Im Osten war der Himmel rot, während er über ihren Köpfen ein Grau angenommen hatte, von dem sich bald herausstellen würde, ob es sich um klaren Himmel oder dünne Wolkenschleier handelte. Dorn wies sie an, in einer Mulde im Schnee haltzumachen, in der es einen kleinen Steinwall gab, hinter dem sie sich verstecken konnten. Dort blieben sie, bis der Himmel taghell war. Die Wolkenschleier verzogen sich, und schon bald stieg die Sonne über den Horizont. Dorn bedeutete ihnen, sich geduckt zu halten, während er zurück nach Norden spähte, wobei er ein Stück Pelz über seinen Kopf hielt und mit den Händen zur Seite streckte, sodass er aus der Ferne nur wie ein kleiner Huckel in der Landschaft aussah. Regungslos hielt er Ausschau. Dann fauchte er und zog langsam den Kopf ein.
— Sie sind da, sagte er. — Sie kommen hier entlang, und sie haben angeleinte Wölfe dabei. Wahrscheinlich sind sie uns auf der Spur. Wir müssen weiter.
— Sehen sie uns dann?
— Ja. Heute müssen wir ihnen davonrennen und sie dann in der Nacht endgültig abhängen.
Er sah sie nacheinander an. — Wir müssen schnell sein. Wenn wir den ganzen Tag schnell laufen, können sie uns nicht einholen. Wir sind schließlich nicht die Einzigen, die dieses Tempo ermüdet. Wir müssen sie müde machen. Wir müssen schnell genug sein, um selbst dann auf Abstand zu bleiben, wenn sie losstürmen. Wir müssen ihr Renntempo länger durchhalten als sie, und das Tempo, das sie danach anschlagen, müssen wir auch länger durchhalten. Verstanden?
— Was, wenn sie ihre Wölfe auf uns loslassen?
— Dann töten wir die Wölfe, und sie haben keine Fährtenleser mehr. Außerdem können sie ihre Wölfe so weit weg von zu Hause vielleicht gar nicht von der Leine lassen, ohne dass sie ihnen wegrennen. Wenn wir auf Abstand bleiben, dann können sie sie wahrscheinlich nur als Fährtenleser verwenden.
Eistaucher und Elga nickten. Als Knack das sah, nickte auch er, brummte und sagte: — Skai, skai, skai.
Dorn holte einen Beutel Nüsse aus seinem Rucksack und gab jedem von ihnen fünf. — Wir essen im Rennen. Auf geht’s.
Sie verließen ihre Mulde und rannten auf ihren Schneeschuhen in Richtung des ersten, zugeschneiten Flusses. Sie hörten hinter sich keine Rufe, aber an Dorns Bewegungen war zu erkennen, dass er davon ausging, dass ihre Verfolger sie sehen würden. Anstatt gleich das Eis zu überqueren, lief er darauf flussaufwärts, ehe er sich für einen Kurs entschied und auf den ersten Hügel einer sich südwärts erstreckenden Kette zuhielt.
Sie müssten ihren Verfolgern zeigen, dass sie nicht zu fangen waren, weder mit einem plötzlichen Sprint noch auf lange Sicht. Mit einer Frau dabei wäre das normalerweise nicht leicht gewesen, doch Elga war stark. Sie konnte problemlos mit den Männern mithalten. Bei Knack ließ sich schwer sagen, ob ihm das Tempo zu schaffen machte, weil er beim Rennen so schwer schnaufte, dass sein Atem wie eine Art Singen klang. Aber man sagte den Alten nach, dass sie aus härterem Holz geschnitzt wären als die meisten anderen Leute, und Knack wurde jedenfalls nicht langsamer und schien auch nicht zu ermüden. Bei Dorn ließ sich schwer feststellen, ob er durchhalten würde. Derzeit gab er die Geschwindigkeit noch vor. Manche alten Männer entwickelten eine ledrige Zähigkeit, vor der Jüngere kapitulieren mussten, und es hätte Eistaucher nicht verwundert, wenn Dorn dazugehörte.
Es konnte also gut sein, dass Eistaucher der Langsamste in ihrer kleinen Truppe war. Der Gedanke verbitterte ihn, doch während sie Faust um Faust dahineilten, wurde ihm klar, dass dem tatsächlich so war. Schlimmbein würde es mit Sicherheit nicht gefallen, den ganzen Tag zu rennen, auch nicht mithilfe des Erlengehstocks, den Eistaucher bereits auf den Namen Drittbein getauft hatte, in der Hoffnung, dass dieser lahme Witz ihm etwas Antrieb geben würde. Drittbein würde seinen Teil beitragen müssen, das stand fest.
