Jetzt sah es wirklich gut für ihn aus. Die vorangegangene Nacht schien nun nur noch eine anfängliche Schwierigkeit, ein düsteres Vorspiel. Jetzt, wo sein Feuer brannte, spielte das Unwetter, das noch immer über seinem Kopf toste, keine auch nur ansatzweise so große Rolle mehr. Er konnte sein Feuer die ganzen zwei Wochen lang am Leben erhalten, wenn ihm das als das Beste erschien, oder er konnte es ein Stück weit mitnehmen, wenn er sich an anderer Stelle niederlassen wollte. Er konnte seine Anstrengungen darauf konzentrieren, Nahrung, Unterschlupf und Kleidung zu finden, und ganz egal, wie erfolgreich er dabei war, das Wichtigste hatte er nun und würde es nicht wieder verlieren. Und dabei war er erst seit einem Tag auf Wanderschaft!

Er setzte sich auf die windzugewandte Seite seines Feuers und streckte die Beine darum, hielt die Arme darüber. Inmitten des Rauchs fing er mit den Händen die Hitze ein. Ah, wie das kribbelte, als das Leben zurückkehrte: — HA-UU! Das war ein ganz anderes Aufheulen als in der vorangegangenen Nacht. Wie die Wölfe und wie seine Namensvettern, die Eistaucher, kannte er eine ganze Bandbreite von Heullauten. Dies war das glückliche Heulen, das triumphierende Heulen: — HA-UUUU!

Als er sich bis in die Zehen aufgewärmt hatte und mehrere dicke Äste auf einem breiten Bett grauer, rot glühender Scheite lagen, schritt er die Grenze seines kleinen Wäldchens ab und ging dann in enger werdenden Kreisen von außen nach innen, um es zu inspizieren. Da war die gesplitterte Zeder am Rande der kleinen Wiese, und am seichten Bachufer fand er ein Stück Feuerstein mit einem spitzen Ende und einer breiten, rauen Kante, der einem großen, groben Stichel ähnelte. Der würde eine brauchbare Hacke abgeben. Mit seinem Fund kehrte er zu der gesplitterten Zeder zurück und begann, auf den Spalt im Stamm einzuhacken, um die Borke zu lösen. In so großen Stücken wie möglich schälte er die innere Rinde ab. Einige der Streifen waren länger, als er groß war.

Als er so viel Rinde wie möglich aus dem Baum herausgeschält hatte, kehrte er damit zu seinem Unterschlupf zurück, legte ein paar mehr Äste aufs Feuer und setzte sich dann in der wundervollen Wärme hin, um die Rinde in Streifen zu reißen. Es war langsame Arbeit, die peinliche Sorgfalt verlangte, aber sie war auch sehr befriedigend, weil mit der Zeit ein großer Haufen Rindenstreifen zusammenkam.

Zu Mittag hatte er wahrscheinlich mehr, als er brauchen würde. Nachdem er sich einmal mehr um das Feuer gekümmert hatte, breitete er die Streifen auf einem schneefreien Stück Boden neben seinem Unterschlupf aus. Er hatte vier oder fünf Dutzend. Sechs davon legte er in einer Reihe nebeneinander und verwob dann sechs weitere mit ihnen. Mit diesem einfachen, aber haltbaren Drüber-Drunter-Muster war er ganz zufrieden. Die längeren Streifen benutzte er für die Längsrichtung, während er die kürzeren quer einflocht und dabei jede Reihe etwas versetzte, damit der entstehende Schlauch nicht eine von oben nach unten durchgehende Naht aufwies. Schließlich griff er unter das Gewebe und zog es in der Mitte hoch, wob weitere Reihen um die Rückseite und verband dabei die Längsstücke, die am weitesten auseinanderlagen; damit hatte er einen Schlauch. Einen Beinling.

Das Ganze wiederholte er für den zweiten Beinling. Dann drehte er ein Band aus drei Streifen, das ihm als Gürtel und Aufhängung für die Beinlinge dienen sollte. Dazu fertigte er noch Schlaufen an und schließlich ein einfaches Hodenband, um seinen kalten Pimmel zu schützen. Er stieg in die Beinlinge, band sie an seinem Gürtel fest und spürte sofort, wie sie seine Körperwärme auffingen. — Ha!

Dann kam ein Wams; danach eine Mütze; und zuletzt machte er sich aus den Resten einen ausgefransten, kurzen Umhang. Bei Regen würde diese Kleidung nass werden und leicht reißen, aber bis dahin würde sie ihn in seinem Unterschlupf halbwegs warm halten, und wenn der Regen aufhörte, stellte sie auch einen gewissen Schutz dar. Für richtige Kleidung brauchte er natürlich Tierpelze, aber an die würde er nicht so leicht herankommen. Fürs Erste musste er mit seinem Rindenanzug vorliebnehmen, der immer noch sehr viel besser war als überhaupt keine Kleidung, so hoffte er zumindest.

Jetzt, wo ihm warm war, verspürte er das Zwacken des Hungers. Auf der Wiese hatte er einige Beerensträucher gesehen, also legte er noch drei Äste aufs Feuer und machte sich in seinen Rindenkleidern daran, sie wiederzufinden.

Es war zwar immer noch windig, hatte aber zu regnen aufgehört, und die Wolken rissen auf. Der Rand der Lichtung war gesäumt von Entenaugenbeeren-Sträuchern, in die er vorsichtig hineingriff, um einige der toten Beeren des letzten Jahres vom Boden zu sammeln. Sie waren schwarz und platt gedrückt, aber besser als nichts.

Dann ging er dorthin, wo der Bach von der Wiese fortfloss. Wie oft an solchen Stellen erspähte er Forellen, versteckt unter dem letzten Stück Uferböschung vor der Rinne zwischen den Bäumen. Sein Unterschlupf lag nicht weit hinter ihm; zwischen den Bäumen hindurch konnte er sein Feuer fröhlich flackern sehen.

Er ging stromabwärts, bis er eine geeignete seichte Stelle fand. Dort schleppte er Steine vom Ufer in den Bach, bis er einen kleinen Damm hatte. Der Bach strömte ungehindert durch die Lücken in diesem Damm, sodass das Wasser dahinter kein bisschen anstieg; aber selbst kleine Fische konnten nicht hindurch. Dann eilte er stromaufwärts zur Wiese zurück.

Dort zog er seine neuen Kleider aus, stieg in den Bach und ging stromabwärts. Kurz vor der letzten Biegung riss er einen großen Stein aus dem Ufer und warf ihn fest mitten ins Wasser, wobei er auf und ab sprang und laut schrie. Keine Fische flitzten stromaufwärts an ihm vorbei, also watete er, immer noch schreiend, stromabwärts. Es waren auch keine Fische unter der Uferböschung, also vermutete er, dass sie stromabwärts geflohen waren.

Mit einem Stein in der einen und einem Stock in der anderen Hand watete er zu seinem Damm. Auf dem Weg schlug er mit dem Stein auf Steine im Wasser und schrie laut.

Dann konnte er seinen Damm sehen. Vor ihm im Wasser, zwischen ihm und dem Damm, befanden sich drei Forellen. Er ließ seinen Stein ins Wasser fallen, langte ans Ufer und zog so schnell er konnte Steine ins Wasser, um einen weiteren Damm zu errichten. Während er ihn fertigstellte, musste er einen der Fische abfangen, der stromaufwärts fliehen wollte, aber selbst dieser hatte zu viel Angst, um direkt an ihm vorbeizuflitzen, und die anderen beiden versuchten es nicht einmal. Sobald der zweite Damm ein gutes Stück höher war als der Wasserstand, hatte er sie in einem kleinen Fischteich gefangen. — Ah!, rief er. — Ich danke dir!

Er watete stromaufwärts, um kurz nach seinem Lager zu sehen. Sein Feuer brannte noch immer gut. Er stieg aus dem Bach und ging wieder stromabwärts zu seinem Fischteich. Dort lauerte er einem Fisch auf — es schien der zu sein, der vorhin den Fluchtversuch unternommen hatte. Vorsichtig ging er zu einer Stelle, von der aus er beide Hände ganz langsam dicht neben dem Fisch ins Wasser strecken konnte. Der Fisch versuchte sich unsichtbar zu machen, indem er ganz regungslos wurde. Mit einer einzigen großen Schaufelbewegung schleuderte er Wasser und Fisch ans Ufer, wo der Fisch eine Weile zappelte und schließlich starb. Eistaucher unterdrückte seinen Schrei, um die anderen nicht zu verschrecken, und wandte sich mit langsamen Bewegungen dem nächsten zu, der ebenfalls dicht am Ufer schwamm. Sehr behutsam steckte er erneut die Hände ins Wasser, schaufelte es aufs Neue an Land, und der zweite Fisch flog durch die Luft und verendete zappelnd.

Der letzte schoss wild umher und wich mehreren seiner Schaufelversuche aus, aber dann erwischte Eistaucher ihn, sodass auch er letztendlich am Ufer hin- und herspringend starb. Damit hatte er drei gute Forellen, jede deutlich länger als eine Handspanne.

Er sang das Dankeslied der Fischer, stieg aus dem Bach, zog seine Kleider wieder an und trug die Fische ans Feuer.

Aus alten Erlenstöcken, deren Enden er abdrehte, bekam er schließlich eine Spitze hin, mit der er die Fische schneiden und ausnehmen konnte. Dann steckte er sie auf lange Kiefernzweige und hielt sie über das Feuer, bis sie durch waren und an den Rändern brutzelten. Sie schmeckten großartig, ungewürzt, aber nach Forelle. Für spätere Mahlzeiten würde er Rosmarin und Minzblätter sammeln. Beim Essen kam ihm in den Sinn, dass er den oberen Damm seines Fischbeckens hätte öffnen sollen, bevor er zu seinem Unterschlupf zurückgekehrt war.

Aber das konnte er auch noch morgen erledigen. Jetzt, wo er mit vollem Bauch und Kleidung am Leib am Feuer saß, wurde er plötzlich schläfrig.

Er drehte noch eine weitere kurze Runde durch sein Wäldchen und sammelte dabei mehr Fichtenzweige, um darauf zu schlafen und sich mit ihnen zuzudecken. Er machte sich sein Bett direkt am Feuer, und als er die Zweige mit den weichen Nadeln zu seiner Zufriedenheit hergerichtet hatte, kehrte er zum Bachufer zurück, um Moosstücke zu sammeln, die er nach seiner Rückkehr nahe ans Feuer legte. Während sie trockneten, sammelte er noch mehr Feuerholz für die Nacht und verteilte dann das getrocknete Moos auf seinem Bett aus Zweigen. Auf dieses gepolsterte Lager legte er sich nieder und zog die Fichtenäste mit ihrem dichten Nadelkleid über sich, ohne seine Rindenkleidung auszuziehen. Er würde das Feuer hell brennen lassen. Es würde eine sehr angenehme Nacht werden. Noch herrschte Zwielicht, aber er blieb trotzdem neben seinem Stapel aus Feuerholz liegen, sah den Flammen zu und war glücklich. Es war erst sein zweiter Abend, und schon war er satt, hatte etwas zum Anziehen und lag in einem Bett am Feuer! Da hatte er was zu erzählen.

So lag er da, behaglich im Warmen. Der Mond war in seiner zweiten Nacht, und seine Sichel war ein hübsches Stück dicker als der schmale Neumond. Die Zeit von Neumond bis Vollmond verging schnell, hieß es. Schon bald sank die Mondsichel hinter den Horizont, und die Nacht wurde absolut dunkel. Nur die Sterne durchstachen die Schwärze über den wenigen verbliebenen Wolken. Die von unten angeleuchteten Bäume verschwammen im flackernden Feuerschein miteinander. Es war der zweite Tag des vierten Monats, und außerhalb der Wärmeblase, die sein Feuer umgab, hing nasse Kälte in der Luft. Der Schlaf trug Eistaucher fort.

Etwa um Mitternacht weckte ihn ein Wolfsheulen von einem fernen Höhenzug, und er warf einige weitere Äste auf die glühenden Scheite, die unter der schwebenden weißen Asche rot pulsierten. Funken stoben auf; er sah zu, wie sich ein Ast schwarz verfärbte und dann Feuer fing, das plötzliche, gelbe Hineinplatzen der Flammen in die Welt, der hypnotische, durchscheinende Tanz; dann schlief er wieder ein.

Später träumte er davon, dass er eine Furche unter einem Bergkamm emporlief und dabei einen Blick auf drei Steinböcke erhaschte, die gerade den Grat erklommen. Er hatte die Tiere direkt vor sich; alle drei blickten ihn geradeheraus und entspannt an, während ihre schönen, gekrümmten Hörner in den Himmel stachen. Felstänzer; die Lieblingstiere seiner Mutter. Mit einem Mal stand sie neben ihm, und sein Vater auch. Sie sahen die Felstänzer zu der Zeit, in der die Rentiere durch die Steppe zogen und das tiefe Donnern ihrer Hufe wie ein fernes Gewitter klang. Seine Mutter gehörte zur Rabensippe und sein Vater zu den Adlern, aber sie beide liebten unverkennbar den Steinbock; das war es, was Eistaucher von diesem Erlebnis im Gedächtnis blieb. Ihm war bewusst, wie sonderbar die Anwesenheit seiner Eltern war, und dieses Wissen weckte ihn.

Die Sterne waren über den Himmel gezogen, und die Morgendämmerung war nicht mehr fern. Er wollte wieder in den Traum eintauchen, doch es gelang ihm nicht. Dann versuchte er, so viel wie möglich davon zu behalten, ehe ihm die Erinnerung endgültig durch die Finger rann. Alles war ihm sogleich wieder präsent; er ging den Traum von seinem leisesten bis zu seinem eindrucksvollsten Moment durch; und dann vom Anfang bis zum Ende. Manche Träume wollen, dass man sich an sie erinnert, aber andere versuchen, einem zu entkommen, sodass man sie jagen muss. Dieser gehörte zur letzteren Sorte.

Seine Mutter und sein Vater hatten ihn also besucht. Das war seit einer ganzen Weile nicht mehr vorgekommen. Er versuchte, sich ihr Bild zu vergegenwärtigen oder zu begreifen, woher er im Traum so genau gewusst hatte, wer sie waren, obwohl sie nur neben ihm gestanden und, soweit er sich erinnern konnte, nichts gesagt hatten. Manchmal erinnerte er sich an Gespräche, die er im Traum geführt hatte, und manchmal nicht. Diesmal hatte er ihre Gefühle gekannt, ohne dass sie etwas hatten sagen müssen. Sie waren voll Wohlwollen und Sorge um ihn gewesen, und voller Liebe für die Felstänzer. Als Eistaucher daran dachte, dass sie nicht in der Welt der Lebenden weilten, wimmerte er leise. Wie war es wohl, nur in der Geisterwelt zu existieren, wie lebte man dort, und warum konnte man nicht zurückkommen? Warum waren sie gestorben, warum starb überhaupt etwas? Die Rätselhaftigkeit all dessen überwältigte ihn, und mit einem Mal kam er sich vor wie etwas Winziges, das von etwas Gewaltigem durchbohrt wurde. Ohne das Feuer hätte er sich völlig verloren gefühlt. Mit dem Feuer konnte er diese Dinge betrachten, es sich gestatten, dem Schmerz und dem Gewaltigen in seinem Innern nachzuspüren.

Kurz nach der Morgendämmerung zog sich der Himmel wieder zu, aber diesmal war die Wolkendecke dünn und brachte keinen Regen. Der Wind war böig und riss Ascheflocken aus dem Glutbett mit sich. Eistauchers Unterschlupf war nach wie vor recht gut geschützt, und obwohl ihm an der vom Feuer abgewandten Seite kalt wurde, konnte er sich einfach drehen und spüren, wie die strahlende Hitze ihm die kalte Haut versengte. Dies war der zweite Tag seiner Wanderschaft; doch jetzt fühlte er sich trotz all seiner Annehmlichkeiten traurig und einsam. Er seufzte. Dies war seine Initiation als Schamane. Er trat in eine neue Welt, in eine andere Existenz über; es ging nicht nur darum, Zeit allein zu verbringen. Das hatten ihm seine Eltern mit ihrem Besuch sagen wollen: Er musste sich etwas stellen, etwas lernen, etwas erreichen. Sich in etwas anderes verwandeln: einen Zauberer, einen Mann in der Welt. Natürlich waren seine Eltern tot.

Er ging zum Bach hinab, um zu trinken, suchte mehr Feuerholz und trug ein großes Stück von einem alten Stamm mit sich zurück, das dem Feuer erst als Dach dienen und dann zum Teil der Glut werden würde.

Dann war es an der Zeit, mehr zu essen aufzutreiben. Er schritt die Wiese auf der Suche nach Spuren, Kötteln oder anderen Anzeichen von Tieren ab und in der Hoffnung, einen guten Platz für eine Schlinge zu finden. Schlingen machte man am besten aus Hautriemen. Borkenschnüre waren nur selten fest genug. Als er an der Stelle vorbeikam, an der der Bach von der Wiese floss, entfernte er den oberen Damm, musste aber feststellen, dass es in der oberen Biegung keine Fische gab, die er flussabwärts jagen konnte, also suchte er weiter die Wiese ab, wobei er die Flecken alten Schnees ausließ. Am Ufer waren Wasserstellen mit vielen Tierspuren, aber die meisten davon waren unbewachsen, sodass sich eine Schlinge kaum verstecken ließ. Er brauchte einen schmalen Durchgang zwischen zwei Büschen, durch den ein am Wasser aufgeschrecktes Tier vielleicht blindlings fliehen würde. Schließlich fand er eine passende Stelle. Doch er hatte nach wie vor kein geeignetes Material für seine Schlinge. Mit seinem Hackstein schnitt er ein paar Ruten von einer Erle, biegsam, fest und lang, spaltete sie an den Enden und flocht drei davon ineinander. Wenn er diese Stolperfalle dicht über dem Boden festband, würde sich vielleicht ein junges Reh oder eine Ziege darin verfangen. Etwas Besseres bekam er an diesem Morgen nicht hin, also brachte er seine Schlinge sorgfältig zwischen den beiden Büschen an. Wenn auch nur ein kleines Tier hineintappte, während er zusah, würde ihm das Zeit geben, zuzupacken. Allerdings musste er auf der Lauer liegen, um im richtigen Moment da zu sein, sonst würde seine mögliche Beute sich freistrampeln. Bei Sonnenuntergang würde er also zurückkehren in der Hoffnung, ein trinkendes Reh aufscheuchen zu können.

Als er die Schlinge so gut wie möglich ausgelegt hatte, ging er zurück ans Feuer und suchte nach guten Wurfsteinen. Selbst ein Schneehase oder Schneehuhn wäre ihm sehr willkommen gewesen. Als er zwei gute Steine gefunden hatte, suchte er den Boden auf der dem Sonnenaufgang zugewandten Talseite nach mehr Beeren vom Vorjahr ab. Er sah einen Mistelzweig in einem Baum mit kahlen Ästen und dachte darüber nach, hinaufzuklettern und die weißen Beeren zu kauen. Dabei entstand ein zähes weißes Zeug, das man zwischen Zweige spannen konnte, um kleine Vögel zu fangen, die daran festklebten. Aber es waren noch keine kleinen Vögel unterwegs. Er kam zu einem Brombeergestrüpp und schluckte zu den alten, toten Beeren noch ein paar weiße Pilze herunter, von denen er wusste, dass sie ungefährlich waren. Dann eilte er zurück, um nach seinem Feuer zu sehen.

Dem Feuer ging es gut. Eistaucher legte einen weiteren Scheit auf und machte sich auf den Weg in die andere Richtung. Stromabwärts wurde das Untertal tiefer, aber nicht breiter, und auf seiner östlichen Seite gab es eine Lücke, dort, wo die Obere Klamm ins Untertal einmündete. Die Obere Klamm war eine höher gelegene Schlucht, die sich nach Nordosten erstreckte. Jenseits dieser Bresche, wo der Osthang wieder anstieg, thronte ein hoher Felsen namens Elchgeweih über einer niedrigen, breiten Felswand. Unterhalb der Felswand fiel ein bewaldeter Hang zum Bach des Untertals hin steil ab. Der Grund war noch großteils schneebedeckt.

