Vierter Teil Der Hungerfrühling

21

Die Herbsttage konnten sie nun damit verbringen, zu essen, das restliche Rentierfleisch und die Lachse zu räuchern und zu trocknen, Nüsse und Eicheln zu sammeln und die Bitterkeit aus ihnen herauszuspülen, Samen und Beeren und Blätter zu pflücken und all diese Vorräte richtig einzulagern. Während sie ums Feuer saßen, fertigten sie auch neue Kleider und Werkzeuge an und neues Spielzeug für die Kinder. Außerdem stellten sie Fallen auf und gingen jagen, wobei sie es insbesondere auf die Enten abgesehen hatten, die bald weiterziehen würden. Und sie führten die Herbstinitiationen durch.

Einmal mehr zeigte Schiefer sich höchst geschäftig. Pinienkerne wurden auf alten Rehhäuten drei Tage in der Sonne ausgebreitet, bevor sie sie in die Zedernholzbüchsen einlagerten, und jeder Kern musste einzeln auf kleine Risse oder Insektenlöcher in der glatten Oberfläche überprüft werden. Getrocknetes Fleisch und Beutel voll Öl wurden in Löcher versenkt, deren Böden mit Kiefernnadeln ausgelegt waren und die man mit Baumrinde, Erde und Steinen darüber zudeckte. Dorn half Schiefer und Donner beim Verstauen der Vorräte und kratzte Markierungen in einen Stock, der seinem Jahresstock ähnelte und mit dem er ausrechnete, wie viel sie von dem, was sie im kommenden Winter brauchen würden, schon beisammenhatten. Schiefer würde nicht ruhen, ehe sie ausreichend Nahrung hatten, um bis zum nächsten Frühjahr davon zehren zu können. Höchstwahrscheinlich würde es ihnen gelingen, einige Wintertiere zu fangen. Tatsächlich gab es in manchen Wintern so viele Schneeschuhhasen, dass man fast ausschließlich von ihnen leben konnte. Aber es gab auch andere Jahre. Sie hatten schon so manchen harten Frühling durchgemacht, woran Schiefer sie immer wieder erinnerte. Dorn und Heide und alle älteren Angehörigen des Rudels waren sich einig: lieber vorsorgen als das Nachsehen haben. Mit vollem Lager schläft man ruhiger. Wenn von den Nüssen ein Teil zu verderben drohte, bevor sie sie essen konnten, dann konnten sie anderen Rudeln etwas abgeben, die um Hilfe baten, oder sie konnten sie zum Frühlingsende an die Raben verfüttern und ihnen für ein weiteres Jahr ohne Hunger danken. Außerdem war es wahrscheinlicher, dass sie im nächsten Frühjahr doch wieder ihre Nüsse zählen würden, genau wie in diesem. Zwei Dutzend und drei Personen aßen eine Menge.

Die Frauen legten fest, dass Eistaucher und Elga zum Vollmond des zehnten Monats heiraten würden, und als die Sonne an jenem Morgen über die Hügel stieg, standen sie alle unten am Fluss auf der Sandbank. Elga trug ein Kleidungsstück von jeder Frau des Rudels, und ihr Haar war zu Zöpfen geflochten und hochgebunden, sodass sie noch viel größer als Eistaucher aussah und elchartiger denn je. Donner und Blauhäher und Heide und Salbei leiteten die Hochzeit und ließen die beiden ihre gegenseitigen und an das Rudel gerichteten Schwüre aufsagen, in einem Singsang, der trotz seiner Kürze das Versprechen der Rudelfrauen an den Bräutigam beinhaltete, ihn totzustechen, sollte er seine Frau jemals schlecht behandeln; diese Worte sprach Salbei, die dabei genau vor Eistaucher stand und ihm mit dem steten Blick eines Wolfes in die Augen sah. Eistaucher schüttelte sein Unbehagen darüber ab, und zu seiner Erleichterung fiel ihm auf, dass Dorn, der diese Heirat nie erwähnt hatte und während der gesamten Zeremonie eine finstere Miene zur Schau trug, am Ende trotzdem seinen Bisonkopf aufsetzte, die Flöte an die Lippen setzte und zum Tanz aufspielte, der noch den ganzen Tag ging.

An jenem Abend gingen Eistaucher und Elga mit ihren Bärenfellen an den Rand des Lagers, jenseits von Heides Schlafstatt, und liebten sich die ganze Nacht hindurch, dann und wann unterbrochen von Pausen, in denen sie ein Nickerchen machten oder redeten.

Von da an verlor sich Eistaucher völlig in Elgas nächtlicher Welt und ihren Paarungen. Nichts anderes war für ihn von Bedeutung. Tagsüber beachtete er Dorn überhaupt nicht. Er unternahm kurze Jagdausflüge, um seine Fallen zu überprüfen, doch oft begleitete ihn Elga, und sie unterbrachen ihr Tun, um sich niederzulassen, sich zu küssen, ihre Kleider abzulegen und sich zu paaren. Manchmal sagte oder tat Elga Dinge, die Eistaucher geradewegs in einen Traum stürzten, zum Beispiel wenn sie murmelte: — Ich hungere nach dir. Sie wurden immer besser darin, einander Lust zu bereiten, und er lernte, die Unterschiede zwischen seinen verschiedenen Ergüssen im Laufe einer Nacht zu spüren, zwischen dem ersten, bei dem er hart war und der kribbelte, und dem dritten, der ihn tief berührte, als sei er für einen kurzen Moment mit der Seele in sie hineingeschnellt. Es war kaum zu fassen, wie sehr die Liebe sie ergriff und erschütterte, wenn sie sich vereinten, wie es spritzte und sich verengte und sie fest aneinanderzog. Es geschah in den Blicken, mit denen sie einander ansahen, in der Art, wie sie sich umklammerten, in ihrer Empfindung, füreinander bestimmt zu sein, sich unter all den vielen Geschöpfen Mutter Erdes gefunden zu haben und ihr ganzes Leben lang glücklich beieinander sein zu können, und das einzig Traurige war, dass sie nicht noch länger in solcher Verzückung leben konnten, und jeder hoffte für sich, zuerst zu sterben, um nicht ohne den anderen leben zu müssen.

Nach solchen Momenten lagen sie ineinander verschlungen da, und manchmal redeten sie. Eistaucher verspürte das Bedürfnis, ihr alles Wichtige zu erzählen, was ihm jemals widerfahren war, und von ihr wünschte er sich das Gleiche; und obwohl sie nach wie vor eine stille Person war, machte sie ihm manchmal eine Freude, indem sie einem ähnlichen Drang nachgab, Geschichten aus ihrem Leben zu erzählen. Sie war in ein Rudel weit im Osten geboren worden, wie weit, wusste sie nicht, doch nach ihrer ersten Monatsblutung hatte man sie mit einem Mann aus einem Rudel verheiratet, das weiter im Westen lebte, allerdings immer noch ein gutes Stück nördlich und östlich der Urdecha.

— In dem Rudel sind einige schlimme Sachen passiert, sagte sie einmal und wandte dabei stirnrunzelnd den Blick ab. — Darüber möchte ich nicht reden. Das ist nicht nötig. Ich habe vor, es zu vergessen. Mein Leben beginnt mit dir. Mit einem schläfrigen kleinen Lächeln zog sie ihn wieder in sich hinein.

Eistauchers Geschichte war etwas komplizierter, zumindest in seinen Augen.

— Mein Vater Tulik war Dorns eigentlicher Lehrling, erklärte er ihr. — Eigentlich hätte er der nächste Schamane werden sollen und nicht ich. Wenn er am Leben geblieben wäre, dann hätte Dorn ihm vielleicht bereits seine Aufgaben übertragen und wäre losgezogen, um ein Waldmann zu werden oder so. Aber mein Vater wurde auf der Jagd von einem Elk getötet, und meine Mutter ist im darauffolgenden Frühjahr gestorben, manche behaupten, weil sie zu traurig war, um fett genug für den Winter zu werden. Aber Heide sagt, dass es ein Fieber war. Wie dem auch sei, nach ihrem Tod haben sich vor allem Heide und Dorn um mich gekümmert. Und so hat Dorn mich schließlich als seinen Lehrling behandelt, obwohl ich ihn nie darum gebeten hatte, und ich mag es auch nicht. Aber alle scheinen einfach davon auszugehen, dass ich das nun mal bin. Sie wissen, dass ich keine Lust dazu habe. Moos wäre ein besserer Schamane. Aber jetzt lässt es sich nicht mehr ändern. Jetzt spielt das allerdings keine Rolle mehr, weil ich jetzt dich habe. Ich hoffe, dass ich mit dir zusammen ein viel besserer Schamane werde.

Elga lächelte ihr kleines Lächeln und küsste ihn. — Da hast du recht, sagte sie.

Im elften Monat waren sie den ganzen Tag so in Eile, als gelte es, ihren sicheren Untergang abzuwenden. Was auch zutraf, wie die schnell kürzer werdenden Tage deutlich machten. Es wurde kälter, Blätter wirbelten ostwärts, getragen von Winden, die des Nachts Unheil verkündend durch die Große Schlucht heulten. Wie groß die Welt wird, wenn es stürmt!

Brennnesseln für Netzschnur. Lilienzwiebeln. Birkenrinde. Zedernwurzeln. Kiefernharz. Fichtensaft, Innenrinde von der Fichte. Mistelbeeren. All das mussten sie im Herbst sammeln.

Wenn sie zum Sammeln unterwegs waren, nahmen Eistaucher und die anderen oft die Kinder mit. Um die Kinder bei Laune zu halten, wenn sie gerade nicht sammelten, bog Eistaucher ihnen meistens einen Reifen zurecht und ließ ihn rollen, sodass sie Stöcke hindurchwerfen konnten, oder er stellte Ziele für Wurfsteine auf. Er schnitzte Spielzeug aus Astlochstücken, versteckte es und schickte die Kinder auf die Suche. Er musste wie ein Eichhörnchen oder Häher denken, um sich zu erinnern, wo er die Stücke versteckt hatte, denn oft fanden die Kinder sie nicht. Es hatte keinen Sinn, etwas herzustellen und es dann an einem Ort zu verstecken, wo es niemand sah. Versteck deine Gaben nicht im Wald, hieß es, erzähl deine Geschichte nicht dem Wald. Obwohl er oft genau das tat, selbst wenn er dabei nie sprach.

Um den Vollmond des elften Monats stattete das Rudel der über ihnen im Hang gelegenen Höhle seinen jährlichen Besuch ab. Danach überließ man sie den Bären, die dort Winterschlaf hielten. Es handelte sich um eine eher kleine Zeremonie, aber da sie zum Herbstende stattfand, war sie dennoch wichtig: Auf diese Weise dankten sie Mutter Erde für das gute Jahr und festigten ihre Bande untereinander für den bevorstehenden langen Winter.

Diesmal würde Eistaucher mit Dorn im großen Gewölbe bleiben, nachdem sie die Zeremonie beendet hatten und alle anderen gegangen waren. Zum ersten Mal würde er tiefer in die Höhle vordringen, durch die Schamanengänge zu den geheimen Bereichen, die nur die Schamanen betreten durften. Den ganzen Herbst über hatte Eistaucher sich gefragt, ob Dorn ihn dorthin mitnehmen würde, nachdem er so empört über seine Hochzeit gewesen war. Der elfte Monat war immer näher gerückt, ohne dass der Schamane ein Wort darüber verloren hatte. Eistaucher war versucht gewesen, ihn darauf anzusprechen, aber weil er seine Sorge nicht zeigen wollte, schwieg er.

Am Morgen des elften vollen Mondes sagte Dorn: — Hast du die Farben und Pinsel zur Hand und deine Lampen?

— Ja.

— Denk daran, dass du dort drin noch nichts malen wirst, nicht dieses Mal und auch in den nächsten Jahren nicht.

— Ich weiß.

Er würde Dorn lediglich zur Hand gehen. Vielleicht würde Dorn ihn ein paar alte Linien nachziehen lassen. Doch das spielte keine Rolle. Er hatte Elga, und er würde in die Schamanenhöhlen hinabsteigen. Alles war gut und sogar besser.

Im Zwielicht des elften vollen Monds machte sich das Rudel auf den Weg hinauf von der Gewundenen Au zu der Lehmrampe, die aussah, als hätte man sie mit einem riesigen Stichel in die Felswand eingegraben. Die an die überhängende Wand der Balme gemalten Tiere hießen sie willkommen und führten die Besucher zum Höhleneingang. Es handelte sich um ein breites Loch in der Wand, das an der höchsten Stelle etwa mannshoch und von herabhängendem Gestrüpp gesäumt war. Die Tierbilder zu beiden Seiten des Eingangs zeigten, wie die Tiere in die Unterwelt heimkehrten, die sie geboren hatte. Die zur Linken waren größtenteils rot und die zur Rechten schwarz, doch jedes Tier hatte auch rote oder schwarze Stellen, ohne dass die beiden Farben sich miteinander mischten.

Obwohl die Nacht hereinbrach, leuchteten das letzte Zwielicht und der Schein des vollen Monds ein gutes Stück in die Höhle hinein, sodass die vorderen Wandbereiche noch gut zu sehen waren. Die Wände des ersten Raums waren nicht bemalt; er galt noch nicht als Teil des eigentlichen Höhleninnern, sondern als letzter Ausläufer der Außenwelt. Im Leib von Mutter Erde war er nicht das Sabelean, sondern die Baginare.

Als sie alle in dem großen, düsteren Raum auf dem Boden saßen, sprach Dorn fast in einer Art Plauderton zu ihnen, der sich völlig von seiner üblichen Schamanenstimme unterschied.

Wir hatten einen schlimmen Schamanen, der uns zwickte

Und uns mit dem Stock schlug, bis wir bluteten,

Uns Knochennadeln durch die Ohren stach

Und sie seitlich herausriss, damit wir nichts vergaßen.

Ihr seht, was mir blieb, nichts als Löcher im Kopf,

Die zu meinem Gehirn führen.

Richtig war das nicht, doch eines gebe ich zu:

Ich erinnere mich sehr gut.

Ich weiß zum Beispiel noch,

Wie er uns zum ersten Mal in diese Höhle führte,

Um hier die heiligen Tiere zu malen.

Das war eine seiner Zaubersachen.

Er ließ uns alle die Felswände bemalen

Unter der Balme, wo Ordech und Urdecha sich treffen,

Mit Kohle und Blutstein.

Wir sollten es genauso machen wie er,

Nicht wie Kinder mit den Farben spielen,

Bunte Dreistriche sollten wir malen,

Mit allen Kniffen, die ihr hier seht,

Sodass unsere Brüder und Schwestern aussahen,

Als bewegten sie sich im Licht und sprängen euch an.

Ich weiß noch, wie er mich und die anderen Jungs

Zwang, seinen Zauberstaub zu essen,

Wir kotzten von dem bitteren Pulver

Und wandelten danach kniehoch überm Boden,

Wobei man sehr leicht hinfällt.

Er zerrte uns in die Tiefen der Höhle

Und sang dabei ein Geisterlied,

Damit die große Muttergöttin, auf deren Leib wir stehen,

Wusste, dass wir kommen,

Und er sagte, wir würden uns mit ihr paaren,

Indem wir ihr Innerstes beträten.

In jener Nacht wären wir die Spritzmilch.

Der Mond war voll, und Pfeifhase, der Schamane,

Ergriff eine Öllampe und führte uns in Mutter Erdes Kolbi,

Die warm war und feucht, was auch sonst.

Alles eröffnete sich uns, und es pulsierte nicht rosig, sondern gelb und rot.

Dorn hielt inne und ließ den Blick über die sie umgebenden Höhlenwände schweifen.

— Und da wären wir wieder, schloss er unvermittelt. — Ich will es euch zeigen.

Sie entzündeten ihre mitgebrachten Kiefernfackeln, und im wabernden Schein der Flammen drangen sie tiefer in die Höhle vor. Der nächste Bereich wurde nur noch vom gelben Fackelschein erleuchtet, der die Tiere an diesen ersten bemalten Wänden rot hervorstechen ließ. Bei den meisten handelte es sich um rote Löwen, weshalb man diesen Ort entweder die Löwenhöhle oder die Rote Höhle nannte oder manchmal einfach nur die Erste Bemalte Höhle. Dorn zufolge hatte jedes Rudel, das diese Höhlen aufsuchte, seine eigenen Namen für ihre verschiedenen Räume, und die jeweiligen Schamanen konnten diese Namen nicht abgleichen.

Als sie alle in der Roten Höhle waren, versammelten sie sich im Kreis um Dorn, und er reichte seine brennende Pfeife herum, damit jeder einen Zug aus ihr nehmen konnte. Inmitten des Rauchens und Hustens schüttelten einige der Männer Rasseln und bliesen in dicke Kürbisse. Die Frauen sangen die Danksagung für das Jahr, wie sie es bei diesen Besuchen immer taten, und dann steckte Dorn alle Fackeln in der Mitte in den Boden, sodass die Schatten des um sie herumtanzenden Rudels an die Wände geworfen wurden, als schwarze Gestalten, die sich über die roten Tiere bewegten, welche sich nach einer Weile selbst zu bewegen begannen. So tanzten sie zusammen mit den Tieren in der Höhle, langsam, um ihre Geister nicht zu verschrecken, und dann traten sie an die Wände heran und berührten die Flanken der Tiere und ihre eigenen Schattenhände, um so mit den Höhlengeistern in Verbindung zu treten.

Anschließend ließen sie sich alle dicht bei den Fackeln nieder, hielten sich bei den Händen und beobachteten schweigend die pulsierenden Wände um sie herum. Es wurde so still, dass sie einander atmen, ihren eigenen Herzschlag hinten in ihren geöffneten Mündern hörten. Das immer so geschäftige Jahr fand zu seinem stillen Moment des Dankes. Lange Zeit saßen sie so da, blickten auf die Tiere um sie herum, deren rotes Pulsieren wie die Initiation ihrer Frauen aussah, und es fühlte sich wie der längste Moment des ganzen Jahres an, wie die Spindel, um die sich die Sterne drehen.

Dann gab Dorn mit einem lauten Summen einen Ton vor, und alle anderen fielen mit ein. Solcherart ihren Abschied summend, erhob sich das Rudel. Einer nach dem anderen kehrte der Kammer den Rücken zu, gelangte durch den hellen Raum hinaus ins Freie, wurde durch die Baginare der Welt neu geboren, hinein in die Gewundene Au. Ihre Schamanen Dorn und Eistaucher ließen sie in der Höhle zurück, damit sie weiter für sie sprachen.

22

Dorn entzündete mehrere Öllampen an den Fackeln, und als die kleinen Dochte brannten, löschte er die Fackeln, indem er sie in den feuchten Lehm am Boden drückte. Für eine Weile war es erschreckend dunkel, doch dann konnte Eistaucher wieder sehen, wenn auch nicht so deutlich wie im Licht der Fackeln.

Eistaucher folgte Dorns schwarzem Rücken tiefer in die Höhle hinein. Die Lampen in ihren Händen flackerten bei jedem Schritt und ließen ihre Schatten über die Wände tanzen, sodass die ganze Höhle zu zittern schien.

