Am siebten Tag des siebten Monats traten sie ihren Som mermarsch an, durchwanderten das Obertal, zogen über die Hochheide Richtung Norden, querten drei kleine Spalten und erreichten schließlich das Lier-Tal. Jeder trug einen Sack auf dem Rücken; einige dieser Säcke waren an Holzgestelle mit Schultergurten gebunden, auf denen sie schwerere Lasten und die neuen Kinder trugen, die noch zu klein für einen Namen waren.
Die Flusstäler und ihre Seitenschluchten waren oft mit Gestrüpp zugewuchert oder von Geröllfeldern versperrt, weshalb sie fast die ganze Zeit über die Grate wanderten. Die dortigen Pfade wurden offenbar schon seit Urzeiten benutzt, so gut, wie sie markiert waren. Wann immer sie auf ihrer Reise die besten Wege fanden, zeigte sich, dass es dort schon Pfade gab, die manchmal knöcheltief ausgetreten waren. Wenn der Pfad über felsigen Grund verlief, dann markierten Steinmänner den Weg — mal waren es nur zwei oder drei übereinandergeschichtete Felsbrocken, manchmal Haufen, größer als ein Mensch, in denen sich zahlreiche sorgfältig aufgeschichtete, verschiedenartige Figuren fanden. Wo es Bäume gab, ließen sich zudem an Äste gebundene bunte Schnüre entdecken.
Auf dem letzten Pass kurz vor dem Lier-Tal kamen sie an eine Quelle — sie entsprang mitten auf dem Pass, der sich hier verbreiterte. In den meisten Sommern, in denen sie hier vorbeikamen, lief ihr Wasser zu beiden Seiten in die Täler ab. Um diesen Quellteich mit seinen zwei Abflüssen herum war die Wiese von Huf- und Pfotenabdrücken zerwühlt. Dort tranken sie und stiegen dann ins Lier-Tal ab, weil es angeblich gefährlich war, an dieser Quelle sein Lager aufzuschlagen.
So erreichten sie im letzten Tageslicht am Ende des langen Sommernachmittags ihren traditionellen Lagerplatz für die erste Nacht. Hier machten sie jedes Jahr halt, wenn sie nicht von irgendwelchen Widrigkeiten aufgehalten wurden. Von hier aus hatten sie freie Sicht nach Norden und Westen, und die Abendsonne fiel schräg über die nächstgelegene Eiskappe, die ein gutes Stück über den westlichen Höhenzug ragte. Es handelte sich um die nördlichste der vier Eiskappen auf dem höchsten Stück Hochland westlich der Urdecha. Selbst im Sommer waren sie da, glatte, verschneite Hügel, die dort, wo das Eis bloß lag, sahnig blau aussahen. Die beiden kleinsten Kappen, die weiter im Süden lagen, nannten sie die Eiszitzen, und die beiden größeren im Westen und Norden waren die Großen Eiskappen. Wann immer die Leute vom Wolfsrudel diese beiden Kappen sahen, wussten sie, dass sie unterwegs zu den Lachsen und Rentieren waren, weshalb sie bei ihrem Anblick der plötzliche Schauer der Ferne überlief und sie mit dem Wissen erfüllte, dass nun die Zeit im Jahr gekommen war, in der sie über die große, weite Welt zogen, wie all die anderen Tiere es im Sommer auch taten, unterwegs von einem Ort zum anderen, auf der Suche nach einem Platz zum Leben.
Am dritten Tag ihrer Reise schoben sich tief hängende, dunkle Wolken, getrieben von einem kalten Wind, über den westlichen Horizont. Die meisten Grate führten nun bergab und Richtung Norden. Sobald sie die nördlichsten Ausläufer dieser Höhenzüge erreicht hatten, würden sie die freie Steppe betreten, aber im Moment befanden sie sich noch in den Hügeln, auf einem ausgesetzten Gratweg, und das Sommergewitter nahte auf einem rauen, nassen Wind. Also machten sie an diesem Nachmittag früh halt und stiegen in eine geschützte tiefe Schlucht im Osten hinab, wo sie Äste von den Bäumen schlugen und sich in einem Wäldchen aus Eichen und Schierlingstannen, Eiben und Weißfichten einen Windschutz errichteten. Für den Sommer war es ein heftiger Sturm, aber so etwas kam eben vor.
Als sie alle unter einem Schutz aus gewobenen Kiefernästen Zuflucht gefunden hatten, fachten sie die Glut, die sie vom Feuer der letzten Nacht mitgenommen hatten, wieder an, schmiegten sich aneinander und aßen einige ihrer letzten Nüsse und die frisch gefangenen ersten Enten des Sommers, die direkt vom Feuer köstlich schmeckten. Schiefer und Steinbock sowie mehrere andere Männer machten sich auf, um Schlingen auszulegen und in den einen oder anderen vielversprechenden Bau zu spähen. Dorn und Heide kümmerten sich um das Feuer, und angesichts der bevorstehenden Nacht richteten sie ein langes, heißes Glutbett her, neben dem sie alle schlafen würden. Die Wolken wogten immer dichter heran, bis es aussah, als wäre es Nachmittag oder Abend. Als die Nacht schließlich hereinbrach, fielen kleine Schneeflöckchen seitlich mit dem Wind, segelten über die Äste ihres Wäldchens und den Rauch des Feuers hinweg. Es würde eine stürmische Nacht werden.
— Der Unaussprechliche sollte die Geschichte davon erzählen, wie die Tiere sich den Sommer geholt haben, sagte Heide zu Dorn. — Die erzählt er auf dieser Reise immer.
— Erzähl du sie, sagte Dorn missmutig. Bei unerwarteter Kälte taten ihm immer die Knochen weh.
— Am Anfang ging der Himmel bis zum Wasser runter, sagte Heide in ihrem rauen, unwirschen Tonfall, als erzählte sie eine Geschichte, von der sie nichts hielt.
Immer war es Winter.
Die Eichhörnchenmutter kam weinend aus dem Baum.
Vom gefrorenen Waldboden sammelte sie ihre Kinder.
Das geschah ihr immer wieder.
Der Winter ist zu kalt, sagte sie zu den anderen Tieren.
Immer wieder kommt es vor, dass all meine Kinder erfrieren.
Rabe sagte: Wir sollten dem Sommervolk den Sommer stehlen.
Sommer ist auf der anderen Seite des Himmels.
Wir müssen nur ein Loch in den Himmel schlagen
Und mit einem Beutel hindurchsteigen,
Dann können wir den Sommer entführen und hierherbringen.
Und so beschlossen sie, das zu tun.
Um ein Loch in den Himmel zu machen
Legten sie einen Blutegel daran,
Damit er ein winziges Stück herausbiss.
Als Nächstes zwängte sich Vielfraß durch das kleine Loch,
Und mit sich nahm er eine Robbenhaut,
Die als Beutel dienen sollte.
Auf der Sommerseite stellte Vielfraß fest
Dass niemand dort zu Hause war,
Und so stopfte er den Sommer in den Robbenbeutel,
Um ihn zurück auf die Seite der Tiere zu bringen.
Doch da war ein alter Mann, der das Feuer hütete,
Ein alter Mann, der nicht so dumm war wie manch anderer, den ich kenne,
Und der sagte zu Vielfraß, nimm nicht alles mit,
Sonst wird hier immer Winter sein,
Und all die Leute hier werden frieren.
Nimm nur einen Teil davon mit,
Dann wechseln wir uns ab.
Also brachte Faultier nur einen Teil des Sommers zu den Tieren zurück,
Und er öffnete den Beutel, und all die Sommerdinge kamen heraus.
Schon bald schmolz der Schnee, sodass es auch bei ihnen Sommer gab.
So kommt es, dass die Tiere den Sommer haben,
Wenn die Leute den Winter haben. Aber wenn die Leute den Sommer haben
Dann ist es bei den Tieren wieder Winter.
So geht es hin und her, Winter auf der einen Seite,
Sommer auf der anderen. Jedes Mal, wenn die Tiere den Beutel öffnen,
Kommt der ganze Sommer heraus.
— Schön für sie, bemerkte Dorn. Aber heute Nacht werden wir wohl einfach frieren.
— Du musst die Geschichte trotzdem erzählen, sagte Heide. — Was für ein Schamane bist du eigentlich?
Dorn antwortete nicht.
Während des Tages, an dem sie rasteten und auf das Ende des Unwetters warteten, sah Eistaucher, wie Salbei wieder mit Falke redete, und ihm wurde klar, dass die beiden ernsthaft aneinander interessiert waren. Als sie später ihre Reise nach Norden und Westen am Osthang des Lier-Tals hinab fortsetzten, dachte er darüber nach und über das, was Heide über Eifersucht und Neid gesagt hatte, und als sie die nächste Furt erreichten, half er Entchen hinüber. Sie war nach Salbei die Frau in ihrem Rudel, die am besten aussah, und tatsächlich waren viele sogar der Meinung, dass sie die größere Schönheit war, wegen ihrer fülligen Figur, die tatsächlich etwas Entenartiges hatte, selbst jetzt, wo sie erwachsen war. Eistaucher ging davon aus, dass Salbei sich nicht daran stören würde. Aber so hatte er Gelegenheit, Entchen darum zu bitten, dass sie Moos seine Speerschleuder zurückbrachte, in die Eistaucher für ihn einen Pferdekopf hineingeschnitzt hatte. Moos schlug sein Lager immer neben dem von Falke auf, und wenn Entchen ihm seine Speerschleuder brachte, würde Falke sie sehen, und sie würden miteinander reden. So geschah es dann auch. Das gefiel Eistaucher. Er hatte sich gedacht, dass etwas dabei herauskommen würde.
Die Höhenzüge wurden niedriger, und sie passierten morastige, moosbewachsene Senken. Die Frauen sammelten viel von dem Moos und nahmen es mit.
Dann zog erneut ein Unwetter auf, ein wärmerer Sturm diesmal, nass und windig. Während der Wanderschaft hing so viel vom Wetter ab. Sie wollten nicht noch länger Rast machen, also zogen sie ihre Umhänge über ihre Säcke und über die Kinder, die sie trugen, wanderten unter schwarzen, sich immer höher türmenden Gewitterwolken und trotzten dem Wind und den gelegentlichen Hagelschauern. Als im Westen der Donner grollte, schlugen sie schnell ihr Lager auf und kauerten sich aneinander. Es war schwer, das Feuer in Gang zu bringen, und auch, ihre Betten trocken zu halten. Regen war in vielerlei Weise schlimmer als Schnee.
Möglicherweise getroffen von Heides spitzer Bemerkung am Vortag, streckte Dorn die Hände ans Feuer und stimmte ein Gedicht an:
Schwermut verbreitet der Schatten der Nacht,
Von Norden weht er heran.
Der Boden ist nass und kalt.
Der Hagel, die kälteste Saat, fällt herab
Und vergällt den armseligen Leuten das Leben.
Als sie am nächsten Tag einem Höhenzug nach Norden und Westen folgten, gelangten sie an einen Vorsprung, von dem aus sie bis zum großen Salzmeer blicken konnten. Gewaltig wie immer, von einem sonnenbeschienenen Blau, das überhaupt nicht dem des Himmels oder irgendeinem anderen Farbton ähnelte. Es war ein Ehrfurcht gebietender Anblick.
Der Höhenweg bog nach rechts ab und führte weiter Richtung Norden, folgte den Hügeln am Rande einer flachen Küstenebene, die sich bis zum großen Salzmeer erstreckte. Der Weg über die Hügel war nicht besonders beschwerlich, und dann und wann gab es Plateaus, auf denen man lagern konnte und eine gute Sicht hatte. Das größte Problem bestand darin, die Flüsse zu überqueren, die auf ihrem Weg nach Westen zum Salzmeer hier und dort die Hügel durchschnitten. Doch über die Jahre waren zahlreiche Flöße gebaut, verwendet und anschließend an den besten Fährstellen ans Ufer gezogen worden. In den meisten Fällen konnten sie also über die Flüsse hinüberpaddeln.
Als sie dieses Jahr den ersten großen Fluss erreichten, stellten sie fest, dass er sich an der Stelle, an der sie normalerweise übersetzten, vor verkeilten Baumstämmen staute. Der Damm bestand aus Dutzenden von Stämmen, die meisten davon riesig, und alle waren ineinander verkantet wie die Äste bei einem Biberdamm, nur waren sie sehr viel größer.
— Das muss der Große Biber gewesen sein, sagte Dorn.
Es gab viele Geschichten über die Große Mutter Bisamratte, die Mutter aller Bisamratten, die in ihrem See zwischen hier und den Eiskappen lebte; und die verkeilten Stämme sahen aus wie das Werk eines Bibers von zwanzigfacher Größe, weshalb die Leute über Dorns Witz lachten. Wie auch immer dieser Damm entstanden war, jetzt verfing sich jeder stromabwärts treibende Baum darin, sodass er beständig wuchs. Es war schwer vorstellbar, dass er jemals wieder in Bewegung geraten würde, bevor die Bäume durchfaulten, und da sich die neuen Stämme schneller sammelten, als die alten faulen konnten, sah es ganz danach aus, als würde er so dauerhaft werden wie das Steinbison.
Vorsichtig gingen sie über diesen neuen Damm, von einem glatt geschälten, gesplitterten Stamm zum nächsten: hoch, runter, hoch, wobei sie die Kleinen an der Hand hielten und über hinderliche Äste hoben. Schiefer ging voran und markierte den Weg mit roten Schnüren, und es war ein fester Weg: Nicht ein einziger Baumstamm rührte sich unter ihren Füßen. Genauso gut hätten sie über umgestürzte Bäume auf dem Waldboden gehen können, obwohl sie durch die vielen Lücken zu ihren Füßen den westwärts gluckernden Fluss sehen konnten. Es war seltsam und wunderschön, und später am Feuer sprachen sie noch den ganzen Abend darüber.