Eistaucher machte sich auf den Weg dorthin, wo der Unterbach und die Obere Klamm aufeinandertrafen. Dort befand sich eine kleine, überfrorene Ebene oberhalb eines Erlenbruchs, auf der sich vielleicht etwas Interessantes finden ließ. Mit Sicherheit würde es dort Spuren geben.

Ein Knacken aus dem Wald oben am Hang ließ ihn erstarren, und er stand ganz und gar regungslos, als eine junge Ricke zwischen den Bäumen hervorbrach, verfolgt von zwei Braunbären. Das Reh hatte sich den linken Hinterlauf gebrochen und sprang auf drei Beinen, deutlich verlangsamt, den Hang hinab. Der vordere Bär rannte hingegen mit erschreckender Geschwindigkeit, holte die Ricke ein, schleuderte sie zu Boden und ging ihr wie ein Wolf an die Kehle. Eistaucher hatte schon gesehen, wie Bären ihrer Beute ins Genick bissen, wie eine Katze es tat. Aber Bären waren zu allem Möglichen imstande. In dieser Hinsicht waren sie beinahe wie Menschen, was nur folgerichtig war, da sie ja in den alten Zeiten Menschen gewesen waren. Und sie sahen immer noch aus wie Menschen: Große, gefährliche, in Pelze gehüllte Gestalten.

Eistaucher verharrte regungslos und sah zu, wie der vordere Bär ein paar Bissen aus der Kehle des Rehs riss und das Blut aufleckte. Ihm lief beim Zusehen das Wasser im Mund zusammen. Das Reh zuckte noch; Bären hatten in dieser Hinsicht keinen Sinn für Anstand.

Der zweite Bär griff den ersten von hinten an. Zwei junge Männchen, erkannte Eistaucher, die nun gegeneinander kämpften, einander dabei aber vor allem wild anknurrten und nacheinander schlugen, ohne Schaden anzurichten. Es sah aus, als setzten sie einen zuvor begonnenen Streit fort. Sie waren blind für ihre Umgebung, weshalb Eistaucher seine beiden Steine nach ihnen warf und beide traf. Der aus dem Nichts kommende Schmerz erschreckte sie, und sie flohen gemeinsam zwischen die Bäume, ohne sich auch nur umzublicken. Nach den Geräuschen zu urteilen stritten sie sich auch dort weiter.

Eistaucher rannte so schnell er konnte zu dem Reh und versuchte dabei angestrengt, in alle Richtungen zugleich zu blicken. Sicherlich blieb ihm nur wenig Zeit, bevor die Bären zurückkehrten oder ein anderes Tier vorbeikam. Keiner der herumliegenden Steine war scharfkantig genug, um das Reh damit zu häuten, und der erste Bär hatte gerade erst zu fressen begonnen. Eisläufer zog das Tier auf den Bauch, spreizte ihm die Hinterläufe und begann, leise Danksagungen ausstoßend, mit einem seiner Wurfsteine auf das hintere Hüftgelenk einzuhacken. Schnell hatte er den Hüftknochen gebrochen, löste dann das Bein von der Wirbelsäule, durchschnitt Haut und Sehnen und zertrümmerte das Gelenk in der Hoffnung, zumindest eine Keule mitnehmen zu können, wenn er fliehen musste. Zweifellos trug der die Schlucht emporwehende Wind den Geruch von Blut weit davon.

Er hackte noch immer auf das Hüftgelenk des Rehs ein, das noch nicht völlig durchtrennt war, als eine Bewegung oben am Hang seine Aufmerksamkeit erregte. Schlimmer hätte es nicht kommen können: Aus dem Wald näherten sich drei Löwinnen in lockerem, federndem Gang.

Eistaucher stürzte weg von der kleinen Lichtung, rannte vorgebeugt zwischen den Bäumen hindurch und die andere Seite der Schlucht hoch, sprang über einen Haufen Felsbrocken, warf sich dahinter flach auf den Boden und versuchte, zu Atem zu kommen, ohne dabei laut zu keuchen.

Die Löwinnen hatten bei dem Tier angehalten und beschnüffelten es, während sie sich umsahen. Sie wussten, dass das Reh gerade erst getötet worden war. Eistaucher zog zwei weitere Steine unter sich hervor. Wenn er es zu seinem Feuer zurückschaffte, konnte er sich die Löwinnen wahrscheinlich vom Leib halten, auch wenn es, falls sie ihn wirklich wollten, schwer werden würde, sobald sie erkannten, dass er allein war. Löwen waren sehr gut darin, ihre Chancen in jeder denkbaren Jagdsituation einzuschätzen, und sie würden wissen, dass sie ihn töten konnten, wenn es ihnen nichts ausmachte, zuvor ein paar Steine abzubekommen. Manche Löwinnen rannten mitten in einen Steinhagel hinein, wenn ihnen danach war. Hoffentlich würde das Reh ihre Aufmerksamkeit weiter beanspruchen und ihren gröbsten Hunger stillen.

Eine Weile kroch er auf den beiden Steinen in seinen Händen und auf seinen Zehen herum, wie eine Eidechse. Als er weit genug außer Sicht der Löwinnen war, stand er auf und rannte so schnell und leise wie möglich zu seinem Feuer zurück.

Es war heruntergebrannt, aber noch immer heiß genug, um jedes Holz in Brand zu setzen. Er warf Äste verschiedenster Größen darauf, um es auflodern zu lassen und auch um Fackeln zu seiner Verteidigung zu haben.

Als das erledigt war, eilte er zurück zu dem toten Reh, aber auf einem Umweg, der ihn weiter oben am Hang herauskommen ließ. Ein unbewachsenes, schneebedecktes Stück Hang bot ihm freie Sicht auf die kleine Ebene mit den Löwen darauf.

Das Reh war inzwischen zu einem großen Teil aufgefressen, aber auch die Reste wären noch ein Festmahl für Eistaucher, und Haut und Knochen würden ihm ebenfalls von großem Nutzen sein. Am besten musste er sich wie ein Rabe verhalten und auf die Löwen hinabscheißen, bis sie den Rest liegen ließen, ohne dass er dabei vom Himmel geholt wurde. Also schlich er sich hangabwärts näher heran, alle Sinne nach außen gekehrt, mit einem Kribbeln auf der Haut und sich aller Vorgänge im Tal gewärtig. Alles zeichnete sich so scharf ab, als hätte er sich in einen Falken verwandelt. Felsbrocken schienen von innen heraus zu leuchten, und Bäume bebten und raschelten im leichten Wind, der nach wie vor die Schlucht heraufwehte.

Die Löwinnen, von denen jede so groß war wie ein kleiner Bär, lungerten bei den Überresten des Rehs herum und säuberten sich die blutigen Schnauzen mit den Pfoten wie ganz gewöhnliche Katzen. Vollgefressene Löwen konnte man mit einem Steinhagel von ihrer Beute vertreiben, aber normalerweise hatte man dafür mehrere Männer mit Speeren. Für ihn allein lagen die Dinge anders. Die Löwinnen mochten zu dem Schluss gelangen, dass ein so vermessener Dummkopf einen guten Nachtisch abgab, auch wenn sie sich nicht die Mühe gemacht hätten, jemanden zu jagen, der sie in Frieden ließ. Es kam also darauf an, ihre Laune richtig einzuschätzen — und den Umfang ihrer Bäuche, die breit auf dem Boden lagen wie blassbraune Wasserschläuche. Eistaucher hielt hinter einem umgestürzten Baum inne und beobachtete die drei Löwinnen eine Weile. Sie waren groß und schön und strahlten jenen magischen Glanz aus, der Löwen immer zu eigen war — gewaltige Katzen, die sich der Form nach nicht von den kleineren Tieren unterschieden, die sich in Lagernähe herumtrieben, abgesehen davon, dass diese Riesen, die so viel wogen wie zwei oder drei ausgewachsene Männer, wie Wölfe in Rudeln jagten. Es war eine Ehrfurcht gebietende Kombination, die jedem anderen Geschöpf Schreckliches verhieß. Wunderschöne Götter, die auf Erden wandelten, Götter der Jagd, die vor nichts Angst hatten.

Ein Stein in der richtigen Größe, der kräftig genug geworfen den Kopf traf, konnte ein schlimmer Treffer sein, besonders, wenn er aus einer erhöhten Position kam. Aber höchstwahrscheinlich würde er die Tiere irgendwo an Bauch oder Rücken treffen, wenn überhaupt. Würden sie sich beleidigt trollen oder losstürmen, um den Plagegeist zu töten? In diesem Punkt durfte er sich nicht vertun.

Eine ganze Weile wartete er und sah zu, wie die Löwinnen sich putzten. Zweifellos gehörten sie zu den schönsten Tieren überhaupt, zu den neun heiligen Geschöpfen. Wie könnte es anders sein? Welches lebende Wesen konnte gottgleicher sein als die Löwen mit ihrer gemächlichen Eleganz und ihrer mörderischen Kraft, ihrer katzengleichen Wolfshaftigkeit? Die Art, wie sie sich umsahen, mit den schwarzen Tränenstreifen, die wie Festbemalung von ihren Augen herabflossen. Unweigerlich verzagte man unter ihrem Blick. Nein, sie waren unvergleichlich. Sie konnten alles töten, was sie wollten.

Eine von ihnen erhob sich nach einer Weile und schlenderte zum Trinken an den Bach hinunter. Die anderen beiden folgten ihr. Damit waren sie ein gutes Stück weit entfernt. Eistaucher kam zu dem Schluss, dass der Abstand groß genug war, und so flitzte er den Hang hinab und hackte die traurigen Überreste der Keule frei, die er ursprünglich hatte nehmen wollen. Mit einem festen, zweihändigen Schlag trennte er auch den zerkauten Kopf ab, ehe er beides ergriff und die Schlucht hoch und bis zurück zu seinem Feuer rannte, so schnell, dass ihm der Schweiß ausbrach und er den größten Teil des Wegs über keuchend nach Luft schnappte. Als er sein Lager erreichte, pochte ihm das Herz bis zum Hals.

Er schichtete sein Feuer neu auf, und den Rest des Tages und einen guten Teil der Abenddämmerung über war er damit beschäftigt, mit seinem Hackstein Haut und Sehnen von der Rehkeule zu lösen. Während der Arbeit grillte und aß er die Fleischfetzen. Als das Bein ganz zerlegt war, wandte er sich dem Kopf zu und tat sich an den Resten von Zunge und Hirn gütlich, ebenso an den Fettpolstern hinter den Augen und an dem Fleisch des Unterkiefers. Mit Haut und Knochen des Beins ging er zum Bach hinab und wusch beides im Licht des schüsselförmigen Monds. Es war die dritte Nacht des Monats. Anschließend ließ er die Tierteile am Feuer trocknen, in der Hoffnung, dass sie zu uninteressant sein würden, um nächtliche Aasfresser anzulocken, die groß genug wären, um ihm gefährlich zu werden.

Erneut legte er genug Holz auf das Feuer, damit es bis Mitternacht brennen würde, und schlüpfte dann unter seine Decke aus Ästen, die Rehteile direkt neben sich und das Stück Haut vom Bein als Kissen. Er spürte das weiche Haar an seiner Wange. So lag er in seinem Kiefernbett und stellte fest, dass er satt und müde war. So fühlte sich ein guter Tag an; aber gleichzeitig war er auch unruhig bei der Vorstellung, einzuschlafen, ohne dass jemand über ihn wachte. Diese Löwinnen waren irgendwo da draußen, und sie jagten nachts. Wenn sie das Feuer sahen oder rochen, würden sie wissen, was es zu bedeuten hatte. Aber er war zu müde, um die ganze Nacht lang wach zu bleiben. Schlaf flackerte im Feuer und umspülte ihn. Er konnte nicht widerstehen, konnte nur noch seinem Inneren Auge einen letzten Befehl geben, dass es offen und wachsam bleiben sollte. Mit einem Stein in der Hand schlief er ein.

In jener Nacht jagten ihn die Löwinnen in seinen Träumen, und mehrmals erwachte er stöhnend vor Schreck. Als schließlich der Morgen graute, hatte er das Gefühl, überhaupt nicht geschlafen zu haben. Seine Augen fühlten sich trocken an, und er war hungriger denn je.

Ein über Nacht aufgekommener Wind trieb von Westen neue Wolken heran, die für einen Moment vom Sonnenaufgang rosa eingefärbt wurden. Vielleicht würde es wieder regnen. Der dritte Tag seiner Wanderschaft, das zweite Unwetter. Aber diesmal konnte er am Feuer bleiben und sich Kleidung und Ausrüstung aus den Fetzen des Rehfells machen.

Also wieder hinaus in die Kälte. Zwischen den Steinen am Bachufer fand er einen kantigen Feuersteinbrocken, aus dem er sich Klingen, Spitzen und Hacken anfertigen konnte. Um ihn zu behauen, wählte er einen großen länglichen Hornstein aus. Diese beiden Brocken brachte er zurück zu seinem Feuer und ging dann über die Wiese zum Ende des Baches. Unter der Uferböschung an der Biegung waren wieder Forellen, also zog er seine Beinlinge aus, stieg platschend ins Wasser und scheuchte sie stromabwärts, um anschließend den oberen Damm wieder aufzubauen. Er kletterte über den Damm in seinen kleinen Fischteich und schöpfte geduldig vier Fische ans Ufer, stieß dabei ein wölfisches Knurren aus, jedes Mal, wenn einer von ihnen in einer Wasserfontäne durch die Luft flog, um zappelnd zu verenden. Gegrillte Forelle; und diesmal würde er etwas von den Lauchzwiebeln hinzufügen, die er am oberen Ende der Wiese gesehen hatte. Zu jedem Bissen Forelle ein Stückchen davon. Ihm lief das Wasser im Mund zusammen, und sein Magen verkrampfte sich fast schmerzhaft. Er ging zu dem Zwiebelfeld und grub mit dem Beinknochen des Rehs einige Knollen aus. Dann kehrte er ans Feuer zurück und aß die vier Fische mit dem Lauch. Die Innereien der Fische legte er auf die Glut und aß auch sie, sobald sie schwarz waren. Sie waren etwas körnig, schmeckten aber gut.

Als er mit Essen fertig war, nahm er die Steine, die er gesammelt hatte, und suchte sich ein Stück Felsboden als Arbeitsfläche. Er schlug Stein auf Stein, und das mit größtmöglicher Sorgfalt; in diesen zwei Wochen konnte er sich keinen zerschmetterten Finger leisten. Da er so vorsichtig war, ging die Arbeit nicht besonders schnell, und lange Zeit erhielt er nur kleine, flockige Splitter. Aber schließlich gelang es ihm, mit sauberen Schlägen einige grobe Klingen abzuhacken, und eine davon ließ sich gut anfassen, sodass er die Rehhaut damit schneiden konnte. Selbst ungegerbt würde sie fest und biegsam sein. Einen Teil davon wollte er benutzen, um sich einen richtigen Gürtel für seine Beinlinge und seinen Rock zu machen, weil das, was er jetzt um die Hüften trug, bald reißen und die Beinlinge dann herabfallen würden. Ansonsten hielt sich das Gewebe aus Zedernrinde recht gut. Ein guter Gürtel bot auch Schlaufen, mit denen man Werkzeuge befestigen und so mit sich nehmen konnte. Nicht, dass er besonders viele Werkzeuge gehabt hätte.

Langsam schnitt er Hautstreifen ab. Nachdem er sich einen guten Gürtel angefertigt und anstelle seines Zedernrindenbands umgelegt hatte, knotete er zwei Streifen für ein Halstuch zusammen und bohrte dann mit einer scharfen Feuersteinspitze drei Löcher hinein, sodass er einige der Zähne des Rehs hindurchstecken konnte. Das war kein besonders haltbares Halstuch, aber etwas anderes bekam er mit dem, was ihm zur Verfügung stand, nicht hin. Vielleicht würde er ja später Gelegenheit haben, sich einen besseren Schal anzufertigen, aber falls nicht, hatte er immerhin das hier. Er wollte so gut wie möglich aussehen, wenn er zu seinem Rudel zurückkehrte.

Am nächsten Morgen erwachte er vor der Dämmerung, und es kam ihm in den Sinn, dass die Löwinnen vielleicht seiner Witterung folgen könnten oder dem Blut, das von den Rehteilen zu Boden getropft war. Außerdem ging ihm in seinem Wäldchen langsam das Feuerholz aus. Es würde sicherer sein weiterzuziehen. Der Regen schien sich vorerst gelegt zu haben, und der Himmel im Westen war nur leicht bewölkt. Also kroch er aus seinem Unterschlupf, um nachzusehen, ob etwas unten auf der Wiese trank, wo er seine Schlinge gelegt hatte.

Tatsächlich war dort ein Tier: Ein junger Steinbock stand im seichten Wasser, eine Steingeiß, um genau zu sein. Eistaucher schlich sich auf die Seite der Wiese, die seiner Schlinge gegenüberlag, sprang auf und schrie. Die Geiß machte einen Satz und rannte direkt auf die Lücke zwischen den beiden Büschen zu. Sie trat in die Schlinge und strauchelte, doch dann zerriss sie die Seile und jagte davon, die steile Talwand hinauf. In Sprüngen, zu denen nur Steinböcke und -geiße imstande waren, setzte sie von einem Vorsprung zum nächsten und hielt erst weit oben am Hang inne. Von dort drehte sie sich um und blickte verärgert zu ihm herab; schüttelte den Kopf, wie um Eistaucher für seine Pläne zu tadeln; hüpfte dann weiter zum nächsten Vorsprung und verschwand hinter dem Grat. Wahrhaftig eine Felstänzerin.

Eistaucher wurde bewusst, dass ein Stein in seiner Hand lag. Er hatte keine Zeit gehabt, ihn zu werfen. Es war verdammt schwer, ohne Lederriemen eine gute Schlinge zu machen. Von Anfang an hatten die Chancen, etwas zu fangen, schlecht gestanden.

Enttäuschung kann man nur durch einen neuen Versuch töten.

Er machte sich auf die Suche nach einem neuen Lagerplatz. Er kannte die Gegend hier recht gut; auf der Jagd hatten sie sie viele Male durchquert. Am oberen Ende der Oberen Spalte strömte der Bach durch eine enge Rinne und floss in ein hoch gelegenes Becken, das Mittelkuppe genannt wurde. Dort teilte er sich und floss um eine runde Kuppe, die so hoch war wie die Beckenränder. Die Ostwand der Schlucht grenzte an die Hochebenen, während die Westwand zu einem seichten Tal hin abfiel, das in Richtung Westen, zu den Eiskappen hin, wieder anstieg. Nahe dem Bach wuchsen Bäume, was gut für einen Lagerplatz war, aber es gab auch jagende Tiere. Vielleicht wäre eine Art geschützter Nische oben an einer Talwand besser, oder sogar ein Platz auf einem Höhenzug, von dem aus er einen Zusammenfluss überblicken konnte. Mit einem Feuer konnte er sich unmöglich verstecken, es sei denn, er fand die ideale Höhle. Die Felswände in der Gegend waren von Höhlen übersät, aber die meisten davon waren bekannt und wurden sowohl von Menschen als auch von Tieren genutzt. Die Chancen, eine neue zu entdecken, standen nicht besonders gut. Und ein großes Feuer war letztlich sein bester Schutz. Vielleicht sollte er sich also am besten ein erhöhtes Plätzchen über einer Einmündung suchen; oder ans obere Ende einer Abflussrinne wandern, je steiler, desto besser, und in den höchsten Wäldchen sein Lager aufschlagen, wo am wenigsten Tiere durchkommen würden.