Als Eistauchers Augen sich an die Lichtverhältnisse angepasst hatten, nahm er die Wände deutlicher wahr. Das weißliche Gestein schimmerte an vielen Stellen feucht, wölbte sich vor oder wich vor ihm zurück, sodass der Stein mal zu glitzern schien und an anderen Stellen dunkler wirkte. Hier und dort war er von einer dünnen, durchsichtigen, nassen Schicht bedeckt, die wie Eis aussah; an anderen Stellen schimmerte glatter Matsch darauf; und an wieder anderen Stellen war er sauber abgesplittert, als wäre er frisch behauen.

Plötzlich kam ein schwarzer Löwe aus der Wand zu seiner Rechten, setzte genau auf ihn zu. Ängstlich zuckte Eistaucher zurück. Er hörte, wie Dorn weiter vorne dumpf lachte; dem Schamanen war nicht entgangen, wie Eistauchers Lampe geflackert hatte.

Jetzt traten zu beiden Seiten des Ganges schwarze Tiere in voller Größe aus den Wänden heraus. Langsam schritten Dorn und Eistaucher zwischen ihnen hindurch, gingen abwärts und erreichten einen großen, unregelmäßig geformten Raum, in dem an allen Wänden Gruppen von Tieren gemalt waren. Sie begannen etwa auf Brusthöhe und reichten so hoch, wie man den Arm strecken konnte, wanden sich wie ein Gürtel um die beiden herum. Dorn blieb in der Mitte des Raums stehen und drehte sich langsam im Kreis, und Eistaucher drehte sich mit.

Der Boden unter seinen Füßen war feucht und an einigen Stellen schlammig. Je nach dem Wechsel von Licht und Schatten schienen sich verschiedene Tiere über die Wände zu ziehen. Am Fuße einer Wand gab es ein schwarzes Loch, aus dem ein leises, glucksendes Geräusch drang. Ansonsten war es sehr still.

Eine ganze Weile sahen sie die Malereien an, von denen einige bloß Dreistriche, die meisten aber voll ausgeführt waren. All die heiligen Tiere waren da, Bär und Löwe, Bison und Pferd, Mammut und Nashorn; sie alle standen still und bewegten sich zugleich, und da sie einander überlagerten und von sehr verschiedener Größe waren, wohnte ihrer Reglosigkeit eine angespannte, bebende Bewegtheit inne. Letztlich blieb jedes Tier an seinem Platz und zitterte nur leicht im Lampenschein.

Dorn stieß ein kurzes Lachen aus und ging weiter. Eistaucher folgte ihm, wobei er wie geheißen genau in die Fußstapfen des Schamanen trat, womit man wohl einerseits der Göttin seinen Respekt erwies und es außerdem vermied, in den Schlamm einzusinken, der einen Großteil des Bodens bedeckte.

Die Durchgänge zwischen den verschiedenen Räumen waren eng. Die Räume selbst waren hingegen groß, größer als jede Behausung. Obwohl die Wände unregelmäßig und deshalb voller schwarzer Schatten waren, wurde man sich ihrer immer ganz gewahr, und sie flackerten im Licht der Lampen. An manchen Stellen waren sie mit roten Linien und Spiralen bemalt, und wenn Eistaucher sie genau betrachtete, wanden sie sich unter seinem Blick, bis sie sich schließlich von der Wand lösten und vor ihm her durch die Schatten schwebten, wie Farbblasen, die direkt auf seinen Augäpfeln saßen. Selbst als er die Augen schloss, konnte er die Punkte noch sehen und ein Netz roter Linien, das sie verband und sich im Takt seines Herzschlags auf und ab bewegte. Als er die Augen wieder öffnete, hatte sich alles in ein Gewirk aus rot-schwarzen Mustern verwandelt, manche eng- und manche weitmaschig. Der Schoß von Mutter Erde war wie ein Weidenkorb.

Sehr langsam setzten sie ihren Weg fort, und Eistaucher hatte das Gefühl, eine lange Zeit unterwegs zu sein. Am Ende eines gewundenen, abschüssigen Gangs stiegen sie auf einen kantigen Felsbrocken, den hier offensichtlich einmal jemand als Trittstein an einem tiefen Abbruch platziert hatte. Weiter vorne wurde es kurz so eng, dass sie sich seitlich zwischen den Wänden hindurchquetschen mussten, sodass Eistaucher spürte, wie die Erde ihn einmal klamm drückte, ehe sie ihn passieren ließ.

Jetzt befanden sie sich wahrhaftig im Schoß von Mutter Erde, im Kolbos, im Sabelean. Ich mag ihre Kolbi, sagten Männer oft und fügten manchmal noch hinzu: Sie heißt einen willkommen wie ein Reh. Aber hier unten war es zu tief und dunkel und kalt für solche Worte. Dies war der Schoß von Mutter Erde, die den Himmel und alles andere geboren hatte. Sie bewegten sich in ihrem Innern. Die Wände um sie herum waren leicht glitschig vor Nässe, genau wie in Elgas Fuchs. Mit ihren Malereien schwängerten sie Mutter Erde mit den Tieren, die ihr am heiligsten waren. Eindeutiger konnte das nicht sein. Dorn bemalte die Wände ihrer Kolbi mit seiner Farbe, und dann brachte sie das Tier zur Welt, das er gemalt hatte, und so weiter fort.

Dorn sang ein Lied, das ziemlich genau das aussagte, was Eistaucher dachte:

Wir kommen nun zu dir, Mutter, Schwester,

Wir singen und bringen dir die deines Volkes,

Bison und Pferd, Günstlinge der Sonne,

Jäger und Gejagte, Katzen und Mammuts

Und alle Brüder und Schwestern,

Die, die du liebst, und die, die wir lieben.

Sprich zu mir, Mutter. Du bist die, der ich lausche.

Du bist die, die für mich sprechen soll. Nicht ich,

Sondern du. Du sprichst zu mir und durch mich.

Dorn war beim Singen dieses Lieds entspannter, als Eistaucher ihn je erlebt hatte. Es klang fast, als habe er eine andere Stimme, oder als spräche jemand anders mit seiner Stimme. So war Dorn anscheinend, wenn er glücklich war. Eistaucher sah ihn zum ersten Mal so.

— Du sorgst dafür, dass sie zu uns kommen, sagte Eistaucher. — Von hier gebiert Mutter Erde. Wir sind in ihrem Schoß.

— Ich teile der großen Mamma mit, dass wir diese Tiere ganz besonders lieben, sagte Dorn. — Sie gebiert alle Geschöpfe der Sonne, unabhängig davon, was wir tun. Aber wir können ihr zeigen, was wir lieben. Deshalb malen wir hier drin nur die heiligen Tiere. Es ist schön, wenn man sie dort oben an die Wände hängt, als würden sie schweben, als hätte man sie mit einem Speer an den Himmel geheftet. So hat Pfeifhase es immer gemacht. Er malte sie sogar mit hängenden Beinen, die Hufe eingebogen. Je schwerer sie in der Welt sind, desto deutlicher hat er sie so gemalt. Er beherrschte viele solche Tricks, kleine Witze für ihn selbst und die, die sie sehen konnten.

Dorns Stimme war selbst jetzt noch entspannt, obwohl er von seinem schlimmen Schamanen sprach. Sein Schatten zuckte an der Wand entlang wie ein lebendes Bild oder als tanzte sein Geist vor ihnen. Der Widerhall seiner Stimme schien auf einen weit größeren Raum hinzudeuten als den, den sie im Schein der Lampe sehen konnten. Die Wände des Gewölbes schwollen sichtbar an und ab, und zwar nicht im Rhythmus von Eistauchers Herzschlag, der sehr viel schneller pochte. Anders als in der Außenwelt stimmte das, was er hörte, nicht mit dem überein, was er sah. Manchmal saugte der nasse Matsch an seinen Füßen, und dann verfestigte er sich wieder zu nassem Stein. Wenn der Matsch weich wurde, hatte Eistaucher das Gefühl, in den Fels hinabzugleiten, und einmal, als er einen furchtsamen Blick nach unten warf, sah er, dass er bis zu den Knöcheln im Boden stand; hektisch trat er von einem Fuß auf den anderen, um sich zu befreien.

Dorn merkte es, und er streckte den Arm aus, ergriff Eistauchers rechte Hand, führte ihn zur Wand und legte die Hand darauf. — Berühre sie. Halt still.

Er setzte einen kleinen, ausgehöhlten Vogelknochen an die Lippen, der an Heides Holzblasrohr erinnerte, und blies ein Wölkchen schwarzen Pulvers über Eistauchers Handrücken. Sie verschwand in dem neuen schwarzen Fleck an der Wand, und Eistaucher spürte, wie der Stein seine Hand verschluckte, spürte, wie er von seiner Hand vorwärtsgerissen wurde. Die Wand drohte ihn einzusaugen; er war schon bis zum Handgelenk in ihr drin, und jetzt zog er seinerseits angestrengt, um sich zu befreien. Vor Angst wagte er es nicht einmal aufzuschreien.

Dorn legte Eistaucher den Arm um die Hüften, und zusammen und unter Ächzen und Schnaufen gelang es ihnen, Eistaucher aus der Wand zu ziehen. Als Eistaucher schließlich frei war, hielt er sich verblüfft die Hand vors Gesicht und starrte sie an, zitternd vor Erleichterung darüber, sie wiederzuhaben. Dorn führte ihn mit einer Behutsamkeit, die überhaupt nicht zu ihm passte, von der Wand fort. Hinter ihnen, dort, wo Eistaucher fast hineingesaugt worden wäre, befand sich nun ein Loch in der Form seiner Hand.

— Jetzt wird ein Teil von dir immer hier sein, sagte Dorn in einem Singsang.

Eistaucher dachte: Jetzt bin ich also wirklich ein Schamane, und sofort musste er den kleinen Funken der Angst ersticken, der in diesem Gedanken brannte und versuchte, ein Feuer in seiner Brust zu entfachen.

Dorn hielt Eistaucher weiter bei der Hand und zog ihn tiefer in die Höhle. — Hier musst du den Kopf einziehen, wir sind beinahe in der Schwarzen Höhle.

Der abwärts führende Durchgang weitete sich schon bald wieder, und sie betraten einen großen Raum mit einer Decke, die an einigen Stellen tief und gut zu sehen war und an anderen in purer Schwärze verschwand. Dorn stellte ihre Lampen vorsichtig auf dem Boden ab, sodass sie einen kahlen, gekrümmten Teil der Höhlenwand erleuchteten, links von einer großen Spalte, bei der es sich vielleicht um einen Durchgang zu noch tieferen Höhlen handelte, die aber zu schmal war, um einen Menschen durchzulassen. Kalte Luft strich daraus hervor. Ein Geräusch wie von fernen Stimmen drang durch ein Loch im Boden zu ihnen empor. Eistaucher bibberte, während er Dorn dabei half, ihre Sachen auszupacken und sie um die Farbschüssel herum ausbreitete. Dorn griff nach den Holzkohlestöckchen und inspizierte sie sorgfältig; die verbrannten Enden waren so schwarz, dass sie im Lampenschein unsichtbar für Eistauchers Augen blieben, es waren einfach Löcher in seiner Sicht, als er auf den Höhlenboden sah.

Weiter unten an der Wand, rechts der Spalte, hing ein Stein in Form eines Bisonvisels von der Höhlendecke. Die Kolbi einer Frau war darauf gemalt, einmal mehr so schwarz, dass es sich bei ihr um ein Loch im Stein zu handeln schien, dreieckig, ein schwarzer Keil zwischen Beinen, die unterhalb des Knies spitz zuliefen. Der vertikale Spalt des Kolbos war von reinem Weiß; man hatte ihn mit einem Stichel unten in das Dreieck hineingekerbt, sodass er sich vor dem satten Schwarz des Fuchses als leuchtend weiße Linie abzeichnete. Der Spalt, der Schlitz, die Kolbi, die Baginare, der Weg zur Verzückung.

Zur Rechten schwebte über den Beinen dieser nackten Frau ein Bisonmann, der sie gerade besteigen wollte. Das linke Bein hatte er unter ihr linkes Bein gehakt, um ihre Schenkel auseinanderzudrücken und in sie hineinzustoßen. Es war ganz eindeutig zu erkennen.

Dorn lachte, als er sah, wie Eistaucher das Bild mit großen Augen betrachtete.

— Das war Pfeifhase, erklärte er. — Der ist sich für nichts zu schade.

Dorn verstreute ein paar trockene Kiefernnadeln und entzündete sie mit seiner Lampe, ehe er sich wieder erhob und sich seine Pfeife daran ansteckte. Er sog den Rauch tief ein und atmete ihn dann auf ein leeres Stück Wand. Anschließend drückte er sich mit weit ausgebreiteten Armen dagegen, und Eistaucher befürchtete, dass er mit der Wand verschmelzen und ihn allein zurücklassen würde. Doch er kehrte zurück und setzte sich, und sie rührten die Farbe in einer Schüssel an, indem sie etwas schwarzes Pulver, das Dorn in einem Beutel mit sich trug, mit Wasser aus seinem Wasserschlauch vermischten. Er erklärte, dass er sowohl schwarze Farbe als auch Holzkohlestöcke verwenden würde. Bei der Arbeit stimmte er ein tiefes Summen an, das erst von einer Seite ihrer Nische widerzuhallen schien und dann von der anderen.

Dann erhob er sich wieder und küsste die Steinwand. Er rieb mit den Händen über eine Erhebung, bei der es sich ihm zufolge um eine Löwenschulter handelte, spürte jedem Riss und jeder Vertiefung erst mit den Fingerspitzen und dann mit den Lippen nach. Die Wand war von feinen Rissen bedeckt, aber ansonsten bot sie eine saubere Oberfläche.

Dorn atmete singend aus: — Ahhhhhh, ahhhhhh, ahhhhhh, in gleichbleibender Tonlage. Die Höhle erwiderte sein Summen: — Ahhhhhhhhhhhh. Eistaucher spürte das Geräusch unter der Haut und dann in den Knochen. Auch er summte, ohne sich bewusst dafür entschieden zu haben, als sei er eine Trommelhaut, der nichts anderes übrig blieb, als zu schwingen. Es war eine Art Zittern, als dringe die Kälte der Höhle in ihn ein und mache dabei ein Geräusch wie von Flusseis in der Sonne. In jenem Moment summte alles in der Höhle das gleiche Ahhhhhh, und die Schwingung half Eistaucher dabei, gegen die Kälte anzukämpfen, die aus dem Boden in seine Füße aufstieg wie Wasser. Ahhhhhh, ahhhhhh, ahhhhhh …

Dorn war noch immer mit der Wand beschäftigt. Den Kopf auf die Seite gelegt, zog er eine Linie mit seinem Holzkohlestift, trat zurück, holte tief Luft und atmete dann laut aus. — Ha, sagte er. — Gut. Also, fangen wir an. So kommen wir nun zu dir, Mutter, Schwester! Eine Jagd, die ich selbst an einem Mittsommertag gesehen habe.

Er wählte das Stöckchen aus, mit dem er anfangen wollte, und drückte eine Seite davon mit seiner Klinge platt, behutsam, damit die spröde Kohle nicht zerbröselte. Als er fertig war, tunkte er die Spitze in die Schüssel mit schwarzer Farbe und erhob sich.

Als er das verkohlte Ende des Stöckchens an die leere Wand drückte, sang er: — Ahhh. Die Wand erwiderte seinen Gesang: — Arrrr. Dorn neigte den Kopf beim Malen nach links, und sein ganzer Körper spannte sich an wie der einer Katze auf der Jagd, entspannte sich dann wieder und spannte sich erneut an, als er eine weitere Linie malte. Seine Bewegungen waren geschmeidig, er zog jede Linie, ohne innezuhalten oder abzusetzen. Die runde Erhebung an der Wand wurde zur Schulter eines Löwen. Dann entstand ein Kopf, wie bei einem Dreistrich. Die schwarz ausgemalten Ohren waren abgerundet und standen nach vorne: Die große Katze lauschte. Beide Augen waren vorne im Gesicht erkennbar, ihr Blick war aufmerksam nach links gerichtet. Ein weiterer Kopf vor und unter dem ersten folgte, lang gezogen und finster dreinschauend, die Ohren flach angelegt, eine Tatze nach vorne ausgestreckt. Dann kam ein losgelöstes Bein, das horizontal darüber schwebte. Offensichtlich handelte es sich um dieselbe Vordertatze einen Augenblick später. Der Löwe stürzte sich auf seine Beute.

Eistaucher sah Dorn mit offenem Mund bei der Arbeit zu. Ein weiterer Kopf entstand vor dem angreifenden Löwen, mit geöffnetem Maul und aufgerissenen Augen, deren mit Bedacht platzierte Pupillen genau anzeigten, worauf der Blick des Löwen sich richtete. Dann folgte ein riesiger Kopf, der bisher größte, vorneweg; dieser starrte vor Hunger geifernd geradeaus. Schließlich folgte ein kleinerer Kopf im Dreistrich und dann noch einer.

Als all diese Köpfe fertig waren, setzte Dorn sich hinter den Lampen auf den Boden und betrachtete sein Werk. Dann sprang er mit einem frisch präparierten Stöckchen vor und begann von Neuem zu zeichnen. — Ahhhhhh.

Mehr Löwen und einige Streifen, die er sowohl mit den Fingern als auch mit dem Stock an die Wand wischte, um bestimmte Bereiche des Kopfes dunkler zu machen. Er tunkte seine Finger oder ein kleines Mooskissen in die schwarze Farbe und trug sie sehr behutsam auf. Jetzt setzten die Löwen geschmeidig nach links, sechs Löwenköpfe, manche größer und manche kleiner, geschwärzt oder als Dreistriche, mit einigen Schnörkeln und losgelösten Tatzen darum herum, um den Bewegungsfluss zu betonen. Sie alle zitterten im Lampenschein.

Darüber fügte Dorn zwei Löwen hinzu, die sich nicht um die Jagd kümmerten und sich mit den Schnauzen berührten, wie Katzen in einem Rudel es manchmal taten. Noch weiter oben kam ein Löwe mit einer Schnauze, die fast so lang war wie die eines Höhlenbären, und der augenlos geiferte. Das war der Hungrigste von ihnen. Rechts von ihm war einer wie gewöhnlich im Profil zu sehen, wandte den Blick jedoch zugleich dem Betrachter zu, beides an derselben Stelle der Wand.

Dann kratzte Dorn mit einem Stichel über die Wand, um den Bereich um die schwarzen Köpfe herum aufzuhellen. Ein großer Löwenkopf hatte drei Reihen von Schnurrhaarpunkten um die Schnauze, über einem zugekniffenen Maul. Draußen in der Welt sahen sie ganz genauso aus. Wenn sie jagten, waren sie konzentriert und ernst und schürzten die Münder wie griesgrämige alte Männer beim Nachdenken. Nun punktete Dorn auch auf den Löwenkopf darüber Schnurrhaare. Anscheinend war ihm das erst im Nachhinein eingefallen.