Weiter im Norden, draußen auf der Küstenebene, gab es keine Landmarken mehr, wie sie sie nahe ihres heimischen Lagers zur Orientierung verwendeten, weshalb sie mit Worten über ihren Weg sprachen, mit denen sie zu Hause nur über den Wind gesprochen hätten: Sie waren nach Norden unterwegs, auf dem Flachland östlich des großen Salzmeers.
Über ihren Köpfen flogen Gänse in wechselnden Pfeilformationen voran Richtung Norden. Es war nun der zwölfte Tag des siebten Monats, und jedes Lebewesen auf der Erde schien in Bewegung zu sein, einschließlich ihrer selbst. Es war wie eine allgemeine Erregung, die sie tief in ihrem Rückenmark spürten. SOMMER. Sie erwachten bei Morgengrauen und aßen am Feuer, packten ihre Sachen, gingen zum Scheißen und Pinkeln stromabwärts, sammelten die Kleinen ein und machten sich auf den Weg Richtung Norden. Der morgendliche Moment des Aufbruchs war ebenso anstrengend und mit Geschnatter verbunden wie bei den Gänsen, wenn sie flatternd über den See rannten, um sich vom Wasser in die Lüfte zu erheben. Schiefer gab so manche bissige Bemerkung von sich, während er sie antrieb, doch er machte ihnen auch Mut und sorgte dafür, dass den Zurückfallenden geholfen wurde. Auf irgendeine Art war er besonders gut darin, Leute anzufeuern. Er konnte einen dazu bringen, etwas zu wollen, was man vorher nicht gewollt hatte.
Den restlichen Tag über führte ihr Weg sie immer nach Norden, wobei einige junge Männer die Nachhut bilden mussten. Diese Aufgabe übernahm Eistaucher gerne. Er kam besser mit seinem verletzten Bein zurecht, wenn er sich auf dem Weg über die Küstensteppe an die Langsamsten des Rudels anpasste. Das Flachland war von Grasbüscheln übersät und von sumpfigen Streifen durchzogen, und hier und dort gab es Senken voller niedriger Sträucher und knorriger kleiner Bäume. Der Weg war beschwerlich, denn es lag noch immer viel Altschnee, weich und von der Sonne zu unregelmäßigen Höckern abgeschmolzen. Der Pfad verlief immer etwas oberhalb der Sumpflöcher, manchmal auf niedrigen Klippen, von denen man auf das große Salzmeer sehen konnte, manchmal weiter im Inland, auf dem ansteigenden Gebiet zwischen den Furten. Es war ein schneereiches Jahr gewesen, und in einigen der Furten stand das Wasser zu hoch, um sie zu queren, sodass sie die alten Flöße suchen mussten. Dieses Jahr schienen die Flüsse sie jedoch alle fortgeschwemmt zu haben, sodass sie neue bauen mussten. Während einige von ihnen also Treibholzstücke zusammenbanden, liefen ein paar junge Männer auf der Suche nach Essbarem stromaufwärts. Der geringe Erfolg, den sie dabei hatten, machte ihnen klar, wie sehr sie daheim von dem zehrten, was sie in Schlingen und Fallen fingen. Also legten sie jeden Abend Schlingen aus, aber Schlingen funktionierten besser, wenn man mehr Zeit hatte. Sie versuchten, von ihren Jagdausflügen am Tag wenigstens ein paar Eier oder Pilze mitzubringen. Doch sie mussten sich eingestehen, dass sie alle nach wie vor hungrig waren. Die Enten mochten köstlich gewesen sein, aber sie hatten nicht gereicht.
Doch je weiter nach Norden sie gingen, desto weniger Nahrung bot das Land. Am ehesten konnten sie noch von den Flüssen leben. Doch noch gab es keine Lachse und Meerforellen, die zum Sterben nach Hause zurückkehrten. An einer der Furten hing eine Reuse im Wasser, und an beiden Ufern gab es Anzeichen dafür, dass sie oft aufgesucht wurde; doch diesmal trafen sie dort niemanden an.
Als der siebte volle Mond kam, erreichten sie den Fluss namens Renfurt. Es war der Mond, in dem die Rentiere hier eintreffen würden, am westlichen Ende ihrer Jahreswanderung. Letztendlich unternahmen die Rentiere und die Leute vom Wolfsrudel Wanderungen von den verschiedenen Orten, an denen sie im Winter lebten, um hier zusammenzukommen.
Dieses Jahr waren die Rentiere allerdings nirgends zu sehen. Dorn wies das Rudel darauf hin, dass es in einem so schneereichen Jahr länger dauern konnte und dass sie Geduld haben und ihre Zeit damit verbringen sollten, eine gute Rinne herzurichten, durch die sie die Rentiere treiben konnten. Das war alles schön und gut, und sie machten sich mit Hingabe ans Werk, aber trotzdem ging ihr Essen langsam zur Neige. Immerhin hatte es sein Gutes, dass sie wieder auf ihre Nüsse zurückgreifen mussten, weil diese inzwischen nicht mehr nur etwas seltsam nach Wintergärung schmeckten, sondern ernsthaft ranzig; und das stinkende flüssige Fett in ihren Robbenhautbeuteln nahm langsam den Geschmack der Beutel an. Sie brauchten frisches Fleisch, etwas wie die Enten, nur mehr davon. Hoffentlich würden sie es bald bekommen.
Eines Nachts, während sie sich im Rauch eines blakenden Feuers aus Birkenschwamm aneinanderkauerten, der als Einziges die Mücken abhielt, verfiel Dorn in eine Visionstrance, nachdem er seine Mixtur aus Pilzen und Beifuß gegessen und anschließend wie Heides Katze gekotzt hatte. Als die Trance einsetzte, lehnte er sich schnaubend und brummelnd zurück. Niemand störte ihn, während er dalag und seinen Geist auf Reisen schickte.
Am nächsten Morgen kehrte er zu ihnen zurück und erklärte, dass die Rentiere weniger als eine Woche entfernt seien, es aber schwer sei, von so weit oben am Himmel Genaueres zu erkennen. Wie dem auch sei, sie müssten nur noch einige wenige Tage durchhalten.
Dann tauchten Wölfe auf den niedrigen Hügeln flussaufwärts auf. — Seht ihr, sagte Dorn. — Sie sind hier, um uns mitzuteilen, dass die Rentiere schon fast da sind.
— Sie sind hier, weil sie hoffen, sagte Heide. — Sie sagen sich: Die Menschen sind hier, also müssen die Rentiere auch bald kommen.
— Tja, natürlich, sagte Dorn. — Da haben sie ganz recht.
Wölfe und Menschen waren Vettern, genau wie Bären und Stachelschweine oder Biber und Bisamratten. Wölfe hatten den Menschen das Jagen und Sprechen beigebracht. Sie waren noch immer weit bessere Sänger und auch bessere Jäger. Was die Menschen im Gegenzug den Wölfen beigebracht hatten, war umstritten, und es waren verschiedene Geschichten darüber im Umlauf. Wie man Freundschaft schließt? Wie man einander hintergeht und in den Rücken fällt? In manchen wurde das eine behauptet und in manchen das andere.
Dann, eines Abends, als das Zwielicht erlosch und der Fluss neben ihnen der hellste Streifen auf dem dunklen Land war, flog ein großer Uhu über sie hinweg und stieß sein Huh-huh aus, das »ja« bedeutete.
Dorn stand auf und rief: — Sie sind hier! Der Uhu hat sie gesehen, und ich spüre ihren Hufschlag im Boden!
Niemand sonst spürte etwas, und das Land blieb dunkel und leer. Das Einzige, was sich bewegte, war das Band aus Mondlicht auf dem Fluss, und das Glucksen des Wassers war der einzige Laut. Dorn setzte sich brummelnd wieder hin. — Ihr werdet schon sehen, ihr werdet schon sehen. Der Uhu weiß immer Bescheid.
Und am nächsten Morgen kamen sie. Die Ersten rannten platschend in den Fluss und schwammen ans andere Ufer, und dann hielten einige auf der großen Wiese in der Biegung des Flusses an, um altes und neues Gras zu zupfen, das nun unter dem schmelzenden Schnee zum Vorschein kam. Rentiere aßen im Winter besser als im Sommer, weshalb sie jetzt fett waren und noch immer ihr langes Winterfell trugen.
Auf ihrem Sommerzug waren die Rentiere immer schrecklich in Eile. Sie folgten in lockeren Reihen aufeinander, gerieten manchmal unvermittelt in leichte Panik und wurden schneller, um dann wieder ungeduldig zu warten, wenn eine andere Reihe sich vor sie schob, oder sie drängten sich zwischen die anderen, um bloß nicht stehen zu bleiben. Es waren viele Dutzend, die über die Wiese und die umliegenden niedrigen Hügel strömten, und sie rannten dahin wie von einer unbändigen Kraft getrieben. Als sie schließlich anhielten, um Nahrung zu suchen und sich umzublicken, wirkten sie überrascht und voll Unbehagen darüber, dass sie sich nicht mehr beeilen mussten. Sie waren in ihrer Sommerheimat angekommen. Die Rentiere wanderten nach Westen und Osten, im Gegensatz zu den Vögeln, die nach Norden und Süden wanderten. Und wenn sie ihr Sommerziel erreichten, wurden sie jedes Mal von Mücken, Bremsen, Wölfen und Menschen empfangen, alles Rudel, die Gefahr und Schmerzen für die Rentiere bedeuteten und die sie deshalb entweder mit Schwanzschlägen verscheuchten, sie mieden oder denen sie sich in Reihen breitbrüstiger Bullen mit gesenkten Köpfen und spitzen Geweihen entgegenstellten. Niemand wusste genau, warum sie herkamen, aber es hieß, dass ihre Sommernahrung hier am frühesten wuchs.
Das Wolfsrudel wandte fast immer die gleiche Technik am gleichen Ort an, um Rentiere zu fangen und zu töten. Manchmal sagte Dorn, dass man es seit den alten Zeiten so mache, aber dann behauptete er wieder, dass er selbst als Kind darauf gekommen sei, als er beobachtet habe, wie die Männer durch die Steppe rannten und die Tiere einzeln zur Strecke brachten.
Die Steppe war hier zwar so eben wie überall sonst auch, aber nach Norden hin verliefen niedrige Hügelketten, und überall lagen Felsbrocken herum. Viele waren zu groß, um sie von der Stelle zu bewegen, aber es gab auch natürliche Mauern aus kleineren Felsen, und manchmal verliefen zwei davon nebeneinander. Wie immer suchten die Leute vom Wolfsrudel sich eine dieser Doppelreihen und räumten den Boden zwischen den beiden kniehohen Wällen frei, sodass ein verlockend bequemer Durchgang entstand.
Die zu Dutzenden eintreffenden Rentiere zogen ähnlich wie ein Gänseschwarm durchs Land, in lockeren Reihen von etwa zwanzig Tieren. Manchmal schlossen sie sich anderen Reihen an oder teilten sich auf, wenn das Gelände sie in diese oder jene Richtung drängte. Sie hatten es alle eilig, obwohl keines von ihnen wusste, wohin sie eigentlich wollten. Bedachte man den weiten Weg, den sie zurückgelegt hatten — sie kamen viele Tagesreisen aus dem Norden und Osten, und niemand konnte mit Gewissheit sagen, wo sie überwinterten —, trabten sie in höchstmöglichem Tempo, schneller, so schien es, als es sich auf Dauer durchhalten ließ. Sie waren starke und schnelle Geschöpfe, deren Schwerpunkt weit vorne lag wie bei Nashörnern, Hyänen oder Bisons, mit massigen Schultern und langen, schweren Hälsen und Köpfen, und die Männchen hatten mächtige Geweihe. Einer der Gründe für ihre Eile schien darin zu bestehen, dass sie ihre Köpfe einholen mussten, bevor sie nach vorne überkippten.
In diesem Zustand unaufmerksamer Eile, der nichts mit ihrer üblichen Wachsamkeit gemein hatte und tatsächlich den Eindruck erweckte, als seien sie von einem fremden Geist besessen, war es relativ einfach, eine Reihe in die Rinne zu scheuchen, die das Wolfsrudel zwischen den beiden Felsreihen vorbereitet hatte. Und am westlichen Ende der Rinne, hinter einem kleinen Abhang, den die Rentiere normalerweise problemlos hätten hinabspringen können und der ihnen deshalb auch keine Angst machen würde, hatten die Menschen einige Stangen über Felsen gelegt und dazu einige Geweihe, sodass ein stolperfallengespickter Streifen entstand, auf dem mit Sicherheit einige der Tiere straucheln würden.
Als die Falle bereit war, zogen die Männer in Dreiergruppen und mit Wolfsfellen über den Köpfen los. Im Rennen versuchten sie, eine Reihe von Rentieren ins Ostende der Rinne zu scheuchen. Dafür mussten sie geduckt herumlaufen und wilde Sprünge vollführen, sodass die Wolfsköpfe über ihren Stirnen wippten und die Rentiere die bedrohlichen Umrisse erkannten, auf die sie wie alle Tiere panisch reagierten. Derweil versteckten sich die anderen hinter den niedrigen Steinwänden und lauschten auf das Donnern der Hufe im Gras, das die Ankunft der Tiere verraten würde. Eistaucher war bei dieser zweiten Gruppe, da sein verletztes Bein etwas schmerzte und die Läufer oft die verrücktesten Sprünge machen mussten, um den Tieren Angst einzujagen. Also lag er mit dem Rest des Rudels auf der Lauer, und der Speichel lief ihm im Mund zusammen, während er auf die Pfeifsignale oder das Trampeln im Gras wartete.