Er legte ein großes, trockenes Stück Holz auf sein Feuer und machte sich dann eilig auf den Weg, wobei er sorgfältig auf seine Schritte achtete. Er war auf der Jagd, seine Haut kribbelte, alles trat ihm groß und scharf vor Augen, wie weit es auch weg war. Er folgte zunächst dem überfrorenen Bach der Oberen Klamm, umging dabei ein Dorngestrüpp zu beiden Seiten eines kleinen, vereisten Wasserfalls und versuchte beim Klettern die fließenden Bewegungen der Steingeiß nachzuahmen, die ihn dem Spott preisgegeben hatte. Hilf mir hoch, Schwester, mach einen Felstänzer aus mir. Dann wandte er sich von dem Bach ab, und eine kleine Reihe Bäume führte zu einem Gehölz unterhalb des Grats, das um eine Quelle herum am dichtesten war. Es gab eine kleine Plattform, von der aus man auf die Quelle hinabschauen konnte. Viele umgestürzte Bäume und wenig Schnee und Nässe. Größtenteils Schwarzfichten und Krüppelkiefern, die beide gut brannten, wenn das Holz abgelagert genug war. Schnell suchte er das Gehölz ab, legte auf einem flachen Stein oberhalb der Quelle einen Stoß Feuerholz und Zweige bereit. Er errichtete sogar einen Ring aus Steinen und schichtete einen ersten Haufen Zweige auf, mit einem Loch darin, um hineingreifen und die Glut auf den Stein in der Mitte legen zu können. Alles sehr heimelig.

Dann rannte er zu seinem alten Lager zurück, wobei er ein Tempo anschlug, das Dorn als Ruhe im Lauf bezeichnete, und steckte, als er angekommen war, all die kleinen Dinge, die er mitnehmen wollte, in seinen neuen Gürtel aus Rehfell. Er gab seinem Feuer ein letztes Mal Nahrung, aß ein paar Lauchzwiebeln und pflückte dann einen durchgeglühten Kiefernast, der noch an einem Stück war, aus dem Feuer und legte ihn daneben auf den Boden. Mit seinem Hackstein brach er ein Stück des Asts ab, das etwa doppelt so lang wie breit war, klemmte das gelb glühende Stück Holz zwischen zwei Steine und legte es auf eine Handvoll frischer Kiefernnadeln. Diese zischende Masse wickelte er zusammen und legte sie in ein ausgehöhltes Stück Wurzelholz, das er gefunden hatte. Muscheln vom großen Salzwasser waren am besten zum Tragen von Glut geeignet, aber die waren selten, und nur Frauen durften sie besitzen. Frauen konnten ebenso gut mit Feuer umgehen wie Männer, und sie waren besser darin, Feuer von einem Lagerplatz zum nächsten zu befördern. Aber sein Nadelklumpen im Wurzelholz war eine recht gute Behelfslösung; er konnte ihn in einer Hand halten, mit der anderen einen Stein werfen und sein Feuerzeug und die Überreste des Rehs in seiner Gürtelschlaufe tragen.

So rannte er also zu seinem neuen Lager, wobei er diesmal alles aus sich herausholte. Trotzdem musste er darauf achten, wo er seine Füße hinsetzte. Über ihm trieben riesige weiße Wolken auf einer milden Brise ostwärts. Im Sonnenschein war es kühl, im Schatten frostig. Es war ein idealer Tag, um den Lagerplatz zu wechseln.

2

Voller Zufriedenheit folgte er also der Oberen Klamm bis zu seinem neuen Nest. Doch als er sich der Ebene über der Quelle näherte, sah er, dass alles Holz von seiner vorbereiteten Herdstelle verschwunden war.

Der Anblick ließ ihn sofort erstarren, und während er dastand und ihm die wahrscheinlichste Erklärung für diese Veränderung klar wurde, durchzuckte ihn Angst. So leise wie möglich ließ er sich hinter einem Felsbrocken zu Boden gleiten. Mit jedem Herzschlag nahm seine Angst zu. Alles in der kleinen Schlucht schien vor seinen Augen zu beben. Es war still, nicht ein einziges Eichhörnchen keckerte in der Umgebung. Nur das Gurgeln des Quellwassers war zu hören. Der Wind wehte die Schlucht herab, und Eistaucher schnüffelte mehrmals, versuchte, wie ein Bär Witterung aufzunehmen, versuchte am Geruch festzustellen, was ihm dort auflauerte und wo es war. Wenn es überhaupt etwas war. Genau genommen war es ziemlich seltsam, dass etwas das Holz von seinem Herdstein entfernt haben sollte.

Dann erschnüffelte er die Antwort, vor der er sich am meisten gefürchtet hatte, einen Hauch von Rauch und Fett, der fast wie sein eigener roch, aber nicht ganz. Die Alten. Sie rochen anders als Menschen. Dorn hatte ihm dieses Wissen aufgenötigt, als sie auf einen toten Alten gestoßen waren, der in einer der seichten Felshöhlen stromabwärts in der Großen Schlucht gelegen hatte. Dorn hatte den Bärenfellumhang des Toten genommen und Eistaucher den Kragen unter die Nase gehalten. So riechen die Klotzköpfe, hatte Dorn gesagt und ihm einen festen Klaps aufs Ohr gegeben.

Eistaucher brach an Gesicht und Händen der Schweiß aus. Der Tag hatte sich unvermittelt in einen seiner größten Albträume verwandelt: eine stille, bewegungslose Welt, bis oben hin angefüllt mit Entsetzen, mit etwas Unsichtbarem darin, das ihn zu töten beabsichtigte. Die Geschichten von Jungs, die auf ihrer Wanderschaft von Alten gefressen wurden, waren für ihn bisher nur Geschichten gewesen; alle Männer, die Eistaucher kannte, waren von ihren Wanderungen zurückgekehrt. Und wenn man den Alten über den Weg lief, wirkten sie normalerweise so harmlos wie die meisten Waldleute.

Aber Waldleute konnten gefährlich sein. Und die Alten waren kräftig, stark wie Bären oder Vielfraße. Eine von Dorns Geschichten handelte davon, dass ein Alter versehentlich eine Bärin geheiratet hatte, und keinem von beiden war der Irrtum aufgefallen. Ihre ganz und gar nicht begeisterte Tochter klärte sie Jahre später darüber auf.

Jedenfalls wussten sie, wie man jagte. Sie benutzten keine Speerschleudern oder Wurfspieße, und als Spitzen verwendeten sie nur Steine, niemals Geweih-, Knochen- oder Stoßzahnstücke. Aber ihre Speere waren stabil und eigneten sich hervorragend zum Zustoßen und für kurze Würfe. Besonders gut waren sie darin, Hinterhalte zu legen, das war ihre Art. Wenn sie zu zweit oder dritt unterwegs waren, schlich der eine herum, während der andere aus einem Versteck heraus alles beobachtete. Sie konnten sich besser verstecken als jedes andere Tier, sogar besser als Menschen.

Es war also ein Fehler gewesen, den Feuerstoß aufzuschichten. Er hätte damit ohnehin nur sehr wenig Zeit gespart. Das musste er sich merken. Falls er überlebte.

Er betrachtete die brennende Glut in seiner Hand, die in ihrem Stück Wurzelholz zwischen den Nadeln schimmerte. Ihm wurde klar, dass man sie riechen konnte. Der Geruch von Feuer ist unverwechselbar, hieß es.

Er legte den Glutbehälter mit der offenen Seite nach unten auf den Boden, um das Feuer zu ersticken. Vielleicht würde der Rauch sie ablenken.

Dann schlich er so lautlos wie möglich stromabwärts. Er fühlte sich wie beim Versteckspiel als Kind, nur dass nun alles von albtraumhaftem Schrecken durchtränkt war.

Als er schließlich Bäume und Felsbrocken erreichte, die groß genug waren, um sich zwischen ihnen zu verstecken, stieg er den Westhang der Oberen Klamm hinauf. Die Obere Klamm fiel über eine Klippe zum Untertal ab; der Wasserfall dort hieß Alter Pisser. Die Alten wussten wahrscheinlich von der Klippe, aber wenn sie sie nicht kannten und versuchten, ihm direkt durchs Bachbett zu folgen, würden sie für einen Moment aufgehalten werden, sodass er vielleicht entkommen konnte.

Als Eistaucher so weit oben war, dass die Bäume ihn nicht einmal mehr überragten, wenn er geduckt schlich, legte er sich in eine moosige Mulde zwischen zwei knorrigen kleinen Kiefern und blickte zurück zu dem Gehölz mit der Quelle.

Da sah er sie: Es waren drei. Gefahr kommt ohne Vorwarnung. Sie hatten große Köpfe, waren dicht behaart, und unter ihren Pelzumhängen war ihr kräftiger Körperbau erkennbar. Sie hielten ihre Speere kampfbereit, dicke, kurze Knüttel mit blattförmigen Klingen aus rotem Hornstein; Speere, die zum Aufspießen von Mammuts gedacht waren. Eistaucher duckte sich, so tief er konnte. Der Albtraum war ins Tageslicht gesprungen. Und genau wie in einem Traum zeigte einer der drei Alten plötzlich auf Eistaucher und kreischte wie ein zorniger Falke.

Eistaucher sprang auf und rannte auf den über ihm gelegenen Grat zu. Die drei Alten krächzten einander wie Raben an, während sie ihm hinterherkraxelten, wobei ihre Speere sie leicht behinderten. Eistaucher hatte einen ordentlichen Vorsprung und erreichte den Grat, als sie noch ein gutes Stück weiter unten waren. Oben rannte er Richtung Süden, damit sie dachten, dass er in diese Richtung fliehen würde. Wenn sie schräg den Hang hochliefen, um ihm den Weg abzuschneiden, dann würden sie auf dem Teil des Grats herauskommen, auf dessen anderer Seite eine steile Felswand lag, eben jene, über die weiter unten auch der Alte Pisser floss.

Aber die Alten waren sehr viel schneller, als er gedacht hatte, und holten trotz seiner panischen Eile zu ihm auf. Als sie sahen, dass er den Grat erreicht hatte und bald außer Sicht sein würde, warfen alle drei ihre Speere, die erschreckend schnell auf ihn zusegelten. Angeblich warfen die Alten nie ihre Speere, und doch taten sie jetzt genau das! Zwei würden unter ihm aufschlagen, aber einer flog direkt zu ihm hoch, sodass er auf die andere Seite des Grats hinabspringen musste, um auszuweichen. Er sah sich selbst dabei zu und war verblüfft über diesen gewagten Sprung, mit dem er den ersten kleinen Abschnitt der hohen Felswand hinter sich brachte.

Bei der Landung spürte er, wie sich etwas in seinem Fußgelenk verdrehte. Er rollte sich ab, um sich den Knöchel nicht ernsthaft zu verstauchen, und knallte am Ende seiner Rolle mit eben diesem Knöchel gegen einen Baum. Die beiden Schmerzauslöser verschmolzen miteinander und erschwerten ihm das Laufen, aber er musste weiter, also rannte er den Hang hinab ins Untertal. Jedes Mal, wenn er den linken Fuß aufsetzte, durchfuhr ihn der Schmerz, doch trotzdem musste er mit unverminderter Geschwindigkeit und ohne einen Ton von sich zu geben weiterlaufen. Er rannte mit offenem Mund und schnappte dabei lautlos nach Luft. Er brauchte viel Luft, um aus voller Kraft zu rennen, und er musste ein Tempo anschlagen, das er eine Weile durchhalten würde, dabei aber auch um jeden Preis schneller sein als die Alten, selbst wenn sie zum Sprint ansetzten. Angeblich waren die Alten langsamer als Menschen, aber Eistaucher verließ sich auf nichts mehr, was man sich über sie erzählte. So stark, wie sie waren, konnten sie zweifellos ebenso schnell wie Menschen bergauf rennen. Aber jetzt lief Eistaucher bergab ins Untertal. Er humpelte schwer und hoffte, dass er sich nichts im linken Bein gebrochen hatte. Bisher hatte er sich immer für schnell gehalten, aber jetzt kam ihm das nicht mehr so vor.

Als die Alten den Grat erreichten, war er beinahe unten bei seinem alten Lagerplatz angelangt, wo noch immer sein Feuer brannte. Sie waren tatsächlich zu weit südlich herausgekommen, sodass sie nun von der Felswand zu ihm herabblickten und ein Stück auf dem Grat zurücklaufen mussten. Kurz nachdem Eistaucher das gesehen hatte, war er bei seinem alten Lager und schaute sich um. Sie hätten sich hier leicht an ihn anschleichen und ihn töten können, bevor er gewusst hatte, dass sie in der Nähe waren: So sollte man sein Lager nicht aufschlagen, wenn man allein war. Er klopfte mit einem Stock aufs Feuer, um mehr Rauch zu erzeugen und seine Witterung zu überdecken, und auch um die Alten zu verunsichern. Vielleicht würden sie innehalten, um zu überlegen, was er da tat und warum. Angeblich waren sie langsame Denker. Er nahm also einen brennenden Ast und warf ihn über den Bach, und dann warf er noch Äste in drei oder vier andere Richtungen, bevor er weiter die Schlucht hinabhetzte, vorbei an der Einmündung, die vom Alten Pisser gespeist wurde, dem Pfad am Bach folgend. Er spürte das Brennen in seinen Muskeln fast so deutlich wie den Schmerz im Knöchel. Er blutete nicht, hinterließ keine Spur, allerdings war sein rechter großer Zeh aufgeschürft und kurz davor, erste Blutstropfen zu hinterlassen. Als er das sah, bleckte er verzweifelt die Zähne, hielt inne und setzte sich auf den Boden, um das Blut aus der Wunde zu saugen. Er leckte mehrmals darüber, um den Blutfluss zu hemmen, und drückte dann etwas Sand vom Bachufer auf den Riss in der Haut. Anschließend erhob er sich und humpelte weiter. Eigentlich sollte er sowohl schneller als auch ausdauernder sein als diese Alten. Das wussten sie mit Sicherheit auch, weshalb sie hoffentlich aufgeben würden. Aber trotzdem musste er weiterlaufen, um sicherzugehen. Es war Zeit, die Gangart zu wechseln, auf das zurückzugreifen, was man den zweiten Atem nannte, und sich seine Kräfte für einen Lauf durch das Untertal und anschließend den Ost- oder Westhang hinauf einzuteilen. Man konnte nicht überall die Talwände hochsteigen, tatsächlich gingen beide Hänge oben in steile Klippen über, weshalb das Tal nicht leicht zu verlassen war. Aber Eisläufer wusste, dass es im Osten eine Bresche zwischen den Felswänden gab, also hielt er auf die zu, in der Hoffnung, dass die Alten weiter talabwärts laufen würden. Sobald er über den östlichen Höhenzug war, würde er sich auf der verwitterten Hochebene befinden, von der aus er die Große Schlucht und ihre Seitentäler überschauen und einen versteckten Unterschlupf finden konnte.

Beim Laufen entlastete er sein linkes Bein. Er atmete schwer, saugte begierig die bitter benötigte Luft ein. Nach einer Weile spürte er, wie sein zweiter Atem ihn anhob und weitertrug: Das war gut. Immer wieder blickte er zurück. Kein Zeichen seiner Verfolger war zu sehen. Es war schwer zu sagen, wie lange sie ihm auf den Fersen bleiben würden. Sie hatten ihre Speere einsammeln müssen. Warum hatten sie unten in den Schluchten Mammutspeere dabei? Vielleicht stimmte es, dass sie keine anderen Waffen besaßen. Und sie hatten keine Speerschleudern benutzt. Sie waren Beinahe-Menschen, Albtraummenschen, die in die Tagwelt herübergewechselt waren. Oder er war in ihre Welt übergetreten.

Der Weg über die Rampe war frei. Er sah die Bresche zwischen den Felswänden, über die er nach oben gelangen würde. Die Felswände bestanden aus dem vorherrschenden weißen Gestein, das von schwarzen Flechten übersät war. Eistaucher blutete wieder leicht aus dem rechten Zeh, also hielt er im Klettern inne, um einmal mehr Erde in die Wunde zu drücken, damit das Blut verklumpte. Bei dem angestrengten Lauf spritzte es regelrecht aus der Wunde, obwohl es kein besonders tiefer Kratzer war.

Die Rampe führte durch einen Einschnitt zwischen niedrigen Felswänden, und der Hang wurde flacher, sodass er das restliche Stück bis nach oben rennend im Schutz kopfhoher Bäume zurücklegen konnte. Er eilte über den Grat, der hier breit war. Sicherlich hatte er die Alten inzwischen abgehängt. Sie würden nicht an genau diese Stelle kommen, nur um ihn zu suchen.

Trotzdem rannte er weiter, getrieben von der Erinnerung an den Speer, der zu ihm hochgeflogen war. Die Waffe hatte sich um ihre eigene Achse gedreht wie ein Feuerstock. Die lange Hornsteinklinge hätte ihn einfach durchbohrt. Wie sich das wohl anfühlen würde! Bei kleinen Tieren hatte er so etwas schon oft erlebt, er hatte sie selbst aufgespießt und zugesehen, wie sie sich wanden, hatte ihr Schreien gehört, bevor sie starben. Besser, er hielt nicht an. Er musste rennen, wie man bei der Jagd rannte, genauso schnell und gleichmäßig, genauso lange. Bei dem Gedanken an die drohende Gefahr wurde ihm klar, dass er eigentlich sogar noch länger als bei der Jagd rennen musste. Er musste seinen zweiten Atem ganz erschöpfen, laufen, bis der dritte Atem ihn erfüllte, der nur selten auftauchte und schwer zu fassen war. Und auch dann musste er noch weiterrennen.

Schließlich neigte der lange, im Lauf verbrachte Nachmittag sich seinem Ende zu. Das Licht am noch blauen Himmel verblasste, und der Abend brach herein. Während der sich anschließenden Dämmerung lief er weiter, und selbst noch, als die Dunkelheit langsam hereinbrach. Der Mond stand nun schon fast zur Hälfte am Himmel, also beinahe genau über ihm. Noch über eine Woche musste er durchhalten, bevor er zu seinem Rudel zurückkehren durfte! Von jetzt an würde er sich wohl kaum noch einmal sicher genug fühlen, um ein Feuer zu entzünden — nicht, wenn sich irgendwo in der Nähe die Alten herumtrieben. Und sein Knöchel schmerzte noch immer. Bei jeder Bewegung spürte er es.

Aber er lebte. Und notfalls konnte er es eine Woche ohne Essen aushalten. Und auch eine Woche ohne Feuer, zumindest, wenn es nicht wieder stürmte. Selbst wenn es wieder stürmte. Letztlich kam es darauf an, dass er lebte. Er war auf seiner Wanderschaft. Das sollte nicht einfach sein. Er war drei Alten entkommen! Falls er ihnen wirklich entkommen war. Jetzt würde er wirklich etwas zu erzählen haben! Falls er mit seiner Geschichte nach Hause zurückkehrte.