— Moment mal, ich sehe etwas, sagte Dorn.

— Die Tiere, die sie jagen, riet Eistaucher.

— Genau. Sie haben acht Bisons gejagt.

Soweit Eistaucher es beurteilen konnte, war auf der linken Seite der Löwenwand, die abknickte und in der Finsternis verschwand, nicht genug Platz für acht Bisons. Neugierig beobachtete er, wie Dorn einen Rentier-Schienbeinknochen nahm und damit über den unteren Teil der verbliebenen Fläche kratzte, um dann einen Bison mit dem Horn eines Nashorns zu malen, der vielleicht eine Art Witz darstellen sollte oder einen seltsamen Blickwinkel. Darüber malte er eine dichte Gruppe von Bisonköpfen, die mit Ausnahme des Kopfes am weitesten links alle im Profil zu sehen waren. Der Kopf links starrte aus einem misstrauischen, runden weißen Auge genau den Betrachter an. Die Bisons hatten Nüstern und Augen vor Unbehagen zugekniffen, mit Ausnahme des einen, der Eistaucher unter seinen wunderschön gekrümmten Hörnern hervor ansah. Tiere wurden selten von vorne gezeichnet, aber Eistaucher gefiel der charakteristische Doppelbogen der Hörner, den man sah, wenn sie einem entgegenblickten: nach außen, nach innen, nach außen.

Jetzt stieg Dorn fast in die Wand hinein, als er mit einem Mooskissen Schwarz in einige der Bisonköpfe tupfte. Seine Nase schien seine Arbeit zu berühren, als wollte er die Malereien mit ihr schwärzen. Die drei oberen Bisonköpfe waren die dunkelste Masse an der Wand, und es machte fast den Eindruck, als würden sie aus ihr heraustreten, vielleicht, um den Löwen zu entgehen, deren geschmeidige Verfolgungsjagd sie leicht in die Wand hineinzuführen schien. Ja, sie waren auf der Flucht: Das war unverkennbar.

Mit einem neuen Kohlestift schwärzte Dorn den ganzen linken Rand des Bilds, wo das Gestein sich fortkrümmte, wodurch er der Szenerie eine Art schwarzes Flussufer als Begrenzung hinzufügte. Nun hing die Vision der Jagd als Ganzes vor ihnen im Raum, verschmolz mit Mutter Erde, trat aus Mutter Erde hervor. Eistaucher stellte fest, dass er stand, obwohl er sich nicht daran erinnern konnte, aufgestanden zu sein. Er hatte die Arme um die Brust geschlungen.

Dorn trat neben ihn zurück und betrachtete sein Werk.

— Ah, gut, sagte er. — Heute Abend sind sie wirklich gekommen. Eine ganz schöne Sache, was? Löwen auf der Jagd.

— Ich sehe, wie sie sich bewegen, sagte Eistaucher.

— Ja, gut. Siehst du auch, wie ich es gemacht habe? Das kann man lernen. Jedes Tier muss seinen eigenen Bereich haben, und man muss es ein bisschen in die Richtung dehnen, in die es sich bewegen soll. Unterschiedliche Größe, ein bisschen gedehnt, und ein paar zusätzliche Striche.

— Und die Sache mit den vorderen Teilen der Beine. Den losgelösten, meine ich.

— Ja, das stimmt.

— Die beiden Löwen, die sich mit den Schnauzen berühren, ergeben keinen Sinn.

— Aber so sind Katzen, erwiderte Dorn. — Das weißt du doch. In jedem Rudel gibt es ein paar, die sich überhaupt nicht darum kümmern, was die anderen machen. Rabe hat sie durcheinandergebracht, sodass sie nicht besonders gut darin sind, sich wie Rudeltiere zu verhalten. Es fällt ihnen schwer, lange genug auf der Jagd zu bleiben, und es ist ihnen egal, was das restliche Rudel von ihnen denkt.

— Das stimmt, sagte Eistaucher, der sich an Löwen erinnerte, die sich auf einer Wiese rekelten, ohne einander zu beachten.

— Deshalb sieht es dadurch echter aus. Ich habe es einfach so gemacht, wie es mir eingefallen ist. Es muss immer mehr sein als nur deine Vorstellung von dem, was du willst. Es ist nicht nur dein Plan. Du musst überlegen, wie es wirklich wäre. Und hier, siehst du, wie der Löwe und der Bison zu seiner Linken auf derselben Erhebung sind? Es ist, als bildeten sie zusammen ein Tier, das wie beides zugleich aussieht. Und wenn der Löwe den Bison fängt, passiert natürlich genau das. Im Moment des Anblicks sieht man oft beide Geschichten auf einmal, miteinander vermischt. Wie bei einem zweiköpfigen Schaf in der Herde. Oder bei dem Bisonmann dort drüben, der gerade die Frau besteigen will. Siehst du, dass das linke Bein beiden gehören könnte? Die Dinge überlappen sich.

— Es bewegt sich wirklich, sagte Eistaucher, der es langsam mit der Angst zu tun bekam, weil er die Löwen nicht zum Stillstand bringen konnte. — Ich habe das Gefühl, zu stolpern und zu fallen.

— Gut. So soll es sich anfühlen. Das ist die Falle des Malers. Sie versuchen ewig, sich zu bewegen, ohne jemals voranzukommen. Die Leute kommen hier herein und sehen, wie sie sich bewegen. Wie gerne ich dabei wäre, wenn Quarz das hier entdeckt! Er trägt immer seinen Umhang mit dem Löwenkopf. Das wird ihm die Schädeldecke wegpusten. Er wird sich in die Hosen scheißen, er wird plappernd davonrennen und vielleicht noch mit dem Kopf an den Bullenpimmel dort drüben stoßen, genau gegen die große Kolbi des alten Mädchens da knallen. Da wäre er nicht der Erste, der sich am Beckenknochen einer Frau bewusstlos schlägt. Komm, lass uns rausgehen. Ich habe Hunger.

23

Eistaucher in den folgenden Tagen:

Etwas Holzkohlestaub und Wasser vermischen und damit zu der Felswand am Fluss hinuntergehen, um Dreistriche einiger Tiere zu zeichnen, die Linien zu üben, die die jeweiligen Tiere ausmachten, ihre Proportionen, ihre Bewegungen. In den meisten Jahren wusch das Frühlingshochwasser die Wand wieder sauber.

Details hob er sich für die flachen Sandsteinstücke auf, die er wegen ihrer Oberflächen sammelte — glatt, geriffelt, rissig, jede mit ihren ganz eigenen Möglichkeiten. Er verbrachte viel Zeit damit, Klingen zu behauen, bis sie ihm gut genug erschienen, um sie auf Stöcke zu stecken und zum Ritzen zu verwenden. Immer war er auf der Suche nach einem Stichel mit besserer Spitze und Schneide. Feuerstein konnte auf so viele Arten falsch splittern, dass es einen fast wahnsinnig machte. So etwas wie den vollkommenen Stichel gab es einfach nicht. Die Winkel, die man brauchte, entsprachen nicht den natürlichen Winkeln des Feuersteins. Man bekam eine gute Spitze oder eine gute Schneide hin, aber nicht beides aus dem gleichen Stück Stein.

Trotzdem war es ein interessanter Versuch. Es kam darauf an, geduldig zu sein. Wie wenn man Speere durch einen Reifen warf: Man musste es zwanzigzwanzigzwanzigmal machen, bis man wusste, was dabei herauskam, wenn man es überhaupt jemals wissen konnte.

Schweigen ist ein Gebet.

Morgens dasitzen und Stein auf Stein schlagen und dabei darauf achten, im Moment des Zuschlagens die Augen zuzukneifen und den Blick abzuwenden. Ein einziger Splitter konnte einen erblinden lassen. Das Ergebnis im Licht der Sonne begutachten, Scherben und Splitter betasten. Nach einem Glückstreffer lagen manchmal die erstaunlichsten Klingen im Staub. Mädchen umarmten einen und bedachten einen mit freundlichen Blicken, wenn man ihnen genau die richtige Art von Klinge brachte. Er hatte schon einige Nadeln, die ihm recht gut gefielen. Feuerstein behauen war eine gute Sache. Je besser man die Dinge herstellt, desto besser sind sie zu einem.

Heide fragte sein Wissen über Pflanzenkunde ab. Jedes Zweiglein, das sie ihm vorlegte, war zum Bersten angefüllt mit der eigenen Lebensgeschichte, voller Nutzen und Gefahr, und so ging es Zweig für Zweig, bis es Eistaucher vorkam, als gäbe es eine unendliche Vielfalt von ihnen, als glichen sich keine zwei Pflanzen auf der Welt. Das stimmte natürlich nicht, von jeder Sorte ließen sich zahlreiche Exemplare finden, und oft gab es ganze Ansammlungen einer Sorte an ihren jeweiligen Lieblingsplätzen, beispielsweise in dünnen Erdschichten oder im Schatten, oder wo auch immer sie sich für gewöhnlich niederließen. Je mehr Eistaucher mit Heide lernte, desto besser begriff er das, und es entzückte ihn, auf welch mannigfaltige Weise die lebenden Dinge ihr Dasein fristeten. Sie wuchsen, gediehen, starben, nährten ihre Nachkommen, die auf ihnen wuchsen und von ihnen zehrten. Pflanzen waren stumme Personen, die sich nicht vom Fleck rühren konnten.

Beim Kosten ging Heide allerdings zu weit. Sie wollte, dass er sie an alle möglichen Orte begleitete und von allem, was sich dort fand, etwas mit zurückbrachte, und dann wollte sie, dass er ihr dabei half, all das zu essen! Er war doch nicht ihre diebische Katze, die die seltsamen Leckerbissen hochwürgte, die Heide ihr hinstellte. Nahm man noch das hinzu, was er bei Dorn lernen sollte, war es ihm beinahe zu viel.

Allerdings machte es ihm mehr Spaß, bei Heide zu lernen. Was Heide ihm vermitteln wollte, interessierte ihn mehr als das, was Dorn ihm vermitteln wollte, mit Ausnahme des Malens. Bei ihr konnte er Dinge sehen, sie berühren und sie sich vorsichtig auf die Zunge legen. Mit Dorn hingegen ging es immer ins Reich der Zahlen, Geschichten, Gedichte und Lieder, die man alle auswendig lernen musste, manchmal Wort für Wort. Worte Worte Worte! Die waren der Grund dafür, dass es ihm manchmal zu viel wurde.

Doch selbst Heide wollte, dass er Worte auswendig lernte. Beispielsweise verlangte sie von ihm, dass er ihr nachsprach, wenn sie die Eigenschaften dreier verschiedener vor ihm liegender Zweige aufzählte, und am nächsten Tag sollte er es alleine können, also starrte er die Zweige an und versuchte sich zu erinnern. Die Antworten fielen ihm nicht immer ein.

— Du bist nicht besonders gut darin, bemerkte Heide einmal.

Und bei einer anderen Gelegenheit: — Warum bist du so schlecht darin?

— Weil es mir keinen Spaß macht!, erwiderte er. — Du kannst mich nicht alles machen lassen.

— Alle machen alles, ist dir das noch nicht aufgefallen?

— Nein, das tun sie nicht. Niemand sonst macht den Schamanenkram. Und nur wenige Leute kennen sich mit Pflanzen aus. Und das sind vor allem Frauen.

Sie sah ihn an. — Tja, aber bist du jetzt Schamane oder nicht?

Er seufzte schwer.

— Also, sagte sie, — musst du all das wissen. Die Pflanzenkunde wirst du brauchen, wenn du dich um Kranke kümmern willst, und das ist nun mal die Aufgabe eines Schamanen. Unser Unaussprechlicher macht es vielleicht nicht gerne, aber glaub mir, es ist Schamanenarbeit. Das, was ich für die Kranken tue, würde sehr viel mehr bringen, wenn sie einen Schamanen hätten, der ihnen beibringen würde, was das alles soll. Also schreib es dir hinter die Ohren! Mach von mir aus ein Lied daraus, wenn du es dir dann besser merken kannst! Übe! Man merkt sich Dinge, indem man sie in Reihen und Gruppen zusammenstellt, wie Töne. Such dir deine eigene Methode, oder probier mehrere aus. Schau dir beispielsweise das Flussufer an und lege in Gedanken jedes Ding an eine andere Stelle am Ufer, so mache ich das. Es ist ebenso sehr eine Fertigkeit wie ein Talent, man kann also besser darin werden, wenn man sich Mühe gibt.

Erneut seufzte er schwer.

— Verschwinde, du Jammerlappen, du bläst noch mein Feuer aus. Geh in den Fluss heulen.

Damit entließ sie ihn. Dorn tat das nie.

— Erzähl mir die Geschichte vom Bisonmann, forderte Dorn beispielsweise.

Eistaucher biss die Zähne zusammen und holte tief Luft. Dorn war ein Bisonmann, und auch Pfeifhase war ein Bisonmann gewesen. Sie waren alle Arschlöcher. Seine Frau zu zwingen, sich mit einem Bison zu paaren, den daraus entstehenden Sohn in einer Höhle einzusperren, Mädchen hineinzuschicken, die ihn suchen sollten, das waren alles üble Sachen, weshalb sie Dorn auch so gut gefielen. Aber wenn Eistaucher die Geschichte so erzählte, dass sie so schlimm klang, wie sie auch wirklich war, versetzte Dorn ihm immer einen festen Klaps auf die Ohren. Langsam war Eistaucher das leid.

Es ist verboten!

24

— Ach, tut mir leid, das wusste ich nicht.

Zwanzig-Zwanzig Verbote im Wolfsrudel. Es machte Elga krank. Das Rudel, in dem sie aufgewachsen war, hatte auch Verbote gehabt, aber nicht so viele. Man darf keine Saugfische essen, weil sie Diebe sind! Man darf keine Hechte essen, weil sie zu gemein sind! Obwohl man böse Geister mit einem Ring aus Hechtkiefern und -zähnen vertreiben kann, den man sich über die Tür hängt. Niemals darf man einen frisch getöteten Fisch essen, während man seine Blutung hat, weil solche Fische noch nicht ganz tot sind und einen noch mehr zum Bluten bringen. Niemals darf man ein Tier schlachten, während man seine Blutung hat. Wenn man sich ein Kind wünscht und keines bekommt, dann soll man einen Bärenpenis essen, das funktioniert jedes Mal. Einen Blick auf ein Wiesel oder einen Specht zu erhaschen bringt Glück. Berühre niemals einen Raben! Raben stehlen einem das Glück.

Mit anderen Worten: Fürchte dich! Jeder im Wald weiß mehr als du! Doch Elga wusste von ihrem ersten Rudel, dass das nicht stimmte. All diese Wolfsfrauen ähnelten zu sehr ihren Anführerinnen Donner und Blauhäher. Der Fisch stinkt vom Kopf her.

Wenn man jemand wirklich kennen will, muss man herausfinden, mit welchem Tier er verwandt ist. Die starken Geister sind Bär, Faultier, Luchs, Wolf und Otter. Man darf nicht zu viel Wasser trinken, davon wird man tollpatschig.

Das stimmte. Elga nickte und lauschte, nickte und lauschte weiter. Sie stellte selbst dann Fragen, wenn sie die Antworten kannte. Jede Frau fragte sie das eine oder andere, sogar Donner, die normalerweise sprach, bevor man Zeit hatte, ihr eine Frage zu stellen. Wie macht man diese Soße? Was ist der Mond?

Die Sonne ist eine junge Frau, der Mond ist ihr Bruder, der mit ihr geschlafen und sich zu Stein verwandelt hat. Wenn im Herbst die Nordlichter hell leuchten, dann gibt es im folgenden Frühling viele Rentiere. Wenn man von einem Bären träumt, bedeutet das, dass ein Sturm aufzieht. Aber sag nicht Bär dazu, Frauen sagen stattdessen schwarzer Ort.

— Jagt ihr eigentlich Schweine?

— Sprich nicht die Namen schlimmer Dinge aus! Bist du etwa verrückt?

Und so bezeichneten sie Giftblatt als den bösen Strauch, Bitterwurz als das, was man nicht benutzte, Scheißschnell als das Hässliche, Wildschweine als die Unaussprechlichen, Luchse als Schwarzschwänze oder als Etwas-das-umgeht; Otter waren das Schwarze, Hyänen die Nichtgeachteten.

Nichtgeachtet, weil sie sich zu sehr wie Leute verhalten, dachte Elga, als sie das hörte.

— Iss niemals Fisch zusammen mit Stachelschwein!, brüllte Donner sie an. — Damit beleidigst du den Fisch!

— Ach, tut mir leid. Das wusste ich nicht.

Von Eisbergmilch bekommt man Durchfall. Wenn die Flusen der Weidenkätzchen umherfliegen, kommen die Lachse. Wenn man den ersten Lachs gefunden hat, streicht man mit Weidenzweigen über ihn und bittet darum, dass bald mehr Lachse kommen.

Sie hatten zwanzigzwanzig Rezepte dafür, Lachs haltbar zu machen, die alle köstlich waren. Verschiedene Lachssorten schmeckten besser mit den jeweils passenden Soßen. Wenn sie an die Lachsflüsse gingen und auf die Lachse warteten, so erzählte man Elga, sangen die Wolfsfrauen die Fische aus dem Meer herbei, indem sie alle Flüsse und Bäche aufzählten, durch die die Fische schwimmen mussten, um zu ihrer Verabredung mit dem Wolfsrudel zu erscheinen. Die ältesten Frauen aßen die ersten gefangenen Lachse, wobei sie sich alle Mühe gaben, keine einzige Gräte verrutschen zu lassen, und die Art, wie die Gräten am Ende dalagen, verriet ihnen, was sie im kommenden Jahr erwartete.

Donner war bösartig wie ein Hecht oder Leopard. Katzen waren die schnellsten aller Jäger, sie schlugen schneller zu, als man es sehen konnte. Wenn man einen roten Fuchs in Lagernähe bellen hört, wird bald jemand sterben.

Elga mochte weder Donner noch Blauhäher, und ihr fiel auf, dass die anderen Frauen die beiden auch nicht mochten, sondern sie nur ertrugen und einfach versuchten, möglichst wenig mit ihnen zu tun zu haben. Elga war eine solche Situation gewohnt: Im Jende-Rudel hatte es ihr auch nicht gefallen, und die Frauen dort waren abscheulich zu ihr gewesen. Donner und Blauhäher waren zwar nicht so schlimm, aber sie hatten eine eingeschüchterte und unzufriedene Gruppe von Frauen unter sich. Deshalb blieb Elga für sich und arbeitete hart für sie. Wenn sie es richtig anstellte, konnte sie ein stilles Gegengewicht zu den Anführerinnen bilden, doch das würde viele Monate dauern. Mit jeder Frage, mit jedem mitfühlenden Blick für eine Frau, die angebrüllt wurde, kam sie ihrem Ziel näher.