Dann ertönten das Hämmern der Hufe und das heisere Schnauben, das jedes Jahr wieder aufs Neue überraschte, und das verstörte Wiehern der ersten Tiere, die versuchten, anzuhalten, anstatt auf die Stangen hinabzuspringen, und ihr Blöken, als die anderen Tiere sie von hinten über die Kante schoben; und dann richteten Eistaucher und die anderen hinter den Felsbrocken Versteckten sich auf, die Speere auf die Speerschleudern gesetzt und zum Wurf erhoben.
Entsetzte Rentiere wurden von hinten weitergeschoben und stürzten auf die bereits unten liegenden Tiere hinab. Eistaucher entschied sich für eines, das nur noch mühsam das Gleichgewicht an der Kante hielt, und schleuderte mit aller Kraft seinen Speer. Die Entfernung war sehr kurz, aber er musste einen Wurf nach unten anders bemessen, was ihm auch gelang. Der Speer fuhr dem Tier hinter den Rippen tief in den Leib, und Eistaucher johlte, als er sah, dass er getroffen hatte. Schnell schleuderten die Männer ihre Speere in den Haufen zappelnder Tiere, und die Frauen und Kinder warfen Steine, und die großen Tiere schlugen um sich, bluteten und schrien, und die Luft war erfüllt vom Geruch ihres Bluts, ihrer Scheiße und Pisse. Die Menschen schrien ebenso laut wie die Rentiere.
Es dauerte nur zwei Dutzend Herzschläge, dann lagen etwa zwanzig tote Rentiere zu ihren Füßen. Das war wahrscheinlich mehr, als sie überhaupt auf einmal verwenden konnten. Es war ein bizarrer und schauriger Anblick, zugleich schockierend und erregend. Alle verfielen in eine Art Blutrausch; der Speichel rann ihnen aus den Mündern, ihre Gesichter waren gerötet, und die Augen traten ihnen aus den Höhlen. Einige der Jungen und Mädchen wurden ans Ostende der Rinne geschickt, um dort alle Tiere zu vertreiben, die in die Falle rennen wollten. Dorn begleitete sie, um eine Sperre zu errichten.
Eistaucher humpelte auf die Kuppe des kleinen Hügels, von dem aus man auf ihre Falle hinabblicken konnte, und sah Rauchsäulen in der Ferne, die von den Feuern anderer Menschenrudel aufstiegen. Sie alle waren mit dem gleichen Ziel hierhergekommen. Der Rauch der Feuer war schwarz von verbranntem Rentierfett.
Einige vom Wolfsrudel entfachten ein Feuer aus ihrer mitgebrachten Glut, und die Kinder wurden losgeschickt, um alten Rentiermist zu sammeln, den sie ins Feuer werfen konnten, da es in der Steppe wenig Holz gab. Die Übrigen machten sich daran, die Tiere zu zerlegen. Aber bevor sie damit anfingen, leitete Schiefer Eistaucher und Achtlos und Steinbock bei der Darbringung des Rentier-Opfers an. Auch Dorn gesellte sich zu ihnen. Ihre ewige Regel lautete, dass man niemals das Erste von etwas nehmen sollte, und so nahmen sie das am weitesten westlich liegende Tier, weideten es aus, legten ihm dann einen großen Stein oben in den Brustkorb und trugen es zu einer tiefen Stelle stromabwärts im nahen Fluss. Dort warfen sie das Rentier ins Wasser, wobei sie das Dankeslied sangen, und Dorn warf einige bemalte Steine hinterher und bat die Rentiere darum, im kommenden Jahr wiederzukehren, und dankte ihnen dafür, dass sie ihnen dieses Jahr sich selbst zum Geschenk gemacht hatten. Dann kehrten sie zum Schlachtfeld zurück und machten sich an die schwere Arbeit, die Tiere zu zerlegen.
Alle arbeiteten, solange es hell blieb, und waren am Ende voller Blut. Nebenher prasselte die ganze Zeit ein Feuer, auf dem sie ihre Lieblingsstücke garten und verbrannten, was sich nicht verwenden ließ — zugegebenermaßen war das nur sehr wenig, aber trotzdem half es, das Feuer in Gang zu halten. Außerdem würden nicht ganz so viele Aasfresser des Nachts über sie herfallen, wenn sie sich dieser Teile entledigten. Selbst als es schon ganz dunkel war und die Mitternacht nicht mehr fern, arbeiteten sie im Schein des Feuers weiter.
Erst häuteten sie die Tiere, wobei sie die brauchbaren Sehnen und Bänder herausschnitten und einige Teile nebenher aßen. Dabei verfielen sie beinahe in Raserei, denn wegen des vielen Bluts arbeiteten sie ohne Kleider, sodass die Frauen aussahen wie bei ihren Einführungstänzen und die Männer, als kämen sie von ihrer Jagd-Initiation, alle mit Fett und Blut verschmiert und euphorisch von dem vielen Speck und schieren Fleisch der Tiere, das sie aßen. Sie badeten stromabwärts in dem schmalen, aber tiefen Fluss, der neben dem Hügel verlief, auf dem sie arbeiteten, tauchten kurz im Wasser der Schneeschmelze unter, in dem Wissen, dass sie sich am großen Feuer wieder aufwärmen konnten und bei der weiteren Schlachtarbeit warm bleiben würden. Sie stellten zahlreiche Nachtwachen um das Fleisch auf — der Überfluss war so groß, dass sie die Keulen von den Beinknochen lösten, damit sie bei ihrem Aufbruch nicht so viel würden tragen müssen. Es war ein langer, harter Tag und eine lange Nacht voller Arbeit. Und der nächste Tag und die nächste Nacht würden ähnlich aussehen.
Schiefer und Steinbock stießen ein Geheul aus, als sie von dem Flussopfer an die Rentiere zurückkehrten, und Dorn grinste, als er es hörte. Eistaucher erkannte plötzlich, dass Dorn froh war, wenn nicht er die Rudelzeremonien anleiten musste; bisher war ihm das nicht klar gewesen. Eistaucher behielt das im Kopf, um später darüber nachzudenken, und machte sich wieder daran, Hüftgelenke durchzuhacken. Er saß bei der Arbeit, um sein verletztes Bein zu schonen, und je müder er wurde, desto mehr achtete er darauf, sorgfältig zu arbeiten. Er vollführte jeden Schnitt, als handele es sich um eine Prüfung oder um einen Wettbewerb bei einem Fest und als würde seine Leistung dabei von jemand noch Strengerem als Dorn beurteilt: nämlich vom Schmerz. Jetzt, wo alles glitschig vom Blut war und jeder Muskel erlahmte, konnte man sich allzu leicht an einer abgerutschten Klinge schneiden; das passierte oft in den ersten Nächten des Schlachtfests. Der letzte, schlüpfrige Schritt auf einer Reise von zwanzig-zwanzig Tagen. In dieser langen Nacht konnte man sich nur zu gut vorstellen, wie es dazu kam.
Doch niemand war mehr hungrig, tatsächlich waren sie sogar alle bis oben hin vollgestopft, und das Feuer zischte und knackte und fauchte lodernd, und inmitten der verbliebenen Arbeit, der Schlemmerei, des Tanzens und des schnellen Davonschlüpfens einiger, die zum Spritzen in die Nacht verschwanden, lachte und sang das ganze Rudel. Ganze Gruppen gingen an den Fluss hinunter, um sich schreiend ins Wasser plumpsen zu lassen, wo sie Blut und Eingeweide abrieben und Wasserschlachten veranstalteten und anschließend mit vorsichtigen Schritten ans Feuer zurückkehrten, um sich wieder aufzuwärmen. So war der Lauf der Dinge: Es war der richtige Tag im Jahr dafür, um den Vollmond des siebten Monats. Der lange Winter und der Hungerfrühling waren vorbei, und jetzt war die Zeit, in der sie satt waren und die kommenden Monate gut essen würden. Es gab keinen anderen Tag im Jahr, an dem sie so ausgelassen waren, so erleichtert. Sie hatten einen weiteren Frühling überstanden.
Eistaucher tanzte am Feuer, wobei er darauf achtete, sein verletztes Bein möglichst wenig aufzusetzen. Er stellte sich direkt mit dem Gesicht vor die Flammen, sodass ihm die Hitze entgegenschlug, wirbelte dann herum und lachte die Nacht an, die außerhalb der Wärmeblase ihres Feuers empfindlich kühl war. Doch am wärmsten ist einem immer dann, wenn ein Teil von einem noch friert.
Manchmal zerplatzte das Fett laut im Feuer. Eistaucher beobachtete die Frauen, die alle nichts als Röcke oder um die Hüften geschlungene Pelze und Halsketten trugen, und obwohl er all ihre Körper kannte, Muskel für Muskel, Geste für Geste, war es doch ein außergewöhnlicher Anblick, sie im Feuerlicht zu sehen, wie sie sich so ausgelassen von dem Fett in ihren Bäuchen bewegten, ihre flachen Sommerbrüste baumeln ließen. Rundung um Rundung um Rundung an diesen Körpern war ihm vertraut. Immer fiel ihm das am meisten ins Auge, was ihre Körper auf den ersten Blick etwas falsch erscheinen ließ, sie mit der Zeit aber richtig machte, oder sie zu sich selbst machte, jede für sich. Und dann gab es noch diejenigen ohne jeden Makel und ohne Seltsamkeiten, Salbei, Gams, Donner, die jede auf ihre Art genau richtig proportioniert waren.
Er tanzte und setzte sich dann und wann, um sein verletztes Bein auszuruhen, und anschließend wackelte er mit den Zehen und trommelte eine ganze Weile mit den Jungen. Wer konnte schon sagen, wie viel Zeit man in jenen Momenten verbrachte, von denen man hoffte, sie würden ewig währen. Andererseits verriet es einem natürlich immer der Mond. Eistaucher trommelte vor sich hin und sah Salbei beim Tanzen zu, und sie sah so gut dabei aus, dass sein Visel sich unter seinem Rock aufstellte, und so stand er auf und tanzte mit hin und her schlackerndem Visel, eine kleine Stange pulsierenden Vergnügens, die ihn auf Salbei zuführte: Salbei im Tanz, deren Brüste nicht mehr ansatzweise so groß waren, wie sie es im nächsten Herbst wieder sein würden, und die dennoch über ihren Rippen auf und ab wippten, Salbei im Tanz, die die Arme zu beiden Seiten erhoben hielt, die in die Hocke ging und sich drehte, die Hinterbacken herausgestreckt, zwei große runde Muskeln wie am Steiß eines Bergschafs, so vertraut und in diesem Monat mit kaum einer Schicht von Fett darüber, einfach nur Muskeln und das Versprechen von Fett, was vielleicht der beste Anblick überhaupt war; was für lange Beine dieses Mädchen hatte, was für einen ausgreifenden Schritt, wie anmutig und geschmeidig sie sich bewegte. O ja, Eistaucher wäre nur zu gerne mit Salbei in die Nacht davongelaufen, zum Fluss hinabgegangen, wo das Glucksen des Wassers zu ihnen singen und ihre leisen Laute verschlucken würde, wenn ihr Küssen und Reiben sie ins Reich hilfloser wohliger Schreie davontrug. Genauso war es im letzten Jahr gewesen, und die Erinnerung daran ließ seinen Visel pulsierend in die Höhe schnellen.
Doch heute Nacht nahm Salbei mit niemandem Blickkontakt auf, und ganz offensichtlich hatte sie nicht vor, ihren Tanz zu unterbrechen. Ein solches Verhalten galt vielleicht ebenso sehr Falke wie Eistaucher oder jedem anderen Mann, der ein hoffnungsvolles Auge auf sie geworfen hatte, und indem Salbei mit keinem von ihnen tanzte, tanzte sie mit ihnen allen, was nett war und auch so verstanden wurde. Und sicher galt das Gleiche auch für die anderen Frauen, Liebmaische und Gams und Entchen und Blauhäher und Donner, die wahrscheinlich alle unterschiedliche Verehrer hatten. Schließlich war Salbei durchaus nicht die einzige Schönheit des Rudels, sondern eine unter Schwestern. Und was für Schwestern ihr Rudel hatte! Man musste schon ziemlich verwegen sein, um solche Frauen vor den Ottern dieser Welt zu verteidigen; doch wenn einen deswegen die Sorge überkam, beruhigte der Gedanke, dass all die anderen Rudel ähnlich gesegnet waren. Es war eine Welt der schönen Frauen, und die ganze Welt war hinter ihnen her. Schon bald würden sich beim Acht-Acht-Fest zwanzig Rudel treffen, und all die Männer und Frauen würden sich untereinander mischen, alle in ihren feinsten Kleidern, und es würde Feuer und Tänze wie diesen geben; und an denen würden sich viele junge Männer und Frauen und auch Jungen und Mädchen zum ersten Mal finden, ob sie nun zu den richtigen Sippen füreinander gehörten oder nicht, und danach würden sie beisammenbleiben, und die Rudel der Steppe und des Hochlands und der Schluchten im Süden würden sich durchmischen und die Verwandtschaft zwischen ihnen würde einmal mehr zunehmen. Es gab Rudel aus dem eisigen Norden, die einander die Frauen stahlen, hieß es auf den Festen, aber unter den Rudeln, die südlich der Rentiersteppe lebten, von dem großen Salzmeer im Westen bis zum großen Salzmeer im Süden bis so weit nach Osten, wie je ein Mensch gekommen war, waren sie alle miteinander verwandt, weshalb es sehr wenige solche Diebstähle gab.