Er sammelte einige trockene Blätter und Zweige und zog sie hinter sich her, in eine Nische zwischen mehreren Felsbrocken unter einem dichten Gestrüpp niedrig gewachsener Fichten. Der ständig vom Hang herabwehende Wind hatte die Bäume auf die Felsen niedergedrückt. Eistaucher riss sich ein Loch in seine Rindenweste, als er in die Nische krabbelte, und seine Beinlinge hingen ohnehin schon in Fetzen. Trotzdem gelang es ihm, sich eine notdürftige Lagerstatt einzurichten, und er fühlte sich gut versteckt. Auf seine Brust geschmiertes Kiefernharz würde seine Witterung überdecken, auch wenn es klebrig war und überall auf seiner Haut piksende Kiefernnadeln kleben blieben. Es würde kalt werden, und sein Knöchel pulsierte mit jedem Herzschlag. Eigentlich hätte er Beifußtee schlürfen und Mistelblüten rauchen müssen, doch im Moment blieb ihm nichts weiter übrig, als die Zähne zusammenzubeißen. Er gab seinen Verletzungen Namen, wie Dorn es immer von ihm verlangt hatte: Die Wunde an seinem Zeh war Spucke, den Schmerz in seinem Knöchel nannte er Kreuch. Spucke und Kreuch sangen ihr kleines Duett, und er versuchte sie zu ignorieren und dem Wind in den Bäumen zu lauschen. Jedes andere Geräusch machte ihn nervös. Dann und wann raschelte es, und gelegentlich pochte ihm dabei das Herz bis zum Hals. Er überlegte, ob es ihm wohl gelingen würde, aus seinem Versteck zu springen, bevor die Speere sich zu ihm hineinbohrten und ihn am Boden festnagelten. Wahrscheinlich nicht. Eistaucher hatte schon Schneehasen aufgespießt, die sich an eben solchen Stellen versteckt hatten. Er wusste, wie so etwas lief. Wahrscheinlich stammte das Rascheln nur von Hasen oder Schneehühnern, vielleicht sogar von Eichhörnchen und Mäusen. Aber es war nicht leicht, mit dem Bild eines Schneehasen vor Augen, dem er einmal einen Speer durch den Hals gejagt hatte, Schlaf zu finden.

Er schlief unruhig, und wenn er erwachte, um eine neue Position zu finden, sich um die kalten Teile seines Körpers zusammenrollte und dabei unweigerlich die warmen Bereiche der Kälte preisgab, lauschte, schnüffelte und sorgte er sich kurz, bevor er wieder einnickte. Er schlief mit einem offenen Auge. Dorn behauptete, dass das möglich sei. Das hatte zur Folge, dass er weniger träumte als vielmehr nachdachte, wobei seine Gedanken sprunghaft und zusammenhangslos waren. Es kam der Moment, in dem er ganz wach wurde, mit kalten Füßen, kalten Ohren und kaltem Pimmel, obwohl er die Arme beim Einschlafen um den Kopf geschlungen hatte. Er fing an zu bibbern, und ihm wurde klar, dass er nicht wieder würde einschlafen können und dass er auch nicht liegen bleiben konnte; dafür zitterte er zu sehr.

Furchtsam zog er sich aus seinem Unterschlupf und blickte sich um. Der fast halbe Mond war kurz davor, im Westen unterzugehen, die Nacht war also zur Hälfte verstrichen. Unglücklich sprang er auf seinem rechten Bein auf und ab; er ballte die Fäuste und drehte sich von einer Seite zur anderen. Erst hatte er das Gefühl, zu müde zu sein, um sich mit Tanzen aufzuwärmen, aber als das Zittern schließlich aufhörte, war er ganz da, weniger müde und neugierig auf das, was er in seinem Unterschlupf nicht gesehen hätte, nämlich die Hochebene im letzten Mondlicht, mit gedehnten, breiten schwarzen Schatten. Nichts regte sich. Es war eine windstille Nacht. Er richtete seine Rindenkleidung, soweit es ging, versuchte, sie fester zu ziehen, und nach einer Weile kroch er wieder in sein Nest. Jeder Unterschlupf ist besser als keiner. Dies war seine Wanderschaft, sagte er sich, er wurde Schamane, er sollte auf die Probe gestellt werden. Er musste nicht nur überleben, sondern dabei auch noch eine gute Figur machen. Kreuch und die umherstreifenden Alten erschwerten seine Aufgabe. Aber er hatte schon fast die Hälfte geschafft. Er musste nur noch acht Tage durchhalten, vielleicht neun. Das Mitzählen fiel ihm schwer. Aber dafür hatte er ja den Mond.

In welcher Verfassung er zurückkehren würde, darum musste er sich später kümmern, und zwar am Tag. Wenn er sowohl den Alten aus dem Weg gehen wollte, die vom Feuer angezogen wurden, als auch nachts jagenden Tieren, die das Feuer mieden, musste er einen besseren Unterschlupf für die Nacht finden als diesen, der einerseits kalt und andererseits zu gut einsehbar war. Er brauchte eine Mulde, ein Katzenloch oder einen Murmeltierbau, in dem er sich zumindest etwas warm halten konnte und trotzdem sehen, ob sich etwas näherte. Vielleicht konnte er sich unter einem Felsbrocken einnisten, mit einigen Ästen, um ihn zu wärmen. Einen Viertelmonat lang wie ein Murmeltier leben.

Kreuch jaulte auf, sodass Eistaucher sich ein Ächzen verkneifen musste. Sein großes Glutbett, so sengend heiß, dass er hatte Abstand halten müssen, kam ihm nun wie ein unvorstellbares Geschenk vor. Annehmlichkeiten sind dumm: Auch das war einer von Heides Lieblingssprüchen. Aber heute Nacht fehlten sie ihm.

Er hatte sich verhalten, als seien die Schlauchtäler, die die Ränder des Hochlands durchfurchten, leer, nur weil in ihnen keine Rudel lagerten. Seine eigene Anwesenheit hätte ihm verraten müssen, dass das ein Irrtum war. Alte, Waldleute, Reisende, Löwen, sie alle hätten vorbeikommen und ihn an seinem Feuer töten können. Das Unwetter der ersten Nacht hatte ihm offenbar den Verstand einfrieren lassen. Er war die Sache von Anfang an falsch angegangen. Während des Unwetters selbst konnte man davon ausgehen, dass alle in ihren Löchern saßen. Nach dem Unwetter lagen die Dinge anders. Da konnten immer Fremde vorbeikommen. Man musste vorsichtig sein. Verführt von seinem Feuer, hatte er das vergessen. Feuer war verräterisch, das ließ sich nicht abstreiten. Aber vielleicht konnte er sich ein sehr kleines Feuer erlauben, wenn er es im Zwielicht direkt vor Morgengrauen entzündete und gerade so am Leben erhielt. Das würde doch sicher gehen?

Nein. Eigentlich nicht. Ihm blieb nichts anderes übrig, als auf und ab zu hüpfen und ein kleines Hin-und-her-Lied zu singen, rechts rechts links, rechts rechts links, immer weiter. Wobei er das linke Bein nicht belasten konnte. Derweil schaute er zum Mond und versuchte sich vorzumachen, dass er voller war. Er wusste tatsächlich nicht mehr, wie viele Tage er schon hier draußen war, doch nun ging er sie in Gedanken in allen Einzelheiten durch, an die er sich erinnerte. Mit den Fingern zählte er mit, wie Dorn mit seinen Jahresstöcken. Er war seit fünf Tagen hier draußen. Ja, fünf Tage. Am zweiten Tag hatte er ein Feuer in Gang gebracht; am dritten hatte er die Bären beobachtet, wie sie ein Reh getötet hatten; am vierten hatte er sich Kleidung aus Rehhaut angefertigt; am fünften hatte er versucht, seinen Lagerplatz zu verlegen. Der anbrechende Tag würde also der sechste sein. Beinahe hätte er laut aufgestöhnt, doch stattdessen ließ er Kreuch reden. Er würde eine Möglichkeit finden müssen, sich ohne Feuer warm zu halten, und er würde etwas zu essen finden müssen. Er konnte etwas sammeln, aber am besten würde es sein, wenn er auch etwas zu töten fand. Ein Tier mit Pelz.

Sehr langsam ging der Mond unter. Besser gar nicht erst hinschauen, so langsam ging es. Aber Eistaucher schaute hin. Die über den Himmel kriechenden Sterne erloschen über dem struppigen schwarzen Horizont, einer nach dem anderen. Dann und wann tanzte Eistaucher in einer Art stehendem Halbschlaf. Versuchte, einfach nur zu atmen und Ruhe zu finden. Sollte Kreuch das Reden übernehmen.

Einmal öffnete er die Augen und sah, dass der östliche Himmel sich direkt über dem Horizont leicht grau verfärbt hatte. Der Sonnenaufgang war nur noch eine oder zwei Fäuste entfernt. Kurz vor Tagesanbruch war es immer am kältesten. Aber das hielt er aus. Er spürte das Leben in sich, das ebenso laut jaulte wie Kreuch.

Als es hell genug war, um etwas zu sehen, humpelte er über die Hochebene und stieg zu einem Bach hinab, der sich über eine Wand in den Fluss am Grunde ihrer Schlucht ergoss. Er flocht einige lange Grashalme ineinander und legte eine kleine Schlinge in der Nähe eines Grasufers aus, auf dem Huf- und Pfotenabdrücke zu sehen waren. Anschließend hockte er sich hinter einen umgestürzten Baum, der ihm als Sichtschutz diente, und wartete mit einem Stein in der Hand.

Die Sonne ging auf. Ein blasses, wässriges Licht erfüllte die Luft über der Ebene. Als die Strahlen auf seine Haut trafen, spürte er ihre Wärme, als säße er an einem Feuer. Bitte wachse und gedeihe, o strahlender Gott. Tritt wieder in den Sommer ein.

Lange Zeit saß er da und döste in der Sonne vor sich hin. Dann ließ ihn ein lautes Knacken aufspringen, und als er das Reh in der Schlinge sah, warf er den Stein in seiner Hand so fest er konnte und traf es an Hinterlauf und Knie. Ein harter Aufschlag war zu hören, und das Reh ging gerade lange genug in die Knie, damit Eistaucher es über den Stamm hinweg anspringen konnte. Er griff von hinten nach dem kurzen Geweih und drehte es, so fest er konnte, um der Ricke den Hals zu brechen oder sie zu erwürgen. Sie rollte sich herum, um sich dem zu entziehen, und er rollte mit, bekam dabei den Stein zu fassen, den er nach ihr geworfen hatte, und schlug ihr fest zwischen die Hörner auf den Schädel, in dem Versuch, sie mit einem Schlag zu töten. Doch er traf nicht die richtige Stelle und musste erneut zuschlagen, immer wieder, so schnell wie möglich, während das Reh zappelte und sich hin und her wälzte und er mit seinen Schlägen immer wieder abglitt und sich einen festen Tritt auf den Oberschenkel einfing, worauf er einmal ganz danebenschlug und dann schließlich genau traf: Sein verzweifelter Hieb ließ den Schädel des Tiers knirschend brechen. Die Ricke sackte in sich zusammen, und er versetzte ihr zur Sicherheit noch einige Schläge auf die Stirn. Zitternd lag sie am Boden und hauchte ihr Leben aus. Sie blutete aus den Augen und aus einer großen Wunde in der Stirn.

— Danke, Schwester!, rief Eistaucher und spürte, wie das Glück ihn wie ein tiefer Zug Wasser erfüllte. — Gutes Reh!

Sofort machte er sich daran, sie zu zerlegen. Eine junge Ricke. Das ganze Tier würde er nicht verteidigen können, genau genommen musste er sogar so schnell wie möglich von hier verschwinden und durfte dabei keine Spur von Blutstropfen hinterlassen. Er wollte die Hinterläufe so lösen, dass sie über die Wirbelsäule verbunden blieben, damit er sie sich über die Schultern legen konnte; und dazu noch die Haut und das Herz und die Nieren. Während er mit seinem groben Hackstein an ihr herumschnitt, aß er so viel wie möglich vom Hirn. Mit einer guten Klinge wäre die Arbeit ihm so viel leichter gefallen. So konnte er den Stein nur immer wieder herabsausen lassen. Das arme Reh wurde dabei übel zugerichtet, und er entschuldigte sich bei ihm und erklärte, warum es schnell gehen musste. Er hackte und zerrte und schnitt, so gut es mit der Spitze seines schlechten Werkzeugs ging. Das Fell würde er mitnehmen, egal, welche Witterung es verströmte. Er würde sich ein gutes Versteck suchen und sich in diese Haut einwickeln, die ihn auch ungegerbt wärmen würde.

Obwohl er sich beeilte, brauchte er mehrere Fäuste, um das Reh zu häuten und zu zerlegen, und als er fertig war, war er zwar verschwitzt, blutverschmiert und erschöpft, aber er hatte zumindest einen vollen Bauch. Das Fell des Tiers hatte er beim Häuten in zwei große Teile zerlegen müssen. Herz und Nieren schnürte er in die beiden Fellstücke ein. Die konnte er zusammenknoten und sie sich zu den Keulen über die Schulter hängen. Er war fast am ganzen Leib blutverschmiert. Unter einer toten Kiefer fand er einen Gehstock, mit dem er Kreuch besänftigen konnte. In der anderen Hand hielt er seine Hacke, die groß genug war, um Knochen zu zerschmettern, und klein genug, um sich werfen zu lassen; das Gewicht fühlte sich gut in seiner Hand an. Durch einen Steinhagel konnte selbst ein einzelner Mensch zur Gefahr werden. Kein Tier ist sicher vor einem Menschen mit einem guten Wurfarm! Die Freude über sein Jagdglück versetzte ihn in ein leichtes Hochgefühl.

Mit den Rehkeulen und den in Haut eingewickelten Organen über den Schultern humpelte er stromabwärts. Manchmal ging er direkt im schmalen Bachbett. Seinen Gehstock nannte er Ständer. Als er weit genug weg war, machte er eine Pause und wusch das Rehfell, die Beine und auch sich selbst im Bach.

Er hatte das Fell beim Häuten in zwei Stücke zerschnitten, weil er es mit seiner groben Hacke nicht sauber von der Wirbelsäule hatte lösen können. Aber zwei Stücke waren ohnehin gut. Später würde er wahrscheinlich die Haut der Beine abschneiden und Flicken draus machen. Er kaute auf einem Bissen Rehherz herum. Normalerweise kochte man Herzen, aber so schmeckte es auch nicht schlecht. Rohes Fleisch musste man lange kauen, und am besten war es, mit kleinen Stücken anzufangen. Eistaucher mochte den Geschmack von Herz, und er kaute gerne lange darauf herum.

Weil das Bachwasser kalt war, setzte er sich ans Ufer und trocknete sich die Beine im Gras ab, bevor er sich wieder den Fellen zuwandte. Da sie ungegerbt waren, ließen sie sich nur schwer gerade schneiden. Trotzdem gelang es ihm, aus der einen Hälfte die Teile für eine grobe Weste und einen Rock auszuschneiden. Die andere Hälfte würde ihm als Umhang und Decke dienen.

Der Tag war beinahe herum, verflogen, als wäre die Sonne ein Vogel auf dem Weg nach Westen. Er musste einen Platz finden, an dem ihn die nächtlichen Jäger der Hochebene nicht erreichen konnten, und das würde nicht leicht werden. Eine Höhle, deren Eingang sich mit einem Felsen verschließen ließ, wäre schön gewesen; oder ein Baum, den niemand außer ihm erklettern konnte. Beides würde sich kaum finden lassen. Aber wo die Hochebene Risse bekam und zu den Schluchten hin abfiel, bildete sie Simse mit niedrigen Felswänden und knorrigen Bäumen, die sich unter dem beständigen Wind duckten. Wenn er vor Einbruch der Nacht eine gute Zuflucht fand, konnte er hochzufrieden mit diesem Tag sein. Doch inzwischen neigte die Sonne sich bereits weit gen Westen, und der blasse Halbmond war in leicht östlicher Richtung am Nachmittagshimmel zu sehen.

In einer Felswand, die über dem Fluss aufragte, entdeckte er einen Überhang. Es schloss sich keine Höhle daran an, sodass er zwar Wind und Wetter ausgesetzt sein würde, aber der Unterschlupf war nur von der Hälfte der Welt einsehbar, und die befand sich auf der gegenüberliegenden Seite der Großen Schlucht. Im Grunde war es eine ganz kleine Balme. Und tatsächlich hatte jemand einen Bison und ein Pferd auf die flache Wand des Überhangs gemalt. Das machte Eistaucher Mut. Er betrachtete die Bilder näher. Der Maler hatte den Tieren mit dickem Strich eine sehr hübsche, schwärzlich-rote Farbe verliehen. Bison und Pferd hatten beide die gleiche Farbe. Dorn trennte die Farben immer. Es war gut zu wissen, dass bereits vor ihm ein Mensch hier gewesen war.

Als Eistaucher zur Großen Schlucht blickte, die nur als Linie zwischen der näheren Umgebung und der gegenüberliegenden Hochebene zu erkennen war, sah er unter sich eine breite, gedrungene Kiefer, die abgebrochen und um den Bruch herum spiralförmig neu gewachsen war. Die Bruchstelle war zu einer blättergefüllten Mulde bloß liegenden Kernholzes geworden. Kletterkatzen konnten diese Mulde erreichen, aber gegen die würde er sie vielleicht verteidigen können; und nichts, was von unten zu dem Baum heraufblickte, würde ihn sehen. Um herauszufinden, ob er hinaufklettern konnte, musste er es wohl oder übel versuchen. Also kraxelte er mithilfe seines Stocks zum Fuß des Baumes hinab und blickte an ihm empor. Die Kletterpartie würde Kreuch gar nicht gefallen.

Eistaucher gab sich alle Mühe, den Schmerz in seinem Knöchel nicht erneut wachzurufen, und setzte sein linkes Bein nur ein, um sich zu stabilisieren, und nie, um sich hochzustemmen. Dadurch belastete er sein gesundes Bein zwar aufs Äußerste, aber das war auszuhalten. Schließlich erreichte er schnaufend die Mulde und ließ sich in sie hineinsacken. Erfreut stellte er fest, dass sie offenbar unten einen Riss hatte, denn sie war trocken. Tatsächlich hatte er hier ein gemütliches Bett aus Blättern und Mulm. Und er hatte freie Sicht in alle Richtungen. Unbeholfen rutschte er in seinem Nest herum und brach sich mit seinem Hackstein einen großen, toten Ast ab, um sich notfalls damit zu verteidigen. Eine Zuflucht! Er dankte dem Raben und drehte sich wie eine Katze mehrmals im Kreis, bis er die Lage gefunden hatte, in der es ihn am wenigsten drückte.

In jener Nacht heulte ein Wolfsrudel den Halbmond an, und Eistaucher lauschte mit Gänsehaut, so still wie die anderen Tiere dort draußen. Die Alten würden in dieser Nacht nicht draußen umherstreifen, nicht, wenn Wölfe in der Nähe waren. In sein verbliebenes großes Stück Rehfell eingewickelt, war ihm so warm wie nicht mehr, seit er sein Feuer hatte aufgeben müssen. In jener Nacht schlief er so gut wie noch nie auf seiner Wanderschaft.

Was sollte er tun?

Keine Antwort ist auch eine Antwort.

Am nächsten Tag blieb er in seinem Nest und schlief entweder oder kaute auf einer Rehkeule herum. Das Gleiche tat er am Tag darauf. Ein Dreiviertelmond, ah! Die Nacht war erleuchtet vom blassen, unscharfen Licht der trächtigen Göttin. Früher oder später würden die Rehkeulen wohl zu verdorben sein, um sie weiter zu essen, und zu sehr stinken, um sie in seiner Nähe zu haben. Bis es so weit war, gab es keinen Grund, sich vom Fleck zu rühren. Und herunterzuklettern würde ihm Schmerzen bereiten. Er war zufrieden damit, sich auszuruhen und auf Heilung zu hoffen.

So vergingen vier Tage, in denen der Mond von Nacht zu Nacht fetter wurde. Ein großer Schwangerenbauch, der schon bald gebären würde. Einen neuen Schamanen zur Welt bringen.

Doch in der fünften Nacht im Baum verdichtete sich das Rascheln weiter unten zu einer Katzengestalt, und Eistaucher stellte sich in seinem Nest hin und schüttelte drohend seinen Ast vor dem schwarzen Umriss mit den unheimlichen, weit auseinanderliegenden und funkelnden Augen. Ein großer Kopf einer großen Katze. Ein Löwe, oder schlimmer noch, ein Leopard. In jedem Fall war es eine Katastrophe. Einmal mehr pochte sein Herz heftig, und ihm wurde heiß. Er musste größer erscheinen, als er war, also stellte er sich mit dem Rehfell um die Schultern auf den höchsten Ast, der ihm noch Halt bot. Als er freie Sicht hatte, warf er einige dicke Äste, die er sich aufgehoben hatte, auf die Katze hinab und sah, wie sie mehreren auswich und von einem sogar getroffen wurde. Derweil fluchte er wild auf sie, fuchtelte mit Ständer über seinem Kopf herum und gab alle bösen Laute von sich, die er kannte, ob von Tier oder von Mensch; nicht die ängstlichen Geräusche, sondern die wütenden, die hungrigen Geräusche. Er fluchte zornig, bis er heiser war.