Also arbeitete sie und stellte Fragen. Wenn andere ihr Fragen stellten, dann fragte sie die Fragenden nach ihrer eigenen Meinung. Auf diese Art konnte man dem Gespräch immer eine neue Wendung geben. Sie merkte, dass Donner und Blauhäher sie für eine nachgiebige, vielleicht sogar etwas dumme Frau hielten. Erst später würden sie erkennen, woher der Wind wehte. Doch dann würde es zu spät sein.

25

Schlafe niemals ein, wenn dein Fleisch auf dem Feuer liegt.

Eistaucher fiel auf, dass Elga sich anscheinend gut mit Salbei verstand, was ihn ein wenig beunruhigte. Einmal näherte er sich Salbei allein am Fluss und versuchte sogar, ihr einen Kuss zu geben, wie er es früher getan hatte, doch sie runzelte finster die Stirn, versetzte ihm einen Schlag aufs Ohr und schubste ihn ein paar Schritte zurück. — Nein!

— Ich wollte das einfach gerade.

— Du willst zu viel!

Als er das hörte, erinnerte er sich an den Traum, in dem das Reh genau das zu ihm gesagt hatte. Erschreckt über diesen Nachhall, starrte er Salbei an. — Du warst das Reh!, sagte er laut und ging dann mit einem schmerzhaften Gefühl des Verlusts fort.

Aber all das war nur eine Art Übersprudeln seiner Gefühle für Elga und verschwand, wenn er bei ihr war. Wenn sie da war, konnte er kaum den Blick von ihr abwenden, und wenn er sie tagsüber unten im Lager ausmachte, bekam er einen Ständer einfach nur davon, sie zu beobachten, wie sie mit ihren langen Beinen gemächlich umherging. Seine Frau. Wie bei allen Frauen, die er lustvoll betrachtete, waren es ihre ungewöhnlichen Proportionen, die seinen Blick anzogen. Immer das, was seltsam an ihnen war, fesselte seine Aufmerksamkeit und zog ihn zu ihnen hin. Seinem Dafürhalten nach sah keine Frau jemals schlecht aus. Wenn sie füllig war wie Entchen, war es eine gute Fülligkeit. Wenn sie männlich war, wie Donner, dann war es eben ihre Männlichkeit, die eine umso attraktivere Frau aus ihr machte. Und so weiter. In dieser Beziehung war ihm nicht zu helfen.

Tagsüber grüßte ihn Elga nur mit einem gelegentlichen Blick, bevor sie sich wieder ihren Angelegenheiten zuwandte. Aus der Entfernung sah Eistaucher, wie sie mit einer Person nach der anderen sprach, normalerweise mit den Frauen, aber auch mit Dorn und Falke und Schiefer. Es gefiel ihm nicht, wenn sie mit Falke redete, aber es gab kein Anzeichen dafür, dass zwischen den beiden etwas lief. Und letztlich blieb das Rudel das Rudel. Man musste mit jedem reden können, sonst gab es Probleme. Und wenn es zu viele Probleme gab, taten sich Spalten auf, und das war dann ein ernsthaftes Problem. So wie beim Fuchsrudel, das sich aufgespalten hatte — viele seiner jüngeren Leute waren nach Westen gezogen, auf die andere Seite der Eiskappen.

Nachts fanden Eistaucher und Elga sich auf ihrem Lager zusammen, hinter Heides Platz nahe der Felswand, schlüpften unter ihre Felle und zogen sich gegenseitig aus, erst einer den anderen und dann umgekehrt. Es war wunderbar, egal, wie rum sie es machten, und sie küssten und liebkosten sich dabei; und dann glitt er in sie hinein, und los ging’s.

Eines ungewöhnlich warmen Tages im zwölften Monat traf er sie alleine unten am Fluss an. Die letzten Vögel sangen in der tief stehenden Mittagssonne und verrieten dadurch, dass weder Katzen noch Bären in der Nähe waren. Elga sah, wie er sich näherte, und zog einfach ihren Umhang aus, band ihren Rock auf und ließ ihn zu Boden fallen. Ihre dunkle Haut schimmerte in der Sonne wie Feuerstein. Sie trat in den Fluss zurück, tauchte unter und erhob sich wieder, und das Wasser perlte im Sonnenlicht funkelnd von ihr ab, und er konnte all ihre herbstlichen Rundungen sehen, während er eilig seine Jacke aufschnürte. Er nahm sie in die Arme und hob sie hoch, brachte sie vor Begierde zum Lachen. Sie zog seine Hosen herunter und drückte mit beiden Händen seinen Visel, und sie ließen sich ins Wasser fallen, das hinter einer kleinen Krümmung seicht und sandig war. Ah, gesegnete Vereinigung. Er küsste sie überall, wollte jeden Punkt ihres Körpers, jede Vertiefung küssen. Er leckte sie, wie ein Hirsch ein Reh leckt, leckte sie, bis sie nach Luft schnappte und die Hüften wiegte, woran er erkannte, dass sie gleich kommen würde. In diesen Momenten gefiel es ihm, mit der Zunge so weit wie möglich in ihr drin zu sein. Wenn er spürte, wie sie sich um seine Zunge zusammenzog, war das das Schönste, was er sich vorstellen konnte, sogar noch schöner, als wenn er selbst spritzte, weil er beim Spritzen meist nicht mehr bei sich war, während er, wenn er den Druck ihrer Kolbi um seine Zunge verspürte, noch ganz da war. Es gab sonst nichts, wobei er sich so lebendig fühlte. Wenn er dann selbst spritzte, was sie hinterher mit leichter Hand herbeiführte, war das eine Art übersprudelndes Glück. Danach glühte sein ganzer Körper, und er wollte die Nase an ihrer dunklen Haut reiben, ihre Wärme spüren, sie riechen. An den Bach kriechen, das Gesicht hineintauchen und tief das klare, kalte Wasser trinken, das noch immer ihren Geschmack hatte, wenn er sich hinterher die Lippen leckte. Der Winter würde gar nicht so übel sein, wenn er sich von Elga wärmen lassen konnte.

— Es ist so schön mit dir.

— Weil du mich liebst. Das sagte sie mit einem zärtlichen Blick. — Du liebst mich, und ich liebe dich.

— Ja. Ich wusste nicht, dass so etwas möglich ist.

— Ich auch nicht.

Es machte ihn so glücklich, dass er es kaum aushalten konnte, Zeit mit Dorn zu verbringen, diesem stinkenden, verlotterten Kerl mit seinen Zurechtweisungen und Befehlen, seiner Pingeligkeit und seinen verworrenen Lektionen. Lerne, das Verhältnis der Monate im Jahr zueinander zu berechnen, so viele Dutzend Tage, all die hässlichen kleinen Kerben in den Jahresstöcken und den Zählstöcken. Sag eines der fünf großen oder eines der zehn kleinen Gedichte auf, und zwar immer das, in dem Eistaucher am schlechtesten war. Duck dich weg, um dem flinken Mittelfinger auszuweichen, der von dem Daumen auf dein armes Ohr schnackt. Und letztlich brannten ihm nach zahllosen Fäusten ununterbrochenen Lernens dennoch die Ohren.

— Hör damit auf!, beklagte er sich.

— Hör du auf. Fang an mitzudenken, dich zu erinnern.

— Das mache ich doch schon. Lass mich einfach in Ruhe!

Aber er rannte nur selten davon, weil der Abend am Feuer dann schlimm wurde, und der nächste Tag auch, bis er sich entschuldigte und sich wieder an die Arbeit machte. Unter Schmerzen hatte er gelernt, dass es immer das geringste Übel war, bei Dorn zu sitzen und zu versuchen, seinen Unterricht durchzustehen.

— Moment, ich sehe etwas. Dorn scherte sich nicht um Eistauchers Übellaunigkeit. — Ein Gesicht, das nach links und unten schaut, dreht sich, sodass es nach rechts und oben schaut.

— Der Mann im Mond, sagte Eistaucher, — der sich jeden Monat umschaut.

— Ja. Und Vollmond ist dann, wenn das Mondgesicht direkt auf uns herabschaut. Wie viele Tage hat der Monat?

— Neunundzwanzig und einen halben von Neumond bis Neumond.

— Ja. Und wie gehen wir damit um?

— Wir lassen die Monate einander abwechseln und bezeichnen sie entweder als leer oder voll, was bedeutet, dass sie entweder neunundzwanzig oder dreißig Tage haben. Wenn sich zwölf solche Monate abwechseln, dann fehlen uns zur Wintersonnenwende noch elf oder zwölf Tage, weshalb die Schamanen beim Jahresabgleich alle zwei oder drei Jahre einen dreizehnten Monat hinzufügen.

— Ja. Und es funktioniert trotzdem nicht, fügte Dorn mit finsterer Miene hinzu. — Die Abweichung wird immer größer. Wühlmaus meint, mit seiner Aufteilung ginge es besser, zwei Dutzend und neunzehn über zwei Jahre hinweg, aber selbst damit verliert er etwa alle drei Jahre einen Tag, und außerdem, was soll denn das bitte für eine Aufteilung sein? Sie ist formlos, leuchtet niemandem ein. Katzenkotze.

— Vielleicht sollte Heide sie mal probieren.

Dorn lachte. — Ich wünschte, das täte sie. Ich wüsste gerne, was sie von alldem hält, aber sie interessiert sich nicht dafür, Himmel und Jahreszeiten zusammenzubringen. Ihr reicht es, von Monat zu Monat zu leben. Die Leute denken so, wie sie ficken, Frauen nach innen und Männer nach außen hin. Außerdem empfinden die Frauen natürlich wegen ihrer Blutungen alles in Monaten.

— Jeder empfindet in Monaten, bemerkte Eistaucher, der an die Nächte unter dem Vollmond dachte, an diese Welt des Lichts, so klar und blass, eine andere Welt, fast wie die Welt der Träume, nur dass sie wachend in ihr wandelten.

Dorn schüttelte den Kopf. — Alle empfinden in Jahren. In Monaten nur mehr oder weniger.

— Aber denk doch mal daran, wie man in Vollmondnächten sehen kann! Da ist es so hell, dass man sogar noch ein bisschen die Farben erkennen kann.

— Siehst du, jetzt denkst du wieder nach außen hin. Wenn es um den Mond geht, denkst du nicht nach innen hin, im Gegensatz zu den Frauen. Es gibt also einen Unterschied. Als verheirateter Mann hätte dir das eigentlich längst auffallen müssen.

Wenn Häher badeten, dann schafften sie es, ihr nasses Gefieder immer mehr durcheinanderzubringen. Niemals sonst sah man so strubbelige Vogelfedern, wie wenn Häher badeten. Es kam einem vor, als ob sie ihr Kleid auftrennten und für eine kleine Weile ablegten. Das Blau eines Blauhähers verschwindet. Schon bald, mit Beginn des Winters, würden alle Häher fort sein. Schon jetzt waren nur noch wenige da.

Neben Heide sitzen und Zedernwurzeln zum Korbmachen spalten. Zeit, die er mit Heide verbrachte, war viel unbeschwerter als Zeit, die er mit Dorn verbrachte. Sie ging jeden Tag spazieren, um nach ihren Pflanzen zu sehen, die an den unterschiedlichsten Plätzen wuchsen. Sie begleitete die Nusssammler, um ihnen zu helfen, und nahm Eistaucher als Späher und Helfer auf noch weiteren Streifzügen mit. Oft war er auf dem Rückweg beladen mit duftenden kleinen Zweigen oder ganzen Pflanzen, und sie zerdrückte die Blätter unter seiner Nase, damit er sich ihre Gerüche einprägte. Gerüche waren wirklich etwas Unverkennbares, das sofort in seinem Kopf Gestalt annahm, weshalb ihm auch fast immer die dazugehörigen Namen einfielen.

— Wenn du dir etwas merken musst, sagte sie zu ihm, — dann riech an diesem Rosmarinzweig. Das wird dir helfen, du wirst schon sehen.

Eistaucher nahm ihr den duftenden, trockenen Zweig mit den kurzen blassgrünen Nadeln aus der Hand. Er hatte einen ganz eigenartigen Duft, eine Note, die er von den Südhängen kannte. — Danke, das probiere ich aus.

— Bären haben den mit Abstand besten Geruchssinn, erklärte sie ihm.

— Stimmt es, dass man niemals den kleinen Magen eines Bären essen soll?

— Wer sagt das?

— Falke und Moos. Sie sagen, wenn man ihn isst, dann rutscht man später, wenn man durch den Wald geht, in seinen Schuhen aus. Sie sagen, dass sie es ausprobiert haben und Achtlos und Speerwerfer nicht, und dass sie ausgerutscht und hingefallen sind, während die beiden anderen keine Schwierigkeiten hatten.

Heide schüttelte den Kopf. — Ich weiß nicht. Es kann schon sein, dass der kleine Magen etwas enthält, wovon einem schlecht wird und das dem Gleichgewichtssinn schadet.

— Dann stimmt es also?

— Es könnte wohl sein.

Eistaucher entfachte mit seinem Feuerzeug ein Feuer, und sie erhitzten Wasser in Zedernbechern, die sie in Astgabeln hielten, um Kieferntee zu machen. Der Geschmack der Kiefern erfüllte seine Kehle und weitete sein Inneres. Tränen in den Augen. Die Kiefer hatte einen großen Geist, der ihnen auf alle möglichen Arten half. Dorn trug eine Kiefernspitze in den Haaren, wenn er in die Höhlen stieg, um ein bisschen Glück dabeizuhaben.

Für unterschiedliche Feuerzeuge verwendete man unterschiedliches Holz: Rotzeder, Bitterrose, Holunderbaum, Erlenwurzel.

— Finde heraus, welche Sorte am besten funktioniert, wies Heide ihn an und deutete dabei auf verschiedene Feuerzeuge, die sie zusammengestellt hatte.

— Wie?

— Probier sie aus und sieh, welches am schnellsten brennt! Sie sah ihn an, als wäre er geistig minderbemittelt.

Er nickte. — Na schön, ich probiere es. Wann bist du denn darauf gekommen?

— Letzten Winter.

— Und wie lange hast du gelebt, bevor du darauf gekommen bist?

— Los, mach schon.

Er nahm die Feuerzeuge mit und probierte jedes einzelne unter der tief stehenden Sonne aus, wobei er bei jedem den gleichen Zunder verwendete, eine Mischung aus getrocknetem Mulm und Moos, wie sie sie meistens benutzten. Dorn konnte mit dem Reibstock ein Feuer entfachen, noch ehe man sich bequem hingesetzt hatte. Eistaucher war nicht so schnell, aber wie die meisten anderen Leute war er trotzdem gut im Feuermachen. Das war auch der Grund, warum ihm sein Versagen in der ersten Nacht seiner Wanderschaft noch immer zu schaffen machte. Was war das nur für eine erste Nacht gewesen.

Er hatte den Eindruck, mit jedem von Heides Feuerzeugen etwa gleich lange zu brauchen. Die Erlenwurzel war fast schwarz und der Feuerstock daraus sehr viel leichter. Der Holunderholzstock bestand aus einem getrockneten Trieb. Die Feuerbretter mussten hart sein und eine feste, widerständige Maserung haben, damit die Spitze des Feuerstocks nicht aus der Mulde rutschte. Und die Feuerstöcke mussten hart genug sein, damit die Spitzen beim Drehen hielten, aber weich genug, damit sie sich erhitzten. Wenn man ein wenig Sand in die Mulde tat, erhitzte sich der Stock ebenfalls schneller, aber das wollte Heide bei diesem Test nicht.

— Sie sind zu dicht beieinander, sagte er zu ihr, als er alle ausprobiert hatte.

Sie runzelte die Stirn. — Mach es noch einmal, sagte sie. Ich werde die Zeit absingen. Und während er Feuer entzündete und ihm vor Anstrengung bereits die Arme wehtaten, wandte sie sich ab und sang das Lied vom Riedgrasspalten, das sehr kurz war und sich wiederholte. Immer wenn sie es fünfmal gesungen hatte, streckte sie die Finger aus und schnitt mit ihrer Klinge eine Kerbe in einen Zählstock. Als sie fertig waren, betrachtete sie nickend die Markierungen. — Mit Zeder geht es am schnellsten. Das können wir den Leuten beim nächsten Fest sagen.

— Das glauben sie uns nicht.

— Sie werden es uns glauben müssen. Sie deutete auf die Feuerzeuge. — Sie können es ja ausprobieren, dann sehen sie, dass wir recht haben.

Bei diesem Gedanken grinste sie verwegen. Es gefiel ihr, recht zu haben, das sah er ihr an, besonders, wenn niemand es abstreiten konnte. Für sie war das, wie wenn man ein Kaninchen mit dem ersten Steinwurf tötete. Dann ließ sich auch nicht abstreiten, dass es ein guter Wurf gewesen war.

Dorn schnaubte nur, als Eistaucher ihm später davon erzählte. — Bei ihren Angelegenheiten ist es nicht besonders interessant, wer recht oder unrecht hat. Da geht es nur darum, wie die Dinge eben sind.

— Aber genau das möchte sie erfahren.

— Natürlich. Das wollen alle. Aber die Sachen, die wir so herausfinden, sind nur ein sehr kleiner Teil von dem, worauf es ankommt. Daher ist es auch nur eine Art, wegzuschauen. Wenn man es mit den schweren Fragen zu tun bekommt, schaut Heide einfach weg.

— Was sie wohl dazu sagen würde?

— Frag sie! Aber ich kann dir sagen, was sie antworten wird, weil sie nämlich immer das Gleiche erzählt: Sie wird sagen, eins nach dem anderen. Zuerst muss man in Erfahrung bringen, was man in Erfahrung bringen kann, und sich dann den schwereren Dingen zuwenden.

— Und hat sie da nicht recht?

— Ganz und gar nicht. Die schweren Fragen drücken uns die ganze Zeit, Junge, unabhängig davon, was wir wissen oder nicht wissen. Man muss sich dem Narsuk stellen. Den schweren Fragen kann man sich nicht entziehen, nicht, wenn man wirklich leben will.

Die biegsamen jungen Zedernruten ließen sich zu starken Seilen weben, was eine der Tätigkeiten war, denen die Leute in den langen Nächten ums Feuer nachgingen. Sie woben und strafften sie und vergewisserten sich, dass sie gut hielten. Solche Seile waren manchmal sogar noch fester als Kordeln aus Rohleder. Wenn jemand Zedernruten mitbrachte, wurden sie sofort verarbeitet. Wenn Eistaucher mit Falke und Moos loszog, um nach den Schlingen zu sehen, nahm er eine kleine Klinge mit und schnitt so viele der jungen Äste ab, wie er in seinen Rucksack bekam. Alle versuchten, von ihren täglichen Ausflügen mit etwas zurückzukehren, das ihnen bei der abendlichen Handarbeit am Feuer von Nutzen sein würde.

An jenem Jahresende brachte Eistaucher es unter Steinbocks Anleitung zum Fünf-Strang-Seilflechter.

— Was hast du mit dem Finger gemacht?, fragte Steinbock und deutete auf Dickerchen.

— Den habe ich beim Behauen erwischt.

— Autsch. Das wird dir wohl nicht wieder passieren.