Als Eistaucher sich wieder hinsetzte, über seiner kleinen Trommel einzunicken begann und die Tänzer und Flammen vor seinen Augen miteinander verschwammen, sodass er schon in sein Nachtlager kriechen oder einfach an Ort und Stelle vornüberkippen und einschlafen wollte, packte ihn Salbei am Arm und zog ihn hinter den Hügel in die Dunkelheit. Er war gerade weit genug entfernt vom Feuer gewesen, um sich unbemerkt davonzustehlen. Sie breiteten Salbeis Fellrock auf den harten Boden und begannen einander wild zu küssen, und obwohl Salbei ihn nicht in sich hineinließ, was ihn auch ziemlich aus der Fassung gebracht hätte, rieben sie einander, während sie sich küssten, und Eistaucher flüsterte ihr — Ich liebe dich ins Ohr, und sie quietschte, und sie kamen gleichzeitig und lachten danach etwas, zutiefst zufrieden mit sich selbst. Salbei zwickte ihn noch einmal und gab ihm eine sanfte Ohrfeige, ehe sie ihren Rock unter ihm wegzog und sich in die Nacht auf und davon machte. Eistaucher ging zu seiner eigenen Schlafstatt und sah, dass sie wieder zum Tanzen ans Feuer gegangen war, noch voller Tatendurst, und tatsächlich kam es ihm nicht unwahrscheinlich vor, dass sie sich gleich noch einen weiteren Jungen holen und ihn in die Nacht hinausziehen würde. Der Gedanke gefiel und missfiel Eistaucher zugleich. Es war erregend, doch andererseits war er zu müde, um sich deshalb Sorgen zu machen. Also legte er sich hin und schlief ein — leer und erfüllt zugleich, ein herrliches Gefühl.
Sie brauchten viele Tage, um ihre Rentiere zu zerlegen und das Fleisch zu räuchern. Sie arbeiteten hart, weil der Acht-Acht bald kommen würde, und wenn es so weit war, mussten sie hier fertig sein und die Wanderung Richtung Osten zum Festgebiet geschafft haben. Deshalb beschäftigten die Rentiere sie Tag und Nacht.
Lieblingsstücke vom gegrillten Kopf bei der Arbeit:
Wangen, Nase, Ohren, Zunge, Lippen, Unterkiefer.
Die Unterlippe darf niemand außer den alten Männern essen,
Deren Lippen genauso schlaff sind.
Hirn zum Essen oder zum Fellegerben.
Halsfleisch zum Essen, doch ohne das erste Gelenk,
Das niemand außer alten Männern essen darf,
Weil Rentiere ihre Köpfe so langsam herumdrehen.
Schulterblätter zum Trocknen, um damit den Rentier-Ruf nachzuahmen.
Schulterfleisch zum Essen, Beinmuskeln zum Essen.
Mit den Schienbeinen wird das Fett von den Häuten gekratzt.
Die Füße zum Kochen,
Das Gewebe dürfen nur alte Leute essen.
Beingelenke zermahlen, um schmieriges Fett zu machen.
Rückenfleisch gegessen, Rückenmark gegessen.
Rückensehnen getrocknet, zum Nähen gebraucht,
Wann immer es fest halten muss.
Beckenfleisch, gar oder getrocknet gegessen,
Eine echte Leckerei;
Der Schwanz ebenso, doch nur für die Alten.
Köstlich die hinteren Oberschenkel,
Zu sehnig die unteren Hinterbeine.
Beinmark gegessen, Gelenke für Fett.
Das Beste ist das Rippenfleisch, getrocknet oder gegart.
Bruststück zart gekocht.
Bauchfleisch zum Trocknen oder langen Garen,
Auch das gilt vielen als Leckerei.
Lunge und Leber, gekocht zum Fleisch.
Blättermagen gekocht gegessen.
Darm gewendet, mit Fett darin gesotten,
Aber gerne.
Nieren und Herz gegrillt und gegessen.
Den Beutel, in dem das Herz liegt, trocknen,
Um ihn als Beutel zu verwenden.
Das Blut mit Fleisch zusammen gekocht und gegessen.
Milch in den Eutern als raschen frischen Trunk.
Das kostbare Fett, getrocknet, gekocht oder ausgelassen,
Als Soße zum Fleisch;
Aufbewahrt wird es in Robbenhautbeuteln.
Die Fliegenlarven, in den Wunden und Schrunden, gegessen.
Die Geweihe für Ahlen, Nadeln, Löffel, Teller,
Speerschleudern, Griffe, Knöpfe und Murmeln
Und Haken für allerlei Dinge.
Die Felle gegerbt und als Kleider getragen,
Auch als Stiefel für den Winter,
Als Schneeschuhe, Schlingen, Netze, Seil.
Um das Fleisch haltbar zu machen, musste man es vor allem räuchern, und so halfen viele von ihnen dabei, ein langes Glutbett zu bauen, auf dem sie grünes Holz oder feuchten Mist verbrennen konnten, sodass der Rauch in der Hitze aufstieg, zwischen den Rippen- und Keulenstreifen hindurch, aufgehängt an dicken Hautleinen, die mit Fleischbrocken umwickelt waren, damit sie nicht verbrannten. Sie räucherten so viel Fleisch, wie sie tragen konnten, und aßen auch so viel, wie sie konnten. Man musste aufpassen, damit einem von dem vielen Fett auf einmal nicht schlecht wurde, und wenn sie zum Scheißen stromabwärts gingen oder vom Scheißen zurückkehrten, ächzten und stöhnten alle ein bisschen. Es war nicht leicht für den Bauch, wenn man so viel Fleisch aß, und nicht leicht für das Arschloch, so viel auszuscheißen. Trotzdem aßen sie mit voller Hingabe. Im Hunger wohnt ein Hunger, hieß es. Dieser innere Hunger ließ sie noch lange weiteressen, nachdem ihre Bäuche bereits rund und hart waren. Sie wollten sich Speck für die harten Frühlingsmonate anfressen, an die sie sich im Moment nur zu gut erinnerten. Sie schickten die Kinder zu den Sträuchern hinterm Hügel, um Beeren zu sammeln, die sie zu dem Fleisch essen konnten und aus denen sie die Maische machen konnten, mit der man sich beim Fest betrank.
Schon bald kam der neue Mond des achten Monats, und sie wollten alle so schnell wie möglich zum Fest. Der Ort, an dem es stattfinden würde, war ein paar Tagesmärsche entfernt. Es handelte sich um eine riesige Wiese am Südrand der Rentiersteppe, umringt von niedrigen Hügeln, die beim Fest einen Teil ihres Lagers bildeten. Wie jedes Jahr hatten sie wieder viele große Streifen Räucherfleisch dabei, und auch Bänder und Sehnen, Häute, Beutel mit festem und flüssigem Fett: Sie hatten mehr, als sie tragen konnten. Also würden sie sie hinter sich herschleifen.
In den seichten Flusssenken auf der Steppe fanden sie Erlendickichte, in denen sie viele dreijährige Sprösslinge schnitten, die lang, gerade und elastisch waren. Diese banden sie zu Stangenschleifen zusammen, mit denen man viel größere Lasten über die Steppe transportieren konnte als auf dem Rücken. Nachdem sie die Schleifen beladen hatten, stemmten die jungen Männer und Frauen sich in die Gurte, während die Älteren hinterhertrotteten und darüber scherzten, wie leicht es war, die Jungen zum Schleppen zu bewegen, wenn am Ende ihres Wegs das Acht-Acht auf sie wartete; und ebenfalls im Scherz fuhren sie fort, dass sie wohl kaum mit den Jüngeren hätten mithalten können, wenn deren Last sie nicht bremsen würde. Jedes Jahr die gleichen Witze, wie auch alles andere gleich blieb. Und das war sehr, sehr befriedigend.
Sie näherten sich dem Festgelände von Westen, wobei sie den Ring aus niedrigen Hügeln bereits aus weiter Entfernung sehen konnten. Auf jedem Hügel sah man ein Grüppchen großer Kiefernstämme, entastet und die Rinde abgeschält, die man umgekehrt in den Boden gehauen hatte, sodass ihre Wurzelballen obenauf im Wind schaukelten wie Haare oder Geweihe. Von jedem zweiten Wurzelende hing ein Tierschädel. Dorn behauptete, sich daran zu erinnern, wie man diese Stämme in seiner Kindheit hier aufgestellt hatte. Es war ein verheißungsvoller Anblick, wie sie erst über den Horizont lugten und dann beim Näherkommen ein immer seltsameres Bild boten, diese Zeichen ihrer Zusammenkunft, die bewiesen, dass sie mehr waren als nur vereinzelte Rudel. Sie hörten das Trommeln von weit her, erst den dumpfen Laut ausgehöhlter Baumstämme, ein Geräusch, das aus dem Erdboden zu kommen schien, und dann die hautbespannten Trommeln verschiedenster Größen, die die Luft aufpeitschten und das Blut schneller durch ihre Adern strömen ließen. DAS FEST!
Sie lagerten immer an derselben Stelle, auf der Südseite eines der längeren Hügel, in der Nähe des Adlerrudels, dessen Zuhause zwei Zuflüsse stromabwärts an der Urdecha lag. Wolfsleute begegneten beim Fallenstellen oft Adlerleuten, die ebenfalls ihre Runden drehten, und jetzt kamen einige von ihren Männern herbei, um ihnen zu helfen, als sie ihr Lager am selben Feuerring wie immer aufschlugen. In der warmen, mückendurchschwirrten Sommerluft lag der schwere Geruch von schwelendem Mist und brennendem Fett, und im Nachbarlager spielte eine kleine Gruppe von Musikern auf Knochenflöten so laut es ging gegen das Trommeln von der Wiese her an. Sie erfüllten die Luft mit mehreren Tönen auf einmal und erschufen dabei in einem schnellen Wechsel, der an Wolfsgeheul oder die Rufe von Eistauchern denken ließ, Harmonien und Missklänge. Die Musik trieb Eistaucher die Hitze ins Gesicht und ließ das Blut in seinen Fingerkuppen pulsieren. Von dem umgedrehten Baumstamm auf ihrer Hügelkuppe aus blickte er auf die Wiese hinab, und wo immer er hinsah, überall erblickte er Freudenfeuer und Leute. Es waren wohl zwanzig-zwanzig Leute, oder sogar zwei-zwanzig-zwanzig, auf jeden Fall weit mehr, als man jemals sonst auf einem Haufen zu Gesicht bekam, was schon an und für sich erstaunlich und berauschend war. Noch dazu trugen fast alle ihre feinsten Sommerkleider, darunter viele Federumhänge und -röcke; sie hatten ihre Gesichter bemalt, die Haare zu Zöpfen geflochten und hochgebunden, und um alle Hälse lagen Zahn- und Muschelketten. Viele tanzten bereits um die Feuer, und die, die nicht tanzten, bewegten sich tänzelnd. Der Anblick entlockte Eistaucher und seinen Freunden ein wildes Geheul, das von überall auf der Wiese beantwortet wurde. DAS ACHT-ACHT!
Einige von ihnen blieben im Lager, um es fertig aufzubauen und ihre Sachen im Auge zu behalten. Alle anderen gingen sich umschauen. Einige begaben sich zu den Kreisen der Musizierenden oder besuchten Sippengenossen, mit denen sie sich jedes Jahr trafen. Einige gesellten sich zu kleinen Handwerkerkreisen, in denen neue Kniffe ausgetauscht wurden und die Leute einander von ihren Wintererlebnissen berichteten. Die Schamanen kamen zusammen, um ihre Jahresstöcke abzugleichen, Lieder zu singen und Geschichten zu erzählen. Das Acht-Acht war keine Schamanenangelegenheit, was die Schamanen sichtlich genossen — sie betranken sich und führten sich höchst unwürdig auf. Händler gingen zu den Tauschkreisen unter einem der größten umgedrehten Bäume, um Sachen anzubieten und nach Sachen zu suchen, die sie brauchen konnten. Abseits des Tauschbaums machten sich die Leute vor allem Geschenke oder übergaben die Dinge, die sie regelmäßig austauschten. Leute vom Feuersteinrudel, aus dem Hünenstatt genannten Becken in den Eiskappen-Hochlanden, teilten harte, sauber behauene Feuersteinbrocken aus, deren fast quadratische braune Oberflächen sehr hübsch rot geädert waren. Im Austausch nahmen die Feuersteinleute alles, was man ihnen anbot, wobei sie mit einem Nicken und einem Lächeln zum Ausdruck brachten, dass diese Gegengeschenke nicht nötig waren, man sie aber zu schätzen wusste, vor allem, wenn es sich um Kellen voll Maische handelte. Kameradschaftlichkeit allerorten, Liebe allerorten, menschliche Schläue allerorten, ein Loblied darauf, wie viel klüger als die anderen Tiere sie waren, allerorten; ein weiteres Jahr hatten sie erfolgreich bewältigt, den meisten Kindern ging es gut, und niemand musste wirklich verhungern. Noch eine Schüssel! Acht-Acht!
Dorn sagte zu Eistaucher: — Komm zum großen Abgleich der Jahresstöcke, dort kannst du dich als junger Schamane vorstellen. Du wirst den anderen Schamanen eine Geschichte erzählen müssen.
Eistaucher schüttelte den Kopf. — Ich bin noch nicht bereit, ihnen eine Geschichte zu erzählen.
— Zu dumm, weil du es trotzdem tun wirst. Du warst auf Wanderschaft, und jetzt ist es an der Zeit.
— Nein, sagte Eistaucher und ging einfach schnurstracks davon. Beim Acht-Acht war es zu peinlich für einen Schamanen, seinen Lehrling zu bestrafen, deshalb konnte Eistaucher mit so etwas davonkommen. So war das beim Acht-Acht.