Als schließlich der Morgen graute, schien die Katze verschwunden zu sein. Er wartete bis Mittag, sah aber keine Spur mehr von ihr. Dann kletterte er den Baum hinunter, wobei er sein linkes Bein die meiste Zeit einfach herabhängen ließ. Er hatte das Gefühl, gerade erst hier eingetroffen zu sein und zugleich Jahre in dem Baum verbracht zu haben. So oder so, diese Zeit war vorbei. Kreuch beschwerte sich nun nicht mehr so lautstark, war aber immer noch präsent. Es würde lange dauern, bis Kreuch verschwand, das spürte Eistaucher.

Kaum war er losgegangen, musste er zum Kacken anhalten, und nach diesem anstrengenden Unterfangen fühlte er sich etwas krank, aber auch leerer und schließlich besser, sodass er bereit war, durch den Tag zu humpeln. Sich im Bach waschen, ein paar Sonnenflecken mit Beeren suchen, so viele alte Beeren wie möglich essen. Er wusste, dass Bären dasselbe taten, wenn sie aus dem Winterschlaf erwachten. Aber lieber wollte er einem Bären begegnen als einer Raubkatze. Bären hielten Katzen fern. Trotzdem blieb er nicht lange bei den Beeren. Es waren ohnehin kaum noch welche übrig.

Er kam an eine kahle Felsnase, die aus einem niedrigen Felsrücken hervorragte, der quer über die Hochebene verlief. Auf der anderen Seite der Nase fand er einen Spalt, durch den er hinaufgelangen konnte. Von dort oben konnte er in eine enge Krümmung des Flusses tief unten in der Großen Schlucht hineinblicken und in einige Seitenschluchten auf der anderen Seite des Flusses. Er sah, wo die beiden großen Schleifen des Flusses die Hochebene durchschnitten; das Lager seines Rudels befand sich dahinter, auf der anderen Seite des Steinbisons, der von hier aus nicht zu erkennen war. Die Hochebene hinter ihm entpuppte sich hier als verschneite Heidelandschaft, die wie eine umgedrehte Schüssel zum Fluss hin abfiel. Viele der gefährlichsten Tiere gingen nicht dort hinauf. Außerdem lagen dort überall große Felsbrocken verstreut. Mit Sicherheit würde er einen finden, unter dem er sich verkriechen konnte, in einem Schlupfwinkel, der zu klein für Wölfe und Großkatzen war. Außerdem konnte er die Heide nach Westen hin überqueren, bergauf zu den Eiszitzen, zwei Gletscherkuppen in jener Richtung, ehe er in die westlichen Ausläufer des Obertals hinabstieg und von dort ins Lager seines Rudels, wenn es so weit war.

Also wanderte er nordwärts in die Heide. Der Schnee am Boden war alt und fest und trug ihn selbst am Nachmittag. Von hier aus konnte er nach Süden zurückblicken, über viele Höhenzüge und Täler hinweg. Es sah aus, als würden graue Hände die Große Schlucht und ihren Fluss umschließen. Grüne Säume, weiße Flecken. Kreuch bellte jetzt laut, rief He! He! He! bei jedem Schritt. Eistaucher hatte seinen Rehfellumhang zusammengerollt und ihn sich um die Hüfte gebunden. Er humpelte weiter, immer auf der Suche nach Nischen unter den größeren Felsbrocken, die er passierte.

Bei Sonnenuntergang fand er eine, die ihm gefiel, und kroch durch eine Lücke, die gerade groß genug für ihn war, unter den Felsen. In der Spalte darunter konnte er aufrecht hocken. Der Felsbrocken ruhte mit vier großen Spitzen auf dem Steinboden, wie ein gigantischer Zahn. Eistaucher zog seine Äste durch das Loch und errichtete sich ein Lager aus ihnen. Es würde kalt werden hier oben. Ständer diente ihm nun als Speer, mit dem er seinen Steinbau verteidigen konnte. Der Mond war inzwischen zu drei Vierteln voll und erleuchtete das Zwielicht. Er warf klar umrissene Schatten.

Auch in dieser Nacht heulten irgendwo Wölfe, und er wurde oft von ihnen aus dem Schlaf gerissen. Doch wann immer er auf das Heulen lauschte, stellte er zu seiner Erleichterung fest, dass es von weit her kam. Außerdem war er froh darüber, dass ihre Anwesenheit andere Raubtiere und besonders die Alten abschrecken würde. Es hieß, dass die Alten sich ohnehin weitgehend von der Heide fernhielten, und Eistaucher glaubte es, weil es auf der Hochebene kaum Windschutz gab. Alles in allem war dies heute Nacht also wirklich der richtige Platz für ihn.

Jedes Mal, wenn die Wölfe heulten, bewegte er nacheinander alle Muskeln in seinem Körper, angefangen von seinen tauben Zehen bis hin zu seinem Kiefer, wobei er jedes Mal, vom sonderbaren Lied der Wölfe eingelullt, wieder einschlief, oft noch bevor er auch nur bis zu seinen Bauchmuskeln vorgedrungen war.

Doch einmal, als ihn der Wolfschor weckte, war er verwirrt. Sein Vater saß direkt vor dem Loch zu seiner Höhle und heulte leise mit ihnen mit. Komm zu mir heraus, mein Sohn, sagte er, komm heraus, damit ich dir zeigen kann, welcher Stern ich jetzt bin.

Aber dafür ist es doch zu kalt, wandte Eistaucher ein, und ich bin müde. Ich will nicht aus der Wärme hinaus, die ich hier in diesem Loch geschaffen habe.

Keine Bange, ich sorge dafür, dass dir warm wird, versprach sein Vater. Eistaucher erinnerte sich daran, dass sein Vater genau diese Worte schon einmal zu ihm gesprochen hatte, als er ihn unterm Steinbison prustend und von Todesangst erfüllt aus dem Fluss gezogen hatte, nachdem er durch dessen dünne Eisdecke gebrochen war. Sein Vater hatte ihn an den Knöcheln nach unten gehalten und ihm auf den Rücken geklopft, als wäre er gerade zur Welt gekommen, und während Eistaucher würgte und vor Angst heulte, hatte er gelacht und gesagt, Keine Bange, Kleiner, ich sorge dafür, dass dir warm wird. Also war er es wirklich.

Eistaucher zog sich durch das Loch unter dem Felsen und schlang sein Rehfell wieder um sich. Im hellen Mondlicht leuchteten die Sterne nur schwach, und der ganze Himmel war weiß wie die Sprudelnde Spritzmilch am Sommerhimmel. Sein Vater stand über ihm, ein wenig durchscheinend, sein Kopf berührte den Himmel, und sein Gesicht lag über dem schiefen Grinsen des Mondes. Geh ein Stück mit mir, sagte er.

Soll ich meine Sachen mitnehmen?, fragte Eistaucher.

Nein, ich bringe dich vor Sonnenaufgang zurück.

Bringst du mich zu Mutter?

Ja. Dort, wo wir hingehen, ist sie auch.

Sie flogen über die Heide und in die Furchen des Landes hinab, bis zu einem tiefen Tal mit einem mondhellen Fluss. An einer engen Stelle lief der Fluss unter einem Steinbogen zwischen den Felswänden hindurch: Das war der Steinbison, die Brücke aus Fels, bei der Eistaucher als Kind in den Fluss gefallen war.

Hier hast du mich gerettet, sagte er.

Ja, sagte sein Vater.

Ich muss in der Vollmondnacht zum Rudel zurück, erklärte Eistaucher. Ich bin auf meiner Wanderschaft. Es sind nur noch drei — er blickte zum Mond auf —, drei oder vier Nächte.

Ich weiß. Deshalb habe ich dich gerade jetzt hergebracht. Schon bald wirst du wieder an diesem Ort sein. Ich wollte dich wissen lassen, dass ich hier an deiner Seite bin. Und deine Mutter auch.

Zeig sie mir.

Und dann sah er sie, wie sie auf dem Steinbogen über dem Fluss stand, während das Wasser sich unter dem schwarzen Schatten des Steinbisons mondweiß kräuselte. Sie war nackt und hielt ihm die Arme grüßend entgegengestreckt.

Mutter!, rief Eistaucher.

Davon erwachte er, und zu seiner Überraschung stellte er fest, dass sein Vater ihn in dem kurzen Augenblick, in dem er seinen Ruf ausgestoßen hatte, bereits sicher zurück unter seinen Felsen gebracht hatte. Mit seinem Schrei hatte er ihre Geister erschreckt. Dorn sagte immer, dass man ruhig mit Geistern reden musste, wenn man die Gelegenheit dazu erhielt. Lärm oder Eile mochten sie nicht; all das lag hinter ihnen, es beleidigte sie.

— Ohhh, sagte Eistaucher, der auf sich selbst wütend war. Aber dann hörte er ein Schnüffeln draußen vor dem Felsen. Etwas Großes auf Spurensuche. Vielleicht ein Bär. Jedenfalls war es zu groß, um unter den Felsen zu gelangen. Was auch immer da schnüffelte, die Spur führte es fort, und Eistaucher sank in den Schlaf zurück.

Als er erwachte, fand er ein hartes, knotiges Stück Holz in seiner Hand, das aussah, als sei es schon seit langer Zeit nicht mehr Teil eines Baums. Ein Knubbel an einem Ende verlieh ihm das Aussehen eines Löwen. Eistaucher erkannte die Einkerbungen zwischen den Schultern und dem glatten, massigen Hals. Es war ein männlicher Löwe — ein kleiner Penis lag an seinem Bauch an —, der aufrecht ging wie ein Mensch. Das Stück bedurfte nur wenig Schnitzarbeit, um die Gestalt herauszuarbeiten. Es war das Geschenk seines Vaters aus dem Traum. Löwen waren furchtlos. Er löste den Feuersteinsplitter, den er bei der Herstellung seiner Hacke abgeschlagen hatte, von seinem Rehfellgürtel. Es würde besser sein, den Splitter in einen Schaft einzusetzen, aber einen Anfang konnte er jetzt schon damit machen. Das Licht der Dämmerung reichte gerade aus, und seine Fingerspitzen waren gerade warm genug für die Arbeit, die er auf der Seite liegend, Holz und Splitter direkt vor seiner Nase, verrichtete. Die gezackte Spitze des Splitters war fast wie ein kleiner Stichel. Er schnitzte vor sich hin, wobei er tief ins blutleere weiße Fleisch seiner Fingerspitzen starrte, in denen der Splitter Abdrücke hinterließ, die erst wieder verschwanden, als er darüberrieb. Kreuch summte schläfrig vor sich hin, Spucke pulsierte im Rhythmus seines Herzens, aber nur direkt unterhalb der verletzten Haut, fast schon außerhalb seines Körpers, nicht in seinem Innern. Diese beiden waren keine Freunde, er durfte ihnen keine Beachtung schenken. Was einem wehtut, muss man vergessen. Der Löwe trat sehr hübsch aus dem Holz hervor.

Als die Sonne drei Fäuste über dem Horizont stand, kroch er unter seinem Felsbrocken hervor, wanderte westwärts über den harten Schnee der Heide und erreichte einen niedrigen Höhenrücken, von dem aus er weiter nach Westen blicken konnte. Sein Volk lebte im Süden, an der Mündung des Obertals, wo der Steinbison sich über die Urdecha spannte. In drei Nächten erwartete man ihn im Lager. Bis dahin konnte er von toten Beeren leben, und außerdem hatte er seine Rehfellweste, seinen Rock, seinen Mantel und die Reste seiner Unterkleidung aus Zedernrinde. Jetzt war es also an der Zeit, sich um einen würdigen Abschluss seiner Wanderschaft zu kümmern. In Gedanken sagte er sich auf, wie er seine Geschichte erzählen würde: die Nacht draußen im Unwetter, der gescheiterte Versuch, Feuer zu machen; der nächste Morgen, an dem er ein Feuer aus dem Nichts entfacht hatte, während noch immer das Unwetter getobt hatte; die Pracht des Feuers; der gegrillte Fisch und die Zwiebeln; wie er das von den Bären getötete Reh gesehen hatte, wie sie um ihr Fressen gekämpft hatten; wie die Löwen ihn gejagt hatten; wie ihm seine toten Eltern im Traum erschienen waren; die katastrophale Begegnung mit den Alten, die Ankunft von Kreuch und Spucke, seine Flucht; die Zeit im Baumnest; die Zeit unter einem Felsen in der Heide.

Jetzt musste er der Geschichte ihren Höhepunkt verleihen: die Vision. Hier oben in den Senken der Heidelandschaft fanden sich kleine Beifußzweige und eine bestimmte Art von altem Bison-Dung, nicht zu frisch und nicht zu trocken, auf dem kleine graue Pilze wuchsen, die man Hexenmützen nannte. Er streifte umher, sammelte einige der Zweiglein und Hexenmützen und steckte sie in seine Gürteltasche. Beides würde er am Morgen vor seiner Rückkehr essen. Davon würde Dorn unweigerlich beeindruckt sein. Die Pilze schmeckten bitter, und am besten spülte man sie mit einem großen Schluck Wasser herunter. Anschließend musste man einen Aniszweig kauen und sich darauf einstellen, dass man etwa eine Faust später würde kotzen müssen. Eistaucher berührte eine der Hexenmützen mit der Zunge, und bereits das genügte, um ihm einen Schauer durch die Kehle und bis hinunter in Pimmel und Arschloch zu jagen. Es schüttelte ihn. Diese Wanderschaft war ohnehin schon nicht leicht gewesen. Sollte er es wirklich tun? Machte er es sich damit vielleicht zu schwer? Er wollte ja nicht mal Schamane werden, das war Dorns Idee gewesen. Eigentlich hätte Eistauchers Vater bei Dorn in die Lehre gehen sollen. Heide hielt nichts von Dorns Plänen für Eistaucher. Wenn seine Eltern nicht gestorben wären, dann hätte Dorn ihn niemals zu sich genommen. Als Junge war er weitab vom Lager unterwegs gewesen, war draußen in den Schluchten ganz in die Tierwelt versunken und hatte für Heide nach Kräutern gesucht. Nach dem Tod seiner Eltern wäre er beinahe ein Wolfskind geworden, von den Wäldern selbst großgezogen, als hätte ihn ein Waldmann entführt. Wann immer er Pferde sah, folgte er ihnen, sie waren sein Tier, ihre Schönheit verzückte ihn. Heide hatte ihn ins Lager zurücklocken müssen, genau wie sie ihre Lagerkatze zurücklockte. Am Feuer war Dorn nie auf Eistaucher aufmerksam geworden, und Eistaucher erinnerte sich nie an irgendwelche Gesänge aus Dorns Liedern. Nichts von alledem wäre geschehen, wenn sein Vater nicht gestorben wäre.

Aber es war geschehen. Dorn und Heide hatten ihn großgezogen und ausgebildet, und sowohl das Schnitzen als auch das Schiefermalen hatte er von Dorn gelernt. Beides liebte Eistaucher. Natürlich hatte Dorn ihm auch die endlosen Gesänge beigebracht, und die verabscheute er. All das gehörte zum Tagewerk eines Schamanen. Aber Eistaucher wollte kein Schamane sein. Das Leben als Schamane war zu überwältigend, zu einsam, zu Furcht einflößend, zu schwer. Dorns Schamane war deshalb ein schlimmer Schamane gewesen, weil alle Schamanen schlimm waren.

Andererseits hatte Eistaucher die Herausforderung angenommen, bevor er seine Wanderschaft angetreten hatte. Auf dem Weg einen Rückzieher zu machen wäre eine Schande, aus Angst geboren. Wenn er aus der Sache herauswollte, hätte er das vor seinem Aufbruch sagen sollen. Was allerdings einige Kaltblütigkeit erfordert hätte. Er hatte nichts gesagt, und nun schämte er sich dafür, nicht seinen eigenen Wünschen gefolgt zu sein, etwas getan zu haben, was er nicht wollte, und nun dabei bleiben zu müssen. Aber so war es nun einmal.

Und so setzte er sich am Morgen seines letzten vollen Tages außerhalb des Lagers mit dem Gesicht zur Sonne hin und aß die Mischung aus Hexenmützen und Beifußzweigen. Der Nachgeschmack war so bitter wie immer und jagte ihm einen Schauer des Ekels über den Rücken. Er verspürte ein Rumoren und Brennen im Bauch. Sein Magen rebellierte noch stärker gegen die Mischung als sonst, und es dauerte nicht lange, bis sein Körper sich auflehnte und er sich übergeben musste. Eigentlich wollte er das noch gar nicht. Es schien, als hätte sein Körper die Kontrolle an sich gerissen und Eistauchers Entscheidung widerrufen, doch er konnte nicht anders: Er ging auf Hände und Knie nieder, beugte sich vor und erbrach sich wie eine Katze, die Grasbüschel hochwürgt. Sein ganzer Körper krampfte sich zusammen, um das widerwärtige Zeug auszustoßen, eine gallige Masse mit kleinen Pilz- und Blattstückchen darin, die ihm in der Kehle brannte und ebenso bitter schmeckte wie die Mischung, die er geschluckt hatte. Allein schon der Geschmack ließ ihn noch mehrmals würgen und hecheln und trieb ihm das Wasser aus Mund und Nase und Augen, bis er nichts mehr in sich drin hatte und der Bauch ihm schmerzte.

Vielleicht war es keine gute Idee gewesen, es mit diesem verrückten Schamanenzeug zu probieren.

Ich bin der dritte Atem

Ich komme zu dir

Eine Weile lag er da und spürte, wie sein Körper im Takt seines Herzschlags pulsierte. Kreuch in seinem Knöchel jaulte vor sich hin, Spucke schwieg. Seine Kehle und sein Mund brannten vom Magensaft. Dorn erging es genauso, wenn er seine Mixtur aß. Es lief darauf hinaus, dass Schamanen sich vergifteten, um ihre Geister außerhalb des Körpers auf Reisen zu schicken, und Eistaucher spürte ein Wummern in seinem Kopf, als sein Geist versuchte, aus seiner Schädeldecke hervorzubrechen. Einen Moment lang sah er sich selbst von oben, wie er am Rande der Hochebene lag und seine Eingeweide auskotzte. Und dabei waren seine Füße noch immer taub vor Kälte. Er versuchte, seine Körperwärme zu verlagern. In seinem Elend sang er eines der warmen Lieder, während ihm alles wehtat und es in ihm brodelte wie in dem Sack voll Blut, der er war. Wie bei jedem Lebewesen war in seinem Körper eigentlich mehr Blut, als hineinpasste. Wenn man bestimmte Adern traf, dann spritzte das Blut daraus hervor wie sprudelnde Spritzmilch, herausgepresst aus einer engen Umklammerung. Darum hatte er so oft das Gefühl, platzen zu müssen. Jetzt spürte er all das Blut in seinem Innern, das pochend versuchte, hinauszugelangen. Es war eigentlich seltsam, dass Spucke jemals zu spucken aufgehört hatte, dass überhaupt eine Wunde jemals zu bluten aufhörte, wenn man bedachte, wie das Blut vom Körper zusammengequetscht wurde. Manchmal sah man, wie einem aufgespießten Tier das Blut aus Augen, Mund und Arsch schoss; Eistaucher konnte sich nun lebhaft vorstellen, wie es dazu kam, er musste die Augen schließen und sie sich fest reiben, damit sie ihm nicht aus dem Kopf sprangen. Das ließ ein Gestöber blitzender roter Punkte und Schnörkel tanzen. Ah, ja — solche roten Sterne und Schnörkel hatte er als Zeichnungen in der Höhle gesehen. Punkte, rote, gelbe und schwarze, o ja. Zickzacklinien, die sein Blickfeld zu allen Seiten erfüllten. Er zog sie im Boden zu seinen Füßen nach, so, wie der Schamane sie in die nasse Höhlenwand gezeichnet hatte. Er erinnerte sich an das erste Mal, als er eine Höhle betreten hatte, kurz nachdem seine Eltern gestorben waren, und Dorn ihm die nasse Wand gezeigt und seine Hände dagegengelegt hatte, sodass sie Abdrücke hinterließen, und ihm dann die ersten Zeichnungen beigebracht hatte, bei denen jeder Finger im festen, aber formbaren Lehm einen schmalen Graben zog, mit parallel verlaufenden winzigen Kämmen dazwischen. Wenn man fest aufdrückte, hinterließ man eine bleibende Mulde von der Tiefe einer Fingerspitze.