— So schlimm war es gar nicht, log Eistaucher.

26

Eines Morgens gingen sie zur Jagd los, folgten dem Fluss durch das Untertal und stiegen dann über den östlichen Höhenweg auf. Oben angekommen mussten sie kehrtmachen und sich ein Stück zurückziehen, weil eine Bärin gerade einen Bienenstock ausnahm, was wohl ein Weilchen dauern würde. Es hatte wenig Sinn zu warten, bis die Bärin und die wütenden Bienen miteinander fertig waren. Speerwerfer wollte sie töten, aber von einem Grat aus ging das nicht besonders gut, und außerdem hatten die anderen genug Bärenklauen und wollten für ein paar mehr kein Risiko eingehen. Speerwerfer schimpfte sie dafür aus, aber die anderen beachteten ihn nicht weiter und stiegen über einen Wildpfad, der Eistaucher zuvor nicht aufgefallen war, ins Untertal hinab. Speerwerfer konnte sich mit seiner Halskette trösten, an der eine ganze Menge Löwen- und Bärenklauen hingen.

Das Wasser im Bach am Talgrund stand so niedrig, dass sie ohne Schwierigkeiten hindurchwaten konnten. Am Oberlauf sahen sie eine Gruppe Pferde. Sie hielten inne und verbeugten sich vor den Geschöpfen, um dann stehen zu bleiben und sie eine Weile zu beobachten.

Die Pferde waren so wunderschön wie immer. Etwa die Hälfte von ihnen war gescheckt, entweder Schwarz auf Weiß oder Weiß auf Schwarz; die restlichen waren braun. Ihre Farben waren so kräftig wie die von Vogelgefieder, und sie hatten auch etwas von der feinsinnigen Art von Vögeln, die so viel eleganter war als die von Rentieren, Saigas oder Elchen. Sie setzten ihre Hufe leicht und ordentlich auf, halb wie tanzende Frauen und halb wie die geschwind durch die Wälder trabenden Unaussprechlichen. Große, glänzende Läufe und kurze, steife Mähnen. Das obere Ende des Untertals verengte sich zu einer Schlucht, weshalb es ungewiss war, ob sie diese Schlucht durchqueren oder weiter stromabwärts ziehen würden, um weiter an der Urdecha zu grasen.

Erneut wollte Speerwerfer eines der Tiere töten, und erneut weigerten sich die anderen. Pferde durfte man nur töten, wenn man hungerte. Außerdem war es schwer, nahe an sie heranzukommen.

— Speerwerfer will töten. Suchen wir ihm einen Vielfraß, damit er töten kann.

Sie lachten Speerwerfer aus, und er sagte: — Na schön, suchen wir uns ein Reh, wenn es das ist, was ihr wollt.

— Ja, das wollen wir.

Sie suchten sich einen Weg über den Pferden am Hang, um sie nicht zu stören, und überquerten den Kurzen Pass in den oberen Teil des Untertals. Als sie die Felsrippe erreichten, die das untere Ende des Passes markierte, rief jemand von dem Grat auf der anderen Seite des Tals zu ihnen herüber.

— Seht nur, dem fehlt ein Stück Hand, sagte Speerwerfer.

Eistaucher sah es auch. Allen Männern des Rabenrudels, die südlich der größten Eiskappe lebten, fehlte der linke kleine Finger. Das war zwar ein wenig verstörend, aber abgesehen davon wirkten sie wie alle anderen Leute auch. Eistaucher erkannte den Mann, dem sie sich näherten, einen Reisenden namens Pippalott, was das Wort der Raben für rote Eichhörnchen war.

Pippalott winkte, während er sich ihnen näherte. — Gut, euch zu sehen!, rief er.

— Gut, dich zu sehen, sagten sie alle.

Er war sehr viel freundlicher als ein Eichhörnchen, aber wie ein Eichhörnchen war er flink und neugierig. — Habt ihr eine Herde gescheckter Pferde gesehen? Er sprach weiter hinten im Mund als sie, sodass seine Worte halb aus der Nase kamen.

— Ja, sie sind gleich über dem Pass auf der ersten Wiese. Wieso, möchtest du eines?

Pippalott grinste. — Allerdings. Unsere große Mamma möchte eines ihrer gescheckten Felle. Ich versuche herauszufinden, auf welchen Wiesen sie grasen, damit wir einen Hinterhalt legen können.

Das war die einzige Möglichkeit, ein Pferd zu töten; diese Tiere waren sehr schnell und ausdauernd, und es war sehr schwer, sie von ihren Herden zu trennen. Und sie sahen Fallen, in die Rentiere einfach hineintappten. Nein, Pferde waren schwer zu erwischen, und da sie heilig waren, jagte man sie nur aus rituellen Gründen.

— Wir sind auf Rotwildjagd, sagte Falke. — Möchtest du mitkommen?

Das überraschte Eistaucher. Schiefer hätte so etwas nicht gefragt und Heide auch nicht. Aber Pippalott war erfreut.

— Ja, danke, sagte er. — Die Pferde werden mit Sicherheit auch morgen noch da sein.

Also waren sie nun zu fünft, und sie besprachen, wo sie zuletzt Rehe und Hirsche gesichtet hatten. Pippalott hatte noch am Morgen einige an der obersten Furt des Untertalbachs gesehen, also heckten sie auf dem Weg dorthin einen Plan aus, und Falke und Speerwerfer schlichen vor, um stromabwärts einen Hinterhalt zu legen. Eistaucher blieb allein mit dem Reisenden zurück. Sie sollten talabwärts poltern, sobald die Sonne eine Faust weiter gewandert war.

— Du bist Dorns Lehrling?, fragte Pippalott.

— Ja, so ist es.

— Harte Arbeit!, sagte der Reisende und lachte über das Gesicht, das Eistaucher zog. — Unser Schamane mag ihn sehr. Aber selbst andere Schamanen kommen nicht so leicht mit ihm aus.

— Dein Schamane ist Quarz?

— Genau, Quarz der Großartige. Ein sehr guter Schamane. Na ja, seltsam ist er. Ein bisschen gruselig. Aber letzten Winter hatte ich eine Krankheit, und er hat mir einen Dampf gemacht, an dem ich beinahe erstickt wäre, aber damit hat er das Übel einfach aus mir rausgezogen, ich habe gespürt, wie es mich verlassen hat, genau hier.

Er deutete auf sein Zwerchfell.

— Da hast du Glück gehabt, sagte Eistaucher. — Es ist gut, wenn so etwas passiert.

— Kann Dorn das? Wirst du das eines Tages können?

— Das hoffe ich, log Eistaucher. — Ich war schon auf Wanderschaft und bin mit ihm bis ans Ende der Höhle gegangen.

Der Mann nickte. Er freute sich für Eistaucher, war interessiert. Er selbst hatte viel über das Rabenrudel und Quarz zu erzählen, und Eistaucher konnte mit der Nachricht aufwarten, dass er vor Kurzem ein Mädchen geheiratet hatte, das er auf dem Acht-Acht-Fest kennengelernt hatte.

— Wie schön, ich gratuliere dir. Wo kommt sie her?

— Von nördlich der Rentiersteppe.

— Nördlich der Rentiersteppe! Wahrscheinlich kann ich mir darüber kein Urteil anmaßen, ich meine, eigentlich sollte ich eher dich fragen, aber man hört, dass die da ganz schön wild sind?

— Eigentlich ist sie ziemlich ruhig, sagte Eistaucher. — Aber vielleicht trifft wild es trotzdem ganz gut.

Der Mann grinste, als er Eistauchers Miene sah, und Eistaucher erwiderte sein Grinsen unwillkürlich.

Als eine Faust verstrichen war, stapften sie durch das Bachbett hinab und schlugen mit ihren Speeren auf Steine und Sträucher, und Pippalott stieß ein sehr überzeugendes Löwengebrüll aus. Wenn sich Rehe weiter unten im Buschwerk versteckten, würden sie mit Sicherheit talabwärts fliehen, um den Löwen oder schlimmer noch, den Menschen, die sich wie Löwen benahmen, zu entgehen. Wenn die Rehe allerdings heraushörten, dass man ihnen etwas vorspielte, würden sie ahnen, dass es sich um eine Falle handelte, und seitwärts den Hang hinauflaufen und über den Grat verschwinden.

Die Obere Klamm war steil und schmal, und es gab kaum Wiesen in ihr. Sie beschrieb eine Krümmung Richtung Westen, wodurch man hier gutes Nachmittagslicht hatte. Der Wind frischte auf, und die Fichten rauschten ihren tosenden, luftigen Nadelgesang. Obwohl auch Pippalott sang, konnte Eistaucher ihn kaum hören.

Dann hörten sie ein ängstliches Blöken, das abrupt verstummte, und anschließend die Siegesschreie ihrer Jagdbrüder, die offenkundig etwas erlegt hatten. Eistaucher und Pippalott rannten los, um zu den anderen zu stoßen, und sahen, dass diese tatsächlich Erfolg gehabt hatten: Die Männer standen um einen Hirsch herum, der flach auf der Seite lag und zwei Speere zwischen den Rippen stecken hatte. Die Männer versuchten eilig, einen Teil des aus seinen Wunden strömenden Bluts in Gänselederbeuteln aufzufangen. Als der Blutstrom versiegte, entfachten sie ein Feuer und fingen an, das Tier zu zerlegen, um die Einzelteile ins Lager zurückzutragen. Pippalott kannte die Rituale, mit denen man sich jener Teile entledigte, die man nicht mitnahm, und er plauderte fröhlich mit ihnen, bevor sie die Eingeweide verbrannten, den richtigen Totengesang anstimmten und die unbrauchbaren Knochen am Grund eines Strudels in einem kleinen Kreis in den Fluss steckten, sodass die Fische ihnen Gesellschaft leisten würden. Das war Pippalotts Vorstellung von einer Wasserbestattung, und er versicherte ihnen, dass es ihnen sehr viel mehr Glück bei zukünftigen Hirschjagden verschaffen würde. Also machten sie bereitwillig mit, und der Knochenkreis im Wasser sah gut aus, wie etwas von Bibern Gebautes.

Danach blieben ihnen die Läufe, der Rumpf und der Kopf, und da sie zu fünft waren, war alles in bester Ordnung, und Pippalott begleitete sie frohgemut. — Das ist ohnehin fast genau die Richtung, in die ich unterwegs bin. Ich freue mich darauf, eure Leute zu sehen.

Da er einen Großteil seiner Zeit damit verbrachte, wie ein Vielfraß im Kreis zu wandern, nur dass er dabei wesentlich größere Kreise zog, kam er ein- oder zweimal im Jahr bei ihnen vorbei. Er zog es vor, die Rudel in einer bestimmten Reihenfolge abzuklappern, um Dinge zu tauschen, die den Leuten anderswo gefallen würden, sie von einem Gebiet ins nächste zu bringen und einige Sachen für seine Rückkehr nach Hause aufzubewahren. — Manchmal ist es einsam, oft ist es gefährlich, aber interessant ist es auf jeden Fall, sagte er. — Ich habe Gelegenheit, mit so vielen Leuten aus so vielen verschiedenen Rudeln zu reden. Wo man auch hinkommt, trifft man Lachsleute, deshalb gibt es immer jemanden aus meiner Sippe, der auf mich aufpasst und mir beim Handeln hilft. Und zwischen diesen Besuchen bin ich draußen unterwegs wie alle anderen Tiere auch.

— Bist du immer allein?, fragte Eistaucher.

— Fast immer.

— Aber ist es nicht gefährlich, allein unterwegs zu sein?

— Nein, nicht besonders. Man muss natürlich schnell Feuer machen können. Ich versuche, immer ein bisschen Glut dabeizuhaben, deshalb gehe ich sozusagen von einem Feuer zum nächsten. Aber wenn man gut mit Feuer umgehen kann und die Augen offen hält, dann wird man in Ruhe gelassen.

— Selbst beim Schlafen?

— Das hängt davon ab, wo man schläft, meinst du nicht auch?

— Im Frühling war ich auf meiner Wanderschaft. Es kam mir schwer vor, einen sicheren Platz zum Schlafen zu finden, besonders, wenn man kein Feuer hat. Manchmal habe ich auf Bäumen geschlafen. Bei anderen Gelegenheiten habe ich ein Feuer gemacht. Manchmal habe ich sogar tagsüber geschlafen und bin nachts wach geblieben.

— Das habe ich auch alles schon gemacht, pflichtete ihm Pippalott bei. — Man muss gut aufpassen.

— Was ist mit den Waldleuten oder den Alten?

— Auch bei denen muss man aufpassen. Es hängt davon ab, was man für schlimmer hält, die Tiere oder die Waldleute. Das unterscheidet sich je nach Gebiet. Waldleute sind scheu, und sie streifen fast alle oben im Hochland oder in den Hochlandschluchten umher, wo sonst niemand leben will. Die Klotzköpfe sind anders. Sie haben selbst richtige Lager, normalerweise am oberen Ende von Kolbischluchten oder auf Flussinseln. Verglichen mit Löwen oder Hyänen sind sie nicht besonders gefährlich. Sie haben nicht gerne mit Leuten zu tun, aber sie bleiben höflich. Waldleute sind in der Regel verrückt, und meistens bleiben sie auf Abstand. Sie sind dort draußen, weil sie jemand getötet haben oder weil sie aus Hunger einen Toten gegessen haben oder etwas Ähnliches. Bei meinen Begegnungen mit ihnen hatte ich oft den Eindruck, dass sie das Sprechen verlernt haben. Ein paar von ihnen redeten ohne Unterbrechung, aber nie zu mir. Sie hatten unsichtbare Freunde. Sie benutzten Sprachen, die ich noch nie gehört hatte.

Er schüttelte den Kopf. — Es wäre nicht gut, immer allein zu sein. Ich bin gerne allein, wenn ich draußen unterwegs bin, aber nur, weil ich weiß, dass ich bald wieder mit jemandem reden werde. Wenn es immer so weitergehen würde, würde mir das nicht gefallen. Ich glaube nicht, dass sich die Waldleute in dieser Beziehung von uns unterscheiden, zumindest nicht besonders. Ich bin zwar einigen wenigen begegnet, die richtig glücklich wirkten, aber andererseits ist es auch am wahrscheinlichsten, den Glücklichen zu begegnen. Den anderen sollte man lieber nicht über den Weg laufen.

Er begleitete sie zu ihrem Lager und leistete ihnen abends am Feuer Gesellschaft. Sie schnitten den Hirsch klein, und die Frauen steckten einige Kräuter ins Bruststück, marinierten die Rippen und Läufe und bestrichen sie mit gewürztem Fett. An jenem Abend aßen sie alle gut.

Während sie dasaßen und dem Feuer beim Herunterbrennen zusahen, verteilte Pippalott ein paar Geschenke aus seinem Sack, Muscheln und Schnitzereien aus Geweih, Stoßzahn und dunklem Holz. Die Rudelangehörigen, die Handarbeiten zum Tauschen beim Acht-Acht hatten, gaben ihm einige ihrer kleineren Stücke, damit er sie an andere Rudel weitergeben konnte. Dadurch erfuhren die Leute, wonach sie auf den Festen Ausschau halten konnten. Also gaben sie ihm Sachen, die in sein Bündel passten, zum Beispiel Körbe, Löffel, wasserdichte Beutel, Pelzfutter oder Hüte.

Eistaucher gab ihm ein Stück Geweih, das er so beschnitzt hatte, dass auf dem Körper eines Menschen der Kopf eines Löwen saß, so ähnlich wie die Schnitzerei aus dem Stück Holz mit dem Astloch, das er auf seiner Wanderschaft gefunden hatte. Pippalott lachte laut, als er sie begutachtete, schüttelte Eistaucher die Hand und sagte: — Das behalte ich selbst, das sage ich dir, aber ich zeige es allen und sage ihnen, dass du es gemacht hast.

— Danke, sagte Eistaucher.

Weil sich mehrere Mädchen um Pippalott drängten, kamen bald auch zahlreiche Frauen dazu, die einen, um auf die Mädchen aufzupassen, die anderen einfach, weil sie sich mit vergnügen wollten, denn der Reisende war ein gut aussehender Mann und wusste viel Neues zu berichten. Selbst Heide benahm sich in seiner Gegenwart ganz locker, was ein gutes Zeichen war, weil sie Männer wie ihn normalerweise nur abfällig musterte und brummte: — Ein Gesicht ist ein Gesicht, für was einer leistet, zählt es nicht.

Doch Pippalott schien bei sich zu Hause eine Menge zu leisten. Und außerdem war er gut darin, freundlich zu sein, ohne sich dabei an die Frauen ranzumachen. Er war einnehmend, wahrte aber einen gewissen Abstand, und er achtete darauf, auch mit den Männern zu sprechen, mit denen er zusammen gejagt hatte. Wenn eine peinliche Situation entstand, dann holte er seine Flöte aus dem Bündel und spielte ihnen die gleichen Melodien wie bei jedem seiner Besuche vor, Melodien, die sie nur von ihm hörten. Sein Flötenspiel war anrührend, ganz anders als das von Dorn. Mit seiner hohen, nasalen Stimme sang er ihre Lieder mit, mit einem schnarrenden, durchdringenden Klang, aber ohne einen falschen Ton. Er war wirklich musikalisch. Ein Geist erhob ihn in die Lüfte, wenn er sang oder spielte, genau wie man es morgens bei manchen Vögeln beobachten konnte. Bei diesen Gelegenheiten stand er immer auf.

An diesem Abend erklärte er sich bereit, ihnen eine Geschichte zu erzählen, und sie ließen sich erfreut im Kreis nieder. Er stellte sich vor das Feuer und sah sie beim Sprechen an.

Wie ihr wisst, bin ich ein Reisender,

Ich schreite über Mutter Erdes Leib,

Wie auch die anderen Reisenden,

Jeder auf seinem eigenen Weg.

Und einige von uns gehen ihre Wege mehrmals,

Solange wir sie wiederfinden

Und nichts uns zwingt, einen anderen zu wählen.

Auch ich gehöre zu diesen,

Ich habe eine Frau bei meinem Bruder,

Und wenn ich daheim bin, dann zieht er los,

Und er mag es nicht, wenn ich allzu spät komme,

Obwohl wir beide das eine oder andere Mal im Jahr

Schon aufgehalten wurden.

Für mich bedeutet das, ostwärts zu gehen,

Zum Tor zwischen den Welten,

Und mich dann nach Norden zu wenden und einen halben Mond zu wandern,

Bis an den Rand der großen Eiskappe,

Und entlang dieser großen weißen Wand zurückzukehren,

Oder manchmal auch oben auf dem Eis,

Wenn die Schneeschmelze das Land vor dem Eis unpassierbar macht.

So kehre ich nach Westen und Süden zurück,

Über die Steppe nach Hause, auf Wegen,

Die nur ich kenne und niemand sonst, die besten Wege, die es gibt.

So lebe ich mein Leben, doch auf meinen Reisen

Begegne ich anderen, die durch die Welt ziehen,

Und manche von ihnen gehen nie dieselben Wege,

Sie haben kein Zuhause und ziehen an immer neue Orte.