Eistaucher zog von Feuer zu Feuer. Für ihn war das einer der Höhepunkte im ganzen Jahr: auf dem Acht-Acht umherzulaufen. Die Leute verkleideten sich, flochten sich Zöpfe und banden sich das Haar zu Knoten hoch, sie bemalten sich die Gesichter oder hatten einfach vor Aufregung rote Wangen. Allein der Anblick war berauschend; ein wenig benommen lief er umher und beobachtete andere, denen es ähnlich ging. Er versuchte, zu dem Gefühl zu tanzen, was ihm auch mehr oder weniger gelang. Die jungen Frauen zeigten sehr viel Haut, und viel davon war rot bemalt, viel war auch nackte braune Haut, noch schlank vom Sommer, aber jede einzelne, die er sah, war umwerfend.
Er kam in den Bereich, in dem die Spiele abgehalten wurden, bei denen er ebenfalls gerne zusah. Ältere aus den hiesigen Rudeln bereiteten die Spiele für die Jungen und Mädchen vor, von den einfachsten Steinwurf-Wettbewerben bis hin zu dem sehr beliebten Sport, Speere durch Reifen zu schleudern, die einen flachen Hügel hinunterrollten. Dabei handelte es sich um ein Spiel, das man in allen Rudeln seit jeher zu Hause spielte, weshalb viele der teilnehmenden Jungen und Mädchen den Reifen trafen, der den sanften Hang hinabrollte und -hüpfte, und ihre fröhlichen Rufe waren weithin zu hören.
Ebenso beliebt waren die Wettbewerbe, bei denen Männer Speere mit Speerschleudern warfen. Das war das wichtigste Spiel für junge Jäger, und jeder Junge hatte schon mindestens zwanzig-zwanzig-zwanzigmal einen Speer mit einer Schleuder geworfen und war an diese Verlängerung des Arms gewöhnt. Die zusätzliche Reichweite ermöglichte Würfe, die so kräftig waren, dass der Speer sich auf der Schleuder durchbog. Es war ein wunderbarer Anblick, wenn so eine zitternde fliegende Lanze sich in ein weit entferntes, mit Gras ausgestopftes Moschusochsenfell bohrte, und Eistaucher stieß zusammen mit den anderen Zuschauern kleine Schreie aus, wenn die Speere durch die Luft zuckten und die Ziele vollständig durchbohrten. Seit jeher handelte es sich bei den Zielen um Moschusochsen, die sehr viel kleiner als Mammuts waren, sich leicht aufspießen, aber schwer treffen ließen. Wenn eines dieser Ziele aus der größtmöglichen Wurfweite durchbohrt wurde, dann erhob sich tosender Beifall, und der Speerwerfer tänzelte fröhlich ein paar Schritte zurück.
Jenseits der Wurfwiese erhob sich eine steile Anhöhe, auf der Hügelrennen veranstaltet wurden, die besonders bei starken und leichtfüßigen Jungen und Mädchen beliebt waren. Jedes Jahr setzten die Ältesten einen neuen Startpunkt fest, von dem aus man sich seinen eigenen Weg zur Kuppe suchen durfte. Der Hügel war von Spalten durchzogen, weshalb es entscheidend war, seinen Weg klug zu wählen, wenn man das Rennen gewinnen wollte. Mit seinem verletzten Bein konnte Eistaucher nicht teilnehmen, obwohl dieses Spiel ihm als Junge gefallen hatte und er gut darin gewesen war. Wehmütig kehrte er dem Hügel den Rücken zu und ging in die andere Richtung weiter.
Auf der anderen Seite der Wiese verwandelten die Vogelsicht-Maler den sandigen Boden in ein Abbild des Festgeländes und der umliegenden Gebiete. Eistaucher kannte die Landstriche jenseits ihres Zuhauses nicht gut genug, um sich ein Urteil über die Ergebnisse dieses Wettbewerbs zu bilden, an dem vor allem Wanderer und Schamanen teilnahmen oder Ältere, die aus dem einen oder anderen Grund auf Reisen gewesen waren.
Auf einem südwärts gelegenen Sonnenhang nahe der Vogelsicht hielten die Schamanen ihre Zusammenkunft ab, bei der sie wie immer mit ihren Jahresstöcken herumfuchtelten und laut stritten. Wann immer man mehr als zwei Schamanen auf einem Fleck hatte, handelte es sich nicht mehr um eine Schamanenangelegenheit, weshalb ein solches Zusammentreffen schnell zu einem besoffenen Schlamassel ausartete. Nach altem Brauch versuchten sie daher hier, sich über das Jahr einig zu werden, bevor sie sich im Suff die Köpfe einschlugen.
Viele der Schamanen bei diesem Acht-Acht waren ohrlose alte Schlangenköpfe wie Dorn, was bedeutete, dass sie entweder bei demselben Schamanen wie er in die Lehre gegangen waren, einem Mann namens Pfeifhase, oder bei anderen Schamanen, die ihrem Gedächtnis mit den gleichen Mitteln nachgeholfen hatten. Eistaucher verlor ein wenig den Mut, als er Heide und eine Reihe anderer Frauen zwischen den alten Schlangenköpfen sitzen sah; einige dieser Frauen waren die Schamaninnen ihrer Rudel, andere Kräuterfrauen, die sich für den Abgleich der Jahresstöcke interessierten, oder Freundinnen der Schamaninnen.
— Jeder kann als Schamane enden!, hatte Dorn einmal Eistaucher erklärt. — Wenn es über einen kommt, hast du keine Wahl! Die Frage ist, wer kann sich dem entziehen? Und die Antwort lautet: niemand! Weder Mann noch Frau, weder Greis noch Kind, weder Mensch noch Tier. Schamane zu werden, ist ein Schicksal, das jeden ereilen kann. Selbst dich.
Als er an diese Worte und Dorns Stirnrunzeln dachte und all die ohrlosen alten Spinner sah, wie sie lachten und sich gegenseitig mit ihren Jahresstöcken schlugen, drehte Eistaucher sich um und ging. Was für ein Haufen verstunkener alter Männer, es war nicht zum Aushalten. Wegen seiner Wanderschaft wurde von ihm erwartet, dass er irgendwann während des Fests zu den Schamanen ging und sich ihre Glückwünsche dafür abholte, dass er Dorns Lehrling geworden war, und es wurde von ihm erwartet, dass er eine der alten Geschichten vortrug, wie Dorn es von ihm verlangte. Vielleicht die Schwanenbraut — aber ihm fiel nicht eine einzige Zeile davon ein. Am besten ging er einfach, bevor Dorn ihn sah.
Er konnte also nicht beim Hügelrennen mitlaufen, er konnte keine Vogelsichtbilder machen, er konnte nicht über die Anzahl der Monde im Jahr sprechen und auch keine Geschichte vortragen. Am besten ging er zurück zum Wurfplatz und machte ein paar Würfe mit seiner neuen Speerschleuder. Er hatte sie so beschnitzt, dass sie wie der Kopf eines Steinbocks aussah, was ihm sehr gut gelungen war; Eistaucher meinte, dass er selbst auf die weiteste Entfernung eine gute Chance haben würde, den Moschusochsen zu treffen.
Noch besser gefiel ihm aber die Idee, sich zu den Trommlern zu setzen, Maische zu trinken und mitzutrommeln. Das konnte er jederzeit tun, es war gedankenloser Spaß und gehörte zu den besten Sachen am Fest. Trinken, rauchen, trommeln, den ganzen wunderbar rauchigen Sonnenuntergang hindurch lachen. Und dann, wenn die Sonne unterging, ans Feuer gehen und tanzen.
Bei Einbruch der Dunkelheit wetteiferten einige Männer und Frauen bei den Feuern darum, wer das schönste Feuer-Spektakel fabrizieren konnte. Viele versammelten sich im Kreis um diese Gruppen, um zuzusehen, wie die Spieler sehr lange Stangen nahmen und kleine Beutel aus Stoff oder Leder an das dünne Ende knoteten, um sie dann von sich weg in die höchsten Flammen zu halten. Oft wandten sie dann die Köpfe ab; und die Zuschauer warteten, bis der Beutel Feuer fing und grün, blau oder lila aufloderte, manchmal in einem kurzen Funkenschauer und manchmal mit einem Knall wie leisem Donner. Da sie alle ihre Abende damit verbrachten, ins Feuer zu sehen, ließ der Anblick von etwas Neuem, Unerwarteten, das aus den Flammen hervorblitzte, sie vor Überraschung und Entzücken laut auflachen, und wenn die ganze Menge auf einmal lachte, war das ein beglückendes Gefühl. Die Feuerknaller hoben sich ihre größten Beutel immer bis zuletzt auf und hielten sie gemeinsam an den Stangen in die Flammen, sodass die schnelle Folge lauter, bunter Kracher einem in den Ohren wehtat und für lauten Beifall sorgte.
Danach hieß es trinken, trommeln und tanzen. Eistaucher kam an ein Feuer mit einem Ring von Tänzern. Wegen Schlimmbein, wie er es auf der Wanderung nach Norden zu nennen begonnen hatte, saß er anfangs bei den Trommlern, klemmte sich seine kleine Holz- und Hauttrommel zwischen die Knie und trommelte. Von je weiter her die Leute zum Acht-Acht anreisten, desto kleiner die Trommeln, die sie mitbrachten. Diese kleinen Trommeln übernahmen die schnellsten Teile, und Eistaucher fand sich ohne Schwierigkeiten in den Fünfertakt ein, um anschließend zwischen Fünfer-, Vierer- und Dreiertakt zu wechseln, je nachdem, wohin der Geist des Stückes sie führte. Diese Trommelgruppen wurden von niemandem angeleitet und wechselten manchmal trotzdem ganz unvermittelt Rhythmus und Richtung, wie ein Vogelschwarm am Himmel. Es war wirklich etwas Besonderes, Teil eines solchen Moments zu sein, so deutlich zu spüren, dass es einen gemeinsamen Geist gab, der sie alle ergreifen und lenken konnte. Es geschah immer wieder, auf so erstaunlich einfache Weise — man spürte es in Händen, Ohren und dem ganzen Körper. Und auch dieses Erstaunen trommelten sie heraus! So ging das die ganze Nacht.
Irgendwann kurz vor Mitternacht erwachte Eistaucher aus seiner Trommel-Trance und sah plötzlich alles von überall. So musste die Welt für Eulen aussehen. Er konnte alle Entfernungen sehr viel genauer bemessen als sonst. Und so viel mehr als sonst flackerte vor seinen Augen: die Flammen, die Funken und der emporströmende Rauch, die tanzenden, wie Vögel gekleideten Leute. Die Bilder bewegten sich im Takt seines Herzschlags, mit jedem Pochen, das er in seinem Körper spürte, entstand ein neues flackerndes Bild vor seinen Augen. Anscheinend war Mutter Eule in ihm, und er sah den Tanz wie noch nie zuvor, nicht nur was dieses Acht-Acht betraf, sondern in seinem ganzen Leben.
Natürlich waren da auch junge Frauen in ihren Pelzen und Federn, mit ihren Halsketten und Armbändern und Fußbändern, sprangen im Takt der Trommeln barfuß auf und ab, vor dem flackernden Feuerschein, klapperten mit Schellen und woben miteinander Kreise im Tanz ums Feuer. Sie hatten Punkte, Schlangen- und Wellenlinien aus roter und weißer Farbe auf der Haut, und ihre Mützen und Mäntel bestanden oft aus den schönsten Teilen von Vögeln, von Wildentenköpfen bis zu dem Brustkleid von Spechten, oft aus so vielen Bälgern zusammengenäht, dass der Umhang oder der Kopfschmuck weit größer als der jedes lebenden Vogels war. Direkt vor ihm wippte ein Umhang aus Specht-Brustkleidern, unter dem angemalte Frauenbrüste hervorschauten, weiß mit roten Warzen. Wie flatternde Vogelschwingen flackerte das Bild. Eine andere Tänzerin trug einen Mantel aus den Rücken und Hälsen von Eistauchern, und dieses dichte, prächtige schwarz-weiße Gewand war so auffällig und wunderschön, dass Eistaucher den Blick nicht abwenden konnte.
Die junge Frau, die es trug, hatte er noch nie gesehen. Sie war groß und grobknochig; mit Sicherheit war ihr Tier der Elch, und ihre Art zu tanzen war entsprechend gemächlich und einfach. Sie wurde von schnelleren, schlankeren Frauen umtanzt, im Vergleich zu denen sie plump wirkte, und es war genau das, was Eistauchers Blick bei ihr verharren ließ und schnell zu ihrem schönsten Zug wurde, das, was ihn fesselte und weiter zusehen ließ. Sie wusste, was sie konnte, und tat es. Sie hatte Freude am Tanz. Sie war schwer und langsam, aber hervorragend gebaut, mit langen Beinen, einem kräftigen Oberkörper, hübschen Brüsten und breiten Schultern. Ihr Haar hatte die Farbe des Feuersteins von der Hünenstatt, und dann und wann fing sich der Flammenschein darin. Sie trug es in einem dicken Dreierzopf auf dem Rücken, der an der Spitze mit einem Band aus Eistaucher-Halsfedern zusammengebunden war: Ihre Freundinnen hatten gute Arbeit geleistet. Sie stampfte umher und hatte keine Hemmungen, gegen jeden zu stoßen, der ihr zu nahe kam. Auf ihren Lippen lag ein sorgloses Lächeln, selbstsicher und entspannt. Sie kannte in diesem Moment keine Sorgen, sie war sie selbst und wollte sonst nichts. Diesen Eindruck erweckte sie, wenn man sie ansah.
Eistaucher hängte seine Trommel an die Schlaufe hinten an seinem Mantel und stand auf. Es war Zeit zum Tanzen.
Er mischte sich neben ihr in die Menge. Selbst wenn er Schlimmbein schonte, konnte er sie immer noch geschwind umtanzen, und das tat er auch.
— Hallo, sagte er zu ihr, — Mein Name ist Eistaucher, deshalb gefällt mir dein Umhang. Wer bist du?
— Ich bin Elga, sagte sie.
— Ah, gut, antwortete er. — Das ist gut.