In dem bröckeligen, von totem Laub bedeckten Boden, der sich jetzt zu seinen Füßen befand, hinterließen seine Zeichnungen keine dauerhaften Spuren. Mit einem Mal verspürte er Hunger, nicht in Form eines Zwackens in den Eingeweiden, sondern als umfassendes Schwächegefühl, und er fragte sich, ob die Erde oder das tote Laub wohl etwas Nahrhaftes enthielten. Zumindest das Laub. Eigentlich galt es nicht als nahrhaft, aber andererseits aß man saftige Blätter und allerlei Wurzeln und Knollen und Sprossen und Blumen und Früchte, also musste doch auch dieses tote Laub etwas Gutes enthalten oder ihm wenigstens den Bauch füllen. Doch als er es zu essen versuchte, stellte er fest, dass sein Bauch anscheinend gar nicht gefüllt werden wollte. Nein, hier gab es nichts zu essen. Er musste die brennende Hitze in seinem Innern in die Füße verlagern, ohne dabei auf Nahrung zurückzugreifen. Am besten stellte er sich hin und sang das heiße Lied und dachte an Salbei und ihre großen, neuen Brüste, die frei schwangen, während sie sich unten am Fluss beim Waschen vorbeugte, wie das magisch verdoppelte Euter einer Aue. Große, dunkle, herabhängende Euter, die hin und her wogten und aneinanderschlugen, während Salbei Kleider wusch, mit ihrem Brustkorb, der nicht weniger breit war als der eines Mannes, und ihrem harten, muskulösen Rücken, der ihre hängenden Brüste umso mehr wie baumelnde Milchbeutel erscheinen ließ. O ja: Beim Gedanken an sie wurde ihm warm, die Hitze in seinem Innern verlagerte sich und stieg ihm sogar in den eiskalten Visel, der sich langsam versteifte. Er umklammerte und drückte ihn, bis er sich anfühlte wie ein Stock aus Fleisch, bis er stocksteif war, oder zumindest beinahe, aber seine Hände waren so kalt, nur der Anblick der nackten Salbei, die sich vor seinem inneren Auge bewegte, ließ ihn steif bleiben und der Kälte trotzen. Er tanzte ein Lied der Wollust, mischte damit das warme Lied und konnte sie vor sich sehen, wie sie aussah, wenn er sich im Liebesakt mit ihr verband, oder zumindest wie er sie sich vorstellte; Eistaucher hatte noch nie mit ihr geschlafen und auch mit keinem anderen Mädchen. Dorn und Heide und auch alle anderen Frauen seines Rudels hatten ihm deutlich gemacht, dass es besser war, sich mit Frauen aus anderen Rudeln zu paaren. Dazu waren die Sommerfeste da. Das eigene Rudel stand einem zu nahe, die Mädchen, die ihm angehörten, waren wie Schwestern. Nur waren sie eben in Wirklichkeit keine Schwestern, insbesondere, wenn sie aus anderen Sippen stammten. Eistaucher war das einzige Kind seiner Eltern, und er war ein Rabe, genau wie seine Mutter. Unter den Mädchen in seinem Rudel gab es Adler und Lachse, und sie waren für ihn nur Mädchen gewesen, und er war nur ein Junge für sie gewesen. Aber jetzt waren sie junge Frauen, und er war ein junger Mann. Sie bluteten und wurden in ihrer Mondzeit rot angemalt, sie hatten makellose Brüste und Hintern und Beine und weiche, pelzige Kolbis, sie hatten wirklich alles: Sie waren vollkommen und wunderschön. Genau genommen war eigentlich nur Salbei in jeder erdenklichen Weise vollkommen, und alle sahen das und redeten davon, aber letztlich sahen die jungen Frauen alle gut aus, und Eistaucher liebte seine Gefährtinnen. Und Salbei war ein Adler. Ein Schamane zu sein, das brachte einen gewissen Abstand zu Frauen mit sich, aber auch eine besondere Nähe: Er würde auf eine Art und Weise mit dem Leben in ihren Körpern zu tun haben, die ihm als normalem Mann aus dem Rudel verschlossen bliebe, als Jäger, der mit nur einer Frau verheiratet war. Aber eine Frau für sich zu haben! Nun, das blieb abzuwarten. Eistaucher tanzte und hielt dabei seinen harten Visel umklammert, dachte an die nackte Salbei und beschloss an Ort und Stelle, dass er nicht zu einem solchen Schamanen werden wollte. Er ging in die Knie und trieb es mit der Erde, bis es aus ihm herausspritzte und er beim Kommen laut schrie, während die pure Lust ihn durchfuhr und sich auf den Boden ergoss, und als er fertig war, hob er die Blätter mit der Spritzmilch darauf auf und aß sie, ohne dabei sein pulsierendes Glied loszulassen. Er würde sich von sich selbst ernähren. Es schmeckte wie Pilzsuppe, geronnen, aber noch warm von seiner inneren Wärme.

Ah, das gemächliche Pochen des Nachglühens. Beglückt taumelte er umher. Kotzen, spritzen, das gehörte alles dazu. Er fühlte sich so wohl in seinem Körper: Eigentlich sollte er so oft wie möglich in Mutter Erde abspritzen. Aber vielleicht hatte er genau das getan: Vielleicht war das in den ganzen zwei Wochen die erste Gelegenheit gewesen, bei der er die nötige Zeit und Wärme und die Kraft und den Willen dazu gehabt hatte. Natürlich, denn ansonsten hätte er es schon früher getan. Das Nachglühen bewegte sich von seinem Visel aus kribbelnd seine Beine herab, durch seinen Bauch herauf und dann durch seine Arme bis in seine Finger. Ein kaum merklicher, aber unverkennbarer Strom des Wohlgefühls, der den Kampf gegen all die Wunden und Kratzer antrat, gegen Spucke und Kreuch und gegen das kalte Pochen, das sich in den letzten Tagen in seinen Füßen breitgemacht hatte. Nun gut, es war schwer, das Wohlgefühl bis ganz unten in seine Beine vordringen zu lassen. Da unten war es zu kalt. Am besten fing er wieder an zu springen, zu tanzen und zu singen, verabschiedete sich für eine Weile von Salbei und konzentrierte sich auf die Gegenwart. Die Sonne stand hoch am Himmel, es war mitten am Morgen, und die Luft erwärmte sich. Zeit, sich auf den Weg zu machen.

Er rollte seinen Umhang zusammen und knotete ihn sich um die Hüften, band Gürtel und Rock neu und trat den Abstieg von der Hochebene in sein Heimattal an. Das Obertal fiel zum Fluss hin ab, vom Höhlenberg kam man zur Gewundenen Au, ein trockenes, aufgefülltes Stück Flussbett, das um den Gewundenen Berg herum verlief, und um den Steinbison, der sich über den Fluss wölbte. Er war nicht weit von zu Hause, und auf dem Gratweg zwischen Ober- und Untertal hätte er den Rest seiner Reise in einem Tag zurücklegen können. Für den Weg durch das Tal würde er sehr viel länger brauchen, aber trotzdem kam er zu dem Schluss, dass er besser daran tat, den Gratweg zu meiden, wenn er niemandem begegnen wollte. Im Gehen stellte er fest, dass er sich dafür entschieden hatte, direkt unterhalb des Grats zu bleiben, auf der Seite des Obertals.

Humpelnd folgte er dem einfachsten Weg entlang der Talflanke. Blasse Spuren verliefen quer über den Hang, von Tieren, die sich wie er entschlossen hatten, keine Begegnung auf dem Grat zu riskieren, aber auch nicht in die Erlendickichte hinabzusteigen, die den Talboden bedeckten. Von hier oben konnte er oft über den Westkamm des Obertals bis zum fernen Horizont sehen. Dann und wann tauchten die Eiskappen aus dem weißen Dunst auf. Viele der Erhebungen um das Obertal herum sahen aus wie weiße Knubbel oder Auswüchse, sodass das Land wie ein riesiges Feld aus Gebeinen wirkte. Gleichzeitig atmete es leicht unter ihm, wogte wie der Rücken von etwas Lebendigem. Er musste seinen Schritt verlangsamen, um das Gleichgewicht zu wahren, und stützte sich mehr denn je auf Ständer.

Langsam erfasste ihn ein Hochgefühl. Das Nachglühen hatte sich in ein wohliges Kitzeln verwandelt, das von seinem Bauch ausstrahlte und ihn ganz erfüllte. Er stellte fest, dass er gehen konnte, ohne seine Füße allzu sehr zu belasten, was Kreuch einen zufriedenen Seufzer entlockte. Wohin er auch blickte, flogen ihm die Bilder entgegen, klar und scharf gezeichnet, als wäre er ganz dicht an ihnen dran, und das war einer der Gründe für sein Taumeln; es war schwer, das Gleichgewicht zu halten, wenn einem alles entgegensprang. Im Blau des Himmels pulsierten verschiedene Blautöne, einer blauer als der andere. Die Wolken im Blau waren bauschig und so klar umrissen wie Treibholzstücke, und sie glitten umeinander wie spielende Otter. Er sah alles auf einmal. Die ganze Zeit drückte sein Geist gegen die Schädeldecke und hob sie leicht an, sodass er darauf achten musste, das Gleichgewicht zu halten. Seine Schwierigkeiten brachten ihn zum Lachen. Die Welt war so wunderbar, so schön. In etwa wie ein Löwe: Wenn sie konnte, tötete sie einen, aber bis dahin war sie so wunder-, wunderschön. Er hätte laut weinen können über ihre Schönheit, aber dafür lachte er zu sehr, dafür war er zu glücklich darüber, sie zu durchwandern. Also das war es, was er nicht gewusst hatte: Dorn vergiftete sich, um dieses Gefühl zu erlangen. Wenn man diesen Punkt erst einmal erreicht hatte, erkannte man, dass es das Kotzen wert war, daran gab es keinen Zweifel: Das war es wirklich wert. Für dieses Gefühl war man zu sterben bereit. Ihm schwindelte ein wenig, als er versuchte, so viel auf einmal in sich aufzunehmen, aber dann meldete sich Kreuch zu Wort, und er setzte seinen Weg lässig fort, wie in einem langsamen Tanz, entlang der gewundenen, schmalen Vorsprünge, auf denen er nur ein paar Mannslängen unterhalb des hohen Pfads gehen konnte.

Dann hörte er vom Grat her ein Geräusch, und er ließ sich unter einen umgestürzten Baum fallen und erstarrte, ehe er auch nur Zeit hatte, einen Gedanken zu fassen. Rauchiger Moschusgeruch: die Alten.

Entsetzen durchfuhr ihn, und er quetschte sich weiter unter den Stamm und versuchte, sich so klein wie einen Pilzhut zu machen. Sie würden ihre Mammutspeere in ihn hineinstecken, und er würde quiekend und in schrecklichen Qualen sterben, wie ein Kaninchen. Bei dem Gedanken wurden seine Füße einmal mehr eiskalt, und die Laubmatte unter dem Baumstamm verschwamm zu wirbelnden bunten Farbflecken, wie Kiesel am Grund eines schnell fließenden Baches. Alles zerfiel vor seinen Augen und purzelte durcheinander.

Die Geräusche bewegten sich den Hang hinab, in die Richtung, in die auch er unterwegs gewesen war. Er hörte, wie die Alten einander mit ihren Rabenstimmen ankrächzten. Auf größere Entfernungen verständigten sie sich mit Pfiffen. Diese beiden bewegten sich ziemlich rasch hangabwärts. Wenn er ihnen folgte, würde er herausfinden, wo sie lagerten, und wenn es Nacht wurde, konnte er sich von dort fernhalten. Solange nicht noch mehr von ihnen in der Gegend waren, würde er vor ihnen sicher sein. Ja, so würde es gehen.

Er glitt durch die Bäume und Felsen am Hang entlang, war nun auf der Jagd, wie noch nie zuvor in seinem Leben. Dann und wann erhaschte er einen Blick auf die beiden Alten unter ihm, indem er mit nur einem Auge um einen Baumstamm lugte; jedes Mal, wenn er sie sah, stieg ein Kribbeln in ihm auf. Die kleinen Bäume auf diesem breiten Höhenzug raschelten und klickten in ihrer eigenen, vogelartigen Sprache, winkten ihm mit den Zweigen, um ihn abzulenken. Über ihm erschienen Wolken wirbelnd aus dem Nichts. Blieb zu hoffen, dass es nicht regnen würde. Obwohl Eistaucher das Gefühl hatte, dass Regen auf seiner Haut zischend verdampfen würde. Ihm wurde klar, dass er die Alten töten wollte; dann konnte er sich sicherer fühlen und außerdem ihre Habseligkeiten in Augenschein nehmen. Aber das war keine gute Idee, und tatsächlich war er überrascht, dass sie ihm gekommen war. Alte tötete man nicht; auf ihre Art waren sie Menschen, Beinahe-Menschen, und nicht gefährlich für ein ordentliches Rudel. Andererseits war Eistaucher allein, weshalb die üblichen Verhaltensregeln nicht galten. Trotzdem war es keine gute Idee.

Ein seichtes Bächlein rann von dem Höhenzug hinab ins Obertal. Die Alten stiegen dicht bei diesem Rinnsal in die Klamm ab. Eistaucher fragte sich, was sie machen würden, wenn sie auf das Lager seines Rudels stießen, ob sie anhalten würden, um seine Leute zu besuchen. Im Lager sah man nur selten Alte, und wenn sie vorbeikamen, gab es kaum Probleme. Manchmal tauchten sie am Rande des Acht-Acht-Fests auf und pfiffen, zwitscherten und zirpten neugierig, redeten mit Schamanen, die ihre Sprache kannten, und hielten sich dicht beisammen, als fürchteten sie sich ein wenig vor den anderen. Nein, seinem Rudel drohte keine Gefahr, egal, was die beiden vorhatten. Er konnte sich also oberhalb von ihnen halten, um dann am Aussichtspunkt über der Klamm herauszukommen, an einer der Stellen, an denen eine Geröllrampe zum Fluss hinabführte. Dort würde er sehen können, ob sich ihm etwas näherte, und seine Geistreise in Ruhe zu Ende bringen. Und wenn sein Geist, der nach wie vor ungeduldig an die Innenseite seines Schädels klopfte, dann seinen Körper verließ, konnte er seinen Körper in einem sicheren Unterschlupf zurücklassen und durch den Himmel fliegen. Das würde sehr viel besser sein, als ein paar vorbeikommende Alte zu töten. Selbst wenn es sich um diejenigen handelte, die ihn zu töten versucht hatten. Was gar nicht wahrscheinlich war. Die waren zu dritt gewesen. Bei dem Gedanken packte ihn die Angst, und er suchte den Hang über sich sorgfältig mit den Augen ab, lauschte, witterte und beobachtete. Niemand war in der Nähe.

Also blieb er dicht am Grat, schlich den Pfad entlang und spähte dabei den Hang hinab ins Obertal, wo die Alten auf ihrem Weg nach unten nach wie vor deutlich zu erkennen waren. Hier gab es viel offenen, felsigen Grund, nur unterbrochen von den Bäumen am Bach und ein paar vereinzelten Wäldchen auf den Talseiten. Hier und da waren am Hang ein paar Wiesen und Gesträuche in die Landschaft gesprenkelt.

Auf der anderen Seite befand sich direkt unterhalb des Grats eine niedrige Felswand, darunter der lange, bewaldete Hang des Untertals. Da Eistaucher sich so weit oben unsicher fühlte, heimgesucht von etwas, das er nicht sehen konnte, änderte er seine Pläne erneut: Er beschloss, die erste Rampe hinabzulaufen, die die Felswand durchschnitt und auf der er ins Untertal gelangen konnte. Von dort würde er talabwärts gehen, sodass er eine Biegung flussabwärts vom Steinbison auf den Strom treffen würde. Dann konnte er am Fluss entlang ins Lager zurückkehren. Heute Nacht war ohnehin nicht Vollmond, aber es war die letzte Nacht davor, wenn er sich nicht irrte. Er musste also nur noch einen guten Unterschlupf finden, und er kannte eine kleine Höhle auf der anderen Seite des Flusses. Dort konnte er die Nacht verbringen. Die Alten waren im Obertal, und er würde im Untertal sein. Das war gut.

Wolken tauchten am Himmel auf, als die Sonne unterging, nach innen gekrümmt wie Farnspitzen, das Weiß rosa verfärbt vor dem blauen Pulsieren des Himmels. Als das Sonnenlicht erlosch, stand der Mond bereits groß und leicht gerötet im Osten. Auf der linken Seite war er etwas blasser als auf der rechten, oder zumindest hatte Eistaucher diesen Eindruck. Das machte ihm Sorgen: Es war schon vorgekommen, dass Jungen eine Nacht zu früh von ihrer Jägerwanderschaft zurückgekehrt waren, wodurch sie den Eindruck erweckt hatten, schnell wieder nach Hause zu wollen. Man hatte sie ausgelacht. Andererseits war Moos, indem er eine Nacht zu spät heimgekehrt war, übervorsichtig erschienen. Das Problem war, dass nicht jeder Vollmond gleich aussah: Mal war er etwas größer und mal etwas kleiner, und auch sein Schein veränderte sich leicht, sodass der makellose Ring aus hellem Licht, der ihn umgab, manchmal erst um Mitternacht auftauchte, anstatt sich sofort nach Sonnenuntergang zu zeigen. Noch schlimmer war, dass dieser leuchtende Ring manchmal erschien, kurz bevor der Mond sich im Osten erhob. Man konnte sich also vertun, selbst wenn man genau aufpasste.

In dieser Nacht schwoll und schrumpfte der dicke, helle Mond mit jedem Herzschlag, sprang mit jedem Blinzeln, stand aber jederzeit riesig und leuchtend am Himmel. In seinem Licht konnte Eistaucher jede Einzelheit am Grunde des Untertals erkennen, obwohl alles ein mondweiß bestäubtes Grau-in-Grau war. Es lag unter ihm wie ein Geisterschatten der Tagwelt, Mutter Erde in all ihrer Schönheit, und schwebend blickte er hinunter, sah, wie das Mondlicht dort, wo keine Eisdecke war, auf den bloß liegenden, schwarzen Kräuselungen des eisigen Flusses schimmerte. Die Felswände schienen aus sich heraus zu leuchten, und doch waren ihre Schatten kohlschwarz und verliehen der Landschaft ein entschieden gemeißeltes Aussehen, als sei die Große Schlucht mit einer riesigen, scharfen Klinge in die Landschaft gekerbt worden. Ah, das Mondlicht!