Diese Männer sind ein seltsames Volk,

Ihre Sprache klingt seltsam, sie haben fremde Gebräuche,

Doch das macht sie auch interessant,

Weshalb ich oft mit ihnen rede.

Wann immer Reisende sich um ein Feuer zusammenfinden,

Reden wir. Ihr seht es ja eben jetzt.

Unter sich reden Reisende vom Reisen. Wo warst du?

Was hast du gesehen? Wie sind die Leute dort?

Was findet man dort draußen in der Welt, auf der wir leben?

Das sind die Fragen, die wir stellen, und die Geschichten, die wir erzählen.

Manche Reisen, um Antworten zu finden,

Und erzählen denen, die sie treffen, ihre neuen Geschichten.

Einen solchen traf ich diesen Sommer

Am fernsten östlichen Punkt meiner Reisen.

Der Mann sah aus wie die aus dem Norden,

Und anfangs verstand ich ihn kaum.

Doch es fiel mir leichter, je länger wir sprachen,

Denn er sprach nur von einer einzigen Sache:

Was es mit dieser Welt auf sich habe,

Auf der wir leben, von welcher Form

Und welcher Größe sie sei.

Alle Reisenden sind sich einig, denn sie haben es selbst gesehen:

Im Norden ist Eis, wohin man sich wendet,

Und im Westen die große salzige See.

Auch im Süden ist die salzige See,

Wenn sie dort auch wärmer und ruhiger ist,

Mit Inseln gesprenkelt und mit mehr Buchten.

Darin sind wir Reisende uns einig,

Denn zusammen haben wir all das gesehen,

Und manch ein Reisender sagt, er selbst

Habe all das gesehen. Nun gut. Vielleicht

Ist das sogar wahr. Ich weiß es nicht.

Doch eines beschäftigt mich: Was ist mit dem Osten?

Dieser Mann vom Norden

Glich vielen von uns, er stellte diese Frage,

Und mehr noch: Er wollte die Antwort wissen.

Doch niemand konnte sie ihm sagen.

Also habe er sich, so sagte er,

Auf die Reise nach Osten gemacht.

Er wanderte viele Tage und Monde,

Er wanderte Jahre. Er wanderte ostwärts seit der Zeit,

In der sich ihm jene Frage stellte, seit er jung gewesen war,

Und er wanderte weiter, bis er ein Mann in der Mitte des Lebens war.

Siebzehn Jahre lang, so sagte er, sei er nach Osten gewandert.

Ich fragte ihn, was er gesehen habe,

Auf dieser Wanderung seines Lebens.

Er sprach von Steppen, die sich ewig zögen,

Von Bergen, die denen im Westen glichen,

Von Seen, größer als alle, die ich kenne,

Selbst von kleinen Salzseen sprach er, mit salzigem Wasser,

Doch das meiste war Steppenland.

Du weißt ja, wie das ist, es läuft sich gut,

Wenn es nicht zu nass ist, und es gibt immer Tiere zum Essen.

Es gab also nichts, was ihn hinderte.

Da saß er also, gegenüber am Feuer,

So weit im Osten, wie ich jemals war,

Und doch war es nur das Tor zu Welten, ein schöner, breiter Pass

Zwischen niedrigen Bergen im Norden und Süden.

Zwölf Jahre hatte er gebraucht,

Für seine Wanderung hierher zurück.

So sprach er zu mir, und schließlich musste ich fragen:

Warum bist du zurückgekehrt? Wo du so weit gekommen bist,

Warum bist du umgedreht? Warum nicht bis an dein Lebensende

Weiter nach Osten wandern?

Lange sah er ins Feuer bevor

Er mir in die Augen blickte und sprach.

Er sagte: Ganz im Osten kam ich an einen Hügel

Und stieg, um Ausschau zu halten, hinauf.

Es ging mir nicht gut, meine Füße schmerzten,

Und seit Jahren hatte ich niemand getroffen,

Der auch nur eins meiner Worte verstand.

Jeder Austausch fand mit Handzeichen statt, was geht,

Aber irgendwann möchte man

Mit den Leuten, die man trifft, auch reden.

Dem konnte ich, Pippa, zustimmen!

So stand er auf diesem Hügel, und im Osten

Sah alles aus wie immer. Kein Zeichen, dass je etwas anders würde.

Und da begriff ich, sagte er: Die Welt ist einfach zu groß.

Nie kann man sie ganz erlangen, sosehr man es sich auch wünscht.

In einem Leben kann kein Mensch sie abschreiten,

Und vielleicht hört sie einfach nie auf.

Vielleicht ist unsere Mutter Erde auch rund, sagte er,

Wie eine schwangere Frau.

Oder wie der Mond, und wenn man lang genug liefe,

Käme man an, wo man losgegangen,

Wenn da nicht das Salzmeer im Wege wäre.

Doch letztendlich kann man das niemals wissen.

Und so kehrte ich um, weil die Welt zu groß ist,

Und vor allem, weil ich, bevor ich sterbe,

Noch einmal mit jemandem reden wollte.

Und nachdem er mir seine Geschichte erzählt hatte,

Standen wir auf und nahmen uns in den Arm,

Und er weinte so sehr, dass ich dachte, er erstickt.

Ich musste ihn aufrecht halten.

Ob er triumphiert hatte oder versagt,

Das wusste er nicht, und auch ich konnte ihm das nicht sagen.

Er beruhigte sich bald, und wir schauten ins Feuer

Und erzählten uns bis tief in die Nacht andere Geschichten.

Vor dem Schlafen fragte ich ihn: Was hast du nun vor?

Was tust du nach deiner Rückkehr?

Tja, antwortete er, um ehrlich zu sein,

Gehe ich vielleicht wieder nach Osten.

— Das ist meine Feuergeschichte für heute Abend, sagte Pippalott. — Ein Stück von dieser langen Herbstnacht habe ich für euch aufgezehrt.

Danach redeten sie noch etwas, und Eistaucher gewann den Eindruck, dass Pippalott es auf eine Art vermied, zu Salbei zu blicken, die ahnen ließ, dass die beiden zu einem stummen Einverständnis gelangt waren. Später am Abend, als das Feuer heruntergebrannt war und alle schliefen, fragte Eistaucher sich, ob diese beiden einander gefunden hatten. Und auch, ob es sein könnte, dass Pippalott in jedem der Rudel, die er regelmäßig besuchte, ähnliche Übereinkünfte mit Frauen pflegte. Heide hatte etwas Derartiges mit einer halblauten Bemerkung angedeutet.

Als Eistaucher sich das ausmalte, wünschte er sich, auch ein Wanderer zu sein. Salbei war die schönste Frau ihres Rudels, die begehrenswerteste, mit ihren großen Herbstbrüsten, die bei jeder Bewegung baumelnd aneinanderstießen. Es war kein Zufall, dass Pippalott gerade mit ihr seine Übereinkunft hatte. Wie es wohl war, in jedem Rudel bei einer solchen Frau zu liegen, immer bei einer anderen?

Doch das war nur der Überschwang seiner Gefühle für Elga, die so spritzten, dass sie sich in alle Richtungen ausbreiteten. Er liebte alle Frauen im Rudel, und auch alle Frauen der anderen Rudel. Er wollte sie alle, genau wie die weiblichen Tiere. Er wollte das Reh und die Füchsin und die Steinziege und die Bärenfrau, und natürlich auch die Pferdefrau. Er lebte schlicht und einfach in einer Welt der begehrenswerten Frauen. Manchmal kam ihm das Gefühl vor wie eine Flut, wie wenn das Eis auf dem Fluss im Frühling brach. Und wenn es dann Nacht wurde und er all diese Gefühle zusammenzog und in den Leib seiner Frau ergoss, wenn sie in ihrem Bett lagen und die ganze Welt nur aus Elga bestand, kam es ihm vor, als sei er in einen Traum gefallen, in dem Liebe alles in allem war.

Und eines Nachts, nachdem sie sich vereinigt hatten und in ihrer nächtlichen Verschmelzung dalagen, stupste sie sein Ohr an und sagte: — Ich bekomme ein Kind. Heide sagt, dass es stimmt.

Eistaucher setzte sich auf und starrte auf sie hinunter. — Wirklich?

— Ja.

— Na so was. Dann haben wir es geschafft.

— Ja. Sie grinste ihn an, und er spürte plötzlich, dass sein Gesicht bereits das Gleiche tat. Sie küssten sich.

— Wir werden uns um es kümmern müssen, sagte sie.

— Weiß Heide, ob es ein Junge oder ein Mädchen wird?

— Noch nicht. Sie meint, dass sie es in ein paar Monaten wissen wird.

— Wann kommt es?

— In sechs Monaten. Also am Ende des fünften Monats. Mitten im Frühling, zur besten Zeit. Wenn es nicht gerade ein schlechter Frühling ist.

Eistaucher versuchte, es zu begreifen, aber es gelang ihm nicht. Es kam ihm vor, als sei seine Brust voller Wolken. Oder als sei er in einem Wasserfall, den er nicht gesehen hatte, in ein tiefes Becken gestürzt. Diese Elga hier gehörte ihm. Die Nacht, in der sie beim Acht-Acht vor dem Freudenfeuer aufgetaucht war, hatte alles verändert — sowohl auf einen Schlag als auch nach und nach über die darauffolgenden Monate hinweg. Alles, was geschehen war, war ein Schritt auf dem Weg gewesen, der ihn schließlich an diesen völlig neuen Ort geführt hatte.

27

Während Elga im Laufe des Winters einen dicken Kinderbauch bekam, gewann sie an Einfluss unter den Frauen, wie der Mond Einfluss unter den Sternen hat. Salbei gefiel das nicht und Donner auch nicht, aber Elga hatte ein Talent dafür, andere zu beruhigen, das selbst bei ihnen Wirkung zeigte. Die Art, in der sie ihre Macht spüren ließ, gab den Leuten ein sicheres Gefühl. Ihr Schweigen erweckte nicht den Eindruck, dass sie etwas zurückhielt, sondern dass sie den anderen und dem, was sie erzählten, zustimmte. Oft redeten die Leute mit Elga, während sie ihnen bei der Arbeit half, weil sie Fragen stellte und auch die Antworten erhielt. Es war schwer, einen Groll gegen so jemanden zu hegen.

Und jetzt brachte sie ein neues Kind ins Rudel, was eine wichtige Sache war. Normalerweise feierten die Großeltern eine solche Kunde, sodass ein neues Rudelmitglied mindestens zwei oder sogar vier starke Fürsprecher hatte, und man diskutierte den ganzen Winter hindurch, zu welcher Sippe das neue Kind gehören sollte. In diesem Fall gab es keine Großeltern, doch da Heide und Dorn Eistaucher aufgenommen hatten, als er zum Waisenkind geworden war, fiel die Rolle der Großeltern bei diesem Kind ihnen zu.

Doch Heide interessierte sich nicht für solche Dinge, und Dorn hatte von Anfang an nichts von Eistauchers Heirat gehalten. Deshalb hing alles daran, wie gut Elga die anderen Frauen für sich einspannen konnte, und das gelang ihr, ohne dass sie dabei auch nur den Eindruck erweckte, es zu versuchen; sie war einfach sie selbst. So halfen die anderen Frauen ihr in den letzten paar Monaten genau so, wie sie ihnen sonst half. Ohnehin stand eine schwangere Frau kurz vor der Niederkunft immer im Mittelpunkt ihrer Bemühungen.

Die kurzen Tage, die Kälte; die tief hängenden Sturmwolken, die von Westen heranwogten und Schnee brachten. Eis auf dem Fluss und auf den Bächen und darüber Schnee. Die weiße Welt. Die Mittagssonne, die gerade so über die Südwand der großen Schlucht lugte. Keine Vögel mehr mit Ausnahme der Schneevögel; und alle Tiere schliefen oder versteckten sich unterm Schnee, oder sie saßen in den Fallen der Leute fest und ertrugen stumm ihr Schicksal. Weißer Pelz. Das Rudel im Haus, schlafend. Sie waren Schnee gewöhnt, sie mochten Schnee. Sie hatten ihre Essensvorräte und ihre täglichen Aufgaben, und in den langen Nächten schliefen sie wie Bären. Die langen Geschichten, die sie einander ums Feuer erzählten.

Heide würde bei der Geburt die Hebamme sein, wie immer. Sie murrte darüber, wie sie über jede Aufgabe murmelte, die sie für das Rudel erledigte, aber in diesem Fall schien ihr Missfallen echt zu sein. Sie war nicht gerne Hebamme.

— Alles wird gut, sagte sie barsch zu Elga. — Du bist ein großes Mädchen, es wird keine Probleme geben. Ich gebe dir den richtigen Tee und Sud, dann ist das Kind aus dir raus, ehe du dichs versiehst. Natürlich musst du dich auch ein bisschen anstrengen, um es rauszupressen, aber wir helfen dir. Eigentlich erledigt die Arbeit eher dich, als dass du sie erledigst. Du musst das einfach nur durchstehen.

Und so hatten sie während der letzten Wochen des Winters etwas, worüber sie nachdenken und wobei sie zusehen konnten. Sie kauerten essend in ihrem Haus oder der Balme, beobachteten den Himmel und gingen an klaren, windstillen Tagen nach den Fallen sehen. Außer an den kältesten Tagen konnte ein Sonnenstrahl noch immer die Haut wärmen. Doch selbst die sonnigsten Tage blieben kurz, und nachmittags huschten sie wie Bisamratten oder Mäuse in ihr großes Haus zurück.

28

Eines Morgens machte Eistaucher sich zusammen mit Moos auf den Weg, um nach einigen der Fallen zu sehen, die sie flussabwärts in den Spalten gelegt hatten, die eine Biegung weiter unten von der großen Schlucht abzweigten.

Sie gingen den Pfad empor, der auf den Grat zwischen den beiden Biegungen führte, und kamen gut voran. Noch vor Sonnenaufgang waren sie oben angekommen. Im Osten war der ganze Himmel orangefarben, und sie waren beide der Meinung, dass das für den übernächsten Morgen Schnee verhieß. Dann lachte Moos und sagte: — Kommt es eigentlich jemals wirklich so?

Eistaucher lachte ebenfalls. Moos’ Lachen war besonders ansteckend. Er war schlanker als Falke, hatte ein schmales, hübsches Gesicht und wilde schwarze Locken auf dem Kopf. Sein Gesicht war sehr wandelbar und ausdrucksstark, mal sah es aus wie aus Feuerstein gemeißelt, und dann wieder schlafflippig und albern.

— Ich glaube schon, dass es Schnee bedeutet, wenn die Sonne ihre Ohren zeigt, sagte Eistaucher.

— Oder der Mond, pflichtete Moos ihm bei. — Das ist der Schnee in der Luft, der angestrahlt wird. Das Licht wird von dem Schnee in der Luft zurückgeworfen, genau wie vom Schnee am Boden.

Und ob der Schnee am Boden das Licht zurückwarf! Sie zogen ihre Kapuzen bis zu den Augenbrauen herunter und neigten die Köpfe nach vorne und zur Seite, um auf den Grat zu steigen, ins Licht der tief stehenden Wintersonne. Eistauchers Kapuze war mit Marderpelz gefüttert, die von Moos mit Wolfspelz.

Dort, wo der vom Sonnenlicht erwärmte Schnee etwas weicher wurde, hielten sie an und banden sich ihre Schneeschuhe an die Füße, ehe sie ihren Weg zu den ersten Fallen fortsetzten, die sich in der Einmündung einer Spalte befanden, dort, wo der Steile Bach bei der Unteren Biegung in den Hauptstrom mündete. Auf der kleinen Wiese am Zusammenfluss stand ein großer Felsen namens Rotkehlchennest, der so hoch war, dass seine Spitze ihre Köpfe selbst jetzt überragte, wo ein Teil von ihm unter der dichten Schneedecke lag. Die Bäche unter den Mulden im Schnee waren gefroren, das Land schwieg. Keine Vögel, keine Tiere; überall Schnee, mit Ausnahme der steilen Felswände, an denen er sich nicht hielt. Diese zerklüfteten grauen Wände, die hier und da die Schneedecke durchbrachen, bettelten in Eistauchers Augen geradezu darum, bemalt zu werden, und auf zwei oder drei, an denen sie vorbeikamen, entdeckten sie tatsächlich Malereien: Beim Anblick der heiligen Tiere in Rot und Schwarz, die aus dem Weiß und Blau von Schnee und Himmel hervorstachen, stockte ihm der Atem. Die Luft war kalt, und Moos sang sich selbst ein kleines Jagdlied vor. Hier und dort war der Schnee so federleicht, dass sie selbst mit ihren Schneeschuhen knietief einsanken. Große Klumpen weichen Schnees balancierten auf jedem Kiefernnadelbüschel in den Bäumen um sie herum. — Du solltest Elga etwas von diesem Schnee mitbringen, sagte Moos.

Wasser zu trinken, das man aus solchem Schnee geschmolzen hatte, würde ihr Kind leichtfüßig machen. Eistaucher lachte und sagte: — Gute Idee.

Sie kamen zur ersten Falle, bei der es sich um eine Grube handelte, die Moos und Achtlos im vorangegangenen Sommer in die lockere Erde der Wiese gegraben hatten. Unten hatten sie angespitzte Stöcke und Klingen aufgestellt und das Loch dann mit leichten Stöcken und Blättern abgedeckt. Mit einer solchen Falle fing man normalerweise erst dann etwas, wenn sie unter einer Schneedecke lag, und als sie jetzt mit ihren Schneeschuhen auf die Wiese kamen, sahen sie, dass tatsächlich etwas durch die Abdeckung gebrochen war und dabei ein seltsames Loch in der Landschaft hinterlassen hatte. Sie eilten an den Rand der Grube und blickten hinunter. Ein großer roter Hirsch war hineingefallen, hatte sich am Boden einen Vorderlauf gebrochen und war dann erfroren. Jetzt blickten seine toten Augen zum Himmel, als wäre der Geist des Tiers noch in der Nähe und benutzte seine alten Augen, um sich zu orientieren.

— Was macht der denn hier!, entfuhr es Eistaucher.

— Uns aus der Patsche helfen. Danke, alter Mann! Aber hättest du nicht aus der Grube springen und hier oben sterben können?

Moos gab Eistaucher einen Klaps auf den Arm. Sie hatten wirklich Glück gehabt, wenn ihnen nun auch ein schwerer Nachmittag bevorstand. Erst galt es, wohlbehalten in die Grube hinunterzukommen, um dann den steif gefrorenen Körper auf ein Gestell aus Fallenstangen zu heben, auf dem er knapp brusthoch lag, sodass sie sich unter ihn stellen und ihn gemeinsam aus der Grube schieben konnten. Sie waren gerade stark genug, um ihn zu zweit hochzudrücken, und beim ersten Versuch fiel der Hirsch zurück in die Grube, und sie mussten zwischen den spitzen Steinsplittern wie Eichhörnchen ausweichen, um nicht von ihm erschlagen zu werden. Der Hirsch starrte aus seinen milchigen Augen zu ihnen hoch. Beim zweiten Mal waren sie vorsichtiger und hatten mehr Erfolg. Die ganze Zeit sah das Tier sie an.