— Das ist es, sagte sie, straffte sich mit Elchswürde und machte eine hübsche kleine Drehung. — Und Eistaucher, ist Eistaucher auch gut?
Obwohl kein Mensch wirklich nachahmen konnte, wie ein Eistaucher seine Flügel vor der Sonne ausbreitet, streckte Eistaucher seine Arme aus und streckte und streckte und streckte sie, und Elga lachte, als sie das sah. Genau genommen war das eine ziemlich lustige Art zu tanzen, und es passte zum rhythmisch flackernden Feuerschein, weshalb Eistaucher eine Weile so weitermachte und dabei daran dachte, wie Vögel einander umwarben, die Kraniche, die Tauben und sogar die Eistaucher, was war das für ein Schauspiel! Er entspannte sich, um eine etwas menschlichere Tanzweise zu finden, während er sie umkreiste. Mit einem verträumten Lächeln folgte sie seiner Drehung, wie ein Elch, der an einem sonnigen Tag vor sich hin kaut. Sie war größer als Eistaucher, und auch schwerer. Ihr Eistaucherumhang war atemberaubend schön, aber der Körper, um den er lag, die Schultern, das Brustbein, die Brüste, die Rippen, der Bauch und die Hüften, die Arme, der Rücken, die Beine, all das war noch schöner als der Rücken eines Eistauchers. Mit seinem Eulenblick konnte er erkennen, dass ihr Gesicht das genaue Abbild ihres Selbst war, genau wie bei den Leuten aus seinem Rudel. Die Gesichter von Menschen waren die Dreistriche ihrer Natur, so einfach war das; irgendwie wurde ihre grundlegende Natur ihnen vorne auf die Köpfe gestanzt, als spielte Rabe ein Spiel mit ihnen, wenn er sie in die Mütter steckte, die sie zur Welt brachten. Jeder konnte ihnen ihre Natur ansehen. Und jetzt sah Eistaucher mit dem Eulenblick, und hier vor ihm tanzte eine Frau, ruhig, offen, vielleicht ein bisschen verträumt und in sich gekehrt, und all das konnte er ihren großen Augen und ihrem Mund ansehen, ihrem ganzen ovalen Gesicht. Ein kleiner Mund, die Lippen dick und gerundet, wenn sie etwas erwiderten oder ein Lächeln unterdrückten, doch jetzt lächelte sie, sodass er nur dann und wann Blicke auf ihren ruhenden Mund erhaschen konnte, wenn sie über einen Tanzschritt nachdachte oder sinnierend in die Nacht hinausblickte. Wenn sie lächelte, sah man ihre kleinen, runden Zähne, die mehr an einen Otter als an einen Elch erinnerten, was auch schön war. Nein, sie war sie selbst: Er war verliebt in ihren Anblick, war verliebt darin, wie sie langsam und mit Bedacht in ihren Kreisen tanzte. Und sie schien zufrieden in diesen Kreisen zu sein, sie wandte sich ihm beim Tanzen zu und umrundete das Feuer in einer Geschwindigkeit, die zu seinen Eistaucher-Gesten passte.
— Woher kommst du?, fragte er.
— Aus dem Norden, sagte sie und runzelte bei diesen Worten leicht die Stirn, wobei er besser denn je die kleine Blume sehen konnte, die ihre Lippen bildeten, wenn sie nachdachte.
— Aus dem Norden?, fragte Eistaucher. — Gehörst du zu den Eisleuten?
— Nein, antwortete sie, wandte jedoch den Blick ab, als sagte sie ihm nicht alles. — Nicht mehr, fügte sie hinzu. — Mein Rudel überwintert Richtung Sonnenaufgang, aber unsere Rentiere jagen wir nördlich von hier, Rentiere und Saigas. Wie ist es mit dir?
— Wir jagen unsere Rentiere zwei Flüsse Richtung Sonnenuntergang und überwintern weiter unten, südlich der Eiskappen.
— Zu welcher Sippe gehörst du?
— Zur Rabensippe, antwortete Eistaucher stolz. — Und du?
— Zur Adlersippe, sagte Elga und sah dabei zufrieden aus; es war am besten, wenn Paare unterschiedlichen Sippen angehörten. Als er ihren Gesichtsausdruck sah, tanzte Eistaucher auf sie zu und gab ihr einen kleinen Kuss auf die Wange.
— Schön, dich kennenzulernen, Adlerfrau, erklärte er lächelnd, und als er sah, dass ihr Blick nach wie vor erfreut war, lächelte er richtig. Er spürte den Unterschied in seinem Gesicht.
— Lass uns tanzen, sagte sie, als täten sie das nicht bereits, hob die Hände über den Kopf und schob sich näher an ihn heran. Sie war anmutiger als ein Elch, und ihr Eistaucher-Umhang wogte und flatterte im Feuerschein, und Eistaucher richtete seinen Eulenblick beim Tanzen nach unten, blickte auf ihre Beine und Hüften und Hände, wich ihrem Blick aus so wie sie dem seinen, abgesehen von kurzen Augenblicken, wenn eine Bewegung sie zum Lachen brachte oder wenn sie fester aneinanderstießen. Im Moment konnten sie einander noch nicht für längere Zeit ansehen, aber dann und wann hoben sie beide den Kopf und sahen sich in die Augen. Bist du auch hier?, fragten sie dann mit Blicken und antworteten einander: Ja, ich bin hier. Wir sind hier, in unserer eigenen kleinen Blase, die plötzlich wie aus dem Nichts um uns entstanden ist. Ist das nicht aufregend? Ja, allerdings! Und dann blickten sie wieder nach unten und tanzten, fast peinlich berührt oder ein wenig erschreckt, um all das zu verarbeiten.
Und sie hatten es auch nicht eilig. Die Nacht war jung, die Mitternacht war noch nicht hereingebrochen, die Feuer loderten immer höher auf ihren großen Glutbetten, und um sie herum waren gewaltige Haufen Steppendung als Brennstoff aufgeschichtet. Die meisten der Anwesenden würden die Nacht durchtanzen und sich dann gemeinsam den Sonnenaufgang ansehen. Es war das Acht-Acht, der Höhepunkt des Jahres, alles war so, wie es sein sollte, und dieser Gedanke war beruhigend — das neue starke Gefühl, das in Eistaucher erwacht war, schien dadurch richtig und passend. Eistaucher stellte fest, dass ihm dieser Gedanke behagte, dass er die Stärke des plötzlich in ihm erwachten neuen Gefühls ins rechte Licht rückte. Dies war der Ort, an dem so etwas geschah. Erneut blickte er zu ihr auf und sah, dass sie das Gesicht dem Feuer zugewandt hatte; er wusste, dass er sie nicht kannte, und doch hatte er gleichzeitig das Gefühl, dass der Anblick ihres Gesichts ihm alles über sie verriet. Alles, was er wissen musste. Als Nordfrau war sie sicher zäh und von einer inneren Hitze erfüllt. Der Süden mit seiner lauen Luft würde ihr gefallen.
Sie tanzten weiter. Ein Rudel aus dem Osten bildete eine Tanzkette. Jeder Einzelne hielt zwei kurze, dicke Stöcke in den Händen, und die Trommler übernahmen ihren Rhythmus und schlugen einen behäbigen Vierertakt an. Die Tänzer begannen, die gleichen Schritte zu tanzen, schwangen das linke und dann das rechte Bein, während sie ihre Stöcke aneinanderschlugen, meistens die in ihren eigenen Händen, aber wenn sie sich alle gemeinsam herumdrehten, auch die ihrer Mittänzer. Es war schön anzusehen und auch anzuhören, geschmeidig und klappernd und schnell. Während sie zusahen, kam Elga neben Eistaucher zum Stehen, und ihre Oberarme berührten sich, und Eistaucher spürte die Berührung wie einen Sonnenstrahl an einem kalten Morgen. Laute Beifallsrufe ertönten, als die Stocktänzer ihre Vorführung plötzlich beendeten, und sie klapperten als Erwiderung mit ihren Stöcken und nahmen die ihnen gereichten Kellen und Becher mit Maische entgegen. Die Trommler wechselten wieder zu einem Vier-Fünf-Takt, und nun begannen wieder alle zu tanzen.
Eistaucher und Elga kehrten in ihre Blase zurück und tanzten bis weit nach Mitternacht. Eistauchers Füße ermüdeten, und Schlimmbein wollte sich endlich ausruhen. Als die Trommler zu einem schweren Zwei-Drei-Takt wechselten, wandte Elga sich zu ihm um und legte ihm die Arme um die Schultern. Sie war deutlich größer als er, und als ihm das bewusst wurde, setzte ein Kribbeln hinter seinen Ohren ein, lief ihm den Nacken herunter und pflanzte sich dann durch seine Eingeweide bis zu seinem Visel fort, der sich mit jedem Herzschlag weiter hob. Sie beugte sich zu ihm vor und küsste ihn auf das Ohr, worauf das Kribbeln sich in einen Blitz verwandelte, der direkt durch seine Wirbelsäule in seinen Ständer zuckte.
— Ich bin müde, sagte sie, — und ich muss pinkeln. Komm mit mir zum Fluss, dann suchen wir uns anschließend einen Platz zum Schlafen.
— In Ordnung, sagte Eistaucher. — Ich muss auch pinkeln.
— Ich habe diese Woche so viel gegessen, sagte sie, während sie fort vom Feuerlicht zu dem Fluss stolperten, der sich gemächlich durch die Wiese schlängelte, und die Scheißstelle erreichten, wo sie langsam machen mussten, um den in den nassen Boden gebuddelten Löchern und Gräben auszuweichen. Elga ging allein ans Flussufer, während Eistaucher hinter einem Baum wartete und es irgendwie schaffte, durch seinen Visel, der mehr Ständer als Pimmel war, zu pinkeln. Als das Wasser kam, beschrieb es einen hohen Bogen vor dem Sternenhimmel, was ihn zum Lachen brachte.
Nachdem sie das erledigt hatten, kehrten sie ins Lager zurück, und Elga machte bei ihrem Schlafplatz halt und stieß mit einer aufgerollten Bärenhaut über der Schulter wieder zu ihm. Dazu hatte sie sich einen langen Mantel übergeworfen, mit einem Kragen aus dem Pelz eines Vielfraßes. Dann ging es hinaus in die Nacht, stromaufwärts in die Hügel, an deren Südflanken es zahlreiche kleine Dickichte gab, in die man sich zurückziehen konnte. Es kam nur darauf an, ein Plätzchen zu finden, das noch nicht belegt war. Bei den letzten Acht-Achts hatte Eistaucher morgens auf diese Hügel geblickt, sich gefragt, ob er jemals Grund dazu haben würde, sich einen solchen Unterschlupf zu suchen, und sich selbst versichert, dass das durchaus geschehen mochte. Und jetzt war es so weit. Den Winkel, den er vor zwei Sommern entdeckt hatte, fand er nicht wieder, aber dann sah Elga ein Grüppchen von Weißfichten, das ihr gefiel, ein kleines Versteck zwischen Krüppelbäumen, in das man nur kriechend gelangen konnte. Auf dem Weg hinein hielten sie kurz inne, um sich zu vergewissern, dass nicht schon jemand anders dort war.
Dann waren sie in ihrem Schlupfwinkel und lagen beieinander auf Elgas dickem Bärenpelz, küssten sich und zogen sich aus, drückten und liebkosten einander, und dann war er über ihr, und sie spreizte die Beine für ihn, und mit ein paar Stößen war er in ihr drin. Sie schnappten beide nach Luft. Eistaucher, der bisher nur Mutter Erde beigeschlafen hatte, war verblüfft darüber, wie unglaublich glatt und warm Elga war, wie sie ineinanderpassten und ohne Reibung aneinander entlangglitten. Es fühlte sich so gut an, dass er kaum wusste, wo er aufhörte und sie anfing, es war alles ein großer, verschwommener Fleck des Wohlbehagens dort unten, ein wunderbares wechselseitiges Kribbeln.
Sie unterbrach ihn, indem sie ihm die Hand auf den Mund legte. — Komm nicht in mir, sagte sie.
— Oh. Na gut. Aber ich komme jetzt gleich.
Tatsächlich strömte bei diesem Gedanken das Glühen aus seinem Visel zurück in seinen ganzen restlichen Körper, sodass er sich in eine einzige große, stoßende Masse der Lust verwandelte, die erbebte und aus der es dann herausplatzte. Ihre Knie lagen an seinen Rippen und hielten ihn fest, und als er spürte, wie er sich ergoss, zog er den Visel aus ihr heraus und drückte sich krampfartig an ihren Bauch, und sie packte ihn bei den Haaren und küsste ihn immer wieder, während er stöhnte.
Eine Weile lagen sie so da, bevor sie sich auf ihn draufwälzte. Er wurde wieder hart, schneller, als er es für möglich gehalten hätte, aber diesmal rieb sie ihren Fuchs über seine Viselspitze, kniete sich auf ihn und küsste ihn dabei, bis auch sie stöhnte und sich auf ihn presste und ihn auf das Bärenfell und den unebenen Boden darunter drückte. Ein Weibchen, das das Männchen deckte! Bei Tieren hatte er das noch nie gesehen, und selbst wäre er auch nie darauf gekommen. Jetzt fand er, dass es so vielleicht am schönsten war.