Er erreichte einen Punkt auf dem Höhenzug, von dem aus er in die große Schleife hinabschauen konnte, die der Fluss stromabwärts ihres Lagers zog. Sie hatte genau die gleiche Form wie die, in der sich ihr Lager befand, aber in ihr floss noch Wasser, während sich das Flussbett bei ihrem Lager in eine grasbewachsene Senke verwandelt hatte. Eistaucher erkannte, dass ein weiterer Steinbison sich über den Strom spannen würde, sobald das Wasser die stromaufwärts gelegene Biegung durchbrochen hatte, während die Schleife selbst austrocknen und sich ebenfalls in eine Wiese verwandeln würde. Der gekrümmte Lauf, den das eisige Wasser auf dem Weg vom Schatten ins Mondlicht nahm. Es gab leise, nasse Laute von sich, die bis hier oben zu hören waren. Selbst jetzt, wo der Fluss noch größtenteils vereist war, sang er sich selbst etwas vor. Schwarze Spuren zogen sich wie lange, schmale Teiche über die weiß schimmernde Fläche. Manche sahen aus, als lägen sie höher als das Eis, andere waren schwarze Löcher in weißem Hermelin.

Im Schatten unter den Erlen an der Uferkrümmung fiel ihm eine Bewegung ins Auge. Es sah aus wie ein Mensch, aber als es ins weiße Mondlicht trat und sich ans verschneite Flussufer stellte, erkannte Eistaucher, dass es einen Tierkopf hatte, dunkel und rund: riesige Eulenaugen über einer katzenartigen Schnauze, Hörner, gewunden wie die eines Steinbocks … etwas Derartiges hatte Eistaucher noch nie gesehen, und der Anblick ließ ihn leicht schwindeln. Die Augen waren eindeutig Eulenaugen, groß und rund; damit blieb diesem Wesen sicher nichts verborgen. Eistaucher erstarrte, den Rücken an einen Baum gepresst, in der Hoffnung, mit dessen schwarzem Umriss zu verschmelzen. Aber das Ding starrte direkt zu ihm hoch und hielt den Blick weiter auf ihn gerichtet, während es stromaufwärts am Ufer entlangschritt. Es hob den rechten Arm, und er sah, dass es eine Pfote als Hand hatte, eine Katzenpfote; und es hatte einen Löwenkopf, jetzt sah er es, aber mit Eulenaugen und mit Hörnern, die sich um Katzenohren wanden. Die Ohren waren aufgestellt und ihm zugekehrt, sie lauschten seinem Herzen, das ihm bis zum Hals schlug. Dann verschwand das Geschöpf in den Schatten der Felswand.

Unwillkürlich war Eistaucher zurückgewichen, in Richtung des Grats. Das Entsetzen hatte ihm die Kehle durchbohrt wie ein Speer; er konnte kaum atmen, und ihm war am ganzen Leib heiß. Mit einem Mal musste er dringend scheißen, ein Steppentier, das sich für die Flucht bereit machte. Er kniff die Hinterbacken zusammen und verkrampfte seine Eingeweide.

Dann wandte er sich wimmernd ab und rannte mit leerem Kopf los, blindlings und ohne seine Beine zu spüren. Es war außerordentlich gefährlich, so durch die Nacht zu fliehen, aber ich konnte ihm nicht helfen; in jenem Moment des Entsetzens gab es für mich keine Möglichkeit, in sein Inneres durchzudringen.

Durch Zufall fand er sich erneut auf dem Pfad am Hang wieder. Er hielt inne, weil er einfach nicht mehr konnte. Keuchend blickte er sich um, voller Angst davor, was er vielleicht sehen würde. Und er fürchtete sich zu Recht: Da war der Löwenmensch mit den Eulenaugen wieder, doch nun befand er sich weiter oben auf dem Grat, als habe er Eistaucher im Flug überholt. Mit einem blökenden Schrei drehte Eistaucher sich um und humpelte hangabwärts. Er war noch immer zu Tode erschreckt, aber nun hatte er zu sich zurückgefunden und spürte den Schmerz im linken Bein. Schluchzend rannte er weiter.

Ihm blieb nichts übrig, als dem Pfad zum Aussichtspunkt über der Großen Schlucht bis zu seinem unteren Ende zu folgen. Dabei traf er schließlich auf den Weg, der von der Gewundenen Au aus an der Nordseite des Tals entlang verlief. Den wollte er allerdings nicht nehmen, weil er dort zu gut sichtbar war. Stattdessen ließ er sich in eine kleine Spalte im Fels hinab, die er von früher kannte, einen mit Sträuchern zugewachsenen Riss, durch den er auf Händen und Knien kriechen musste, um unter den tiefsten Ästen hindurchzugelangen. Bald erreichte er einen Sims oberhalb der eigentlichen Felswand, und dort, wo der Sims schmaler wurde und schließlich mit der Wand verschmolz, gab es eine schmale Rampe, über die man sich auf einen weiteren, tiefer gelegenen Sims hinablassen konnte. Er war nicht zum ersten Mal hier.

Am anderen Ende des zweiten Simses erreichte er den Eingang zu einer kleinen Höhle, eine vertikale Kerbe im weißen Gestein. Ja, hier kannte er sich aus. Zum ersten Mal war er mit seinem Vater hier gewesen. Ein Stück weit konnte man durch die Kerbe kriechen, den Rest musste man mit einem Sprung hinab auf eine kleine Plattform zurücklegen. Dahinter war die Höhle unglücklicherweise bodenlos, ein Loch, das sich in der Schwärze verlor. Durch einen Spalt hinter dem Loch rann etwas Wasser hinab.

Sein Vater hatte ihm die Höhle zur Warnung gezeigt: Das Loch darin führte direkt zum Fluss. Das hatte Eistauchers Vater herausgefunden, indem er ein Zeichen in eine Walnuss geritzt und sie in die Finsternis hinabgeworfen hatte. Später hatte er die Walnuss dann unten im Fluss gefunden, wo sie sich in einem kleinen Strudel drehte.

Jetzt saß Eistaucher im Dunkeln hinter einem Felsen auf der Plattform. Von hier aus konnte er die Höhlenöffnung im Blick behalten, durch die er eine Aussicht auf die Südwand der Großen Schlucht hatte, deren Mondweiß von Flechten und weiteren Simsen gebrochen wurde. Am schwarzen Himmel darüber waren nur vereinzelt blasse Sterne zu sehen, überstrahlt vom milchigen Mond. Die Nacht war noch jung.

Hinter und über ihm, auf dem oberen Sims, erklang ein Klappern. Eistaucher, der jetzt zitterte und sich fühlte, als wäre er von einer Biene gestochen worden, kroch an das Loch am Rande der Plattform und griff hinein. Die Wand des Lochs war feucht, aber durchbrochen. Vorsprünge standen heraus, auf denen man Fuß fassen konnte. Es ließ sich unmöglich sagen, was sich sonst noch dort unten befinden mochte. Doch jetzt hörte er ein Schnüffeln vom zweiten Sims, vor der Höhle, also ließ Eistaucher sich mit den Beinen voran in das Loch gleiten und stellte sich mit beiden Füßen auf den Vorsprung, den er ertastet hatte. Er drückte die Zehen an den Fels darunter, tastete ihn sorgfältig ab. Jetzt war Spucke sein bester Kundschafter, weil er nämlich selbst in der Kälte noch empfindlich war. Weiteres Geschnüffel von oben trieb Eistaucher zur Eile an. Er fand einen weiteren Vorsprung, der ihm Halt bot, umklammerte ihn mit aller Kraft und ließ sich weiter in das Loch hinab. Er musste sich die Position all dieser Vorsprünge merken, also schloss er die Augen und malte sich in Gedanken auf, wo sich die beiden befanden, von denen er bisher wusste. Dann ließ er die Zehen des rechten Fußes an der Wand hinabwandern, auf der Suche nach einem weiteren Halt. Er fand einen, jedoch etwas zu weit unten; wenn er sich mit dem rechten Spann daraufstellen wollte, musste er sein linkes Bein so weit beugen, dass sein Knie oberhalb seiner Hüfte wäre. Das war nicht gut, und sein Knöchel tat so weh wie schon lange nicht mehr, aber er beachtete den Schmerz nicht und suchte nach einem tieferen Griff für seine Hand. Wenn er einen weiteren guten Halt fand, dann konnte er den linken Fuß von dem Vorsprung nehmen und sich einen tieferen Punkt suchen, um ihn abzustellen. Blind tastend fand er einen Spalt, einen guten Spalt; wenn er darin die Faust ballte, blieb sie stecken, so fest er auch zog. Das war ein Halt, den er ganz nach Belieben vergrößern oder verkleinern konnte, also ließ er den Fuß tiefer gleiten und suchte mit ihm weiter unten in der Nähe seines anderen Fußes die Wand ab. Schließlich stellte er fest, dass beide Füße bequem auf denselben Vorsprung passten, der ihm nun eher wie ein Felssims vorkam.

Inzwischen war er schon ein gutes Stück in das Loch hinabgestiegen. Selbst von der kleinen Plattform aus würde man ihn nicht mehr sehen können, es sei denn, das Ding, das ihn jagte, konnte im Dunkeln sehen. Oder ihn riechen. Ein Löwenkopf auf einem Menschenkörper, mit Eulenaugen und einem Geweih: Es ließ sich unmöglich sagen, wie gut dieses Ding wittern konnte. Erneut durchfuhr ihn das Bienenstichgefühl des Entsetzens, als ihm das Bild des Wesens vor Augen trat, wie es zu ihm aufgeblickt hatte. Aber selbst wenn es ihn roch, selbst wenn es ihn in der völligen Finsternis sah, würde es in dieses Loch herabklettern? Konnte es ohne Finger, mit Pfoten an den Vorderbeinen, überhaupt klettern? Vielleicht nicht. Das war seine einzige Hoffnung. Auf den Innenseiten seiner Lider konnte er den Weg zurück nach oben sehen, links, rechts, links, rechts. Er wollte nicht noch weiter hinabsteigen. Vielleicht würde er es trotzdem tun, wenn das Ding am Rande des Lochs herumzuschnüffeln begann. Doch er hörte nichts außer seinem eigenen Atmen und dem Klopfen seines Herzens hinten in der Kehle. Es ließ sich unmöglich sagen, was der eulenäugige Löwenmann gerade tat. Wenn er nicht noch dazu eine Bärennase hatte, hatte er vielleicht einfach seine Spur verloren. Löwen jagten in erster Linie mit den Augen, und Eulen auch.

So hing Eistaucher dort. Ihm wurde kalt, und seine Beine wurden steif. Er spürte seine Füße nicht mehr, abgesehen von dem leichten Brennen, das Spucke verursachte. Er ließ mit der rechten Hand los, um vorsichtig seinen Rehfellumhang von seiner Hüfte zu lösen und ihn sich über Kopf und Schultern zu legen. Langsam bewegte er den Körper auf und nieder, auf und nieder. Immer wieder wechselte er die Hand im Faustspalt, wenn er sich dort nicht mehr halten konnte. Im Geiste rief er den dritten Atem um Hilfe an. Aber der traf immer spät ein, wenn überhaupt. Er rieb sich an dem dunklen, rauen Felsgestein. Er befand sich unten in einer Höhle. So klein sie auch sein mochte, es handelte sich trotzdem um einen Mutterleib aus Erde, einen Übergang in die Geisterwelt. In deren bemalten Höhlen sah man die Tiergeister tanzen, wenn man die Hand durch die Wände in die Unterwelt drückte. Er versuchte, sich vorzustellen, dass es hier genauso sei, aber in Wirklichkeit befand er sich in einem kalten Loch am hinteren Ende einer kleinen Höhle aus weißem Fels, einem Loch, vor dem ihn sein Vater gewarnt hatte. Es war zu kalt für einen Mutterleib, zu kalt, um ihn auf der anderen Seite wieder zu gebären. Er konnte sich nur festklammern und durchhalten.

In der Finsternis vor ihm verwandelte sich das eckige Gitter roter Punkte langsam in Schnörkel, in Flecken, in Seitenansichten von Bison und Mammut und Pferd und Steinbock, die ihm alle so deutlich vor Augen standen, als hätte man sie von einem sonnigen Grat hierher versetzt. Seine Brüder und Schwestern. Vielleicht hatte er hier in diesem Loch die Wand durchdrungen. Andererseits erschienen ihm die drei Stellen, an denen er sie berührte, noch immer wirklich. Es kam ihm vor, als hielte er drei kalte Hände umklammert, die ihn ihrerseits festhielten, während er im sternenleeren Himmel der Tiergeister schwebte. Pulsierend trieben sie vor ihm dahin.

Seine Kraft schwand. Ich hielt ihn eine ganze Weile an der Wand des Loches fest.

Ich bin der dritte Atem

Ich komme zu dir

Wenn dir sonst nichts geblieben ist

Etwa zwanzigzwanzigzwanzig Atemzüge später schien es oben heller zu werden. In die Schwärze schien sich nun ein klein wenig Weiß zu mischen, wie ein Tropfen Blut in einem Fluss. Bald folgten weitere helle Tropfen, und dann kam auch etwas Farbe hinzu, das Grau erinnerte nun an die Farbe des Bluts in seinen Lidern, wenn er die Augen fest zukniff. Als er den Kopf herumdrehte, meinte er, das Rinnsal zu sehen, das hinter ihm an der Wand hinablief.

Ah, ja: Er erinnerte sich an den Weg nach oben. Erst der Vorsprung, bei dem er das Knie über die Hüfte heben musste, um ihn mit dem linken Fuß zu erreichen; dann der Handgriff; dann der höhere Tritt; und dann konnte er nach einem Vorsprung am Rande des Lochs fassen, den anderen Arm vorstrecken und die Finger in die Spalten auf dem Höhlenboden stecken wie Zedernwurzeln. Und sich hochziehen, hochziehen in die Faust vor Sonnenaufgang. Auf den Sims hinauskriechen und in die graue Schlucht hinabblicken. Sie war leer, abgesehen vom vereisten Fluss, der sich wie ein gewaltiges Lebewesen unter einer Decke aus Eis und altem Schnee durch sie hindurchschlängelte. An diesem stillen Morgen waren die schwarzen Spuren glatt. Nichts sonst regte sich. Ein Eichhörnchen führte Selbstgespräche; nichts Großes und Schreckliches konnte an einem solchen Morgen auf der Pirsch sein. Der Himmel hatte seine Sterne eingebüßt und war von dem Grau, das entweder aus Wolken oder aus klarer Luft bestehen konnte, in diesem kurzen Moment, bevor sich das eine vom anderen unterscheiden ließ.

Ein rosiger Hauch unten in der Schlucht ließ erahnen, dass die Sonne bald aufgehen würde. Mit einem Mal erkannte er, dass der Himmel klar war, wolkenlos. Eistaucher ballte die rechte Faust, mit der er sich die meiste Zeit über festgehalten hatte, und spürte das Ächzen ihrer Muskeln. Er streckte und bewegte die Finger, verdrehte die eine Hand mit der anderen. Mit dieser Rechten hatte er die Nacht überlebt. Und als das Tageslicht heller wurde, kam es ihm zunehmend unwahrscheinlich vor, dass der Löwenmann mit den Eulenaugen noch unterwegs sein sollte; oder dass es ihn überhaupt geben sollte. Obwohl er in der Nacht eindeutig existiert hatte.

Jetzt, wo er sehen konnte, erschienen ihm die Simse, über die er in die Höhle gelangt war, beunruhigend schmal. Mit seinen steifen Gliedern kroch er über sie hinweg wie eine Eidechse, ein roter Wassermolch, jede Hand und jeden Fuß sorgfältig setzend. Dann kletterte er die zugewucherte Spalte zum Rand der Schlucht hoch. Von dort konnte er zum Pfad zurückkehren und seinen Marsch ins Obertal fortsetzen. Er musste sich auf dem Weg zum Lager den ganzen Tag Zeit lassen, damit er nach Einbruch der Dunkelheit zurückkehren konnte, bei Vollmond. Das war viel Zeit. Er wusste genau, wo er sich befand.

Das Tageslicht vertrieb seine nächtlichen Ängste. Die Luft war kühl und klar. Überall auf der Haut, in seinen Muskeln und Knochen, verspürte er ein Kribbeln. Die Bäume trieben vor seinen Augen ihre Blätter aus, und die Farben des Tages strömten immer strahlender auf ihn ein. Eine Brise ließ alles in der Luft auf und ab wippen, und in seinem Innern tat sich etwas auf. Er wusste, dass er überleben und zum Mann werden würde, einem Mann auf dieser Mutter Erde, die so groß und so schön war. Ja, es gab dort draußen auch Schrecken, wohl wahr, aber der heutige Tag war etwas Gewaltiges, er war größer als jeder Schrecken. Er hatte das Gefühl, als sammelten sich in seiner Brust Wolken wie vor einem Gewitter. Eichhörnchen priesen den Tag mit ihrem Keckern und Zirpen, und das Wasser des Obertals gurgelte und spritzte durch sein eisiges Bett, an dessen Rand das sonnenbeschienene Moos sich frühlingsgrün und saftig vom alten Schnee abhob.

Als er an einem Rinnsal aus Schmelzwasser vorbeikam, hockte er sich zum Trinken hin, und Kreuch gesellte sich zu ihm. Kreuch hatte schlechte Laune. Nach dem letzten Sims hatte Eistaucher Ständer wieder an sich genommen, und jetzt diente er ihm zusammen mit einem weiteren Gehstock, den er auf dem Weg aufgelesen hatte, als Verlängerung der Arme. Er war wieder zu einem vierbeinigen Tier geworden, mit sehr langen, zweigelenkigen Vorderbeinen. Das kalte Schmelzwasser schwappte in seinem leeren Bauch und besänftigte das Kribbeln in seinem ganzen Körper, bis er sich wieder treiben lassen, faul wie ein Leopard einhergehen konnte, dem Auf und Nieder der Steine unter seinen Füßen folgend. Er bewegte sich so langsam, dass er sich eigentlich überhaupt nicht bewegte, und das Blau des Himmels wogte hoch über ihm und stieg immer höher, wurde immer blauer. Alle Wolken dieses Tages waren in seinem Innern.

Es war ein Tag für Tiere. Um den vierzehnten Tag des vierten Monats wurden die Tage schnell länger, die Sonne stand höher am Himmel, die Frühlingswärme vergoldete die Luft der Welt. Wo noch Schnee lag, schmolz er nun. An einem solchen Tag fühlte sich jedes Wesen gut, alle kamen heraus, um Nahrung zu suchen und sich umzuschauen. Auf den Pelzen der Tiere war der Glanz der Götter zu sehen, die in ihrem Innern wohnten.

Auf seinen vier Beinen stieg Eistaucher ein wenig benommen ins Tal hinab. Im Obertal gab es einen schmalen Weg, der oberhalb des mit Erlen zugewucherten Bachbetts und unterhalb der felsigen, verschneiten Talwand verlief. Zu diesem Weg stieg Eistaucher hinab, er schwebte nach unten. Dort angekommen, setzte er sich hin und machte Rast, und er spürte, wie Mutter Erde sich unter ihm drehte, wie der Boden sich mit ihrem Atmen hob und senkte. Der schmale Weg war größtenteils grasbewachsen, und dort, wo Seitenbäche über ihn hinwegplätscherten, von dunkelgrünen Seggen- und Moosstreifen durchzogen. Jedes Wesen, das auf dem Weg ins Tal war oder von dort aufstieg, kam hier entlang, und an matschigen Stellen sah Eistaucher alle möglichen Huf- und Pfotenabdrücke.

Um Mittag erreichte er eine weite, offene Ebene, eine Wiese, auf der der Bach sich verlangsamte und durch grasgrünes Schilf schlängelte. Eistaucher hielt sich an die östliche Talwand, die hier aus versetzten Felshängen bestand, mit Bäumen auf den Simsen dazwischen. Hier fühlte er sich sicher, und als eine kleine Bisonherde am oberen Ende der Wiese auftauchte und sich auf den Weg stromabwärts machte, versteckte er sich hinter einem Baum, um sie zu beobachten. Sie wirkten vorsichtig und schreckhaft, als würden sie gejagt, und schon bald waren sie wieder außer Sicht. Der Bison war Dorns Tier, was passte, weil Bisons genauso eingebildet und selbstgerecht waren wie er.