— Was glaubst du, was er am Ende wohl gedacht hat?, fragte Eistaucher.

Moos schüttelte den Kopf und legte die Stirn in Falten. Eistaucher sagte solche Dinge nur, wenn er mit Moos alleine war; die anderen hätten über eine solche Frage nur Witze gerissen. Doch Moos sah in die großen, unheimlichen Augen des Hirsches, die irgendwie ganz klar vermittelten, welch stummen, beharrlichen Kampf er ausgetragen hatte, und er setzte mit seinem beweglichen Gesicht eine ganze Reihe unterschiedlicher Mienen auf, um zu zeigen, dass er nachdachte, ehe er mutmaßte: — Vielleicht dachte er einfach nur, dass er im Schnee vorsichtig ein Bein vor das andere hätte setzen sollen. Das würde ich wahrscheinlich denken.

— Aber nicht nur das.

— Nein. Nein, wahrscheinlich war er traurig. Vielleicht dachte er an seine Frauen. Es ist seltsam, dass Hirsche und Rehe eckige Pupillen haben, findest du nicht? Sie sehen aus, als kämen sie von irgendeinem fremden Ort.

— Dorn sagt, an den Tieraugen sieht man, dass sie keine Menschenseelen haben. Sie machen keine zuckenden Bewegungen, sondern stecken immer in der einen Blickrichtung fest.

— Dann ist unsere Seele also im Weißen unserer Augen? Das glaube ich nicht. Dieser Hirsch hat dich genauso angesehen, wie du ihn angesehen hast. Es gibt keinen Unterschied, außer dass er eckige Pupillen hat, aber trotzdem sieht man ganz genau, was er denkt. Schau ihn dir doch mal an! He, Bruder, es tut uns leid, sagte er zu dem gefrorenen Hirsch, — aber wir müssen essen. Danke, dass du uns aus der Patsche geholfen hast!

Und mit diesen Worten stieß er ihm den Speer zwischen zwei Halswirbel und fing an zu schneiden. In der tief stehenden Sonne wechselten sie sich dabei ab, das Tier zu häuten und es mit ihren Speeren zu zerlegen. Das gefrorene Fleisch war gegenüber den Speerspitzen so widerständig wie immer, es war erstarrt und doch biegsam. Sie bohrten ihre Speere zwischen die Gelenke, hebelten sie auseinander, indem sie vom Speerende her drehten, säbelten an dem Fleisch herum. Das Blut, das dem Tier in den Adern gefroren war, würde den Frauen im Lager wahre Begeisterungsstürme entlocken. Die harte Arbeit, das Tier in Teile zu zerlegen, die sie in ihren Bündeln schultern und hinter sich her durch den Schnee ziehen konnten, wobei sie die halbierte Haut als Behelfsseile verwendeten, beschäftigte sie fast den ganzen kurzen Tag lang.

Als sie schließlich unterwegs waren, stand die Sonne tief im Westen und warf lange schwarze Schatten über den Schnee, der schnell wieder eine harte Oberfläche ausbildete, auf der sie ohne Schneeschuhe laufen konnten. Sie waren noch weit weg von zu Hause, und als die Sonne hinter den westlichen Hügeln unterging, kühlte die Luft sich sehr schnell stark ab. Doch wie das Sprichwort sagte, machte Eile warm, und ohne darüber zu reden, beschleunigten sie ihren Schritt und liefen Seite an Seite über den knirschenden Schnee. Erst wenn es so kalt wurde, konnten sie so schnell wandern, ohne sich dabei zu überhitzen. Wie von selbst fanden sie den richtigen Rhythmus: Sie waren dafür gemacht, in solcher Kälte zu rennen.

Hinter ihnen ging der Mond auf. Es war die erste Nacht nach Vollmond, und das geblähte Rund tauchte den Himmel in blaues Zwielicht, das in den weißen Schnee unter ihren Füßen einsickerte. Eine Welt der Blautöne: Als sie den breiten Grat zwischen den beiden Biegungen erreichten und in beide Richtungen weit durch die Urdecha-Schlucht und über die Höhenzüge, die sie säumten, blicken konnten, waren Himmel und Land von dem blauen Mondschein noch immer so hell erleuchtet, dass sie glaubten, einfach alles erkennen zu können. Mutter Erde war so schön wie nie, jeder Hügel, jeder Hang hatte seinen eigenen Glanz; obwohl sie von Schnee eingehüllt war, sah sie in solchen Mondnächten am nacktesten aus, und die bloße blaue Haut ihrer Hügel war glatt und wohlgerundet.

Bevor sie das letzte Stück zur Gewundenen Au hinabstiegen, hielten sie inne und sahen sich eine Weile lang schweigend um. Nichts regte sich, kein Wind, kein Laut. Es war wie eine Geisterwelt, eine Welt jenseits des Himmels, wo die Stille von einem Geheimnis bebt. Die wenigen Sterne waren groß und verschwommen, und sie schienen vor Eistauchers in der Kälte blinzelnden Augen dahinzutreiben. Sie standen in einem schwarzen, sternenübersäten Beutel, auf einem weißen Leib, und alles war viel größer, als es sich erfassen ließ. So oft schon waren sie in Vollmondnächten hinausgegangen, um die Dinge in diesem Licht zu sehen, schon damals als kleine Jungen hatten sie sich aus dem großen Haus gestohlen, wenn die meisten Frauen im Frauenhaus gewesen waren und niemand da gewesen war, um sie aufzuhalten. Eistaucher und Moos hatten das immer am liebsten getan.

Jetzt sahen sie einander an, lächelten und nickten: Es war Zeit, zu gehen. Die kalte Luft ließ sie bereits frösteln. Sie rannten beinahe ins Lager hinunter, schlitterten an den steilsten Stellen über den harten Schnee. Als sie die Gewundene Au erreichten, roch Eistaucher das Feuer, und er begriff, dass er zu Elga zurückkehrte, die mit ihrem Kind schwanger ging, und dass sie Fleisch mitbrachten, mit dem niemand gerechnet hatte, sodass die meisten aus dem Rudel lange aufbleiben und ein wenig davon essen würden, während die Frauen den Rest verarbeiteten. Die kalte Luft erfüllte seinen Brustkorb, und er stieß sie in leisen Eistaucherrufen aus, die Moos zum Lachen brachten.

29

Später in diesem Winter wurde Elgas Bauch riesengroß, und eines Morgens war es für sie an der Zeit, und die Frauen gingen mit ihr ins Geburtshäuschen, ein Unterschlupf, den sie neben ihrem Monatshaus errichtet hatten. Alle Frauen versammelten sich dort und scheuchten die Männer weg, und Dorn versammelte die Männer ums Feuer und eröffnete eine Pfeifenrauchrunde, obwohl es noch nicht einmal Mittag war. — Es kommt ein neues Kind ins Rudel, erklärte er mit seinem Schlangengrinsen, — und wir haben die Pflicht, es willkommen zu heißen.

Er gratulierte Eistaucher nicht dazu, dass er Vater wurde, aber er starrte ihn auch nicht böse an. Eistaucher nahm eine Klinge und einen Stock und schnitzte ängstlich-penibel daran herum. Er wollte dem Neugeborenen zu seinem Geburtstag ein kleines Spielzeug machen, einen Steinbock, wobei er aus zwei Astlöchern am Ende des Stocks die Hörner machte. Dann und wann hörten sie die Frauen singen, und dann ertönten eine Weile lang quiekende Laute, von denen man sich nur schwer vorstellen konnte, dass sie von Elga stammten. Eistauchers Hoden zog sich zusammen, und ein Schmerz durchzuckte seine Eingeweide, als spürte er das, was Elga spürte.

— Der Kopf kommt raus, sagte Dorn. — Bald wird es vorbei sein.

— Also, welche Sippe?, fragte Falke.

Dorn stand auf. — Das neue Kind sollte der Adlersippe angehören. Dadurch bekommen wir in ein paar Jahren einen neuen Adler, und den brauchen wir. Und Elga gehört zur Adlersippe. Also ist es ein Adler.

— Müssen die Frauen nicht erst zustimmen?, fragte Falke.

— Nein, sagte Dorn mit einem finsteren Blick in seine Richtung. — In diesem Rudel bin ich es, der die Sippe erkennt. Ich hatte letzte Nacht eine Vision, in der ich gesehen habe, zu welcher Sippe das neue Kind gehört.

— Ich bin auch ein Adler, warf Moos ein.

— Das stimmt, aber du und Schiefer, ihr seid die einzigen erwachsenen Adlermänner im Rudel. Wir brauchen jüngere. Wenn der Neugeborene ein Junge ist, werden du und Schiefer gemeinsam einen Sippennamen für ihn auswählen müssen.

Moos lachte und trat auf Eistaucher zu, um ihn zu umarmen. — Jetzt bin ich der Onkel von deinem Kind. Hat Heide irgendwann gesagt, ob es ein Junge oder ein Mädchen wird?

— Sie war sich nicht sicher, aber sie meinte, dass es wahrscheinlich ein Junge wird, antwortete Eistaucher.

— Wie dem auch sei, wir sind jetzt mehr denn je Brüder.

Eistaucher nickte. Seine Eingeweide waren noch immer verkrampft. — Das ist gut.

Er beendete seine Arbeit an dem Geburtstagsstock, bei dem letztlich nur der Kopf eines Steinbocks herausgekommen war, weil Eistaucher dadurch einen Wirbel in der Maserung als Auge hatte verwenden können.

Schließlich war es Salbei, die herunterkam, um ihnen mit einem hintersinnigen Lächeln die Neuigkeiten zu bringen. — Elga hat ihr Kind geboren. Es ist ein Junge.

Die Männer jauchzten.

Später sagte Heide zu Eistaucher: — Es war schwerer für sie, als ich erwartet hatte, weil dein Kind einen großen Kopf hat. Ich musste ihr Angst machen, damit sie ihn rausgepresst hat. Manchmal kommt der Punkt, an dem es Schwierigkeiten gibt, wenn das Kind nicht herauskommt. Die Mutter wird müde, verliert den Mut, und das Kind ist weder drinnen noch draußen, und da darf es nicht lange bleiben. Bevor ich zu schlimmeren Mitteln greife, versuche ich der Mutter deshalb solche Angst zu machen, dass sie fester presst als bis dahin. Ich sage ihr, was mit ihr und dem Kind geschehen wird, wenn ich etwas Drastisches unternehmen muss, und was dabei alles passieren kann, und nachdem ich ihnen das erzählt habe, sind sie meistens so verängstigt, dass sie richtig feste pressen. So war es bei Elga.

30

Dann und wann trafen sie bei der Jagd auf Jäger aus den in der Nähe lebenden Rudeln. Das Lager der Löwen lag stromabwärts, wo die Urdecha in den großen Fluss mündete, die Luchse waren weiter oben vor den Eiskappen und die Füchse und Raben südlich und westlich von ihnen. Wenn man sich begegnete, war das Anlass zu einer kleinen, kurzen Feier. Sie teilten etwas von ihrem Essen, rauchten zusammen eine Pfeife und saßen eine Weile beisammen, tranken und redeten, bevor jeder wieder seiner Wege ging. Wenn beide Gruppen demselben Tier auf der Spur waren, taten sie sich manchmal zusammen, um die Jagd zu Ende zu bringen, doch dazu kam es nur selten. Die Luchse waren umgänglich und sogar etwas schläfrig, sie erinnerten eher an Geparde als an Luchse. Manche meinten, das käme daher, dass sie auf Reisen meistens kleine Schläuche mit Maische dabeihatten, aus denen sie dann und wann ein Schlückchen nahmen.

Einmal, als Eistaucher draußen mit Heide zum Kräutersammeln unterwegs war, begegneten sie zwei Raben, die Hand in Hand den Weg am Rand der Hochebene entlangspazierten. Nachdem die beiden weitergegangen waren, sagte Eistaucher: — Die habe ich schon mal gesehen.

— Sie sind immer zusammen, sagte Heide.

— Was meinst du damit?, fragte Eistaucher.

— Sie sind ein Paar, wie bei Schwänen.

Eistaucher blickte ihnen durch den Wald nach. — Wirklich?

— So sind sie eben, sagte Heide. Sie sah ihn an. — Wie Falke und Moos, nicht wahr?

— Wie?

— Oder wie Donner und Blauhäher?

— Wie?

Sie musterte ihn eindringlich. Schließlich sagte sie: — Du und Elga, ihr seid doch glücklich, stimmt’s?

— Ja.

— So geht es vielen.

— Aber …

Sie tat sein verwirrtes Stirnrunzeln mit einer Handbewegung ab. — Unser Blick geht nicht so tief, dass wir ganz in uns hineinsehen können. Tief in uns drin sind andere Leute, die Dinge tun und uns mit sich reißen. Jedenfalls scheint mir das so. — Ich habe mich mal in ein Reh verliebt, gestand Eistaucher. Als er das sagte, überkam ihn mit einem Mal ein Gefühl der Erleichterung, sogar des Stolzes.

Heide nickte. — Als ich noch ein Mädchen war, habe ich mich einmal in einen Bison verliebt. Es ist aber nichts draus geworden.

Eistaucher starrte sie an. — Dorn?

Heide schüttelte den Kopf. — Nein, Pfeifhase.

Das verblüffte Eistaucher umso mehr. — Der alte Pfeifhase? Dorns Schamane?

Heide nickte.

— Wie war er so?

Heide überlegte. — Tja, er war ein bisschen wie Dorn. Nur noch mehr wie er.

— Mamma mia. Dass muss ja ganz schön …

— Es war nicht gut. Wie schon gesagt, es ist nichts draus geworden. Und Dorn gab es auch noch, was einen ziemlichen Schlamassel zur Folge hatte. Sie warf einen Blick auf ihre Hand und stieß einen Seufzer aus. — Aber ich war dabei, als Pfeifhase angefangen hat, die Höhle zu bemalen. Wir sind hineingegangen und haben uns gepaart, und dann ist er aufgesprungen und sagte, dass er mich malen würde, dass er malen würde, was wir getan hatten. Ich sollte Mutter Erde darstellen. Aber dann hat er doch wieder den Bisonmann daraus gemacht. Er hatte diesen Bison in sich drin. Im Großen und Ganzen hat Dorn recht. Wir hatten einen schlimmen Schamanen.

31

Er fand einen gut aussehenden Feuerstein, dort, wo der hohe Teich seinen Ausfluss hatte. Daran, wie das schwarze Wasser an beiden Seiten an ihm vorbeiströmte, erkannte man, dass er gut ausbalanciert war. Er holte ihn aus dem Bach und legte ihn in seinem Lager auf dem Grat nieder, zwischen die beiden großen Felsbrocken.

Eines Tages aß er das letzte bisschen Wildschweinfett aus einem Beutel, den er bei sich trug, und er schlief eine Weile in der Sonne, dann nahm er den Stein aus dem Bach und einen sehr feinkörnigen, harten Haustein, der praktisch unzerbrechlich schien und den er schon seit vielen Tagen verwendete. Den Haustein fasste er in der Rechten, und mit der Linken hielt er am Boden das fest, was er bearbeiten wollte. Er klopfte den Feuerstein ab, bis er spürte, wie er zuschlagen musste, um ein sauberes Stück abzubrechen, und dann: Schlag.

Er musste mehrere Male zuschlagen, um herauszufinden, wie spröde der Stein aus dem Bach war. Nachdem er sich einen Eindruck davon verschafft hatte, erreichte er mit fast jedem Schlag das gewünschte Ergebnis.

Einatmen, ausatmen, Schlag.

Einatmen, ausatmen, Schlag.

Wärme an einem sonnigen Wintermorgen. Das Schimmern des vereisten Flusses, das Glucksen, das aus den Löchern im Eis drang, die Blasen, die stromabwärts strudelten. Zweimal atmen, einmal hacken, dann dreimal. Drei zu zwei war der Wechseltakt des Tages. Vier zu drei für die finstere Nacht.

Die Kanten seiner Schläge waren nun dichter beisammen und standen in einem flacheren Winkel zu den vorangegangenen. Er sah nun, welche Form der Feuerstein annahm. Er würde einem Erlenblatt ähneln, am Stiel spitz und am gegenüberliegenden Ende gerundet, mit einer kleinen Vertiefung. Das Ergebnis würde sehr ausgewogen sein, wenn er die letzten Hiebe richtig hinbekam.

Einatmen, ausatmen, einatmen, Schlag.

Einatmen, ausatmen, einatmen, Schlag.

Die Winterluft wurde mit jedem Schlag wärmer. Sein Pelz bauschte sich leicht in der Brise vom Fluss, und der Luftzug kühlte seine verschwitzte Haut. Die Liebe zur Steinarbeit, das Glücksgefühl.

Zwei der Schnellen kamen vorbei, um ihn zu besuchen. Die alte Frau und ihr Junge. Sie waren nicht auf der Jagd, und er blickte ihnen ohne Angst entgegen. Die alte Frau war gut zu ihm gewesen, und der Junge war nicht auf der Jagd. Sie plapperten mit ihren heiseren, nasalen Stimmen auf ihn ein, die ganz anders klangen als die Stimmen anderer Tiere, vielseitig und ausdrucksstark wie die mancher Vögel. Doch inzwischen hatte er einige Worte der alten Frau gelernt, wie geht es dir, gut, verletzt, hungrig, danke, und er lauschte ihr und versuchte, mehr Worte auszumachen, und erzählte ihr, dass es ihm gut ging. Er zeigte ihnen seine neue Steinklinge, und sie waren angemessen beeindruckt. Die Klinge war beinahe perfekt ausgewogen und hatte so viele Facetten, wie die Körnung des Steins es zuließ.

Die alte Frau nahm die Klinge in die Hand und stellte ihm eine Frage. Anscheinend wollte sie wissen, was er damit vorhatte, wozu sie gut war. Obwohl sie dort stand und die Klinge in der Hand hielt. Scheu nahm er sie ihr wieder ab, hielt sie zwischen den Fingern, drehte sie hin und her, betastete die Schneide, beäugte sie, um zu sehen, wie sie ausgewuchtet war. Dann reichte er sie ihr zurück. Dazu war die Klinge gut.

— Sie ist nur zum Anschauen, pfiff er ihr zu. — Ich habe sie nur zum Anschauen gemacht. Unsere Frauen schauen sich so etwas gerne an.

Sie schüttelte den Kopf. Offenbar verstand sie ihn nicht.

— Gut, sagte er in ihrer Sprache. Sie nickte und warf ihm einen unsicheren Blick zu.

Speerspitzen zu machen war auch gut, aber diese Schmuckklingen gefielen ihm am besten. Man konnte eine solche Klinge zwar auch in eine Herde werfen, und wenn sie eines der Tiere traf und in Panik versetzte, dann wurden manchmal kleinere Tiere verletzt und ließen sich leicht verfolgen und töten. Kleine Jungen taten das, bevor sie das Speerwerfen lernten. Aber dafür brauchte man weder die Facetten noch die sorgfältige Auswuchtung. Jeder beliebige spitze Stein tat es ebenso gut.