Sie lagen da und küssten und liebkosten sich. Ihr Bauch war klebrig von seiner pilzigen Spritzmilch, aber das machte ihr nichts aus, sie verrieb sie auf ihrer und seiner Haut, sie küsste und streichelte ihn und schmiegte sich summend an ihn; und als sein Visel wieder hart wurde, küsste sie Eistaucher auf Brust und Bauch und nahm ihn dann in den Mund und saugte daran, bis er erneut kam, mit einem Gefühl, das überwältigender war als je zuvor. Dabei brummte sie die ganze Zeit zufrieden, und dann streckte sie sich und küsste ihn erneut, und er schmeckte seinen eigenen Samen in ihrem Mund, was ihn erst erschreckte und dann nach mehr verlangen ließ. Sie drehte sich herum und hielt ihm ihren Fuchs vors Gesicht, ganz feucht und herb duftend, und er leckte sie so, wie er es bei Wölfen beobachtet hatte, die ihre Gefährten leckten, es war ganz offensichtlich, wie man es machte, aber gleichzeitig erschreckend, weil es ein ganz neues Gefühl war, diese glatte, feuchte Innenhaut, das fein gelockte Haar unter seiner Zunge, ihr Geschmack.
Dann lagen sie wieder eine Weile da und wickelten sich in das Fell, um warm zu bleiben. Sie küssten sich, sie liebten sich. Der Himmel im Osten wurde grau, und dann erschien der erste Streifen Morgenröte über dem Horizont.
— Nein, protestierte Eistaucher. — Ich will nicht, dass diese Nacht endet.
Sie brummte zustimmend und vergrub das Gesicht an seinem Hals. Eine Weile schien sie zu schlafen, während Eistaucher neben ihr lag und ihre Brust spürte, die sich auf seinem Arm hob und senkte, ihr Bein, das sie ihm über den Rumpf gelegt hatte. Er war nicht mal ansatzweise schläfrig. Eigentlich wollte er sie wecken und erneut in sie hineingleiten. Doch das tat er nicht. Er ließ sie schlafen und sah sich den Sonnenaufgang an, den Kopf auf den Boden gelegt und ihren Kopf in den Armen, und spürte die Schwere und Wärme ihres Körpers, roch sie, badete in ihr. Das war es, was er wollte. Nie hatte er etwas so sehr gewollt wie dies.
In der warmen Morgensonne schlief er schließlich auch für ein Weilchen. Als er aufwachte, hatte sie ihren Eistauchermantel zusammengerollt und ihn mit einer Schnur zusammengebunden. Sie blickte ihm auf eine Art in die Augen, auf die sie ihn während des Tanzes nicht angesehen hatte.
— Kann ich mit dir kommen?, fragte sie.
— Was meinst du damit?
— Ich habe mich erst letztes Jahr meinem Rudel angeschlossen. Dem davor bin ich weggelaufen, weil sie mich von dem Rudel gestohlen haben, in dem ich aufgewachsen bin. Aber mein erstes Rudel finde ich einfach nicht wieder. Ich habe es gesucht und dabei wie eine von den Waldleuten gelebt, aber als ich es nicht finden konnte, habe ich mich dem Rudel angeschlossen, bei dem ich jetzt bin. Aber ich passe nicht richtig hinein, und vielen wäre es lieber, wenn ich weg wäre. Anscheinend mache ich ihnen Probleme. Jedenfalls gefällt es mir dort nicht.
— Natürlich kannst du das, sagte er. — Natürlich kannst du mit mir kommen.
Gemeinsam kehrten sie in Eistauchers Lager zurück, und er ging direkt zu Heide, um ihr davon zu erzählen. Sie fauchte ihn an: — Du wartest, bevor du mit Dorn redest.
Nach einem kurzen, harten Blick zu Elga kehrte sie ihnen den Rücken zu. Offensichtlich gefiel ihr die Situation ganz und gar nicht. Sie wühlte zwischen den Körben, Schüsseln, Kürbisflaschen und Dosen herum, die sie auf Reisen immer dabeihatte. Heide trug mehr mit sich herum als alle anderen, sodass ihr Beutel sich um die darin eingewickelte Last spannte und das Kopfband, an dem sie ihn beim Wandern trug, einen roten Abdruck auf ihrer Stirn hinterließ. Anscheinend konnte sie das Gesuchte nicht finden. Sie warf ihre Sachen umher wie ein Eichelhäher, der mit dem Schnabel im Laub stocherte. — Ich wusste, dass so etwas passieren würde, brummte sie.
Als Dorn ins Lager kam, war er voller Maische und Rauch, hatte rote Augen und brüllte herum. Eistaucher hätte es ihm zu einem anderen Zeitpunkt erzählen können, aber Dorn sah Elga sofort, starrte sie an und sagte: — Und wer ist das?
— Wir wollen heiraten, sagte Eistaucher. — Sie stößt zu unserem Rudel. Ihr Name ist Elga.
— Nein, sagte Dorn, und knurrend stürzte er sich auf Eistaucher und versetzte ihm nacheinander einen Schlag aufs Ohr und in den Bauch. Dann gelang es Eistaucher, ihn mit ausgestreckten Armen und Schubsern auf Abstand zu halten, bis Dorn bei einem der Schubser Eistauchers rechte Hand mit seinen beiden Händen packte und ihm flink den kleinen Finger umdrehte. Eistaucher spürte, wie der Knochen brach. Der Schmerz war so durchdringend, dass er zurückwich und Dorn fest in den Bauch trat. Dorn taumelte nach hinten, griff nach einem Stichel und wollte Eistaucher gerade damit angreifen, da schrie Heide: — AUFHÖREN!
Sie stand mit angewinkelten Knien über Dorns Sachen und pinkelte darauf.
— He!, schrie Dorn empört und wollte sich mit erhobenem Stichel auf sie stürzen; doch sie hob flink ihr kleines Blasrohr an die Lippen und richtete es auf ihn.
Er erstarrte.
Sie hielt das Blasrohr ein wenig zur Seite und sagte: — Hör auf, sonst bringe ich dich auf der Stelle um. Du wirst innerhalb von zwanzig Atemzügen sterben. Du hast es schon gesehen, bilde dir nicht ein, dass ich es nicht tun werde, denn ich werde es tun, und das weißt du auch.
— Dreckige alte Hexe.
Dorn stand da und beäugte furchtsam das Blasrohr. Die kleinen Pfeile waren in ein von Heide selbst hergestelltes Gift getunkt, das zumindest Tiere schnell tötete, sogar Luchse und Hyänen, ihre hauptsächlichen Opfer. Sie alle hatten das schon einmal gesehen. Und wenn Heide wütend war, dann war sie zu allem fähig. Dorn wusste das so gut wie niemand sonst, und deshalb blieb er, wo er war, und stülpte angewidert die Lippen vor. Mit einem Seitenblick zu Eistaucher sagte er: — Du bist auf dem Pfad des Schamanen, deshalb kannst du jetzt nicht heiraten, du hast zu viel zu tun, es wäre falsch. Du bist nicht mal zum Abgleich der Jahresstöcke gekommen!
— Ich mache es nicht so, wie du es gemacht hast, erwiderte Eistaucher. — Ich mache es besser. Du hattest einen schlimmen Schamanen, und ich nicht. Also weiß ich besser als du, was zu tun ist.
Er hielt seine rechte Hand vor Dorn in die Höhe und richtete mit der linken den kleinen Finger. Er spürte, wie die Knochen unter seiner Haut übereinanderschabten, und für einen Moment drehte sich ihm der Magen um, und ihm wurde schwummerig, aber anschließend empfand er nur noch ein dumpfes Pochen in dem Finger, und er war wieder ganz da, obwohl ihm der Schweiß von der Stirn lief. Er würde eine Schiene machen müssen und sich jemanden suchen, der sie ihm festband. Mit fester, kalter Stimme sagte er: — Ich werde Elga heiraten und ein verheirateter Schamane sein. Es gibt nichts, was dagegen spricht. Bei vielen Rudeln ist das so.
— Das sind keine echten Schamanen.
— Doch, sind sie.
— Was das Mädchen angeht, warf Heide mit schneidender Stimme ein, — die Entscheidung darüber, ob sie zu unserem Rudel stoßen darf, liegt bei den Frauen. Keiner von euch beiden hat etwas damit zu tun, genauso wenig wie mit der Frage, wer in diesem Rudel wen heiratet! Das sind Frauenentscheidungen.
Dorn machte eine finstere Miene. Seine Dosen waren nass gepisst, und er würde sie schnell reinigen müssen. Derweil betastete Eistaucher seinen gebrochenen kleinen Finger, das neue Oberhaupt all seiner Verletzungen, obwohl er jetzt schon merkte, dass es nicht so ernst war wie bei Schlimmbein, weil man einen kleinen Finger schienen und dann in Ruhe lassen konnte, bis er geheilt war. Und der Schmerz selbst spielte keine Rolle, jetzt wo er wieder ganz bei sich war. Jetzt ging es vor allem darum, dass Heide Elga aufnahm, was sie wahrscheinlich tun würde, und sei es nur, um Dorn in seine Schranken zu weisen. Langsam wurde Eistaucher froh.
Natürlich war die Sache kompliziert, nachdem Heide auf Dorns Sachen gepinkelt und damit gedroht hatte, ihn mit ihren Pfeilen totzuschießen. Jetzt würden sie einander in ihrer verqueren Ehe wahrscheinlich schlimmer ankläffen denn je. Andererseits konnte es ohnehin nicht viel schlimmer werden. Außerdem war das Eistaucher egal. Es war sogar gut für ihn: Je schlechter Dorn und Heide miteinander auskamen, desto weniger Zeit hatten sie dafür, ihn herumzukommandieren. Sie würden aufeinander losgehen, und Eistaucher würde sich unbemerkt davonstehlen. Und seine Elga würde er auch haben.
Er blickte zu ihr und versuchte, ihr mit einem Lächeln all das zu vermitteln. Verunsichert hatte sie ihn im Auge behalten, aber als sie nun seine Miene sah, entspannte sie sich. Sie warf der Wolfsfrau einen flehentlichen Blick zu.
In diesem Moment kehrte Salbei ins Lager zurück. — Wer ist das?, fragte sie.
Aller Blicke richteten sich auf Eistaucher. — Das ist Elga, sagte er und trat an ihre Seite. — Sie kommt zu uns, wenn die Frauen einverstanden sind. Wir werden heiraten, wenn die Frauen einverstanden sind.
Das ließ Salbei zusammenzucken, und für einen Moment trat ein wütendes Funkeln in ihre Augen. Elga hielt den Blick derweil in aller Seelenruhe zum Himmel gerichtet, als sei sie überhaupt nicht da. Eistaucher erkannte plötzlich, dass es immer so mit ihr sein würde, dass sie wenn möglich einfach auf Abstand von Problemen gehen würde. Dass das Schwerste vielleicht sein würde, sie bei sich zu halten.
In den letzten Tagen des Fests, um den Vollmond des achten Monats, feierten viele schon so lange, dass sie nun den ganzen Tag lang hingestreckt dalagen, und das Trommeln und Tanzen wurde größtenteils von den Jungen und Mädchen übernommen. Viele Männer hatten sich in ihr Lager oder zu Rudelfreunden gelegt, bis oben hin voll mit Maische und Fleisch, und selbst die Frauen, die herumsaßen und das Essen zubereiteten, wirkten etwas benommen. Sie hatten einmal mehr bewiesen, dass ein zu großes Festmahl schlimmer ist als Hunger, dass genug so gut ist wie ein Festmahl und was man noch so alles sagte. Aber es gab nur sehr wenige, die es sich verkneifen konnten, einmal im Jahr jede Zurückhaltung aufzugeben. Manchmal musste man einfach loslassen.
In der Trümmerlandschaft jenes Morgens bastelte Eistaucher sich eine Fingerschiene und band sie mit Heides Hilfe an seiner Hand fest. Sie meinte, dass er den Knochen zwischen zwei der Knöchel nicht gerade gerichtet habe, was er sah und auch spürte, aber er wollte nicht noch mal daran ziehen und drehen, um es richtig hinzubekommen. Er wusste, wie sehr das wehtun würde. Heide bot ihm an, es für ihn zu tun, doch er schüttelte den Kopf. — Das kommt schon in Ordnung.
— Es wird krumm verheilen.
— Das macht nichts. Dann erinnert es mich an diesen schönen Tag! Und er lächelte sie an, erfüllt von der Vorstellung, dass Elga bei ihm bleiben würde.
Krächzende Wortwechsel zwischen einigen der erschöpften Feiernden störten hier und da die Ruhe, die sich über den Festplatz gesenkt hatte, seit nur noch einige Jungs sich trommelnd an einem Vierertakt versuchten. Maische-Kopfschmerzen machten die Leute reizbar. Doch bei den Streitereien ging es nur darum, den anderen mit Worten niederzumachen, selbst wenn jemand ernsthaft wütend war. Flüche wurden hin und her geschleudert und schockierende Beleidigungen ausgetauscht, aber keine Schläge. Niemand zettelte eine Prügelei an, nur weil ihm gerade danach war, dafür waren solche Auseinandersetzungen zu gefährlich. Jeder wusste, wie ein Kampf zwischen zwei brünstigen männlichen Geweihtieren aussah, wie sie zusammenprallten, einander traten und bluteten, und obwohl es auch dabei eigentlich nur darum ging, den anderen in seine Schranken zu weisen, gab es oft Unfälle, manche der Tiere wurden aufgeschlitzt oder brachen sich ein Bein, und viele starben hinterher oder wurden getötet. Dann und wann begingen Männer bei den Festen die gleiche Dummheit, meistens, wenn sie betrunken waren, und auch das endete mit gefährlichen Verletzungen und zeigte nur, wie dumm es war, sich zu prügeln. Das Leben war so schon gefährlich genug; früher oder später verletzte man sich immer aus Versehen, da konnte man noch so vorsichtig sein. Ganz nach dem Sprichwort: Jeder Weg führt ins Unglück. Oder: Wenn du verletzt bist, ist dein Rudel verletzt. Letztendlich hatten sie einfach alle genug Erfahrung mit Verletzungen, um sie zu vermeiden.