Jetzt herrschte wieder Ruhe im Tal, und die Eichhörnchen keckerten und sausten umher. Am Himmel zog ein Falke faul seine Kreise, einer der wenigen Vögel, die so früh im Jahr schon hier waren; er flog weit über den Fichtenwipfeln, nur scheinbar zu hoch zum Jagen. Manchmal stießen Falken von so weit oben auf ihre Beute herab, dass man sie erst als Punkt sah, wenn sie sich bereits im Sturzflug befanden. Ein stiller, warmer Nachmittag, nicht so klar, wie der Morgen es gewesen war, aber immer noch beinahe wolkenlos. Eistauchers Magen zog sich zusammen, und er fühlte sich etwas schwach. Das Gefühl zu schweben rührte nun weniger von Erleichterung her, sondern mehr von seiner Benommenheit. Mit jedem Herzschlag wichen die Bäume zurück, um dann wieder näher zu kommen, und eine Wolke von Bienen um ihren Stock warnte ihn mit lautem Brummen, dass er sich besser nicht an ihrem Honig vergehen sollte. Obwohl, ein kleines bisschen Honig … wenn er einen Stein nach dem anderen warf, die Bienen wegscheuchte, den hohlen Baum aufbrach, Wasser auf sie spritzte und sie ausräucherte … aber nein. So etwas ging wirklich nur mit Rauch. Alles andere würde sie nur wütend machen, sodass der ganze Schwarm ihn attackieren würde, wie es ihm schon einmal passiert war. Und wenn zu dem Summen in seinem Inneren auch nur ein einziger Bienenstich hinzukam, würde er aus der Haut fahren.

Bedauernd ließ er den Bienenstock hinter sich und setzte seinen Weg stromabwärts fort, langsamer, als das Wasser durch die Wiese floss. Als der Bach die Wiese hinter sich gelassen hatte und einen bewaldeten Hang hinabrauschte, bewegte er sich von Baum zu Baum, wobei er dann und wann an einem Stamm ausruhte, wie an einen Freund gelehnt. Sie stützten ihn, wie Freunde es taten.

Die Nachmittagsschatten wurden allmählich länger. Inzwischen war er dicht genug bei der Balme seines Rudels, um anzuhalten und unter einen Baumstamm zu kriechen. Mit einem Mal holten seine schlaflosen Nächte ihn ein, und er konnte die Augen nicht mehr offen halten. Er hoffte nur, dass nichts Hungriges durch das Tal kommen würde, während er schlief. Selbst wenn man zwanzigzwanzig Tage unterwegs ist, kann man auf den letzten Metern immer noch Mist bauen. Aber jetzt war es zu spät, er konnte sich der Müdigkeit nicht erwehren. Schlaf mit einem offenen Auge.

Als er erwachte, war es nur eine Faust über Sonnenuntergang. Er zog sich hoch und wischte mit den Händen Laub und Erde von sich. Dann ging er an den Fluss und wusch sich das Gesicht. Dabei fiel ihm ein Brocken Erdblut im Wasser auf, den er erfreut herausfischte. Wenn er mit einem festeren Stein darüberkratzte, konnte er aus ihm genug Rot für eine Gesichtsbemalung gewinnen. Seine Halskette aus Rehzähnen hatte er noch immer und sein Stück Wurzelholz, aus dem er einen Löwenmenschen geschnitzt hatte, der ihm nun bei näherer Betrachtung einen kleinen Schauer über den Rücken jagte; und auch seine Kleider und seinen Umhang aus Rehfell. Mit dem Erdblut würde er Punkte auf seinen Umhang tupfen und auf seine Wangen und seine Stirn. Ein Leopardenmuster, das bei seinem Einzug ins Lager Eindruck machen würde. Er würde abgemagert, geschwächt und verletzt sein, aber eingekleidet und nicht krank. Am Leben. Er dachte darüber nach, Ständer und seinen anderen Stock wegzuwerfen; aber dann hätte er humpeln müssen, weil Kreuch sich inzwischen bei jedem einzelnen Schritt lautstark beschwerte. Wenn er wollte, konnte er die Stöcke immer noch kurz vor seiner Ankunft fortwerfen und sich auf den letzten paar Metern zwingen, nicht zu humpeln.

Im letzten Sonnenlicht überquerte er die Gewundene Au und stieg langsam den Gewundenen Berg hinauf. Von oben konnte er in die Talschüssel hinabsehen, in der seine Leute wohnten, und über den Strom der Großen Schlucht bis hin zu den umliegenden Höhenzügen blicken, sah die Sonne unter- und den Mond aufgehen. Das Lager befand sich dort unten, unter der Balme am Fuß des Höhlenberges. Bei Einbruch der Nacht konnte er einfach hinuntergehen. Es fügte sich alles zusammen, so, wie er es sich in den schlaflosen Nächten seiner Wanderschaft zurechtgelegt hatte. Als er hinabblickte, sah er den Rauch des Lagerfeuers, der sich zwischen den Bäumen emporkräuselte. Ah, ja!

In diesen letzten Augenblicken des Tages, als das Sonnenlicht schräg durch die Schlucht auf den Fluss fiel, regte sich etwas auf dem von ihm aus gesehen ersten Grat Richtung Westen. Er sah, dass es sich um ein schwarzes Pferd handelte, das dastand und sich umblickte. Das heilige Tier, das schönste aller Tiere.

Das Pferd stand alleine und betrachtete genau wie Eistaucher den Sonnenuntergang. Eistaucher nahm das Stück Erdblut aus seiner Gürteltasche und kratzte mit den Fingernägeln über die Oberfläche, bis ein paar Flocken davon in seine Handfläche fielen. Er spuckte darauf und zerrieb sie zu einer Paste, mit der er sich Streifen auf die Stirn und unter die Augen malte. Dann verneigte er sich vor dem Pferd, und das Pferd erwiderte die Verbeugung, hob seinen Kopf und senkte ihn wieder, heben und senken. Die Sonne strahlte das Gottestier fast von unten an. Ein langer, schwarzer Kopf, so wohldefiniert, so grazil. Im Namen des Landes bezeugte es das Ende von Eistauchers Wanderschaft. Einmal scharren, dann heben und senken. Es warf seinen Kopf von einer Seite auf die andere, während es Eistaucher aus dunklen Augen beobachtete, zwischen ihnen die weite Leere. Seine schwarze Mähne war kurz und stand aufrecht, sein schwarzer Leib gewölbt und stark.

Und dann, ohne Warnung, warf das Pferd den langen Kopf zurück, hoch und der Sonne entgegen, und diese Bewegung trat so deutlich aus der trennenden Leere heraus, brannte sich so in seine Augen ein, dass er die Lider schließen und sie erneut sehen konnte; Eistauchers Augen quollen über, ihm liefen die Tränen übers Gesicht, und Kehle und Brust schnürten sich ihm zu. Bebend legte er sich die Hand aufs Herz. Das Pferd wandte sich ab und galoppierte in langen Sätzen hinter den Grat außer Sicht. Ein letztes Mal blitzte die Sonne auf seiner schwarzen, abstehenden Mähne auf. Eistaucher wandte den Blick ab. Noch immer musste er die Tränen fortblinzeln, und für eine Weile fürchtete er sich fast davor, erneut nach Westen zu blicken. Er kniff die Augen zu und sah, wie sich auf den Innenseiten seiner Lider alles noch einmal abspielte. Wie der Kopf den restlichen Körper in die Drehung führte, so elegant, so geschmeidig. Wie das letzte bisschen Sonnenlicht die Große Schlucht erfüllte und auf dem schwarzen Leib schimmerte wie auf Krähenflügeln. Mächtige Schultern und lange Beine.

Die Sonne berührte den Horizont und ging langsam unter. In diesem Moment leuchtete ein Fleck am östlichen Horizont in hellem Weiß auf und wurde breiter: Der Mond ging auf. Zeitgleich mit der untergehenden Sonne stieg er über den Horizont. Als Eistaucher die beiden beobachtete und zwischen ihnen hin und her schaute, hatte er das Gefühl, sich zwischen ihnen auszudehnen, und er spürte, wie der Himmel über Mutter Erde hinwegbrandete. Die Sonne ging unter, der Mond ging auf, und alles war Teil eines großen Flugs. Heute war also wirklich die Vollmondnacht.

Und als der Mond sich vom Horizont löste und am blauen Himmel hing, war ein ungebrochener, heller weißer Kranz um ihn herum zu sehen, wie es bei einem wahren Vollmond sein sollte. Als Eistaucher das klar wurde, schien sich die Welt in etwas Gewaltiges zu verwandeln, zu groß, um es zu begreifen. Ach, dass das ein Ende haben musste! Würde er je wieder so lebendig sein, würde die Welt je wieder so schön sein wie in diesem Augenblick?

Nein. Niemals. Das war unmöglich. Dies war sein Augenblick, der ihm ganz allein gehörte, das Ende seiner Wanderschaft, der Höhepunkt seiner Kreisbahn. Niemals würde dieser Moment wiederkehren. Heute war er ein Mann, der den Segen eines Pferds empfangen hatte. Morgen würde er wieder Teil seines Rudels und Dorns Lehrling sein. Was wäre dann übrig von diesem überwältigenden neuen Gefühl? Würde er sich daran erinnern können?

Das kam ihm sehr unwahrscheinlich vor. Aber es blieb abzuwarten. Er musste nach Hause zurück. Und ziemlichen Hunger hatte er auch.

In der Abenddämmerung sortierte er seine Sachen und zog die Linien in seinem Gesicht und auf seinen Handflächen nach. Mit beiden Stöcken in den Händen stieg er zum Lager hinab. Alles, was er sah, war vom Licht des Vollmonds übergossen. Im letzten Moment beschloss er, nur seinen zweiten Stock wegzuwerfen. Ständer war ihm ein zu guter Freund geworden, stabil und verlässlich. Sein oberes Ende hatte den Schweiß von Eistauchers Hand aufgesogen, und das untere war von den vielen Malen, die er ihn auf den Felsboden aufgesetzt hatte, gerade richtig gerundet. Sein Einzug ins Lager würde beweisen, wie gut er sich trotz Kreuch geschlagen hatte und dass ihn nichts bei seiner Wanderschaft hatte aufhalten können.

Fast den ganzen Abstieg über sah er das Feuer. Sie ließen es hochlodern, um ihn willkommen zu heißen. Das Bienensummen erfüllte ihn wieder, und auch in seinem Innern schien ein Feuer zu brennen, während er den Hügel hinabschwebte. Er rückte seine Kleider zurecht und hoffte, dass seine Gesichtsbemalung gelungen war. Andernfalls sah er vielleicht nur aus, als wäre er gerade gemordet worden. Aber auch das wäre in Ordnung. Er war tatsächlich gestorben und kehrte als ein anderer zurück. Dieses Gefühl war so stark, dass sie es ihm mit Sicherheit ansehen würden.

Die schwarzen Bäume, die die Krümmung der Au markierten, pulsierten vor dem Himmel, als wollten sie davonfliegen und würden von ihren Stämmen am Boden festgehalten, während sie mit allen Ästen zogen. Eistaucher selbst schwebte praktisch völlig schwerelos durch die Luft, setzte Ständer im absoluten Gleichtakt mit seinen Füßen auf, irgendwo zwischen Landen und Abheben. Mir geht es gut, sagte Kreuch zu ihm, ich tue, was immer du von mir willst, ich bin heute Abend überhaupt nicht da, mach’s gut und bis später. Zufrieden konzentrierte Eistaucher sich darauf, seinen dreibeinigen Gang möglichst geschmeidig zu gestalten, als Tanz zum Lager seines Rudels hinab. Flackernd schien das Feuer zwischen den Bäumen hindurch und versuchte, wie alles andere in dieser Nacht, davonzufliegen. Der Mond über den Bäumen war noch immer riesig und herrlich weiß um die Ränder; einen volleren Mond konnte es nicht geben. Der volle Mond des vierten Monats: Nun war es wieder so weit. Der Hungermonat war vorbei und der Sommer nicht mehr fern. Die Kaninchenfrau im Mond rührte in ihrer Schüssel mit Erdblut, mit dem sie die Morgendämmerung malen würde. Sie legte sich mit ihrem ganzen Körper in die Bewegung, und obwohl man ihren Kopf von der Seite sah, erkannte Eistaucher, dass sie nach links blickte, um seinen Weg ins Tal hinab zu verfolgen. Den kommenden Morgen würde die Kaninchenfrau wahrhaftig für ihn malen, denn sie würden die ganze Nacht wach bleiben und feiern.

Er betrat das Lager, und im letzten Moment wurde ihm klar, dass er sich nicht angekündigt hatte und die anderen vielleicht erschrecken würde, also stieß er den leisen Tuut-tuut-Ruf aus, den seine Namensvettern von sich gaben, wenn sie nach einem Tauchgang wieder an die Oberfläche kamen und ihre Freunde suchten.

Seine Leute hörten ihn und brachen in Jubel aus. Die Männer heulten wie Wölfe und kamen hervor, um ihn zu begrüßen. Breit grinsend riefen sie seinen Namen. Eistaucher ließ Ständer fallen, und sie hoben ihn auf und trugen ihn auf den Schultern ans Feuer. Eistaucher war froh, dass er längst leer geweint war; er war voll und zugleich leer, konnte sie alle mit einem gelassenen kleinen Lächeln beobachten. Es war ein großes Freudenfeuer. Alle Frauen und Mädchen und Jungen riefen seinen Namen und umarmten ihn nacheinander, ununterbrochen wurde er von vielen Händen berührt, und die Frauen behängten ihn mit ihren schönsten Pelzmänteln.

Selbst Heide lächelte für einen Moment, bevor sie den zahnlosen Kopf einzog und davoneilte, um mit einer Schüssel heißem Fichtentee und einigen kleinen Honigkörnerküchlein zurückzukehren.

— Iss nicht zu schnell zu viel, warnte sie ihn und klang dabei wie gewöhnlich. — Wie hast du dich da draußen geschlagen, geht es dir gut?

— Ich habe mir den Knöchel verstaucht, gab er sofort zu. — Irgendwas ist damit immer noch nicht in Ordnung.

— Ah. Sie warf Dorn einen bösen Blick zu. Von den Wanderschaften der Männer hielt sie genauso wenig wie von allen anderen unnötigen Risiken.

Dorn beachtete sie nicht. Er war selbst damit beschäftigt, Eistaucher eingehend zu mustern. Seine Miene war undurchschaubar, und Eistaucher wandte sich den anderen zu. Doch dann kam ihm das falsch vor. Es erinnerte ihn zu sehr an früher. Er wollte nicht in seine alten Gewohnheiten des Rudellebens zurückfallen, vor allem nicht, was Dorn betraf. Obwohl er sehr erleichtert war, wieder hier unter den anderen zu sein. Was war das wohl für ein Leben als Waldmann oder Reisender, wenn man Tag und Nacht gejagt wurde, niemals in seiner Wachsamkeit nachlassen und mit niemandem reden konnte?

— Erzähl uns davon!, riefen alle durcheinander. — Erzähl uns, was du getan hast, was dir widerfahren ist!

— Wartet einen Moment, sagte er und kehrte in die Gegenwart am Feuer zurück, überwand etwas, was ihm wie ein gewaltiger Abgrund an Zeit vorkam. Es war schwer. Er musste sich sammeln. Da waren so viele Gesichter, und jedes kannte er so gut wie die eigene Handfläche.

— Tja, in der ersten Nacht, bei dem Unwetter, habe ich kein Feuer in Gang bekommen.

Sie stöhnten und lachten, als sie das hörten.

— Also musste ich die ganze Nacht lang tanzen, um mich warm zu halten.

— Ach, so ein Pech! Viele Männer lachten ihn aus, und viele lachten mit ihm. — Ich hasse es, wenn das passiert!

— Am nächsten Tag habe ich dann ein Feuer in Gang bekommen. Er holte tief Luft, und als die anderen das sahen, verstummten sie, und alle Blicke richteten sich auf ihn:

— Und bei diesem Feuer blieb ich drei Tage.

Ich aß Fisch und alte Beeren und Lauchzwiebeln,

Und ich sah zwei Bären ein Reh angreifen,

Und sie stritten sich um die Beute,

Und als sie damit fertig waren,

Machte ich mich mit einem Stück davon — viel war es nicht.

Damit ließ sich schon etwas anfangen.

Doch ein Steinbock zerriss meine erste Schlinge,

Und es dauerte, bevor ich etwas Neues fand.

In meiner dritten Schlinge verfing sich ein Reh,

Sie hielt, und ich tötete es.

Aus seinem Fell machte ich mir Kleider,

Und ab da ging es mir ziemlich gut.

Aber dann begegnete ich ein paar Alten.

Ihr müsst wissen, dass es da oben Alte gibt …

Und einige der Männer und auch Heide nickten mit aufgerissenen Augen. Eistaucher warf immer wieder Blicke in Salbeis Richtung, denn vor allem ihr erzählte er seine Geschichte, ihr und Heide und natürlich Dorn:

— Sie machten Jagd auf mich,

Ich rannte um mein Leben

Und watete im Bach der Oberen Klamm.

Ich entkam, doch verletzte ich mich am Knöchel,

Sodass ich einen guten Unterschlupf brauchte

Und ihn in der Krone eines geborstenen Baumes fand.

Als es meinem Bein besser ging, verließ ich mein Versteck

Und machte mich auf den Weg zurück hierher,

Und als ich sah, dass mir noch zwei Nächte bevorstanden,

Aß ich eine Hexenmütze und Beifußblätter.

Die letzten Worte richtete er direkt an Dorn, doch der schüttelte den Kopf. — Davon kannst du mir später erzählen, sagte er. — Das ist Schamanensache.

— In Ordnung, sagte Eistaucher. Obwohl das Folgende die bei Weitem herausragende Nacht seiner Wanderschaft gewesen war und eine gute Geschichte abgegeben hätte. Er beschloss, sie später zu erzählen. Jetzt war kein guter Zeitpunkt, um sich dem Alten zu widersetzen. Oder vielleicht doch?

Eistaucher überlegte. Aber ja, jetzt erkannte er, worum es Dorn ging. Er wollte nicht erzählen, welche Angst er vor dem Ding am Flussufer gehabt hatte; er hätte es ohnehin nicht vermitteln können, also hätte er auf die eine oder andere Art lügen müssen. Und bislang hatte er nicht gelogen.

Er sah, dass Dorn ihn genau beobachtete, um festzustellen, ob er begriff, warum er über das Ding in der Nacht schweigen sollte und über sein Entsetzen; er wollte sehen, ob Eistaucher sich verändert hatte oder nicht, und wenn ja, in welcher Weise. Aber nicht nur Dorn konnte eine versteinerte Miene aufsetzen, und so erwiderte Eistaucher seinen Blick einfach, glücklich über die Wärme des Freudenfeuers und den Anblick von Salbei dort im Feuerschein. Noch immer schien alles um ihn herum auf und ab zu hüpfen, zu erblühen und in den Himmel davonfliegen zu wollen, und nun sprangen auch die Menschen des Wolfsrudels, von ihrem inneren Feuer in Brand gesetzt, auf und ab, und jedes Gesicht spiegelte in vollkommener Weise den Charakter seines Besitzers wider, quoll über von dem jeweiligen Selbst, und er war wieder unter ihnen; und obwohl das Ärger mit sich brachte, war es die beste Art von Ärger, die es gab.

Selbst die reizbare Heide war froh, ihn wiederzuhaben, das sah er ihr an, und einmal, als sie bei einer ihrer ständigen Besorgungen nah am Feuer vorbeikam, streckte er einen Arm aus, um sie festzuhalten und sie an sich zu ziehen, weil sie die Einzige war, die ihn nicht umarmt, sondern ihn nur an der Hand berührt hatte. — Ich habe es geschafft, sagte er.

— Ja, ja, du hast es geschafft, antwortete sie und drückte ihn kurz an sich, bevor sie weiterging. — Jetzt bist du zwölf.

Загрузка...