Er wusste, dass die Schnellen so ähnliche Dinge schufen wie diese Klinge. Ihre Kleider waren bemalt und hatten Fransen und Schlaufen aus Leder, und sie trugen Lederbänder mit Zähnen und Muscheln daran um die Hälse. Sie bemalten sich die Haut mit Blutstein und Holzkohle. Sie bemalten Felswände. All das taten sie, und doch erkannten sie nicht, wozu seine Klinge gut war. Es war wirklich schade, dass sie nicht pfiffen.

Was sie alles taten. Sie waren so geschäftig in ihrem Lager, ständig liefen sie umher und erledigten dieses und jenes. Gingen auf die Jagd. In allen möglichen Gruppengrößen, in die verschiedensten Richtungen, auf verschiedene Arten von Jagd. Sie hatten es immer eilig. Beeil dich langsam, hatte seine Mutter immer gepfiffen. Es war ein altes Liedchen, das Mütter ihren Kindern vorpfiffen. Er hatte einmal gehört, wie seine Großmutter es seiner Mutter vorgepfiffen hatte.

Jetzt wollte die alte Frau, dass er sie hinab ans Flussufer begleitete. Er stand auf und folgte den beiden, wobei er die neue Klinge mitnahm.

Sie wollten, dass er ihnen dabei half, einen Felsbrocken vom Ufer ins seichte Wasser zu bugsieren. Er begriff nicht, warum sie das wollten, aber nachdem ihm der Junge mehrmals die Bewegung vorgeführt hatte, wusste er sich keinen anderen Reim darauf zu machen. Er stemmte sich zusammen mit dem Jungen gegen den Felsbrocken, und gemeinsam rollten sie ihn in den Fluss, wo er mit einem lauten Platschen zum Liegen kam.

— Danke!, sagten sie zu ihm und machten Bewegungen, als äßen sie aus dem Fluss. Aha: Vielleicht wollten sie aus dem Felsbrocken eine Fischfalle machen. Sie taten etwas mit dem Fluss, das ihnen das Fischfangen erleichtern würde.

— Danke!, sagte er und pfiff: — Gute Idee! Er aß Fisch, wann immer er welchen zu fassen bekam. Meistens erwischte er welche von den roten, die zum Sterben stromaufwärts schwammen. Bevor sie starben, konnte man sie noch essen. Nachdem sie tot waren, fielen sie sehr schnell auseinander.

Eines Tages würde er nach Westen zu seinem Volk zurückkehren, das am Rotfischfluss westlich der Eiskappen lebte. Er würde ihnen die besten Klingen aller Zeiten mitbringen und ihnen Dinge zeigen, die er von den Schnellen gelernt hatte. Dann würde ihn seine Frau vielleicht wieder aufnehmen. Dann würde ihm sein Vater vielleicht vergeben. Wenn sie noch lebten.

32

Wie sich herausstellte, war Elgas und Eistauchers Kind in einem schlechten Frühling geboren worden. Die Motte-nach-dem-Frost war nirgends zu sehen, und kurz nach der Geburt ihres Kindes gingen die Wintervorräte zur Neige, alle Nüsse und Fellbeutel mit Fett, alle gefrorenen Enten und geräucherten Fische, alle essbaren Wurzeln und das ganze getrocknete Rentierfleisch. In den letzten Wochen wurde alles in winzige Stückchen aufgeteilt. Diese Aufgabe übernahm einmal mehr Schiefer, und Falke und Moos maßten es sich nicht an, sich einzumischen oder Kritik an ihm zu üben. Ihre Not setzte Schiefer ohnehin schon genug zu, sodass es keinen Grund gab, eigens darauf hinzuweisen oder es ihm noch schwerer zu machen. Tatsächlich hätten sie selbst es auch nicht besser machen können: Ein schlechter Frühling war eben ein schlechter Frühling.

Das bedeutete, dass die Männer häufiger auf Jagd gehen mussten als sonst, in der Hoffnung, dass sich in ihren Schlingen und Fallen etwas Essbares verfangen würde. Doch in diesem Winter war das Land leer. In manchen Wintern gab es genug Schneehasen, um ein ganzes Rudel zu ernähren — all diese schneeweißen kleinen Leute wurden fett und rund, weil die immer dicker werdende Schneedecke sie zu den höheren Blättern der Weidenbüsche emporhob. Und Schneehasen wurden im Winter nicht nur fetter, sie waren auch leicht zu fangen: Moment, ich sehe etwas: zwei Augen in einem Busch, die in einer Falle sitzen.

Doch dieses Jahr waren keine Schneehasen zu finden. In manchen Jahren war das einfach so, sagte Heide. Sie würden mehr Glück haben, wenn sie nach Schnee- oder Raufußhühnern suchten.

Eistaucher ging mit seinen Freunden auf die Jagd, und allein oder mit anderen zog er los, um nach Fallen zu sehen, wobei sie sich so weit hinauswagten wie möglich. Doch außer dem Hirsch, den er mit Moos zusammen gefunden hatte, schien diesen Winter nichts unterwegs zu sein. Manchmal fand er kaputte Fallen, einmal eine Füchsin und einmal eine Bisamratte. Ohne die Schneehasen waren all die kleinen Jäger genauso hungrig wie die großen und deshalb leichter zu fangen. Jedes bisschen war es wert, ins Lager zurückgetragen zu werden. Einmal brachte er eine tote Maus mit, und keiner lachte. Aber das Rudel bestand aus zwei Dutzend und vier Leuten, und nach einer Weile dachten sie nur noch daran, wie sie genug Essen für alle heranschaffen konnten. Das Einzige, was sie spürten, war, wie ihr Magen sich nach oben und innen stülpte, sich an ihr Rückgrat und tief in ihre Gedanken drückte.

Doch es blieb kalt. Schon bald waren die Jäger zu erschöpft für weitere Wanderungen. Sie mussten sich ihre Kräfte für die wirklich wichtigen Dinge aufsparen. Die anderen Männer beneideten Eistaucher darum, dass Elga ihn von Zeit zu Zeit säugen konnte, um ihm über den schlimmsten Hunger hinwegzuhelfen. Und tatsächlich war es ein enormer Trost, ihre dünne, süße, warme Milch zu saugen, während das Kind an der anderen Brust nuckelte. Einmal streckte das Kind mit geschlossenen Augen die Hand aus und tätschelte ihm den Kopf, als wollte es seine Teilhabe absegnen. — Dafür habe ich wohl zwei davon, sagte Elga mit einem kleinen Lächeln.

Schlimmbein behinderte ihn, und so hatte er auch nicht mehr Erfolg als die anderen Jäger. Einmal fand er in einer ihrer Baumfallen eine tote Bisamratte, doch sie sah irgendwie leer aus, und das war sie auch: Ihr Kopf hatte den Boden berührt, und Spitzmäuse hatten sich durch das Gesicht gefressen und das ganze Fleisch und die Eingeweide aufgezehrt, sodass nur ein Pelzbeutel mit nichts als Knochen darin übrig geblieben war. Eistaucher nahm die Überreste trotzdem mit zurück ins Lager: Sie würden das Mark aus den Knochen saugen und den Pelz verwerten.

Bei einer anderen Gelegenheit sah er auf seiner Fallenrunde einen Vielfraß, der gerade eine Schlinge durchbiss, um einen Marder zu befreien, der sich darin verfangen hatte. Während Eistaucher zum Schauplatz des Geschehens rannte, durchtrennten die Zähne des Vielfraßes die Sehnenschlinge, und beide hetzten durch den Schnee davon, der Marder wie ein zu lang geratenes Eichhörnchen und der Vielfraß in großen Sätzen, bei denen er jedes Mal auf allen vieren landete. Schnell waren die beiden zwischen den Bäumen verschwunden. Eistaucher hatte schon von so etwas gehört, aber selbst gesehen hatte er es noch nie. Vielfraße und Marder waren Vettern. Ebenso verhielt es sich mit Bär und Biber. Die größeren ließen ihre kleineren Verwandten immer in Ruhe.

Gerade an diesem Tag war das wirklich ein Pech. Aber ihm blieb nichts anderes übrig, als die Schlinge zu reparieren und für das nächste Mal auf ein besseres Ergebnis zu hoffen. Man kriegt, was man kriegt, sich aufzuregen ist sinnlos. Natürlich war es am besten, täglich jede Falle zu überprüfen, aber dafür musste man sehr weit laufen. Die Tage wurden länger, aber auch der Fallenrundgang schien länger zu werden. Er war jedes Mal erleichtert, wenn er sich zu Elga und dem Kind legen und ein bisschen an der Brust nuckeln konnte, an der nicht der Junge lag. Natürlich brauchten sie den Großteil der Milch für das Kind. Aber ihr üppiger Geschmack füllte ihm sofort den Magen und besänftigte seinen Hunger für ein Weilchen, und er ließ ihn Schlimmbeins Pochen vergessen.

Sie hungerten so sehr, dass zwei aus dem Rudel zur gleichen Zeit krank wurden, Entchen und Windhauch. Dorn und Heide machten ihnen Betten an entgegengesetzten Enden des Lagers und gingen zwischen ihnen hin und her, um sich um sie zu kümmern. Dorn befahl Eistaucher mitzukommen, und in seinen Augen lag dabei ein so steinerner Ausdruck, dass Eistaucher schluckte und beschloss, dass er auch später wieder aufsässig sein konnte.

Die Krankheiten waren sehr unterschiedlich. Entchen hatte Fieber und Beulen, während Windhauch einfach ununterbrochen so erschöpft war, dass sie sich schließlich kaum noch rühren konnte. Vielleicht lag es nur daran, dass sie so alt war. Als sie also an Entchens Bett am westlichen Ende der Balme waren, bibberte Eistaucher vor Angst und beobachtete nervös, wie Dorn seinen Bisonkopf aufsetzte, der im Verhältnis zu seinem echten Kopf absurd groß war; es sah aus, als fräße eine schwarze Schlange von unten einen Bisonkopf, wie die Spitzmäuse die Bisamratte gefressen hatten. Um hinter dem Bisonkopf etwas zu sehen und sprechen zu können, musste Dorn ihn in den Nacken schieben, sodass der Bison den Himmel zu betrachten schien. Dennoch, als Dorn um Entchen herumstakste, ihr in den Hals schaute und ihre Achselhöhlen betastete und dann über ihr Flöte spielte, waren seine Bewegungen so zielstrebig und fließend, wie ein Strudel in einem langsamen Fluss, dass Entchen wie verzaubert davon wirkte, und auch Eistaucher spürte, wie er in Dorns Bann geschlagen wurde. Er wollte helfen, blieb jedoch lieber auf Abstand. Er hatte Angst.

An Windhauchs Bett, oben im Morgenwinkel, war er einfach nur traurig. Windhauchs Trägheit entsprach so gar nicht der Art, wie sie in Eistauchers Kindheit gewesen war. Damals war sie immer durchs Lager geeilt und ihren kleinen Angelegenheiten nachgegangen. In seiner Trauer dachte er daran, wie er später am Abend bei Elga sein und sich glücklich fühlen würde. Beide Empfindungen zugleich fühlten sich seltsam an, so als müsste er sich selbst aufreißen, weil nicht genug Platz in ihm war. Bis zu diesem Winter war Windhauch dieselbe muntere Person geblieben. So saß Eistaucher am Fuße ihres Bettes, den Kopf auf Knien, und sann über Elga nach, über das schwarze Pferd oder stellte sich vor, wie eine Bisonherde in einer langen Reihe durch die Obere Spalte lief, die Leiber zäh davon, dass sie so viel Kopf mit sich herumtragen mussten. Bei Löwen war es genauso, und plötzlich sah er in Gedanken, dass Löwe und Bison Brüder waren, dass es sich bei ihnen um dasselbe Wesen in Gestalt von Jäger und Gejagtem handelte, beide schnell und groß. Hinter seinen Lidern sah er die betörende Krümmung eines Steinbockhorns und den Rumpf eines Steinbocks, der ganz andere Krümmungen aufwies, aber ebenfalls wunderhübsch war. Er wollte schnitzen.

Heide saß die ganze Zeit bei den kranken Frauen, schnupperte an ihrem Atem, legte ihnen das Ohr aufs Herz, probierte ihre Pisse und kehrte kopfschüttelnd und grübelnd mit ihnen vom Scheißplatz zurück. Sie kochte beiden Frauen viele Becher Tee; Windhauch träufelte sie ihn durch ein Schilfrohr in den Mund. Größtenteils handelte es sich um Beifußtee, bitter und braun. Bei Windhauch gab Heide auch noch Mistelpollen hinzu und eine winzige Prise Wolfsflechte. Dieses leuchtend grüne Moos hinterließ Flecken an Heides Fingerspitzen und machte den Tee grüner, als man hätte meinen sollen; das Braun, mit dem es sich mischte, verschwand völlig. Wolfsflechte war giftig für Wölfe, aber Heide gab ihren Leuten oft kleine Mengen von schädlichen Pflanzen.

Bei Entchen hingegen schmierte sie die Beulen mit einer Salbe aus Bärenfett, geriebener Erlenrinde und anderen Stäubchen und getrockneten Blumen aus ihren kleinen bunten Beutelchen ein. Sie fütterte beide Frauen mit einem Brei aus Honig, Beeren und Kräutern, der leicht angegoren war wie die Maische für ihre Feste. Der Brei schmeckte schlecht, aber er schien den Leidenden etwas Erleichterung zu verschaffen.

Eines Nachts setzte Dorn den Bisonkopf auf und tanzte singend um Entchen herum. Mit einem Mal schrie er, sprang auf sie drauf und packte sie bei der Kehle, als wollte er sie erwürgen, und dann griff er in ihren Hals und zog eine weiße Masse heraus, die er in Richtung Fluss warf. Entchen starrte ihn verblüfft an.

Bei Windhauch saß er nur an ihrem Lager und spielte Flöte. Eines Morgens, als sie zu ihr kamen, um das zu tun, entließ er Eistaucher mit einem Klaps auf die Schulter. — Geh jagen, sagte er. Hier gibt es nichts mehr für dich zu tun.

Eistaucher verkniff sich den Hinweis darauf, dass es die ganze Zeit nichts für ihn zu tun gegeben hatte. Er war froh wegzukönnen. In der darauffolgenden Nacht starb Windhauch. Doch Entchen überlebte.

Sie brachten Windhauchs eingewickelten Leichnam zur Rabenplattform, stellten die Leitern auf, trugen sie hinauf und legten sie für die Vögel zum Fressen hin. Die Raben waren nicht weniger hungrig als alle anderen auch, und bald würde nichts mehr von Windhauchs Fleisch geblieben sein. Sobald die Knochen sauber waren, würden sie sie einsammeln und im Fluss bestatten, im Sommer, bevor sie ihren Marsch antraten.

Ehe sie Windhauch den Raben überließen, versammelte sich noch einmal das ganze Rudel um ihren Leichnam und weinte, während Dorn Flöte spielte. So hungrig, wie sie waren, wurden sie nur schwer damit fertig. All ihre Empfindungen waren wund, und alle hatten Windhauch geliebt und waren von ihr bemuttert worden. Ihr Fortgang aus dem Rudel war schmerzvoll. Sie alle seien Teil von Mutter Erde, sagte Dorn zwischen zwei Flötenstücken. Geburt, Paarung, Tod, alles waren Blütenblätter derselben Blume. Letztlich pflückte die Göttin jedes dieser Blätter ab: Sie gebar sie, vereinigte sie miteinander und führte sie dann in den Tod zurück.

In sich drin hörte Eistaucher etwas, das wie der Schrei eines Eistauchers in der Nacht klang. Es war das Lied seines Herzens, das Lied, das niemand außer ihm hörte.

Einige Raben hatten also Glück, doch alle anderen in der Großen Schlucht wurden immer hungriger. Schließlich flog eine Motte-nach-dem-Frost aus einem der Dickichte am Fluss hervor, und der sechste Monat brach an. In der Dunkelheit des sechsten Monds blieb Dorn die ganze Nacht singend auf und flehte die Sommergeister um ihre Rückkehr an, und gerade als er das Lied sang, das Eistaucher am anrührendsten fand, das über die Reise zwischen den Welten, erschienen die Farben der Nacht oben zwischen den Sternen und erleuchteten den schwarzen Himmel mit schimmernden, blauen und grünen Wellen, die so schön waren, dass Dorn alle aufweckte, damit sie sich das Schauspiel ansahen, um dann zu verkünden, dass dies ein Zeichen für die Rückkehr des Sommergeists von der anderen Seite des Himmels war. Sie alle sahen zu, solange das Licht zwischen den Sternen hervorsickerte und sich über den schwarzen Himmel ergoss wie eine Woge aus Libellenflügeln. Als es schließlich erlosch, schliefen sie wieder ein.

— Der Sommer sollte langsam mal kommen, brummte Heide, während sie zurück Richtung Bett stampfte. — Man kann keine Schneehuhnköttel essen, wenn es keine Schneehühner gibt.

Als sie an Eistaucher vorbeikam, sagte sie: — Trink nicht zu viel von der Milch deiner Frau. Dein Junge braucht sie zum Wachsen.

— Ich weiß, sagte Eistaucher. — Aber wenn ich dafür etwas zu Essen bringe.

Heide nickte. — Aber beeil dich damit.

Sie bekamen solchen Hunger, dass Schiefer und Dorn schließlich stromaufwärts zur Südseite der größten Eiskappe gingen, um das Rabenrudel zu besuchen und zu fragen, ob sie ihnen etwas von ihrem Essen abgeben konnten. Nach ihrer Rückkehr wollte keiner der beiden über die Reise reden, aber ihre Säcke waren voller Nüsse und Fett, und zwischen sich schleiften sie einen Beutel mit gefrorenen Enten.

— Bei ihnen ist es auch knapp, sagte Schiefer düster. — Es war sehr gut von ihnen, das für uns zu tun. Jetzt stehen wir in ihrer Schuld. Beim Acht-Acht müssen wir ihnen etwas Gutes geben, oder im Herbst.

Dann tauchten die Enten am Himmel auf und quakten ihre Botschaft heraus: Sommer! Sommer! Sommer! Die Wölfe warteten einen Tag und fingen dann gut zwanzig von ihnen in ihren Netzen. Während sie damit beschäftigt waren, kamen auch die Gänse in langen, ausgefransten Keilformationen angeflogen, mit knarzendem Gefieder, schnatternde, quäkende, zischende, keifende Nörgler.

Die Hungerzeit war für das Rudel vorbei. Sowohl Männer als auch Frauen gingen mit Netzen und Speeren auf Gänsejagd. Natürlich nahmen sie die erste Beute niemals an sich, aber wenn zahlreiche zwanzig Tiere auf einmal auftauchten, war das auch nicht nötig. Der Sommer war da. Viele von ihnen weinten vor Erleichterung, als sie wieder zur Jagd loszogen. Der Hungerfrühling hatte sie geschleift bis aufs rohe Fleisch.

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