Deshalb beschränkten Streitereien auf den Festen sich meist darauf, dass die Leute einander anbrüllten. Auch deshalb war Dorns Angriff auf Eistaucher so schockierend. Beinahe schien es, als hätte Dorn versucht, ihm das Malen unmöglich zu machen und Eistaucher damit den Teil des Schamane-Seins zu nehmen, an dem ihm am meisten lag. Für Eistaucher ergab das keinen Sinn, weshalb er lange darüber nachdachte, während er eine Schüssel nach der anderen von Heides Kieferntee schlürfte und sich den Finger mit einer Salbe einrieb, die sie ihm gegeben hatte.
Um das zu bekommen, was man will, muss man das bekommen, was man braucht. Wenn das Feuer heiß genug ist, gibt es keinen Rauch. Fürchte dich nicht, wenn du an deinem Platz bist. Lass dich nicht vom Zorn vergiften. Jeder ist sich selbst der Richter. Für niemanden ist es gut, allein zu sein. Jeder, dem es gut geht, muss etwas geträumt haben. Wer die Geschichten erzählt, beherrscht die Welt. Dem gebrannten Kind ist das Feuer ein Schrecken. Ein hungernder Mensch isst den Wolf. Eine kluge Maus baut ihr Nest am besten im Ohr der Katze. Wer nichts wagt, der nichts gewinnt. Erst in der Not kennt man seine wahren Freunde.
Moment, ich sehe etwas: zwei rote Augen. Ein verängstigter alter Mann.
Tja, es gab so viele alte Sprichworte, und oft liefen sie einander zuwider wie zwei Klingen auf den gegenüberliegenden Seiten eines Baumstamms. Letztlich fällt der Baum in die eine oder andere Richtung, aber bis dahin weiß man trotzdem nicht, was man tun soll.
Nach einer Weile kam Eistaucher auf etwas, das ihn vielleicht weiterbringen würde. Er sammelte all seinen Mut für einen Versuch und ging dann zu der Hügelkuppe, auf der sich die Schamanen trafen.
Der Aschehaufen ihres großen Feuers war fast erloschen, nur hier und da schimmerte noch etwas Rosafarbenes aus den Brocken hervor, Überbleibsel von den seltsamen Gegenständen, welche die Schamanen in die Flammen warfen. Im Moment war etwa ein Dutzend alter Männer anwesend, die sogar noch mitgenommener aussahen als die übrigen Festbesucher. Sie hielten ihre Ausschweifungen länger durch, weil sie mehr Übung darin hatten, aber da sie beim Acht-Acht ordentlich Maische tranken und sich zusätzlich noch mit Rauch und Pilzen, Tänzen und Geißelungen und Schlafentzug benebelten, war irgendwann auch ihre gewaltige Ausdauer erschöpft. Jetzt lagen sie reglos herum, ihre Tierschädel über die Köpfe gezogen, um sich vor der Sonne zu schützen, was sie mehr denn je wie zerzauste dumme Trottel erscheinen ließ. Trunken und erschöpft lagen sie über den Boden verstreut da, wie Löwen nach einer erfolgreichen Jagd. Auch Dorn war dabei und starrte Eistaucher unter seinem Bisonkopf hervor an.
Er und seine Mitzauberer hatten ihre Leiber so ausgiebig mit roten Punkten und Halbmonden und Wellenlinien und Webmustern bemalt, dass man kaum hinschauen konnte. Bei ihrer Geistreise in der vorangegangenen Nacht hatten sie sich mit dem Waldfrosch, der Birkenfrau, Rabe, den Nordlichtern und vielen mehr vereinigt; sie alle hatten ihre Körper verlassen und waren hoch durch die Lüfte oder in der Tiefe geflogen, hatten sich in Mischwesen aus ihnen selbst und ihren Tiergeistern verwandelt, und anscheinend waren sie noch nicht ganz zurück.
Einige von ihnen versuchten krächzend, einander mit Beleidigungen zu übertrumpfen, während sie weiter flach wie Moos am Boden lagen.
— Der ist so viel wert wie ein Loch im Schnee.
— Aus dem kommt so viel Scheiße raus, dass man braune Finger bekommt, wenn man ihn kneift.
— Der ist so faul, dass er eine Schwangere geheiratet hat.
Während vereinzeltes Gelächter über die letzte Bemerkung einsetzte, ließ Eistaucher sich zwischen den Schamanen nieder. Er fachte ihr Feuer an und legte ein paar Mistfladen und einen oder zwei Äste auf.
— Willkommen, Junge, knurrte einer der Schamanen.
Eistaucher bedankte sich mit einem Nicken. — Dies ist die Geschichte der Schwanenbraut, sagte er, erhob sich und begann sofort, den Anfang dieser alten Geschichte aufzusagen. Es war die allererste, die Dorn ihm beigebracht hatte, und deshalb auch die, an die sich Eistaucher am besten erinnerte. Die ersten zwanzig Zeilen nahmen anscheinend allen Platz ein, den es in seinem Kopf für Geschichten gab. Doch in seine Flöte waren Bilder vom Rest der Geschichte geschnitzt, die seinem Gedächtnis auf die Sprünge halfen. Er konnte innehalten, um ein paar Töne zu spielen, und dabei sehen, wo in der Geschichte er sich befand.
Ein Mann ohne Marderfell, sich zu kleiden,
War, obwohl keiner es wusste, ein Häuptlingssohn.
Dem Ruf eines Eistauchers folgend
Verließ er eines Tages sein Dorf.
Hinter dem Hügel fand er einen See,
Und dort am Ufer lagen Eistaucherfedern,
Und ein Mädchen badete im Wasser.
Er setzte sich aufs schwarz-weiße Eistaucherkleid
Und zu dem Mädchen sagte er,
Dass sie es nicht zurückbekäme,
Wenn sie ihn nicht heirate, und so tat sie es.
Da nahm er sie mit zurück ins Dorf,
Wo niemand wusste, dass er ein Häuptlingssohn war,
Und machte seine Frau mit allen bekannt.
Und man hieß sie willkommen, doch sie aß nichts,
Nicht Bärenlippen, nicht Rehmark, nichts schmeckte ihr,
Bis eine alte Großmutter Sumpfgras kochte
Und das Mädchen es glücklich schluckte.
Auch die Dörfler waren hungrig, und als das Mädchen das sah,
Versprach sie ihnen Nahrung, doch Tag für Tag
Brachte sie ihnen nichts als Gras,
Das nass war, weil es vom Seegrund kam,
Und auch sie war nass, und die Leute sagten:
Gänsefutter scheint sie sehr zu mögen,
Und sofort beschloss sie zu gehen.
Den Federmantel legte sie um
Und rief wie ein trauriger Eistaucher.
Ihr Mann hörte es und trauerte sehr.
Weinend wanderte er durchs Dorf
Und fragte den Alten, der unweit wohnte:
Wie bekomme ich meine Frau bloß zurück?
Der Alte sprach: Du hast eine Frau
Geheiratet, deren Mutter und Vater
Nicht von dieser Welt sind,
Und das hättest du wissen müssen.
Eistaucher fuhr fort, indem er die drei Helfer beschrieb, die zu suchen der Alte den Mann ausschickte und die ihm helfen sollten, das zu bekommen, was er brauchte, um seine Frau zu retten. Besonders hob Eistaucher die Begegnung mit der Mäusefrau hervor. Es gefiel ihm, dass das kleine Geschöpf, das durchs tote Laub am Waldboden huschte, sich als große, herrschaftliche Person entpuppte, wenn man ihr Haus betrat, eine größere Macht als der alte Mann oder sonst jemand in der Geschichte. Er wusste, dass so einige der anwesenden Schamanen Heide in der Beschreibung der Mausfrau wiedererkennen würden, allen voran Dorn: Es gab so viele kleine Dinge, von denen sie wusste und die sie größer machten, wie das Wissen um Gifte oder darum, welche Wurzeln man essen konnte. In vielerlei Hinsicht war es Heide, die für ihr aller Überleben sorgte, und nicht diese von Raben vollgeschissenen Zauberer, die im Tageslicht vor sich hin schwitzten.
Eistaucher achtete darauf, dass das bei allen Prüfungen deutlich wurde, die der Ehemann erfolgreich bestand, und dass Mäusefrau bei jeder eine entscheidende Rolle spielte, bis der Mann schließlich wieder mit seiner Frau vereint war, im Eistaucherdorf auf dem See über dem Himmel, in der nächsthöheren Welt. Die einzelnen Teile der Geschichte fielen Eistaucher ohne Schwierigkeiten ein, er musste kaum auf seine Flöte blicken. All die Dreimaligkeiten durchströmten ihn wie ein Lied, bis er schließlich zu einem guten Ende fand:
Sie war glücklich, ihn zu sehen,
Und von da an taten sie alles gemeinsam.
Und ob sie so beisammenblieben
Oder ob des Himmels der Ehemann müde wurde
Und zurück auf die Erde fiel,
Abgeworfen von einem Raben,
Den es nicht kümmerte, wo er landete,
Ist eine Geschichte für das Nächste Acht-Acht
Oder für ein anderes künftiges Acht-Acht.
Damit hielt er inne, nickte den Schamanen zu und klatschte leise in die Hände, um ihnen fürs Zuhören zu danken.
— Ha, Dorn, krächzte einer der anderen alten Männer und hob den Kopf vom Boden. — Dein Lehrling hat gut gelernt, er klingt genau wie du! Immer diese gewichtige Moral, immer dieses offene Ende!
Die anderen lachten, und Dorn versuchte, ein finsteres Gesicht zu ziehen, doch in Wirklichkeit freute er sich ebenfalls, das sah Eistaucher ihm an. — Die höchsten Bäume bekommen den meisten Wind ab, tadelte er die Stichler, worauf die versammelten Schamanen anerkennend ächzten. Anscheinend legte es keiner von ihnen auf eine ernsthafte Auseinandersetzung mit Dorn an, der manchmal eine nadelspitze Zunge hatte. Außerdem hatte sein Lehrling gerade mit einer ansehnlichen Vorstellung Aufnahme in ihre verlotterte kleine Sippe gefunden, weshalb man ihn heute wohl in Ruhe lassen würde.
Eistaucher hielt den Blick zu Boden gerichtet. Vielleicht würde es ja funktionieren. Sein trübäugiges Publikum grinste in schaurigem Vergnügen.
Der volle Mond war verstrichen, und auch das Fest war vorbei. Die Leute beluden ihre Schleifen, bis die Stangen sich unter ihrer Last bogen, und machten sich in alle Himmelsrichtungen davon. Die Wölfe gingen nach Süden und Osten, in Richtung der Eiskappen und ihrer dahinterliegenden Heimat.
Elga blieb während ihres Marschs schweigsam und verbrachte mehr Zeit mit Heide und den Frauen als mit Eistaucher. Oft beobachtete Eistaucher sie dabei, wie sie mit Heide sprach. Sie gehörte zu denen, die am frühesten aufwachten, machte Feuer, wusch, kochte und putzte und trug die Kinder, wann immer es ging; sie arbeitete wie eine Biberfrau. Nur selten sah sie den Männern des Rudels in die Augen, aber wenn man sie ansprach, antwortete sie lächelnd. Sie leistete ihren Dienst in den Gurten und zog die Schleifen ohne zu jammern länger als alle anderen, nicht, weil sie etwas beweisen wollte, sondern weil sie die Last, die sie hinter sich herzog, überhaupt nicht zu bemerken schien. Stark. Sie war größer als die meisten im Rudel und, obwohl sie wie alle im Mittsommer kaum Fett auf den Rippen hatte, immer noch kräftig gebaut. Sie ist wie ein Elch, sagten die Leute, wahrscheinlich hat man sie nach ihrem Tier benannt, wirklich passend. Es freute Eistaucher, das zu hören; sie sahen sie, wie er sie sah, zumindest in dieser Beziehung. Doch nur er wusste, wie sie nachts unter den Sternen war. So war das: Dorn war unglücklich; Salbei war unglücklich; aber Eistaucher war glücklich.
Auf der Reise nach Hause machten sie an der Furt durch den Fließt-ins-Lier halt und stellten fest, dass die roten Lachse bereits da waren. — Lasst das Essen zu euch kommen, sangen die Frauen, während sie aus Stangen mehrere Rahmen zusammenbanden und verwoben und die Ledernetze ausgruben, die sie unter den Felsen in der Nähe der Furt versteckt hatten, und am darauffolgenden Tag erbeuteten sie mehrere zwanzig Lachse, ein großer Fang. Während sie den Fisch trockneten, töteten sie drei Bären, darunter einen Bleibweg, als Warnung, damit die anderen Bären in der Gegend sich fernhielten. Eistaucher half Steinbock und Falke und einigen anderen beim Zerlegen der Bären, während die meisten anderen aus ihrem Rudel damit beschäftigt waren, den Fisch zu schneiden und zu trocknen. Die Männer, die die Bären getötet hatten, gaben Eistaucher einen Bärenpenis zum Essen. Lachend erklärten sie, dass er ihn offensichtlich nötig habe. — Du siehst ziemlich abgehärmt aus, Mann, die saugt dich aus, du musst dir noch was für den Weg aufheben. Der Penis war zäh und schmeckte wie Niere.
Falke freute sich für Eistaucher, und wahrscheinlich war er auch glücklich, ihn als Rivalen um Salbei los zu sein. Als sie den Fließt-ins-Lier mit schwereren Schleifen denn je hinter sich ließen, zogen sie nach Süden und dann stromaufwärts zu den Pfaden, die am Lier entlangführten. Die Schleifen waren so vollgeladen, dass sie sich gerade noch ziehen ließen, und jeder, der älter als fünf war, musste eine nehmen. Aber genau so sollte man von dem Sommermarsch zurückkehren, von der Hochheide hinunter und zurück zur Gewundenen Au, wo sie ihr Geheul ausstießen, die Häuser wieder aufstellten und sich neu einrichteten.