Den ganzen Tag über rannten sie. Bei Eislöchern, an die sie gefahrlos herankamen, machte Dorn halt, damit sie die Gesichter ins Wasser tauchen und trinken konnten, und bei diesen Gelegenheiten verteilte er auch einige Nüsse und etwas getrocknetes Fleisch und Honigkornkekse, die sie bereits wieder im Laufen aßen. Sie machten nie lange Pausen, aber alle ein oder zwei Fäuste fand Dorn einen Anlass, kurz innezuhalten. Sie liefen so schnell, wie Eistaucher konnte; er wusste nicht, ob es den andern genauso ging, und er wollte auch nicht fragen.
Am Nachmittag wurde der Schnee weicher, und sie hielten an, um erneut ihre Schneeschuhe anzuziehen. Dadurch würden sie mit Sicherheit Spuren hinterlassen, denen die Jende folgen konnten. Doch dafür waren die Jende auf zerbrochenen Schneeschuhen unterwegs, mit denen sie nicht so schnell laufen konnten.
Nur selten bekamen sie ihre Verfolger zu Gesicht. Einmal hörten sie ein entferntes Heulen von einem Menschen oder Wolf, als hätten die Jende ihre Spur zwischenzeitlich verloren gehabt und nun wiederaufgenommen. Dann und wann wollte Dorn ihre Verfolger sehen, um zu wissen, wo sie waren, deshalb rannte er auf ihrem Weg durch die Steppe manchmal auf kleine, baumbestandene Hügel oder Anhöhen im trunkenen Wald, um Stellen zu suchen, an denen die Bäume einen Sichtschutz bildeten, von dem aus sie sehen konnten, ohne gesehen zu werden. Dreimal entdeckte Dorn den Trupp der Jende, und beim dritten Mal sagte er: — Sie schicken zwei mit den Wölfen los, um uns zu überrumpeln.
So jagten Wölfe manchmal Rentiere, indem sie sie erst ermüdeten und ihnen dann so lange nachsetzten, bis das schwächste Tier zurückfiel. Dagegen blieb ihnen nur die Verteidigung, zu der auch die Rentiere griffen: Sie mussten zusammenbleiben und ihren Vorsprung wahren. Manchmal, erinnerte sich Eistaucher, machte der männliche Anführer der Herde auch kehrt, um die Verfolger abzuschrecken. Und Dorn sah nachdenklich aus, während sie den langen Nachmittag hindurch südwärts hetzten. Bei jedem Wasserlauf, den sie überquerten, nahm er die gefährlichste Route, ging so nah, wie er es gerade noch wagte, an Eislöchern vorbei übers nackte Eis. Vielleicht hoffte er, dass ihre Verfolger schwerer waren und einbrechen würden. Eistaucher folgte ihm gerade über einen dünnen, brüchigen Streifen durchsichtigen Eises, als ihm dieser Gedanke kam, und er eilte nach vorne, um Dorn zu sagen, dass er sich täuschte, wenn er glaubte, die Jende auf dem Eis zu einem Fehler verleiten zu können, weil die Jende sich auf dem Eis besser auskannten als irgendjemand sonst. Dorn knurrte ihn bloß an, aber er versuchte es nicht noch einmal mit einem solchen Trick. Seine Stirn lag ab da in tiefen Falten.
Schließlich ging die Sonne im Westen unter, und als die Sterne hervorkamen, krochen sie unter tief hängenden Ästen hindurch in ein Erlendickicht. Nun würden die gefangenen Wölfe sie angreifen können. Allerdings waren die wohl noch nicht losgelassen worden, denn dann hätten sie sie inzwischen eingeholt.
Als sie sich in ihre Pelze gewickelt hatten, sagte Dorn zu Eistaucher: — Bleib hier bei Elga. Dann nahm er Knack am Arm, und die beiden machten sich mit ihren Speeren auf den Weg Richtung Norden. Als sie ein bis zwei Fäuste später wieder auftauchten, hatten sie es eilig zu verschwinden.
— Es geht wieder die ganze Nacht weiter, sagte Dorn. — Wir haben einen von ihrer Vorhut getötet. Der andere ist davongekommen, aber er weiß nicht, wie viele wir waren. Heute Nacht werden sie also vorsichtig sein. Sehen wir zu, dass dies die Nacht ist, in der wir entkommen.
— Sie können uns trotzdem auf der Spur bleiben, sagte Eistaucher.
— Das wollen wir mal sehen.
Der zunehmende Mond stand eine Nacht weiter im Osten, war um eine Nacht fetter; in seinem Licht wanderten sie durch die immer schärfer werdende Kälte. Im Mondlicht schienen die Sterne trüb. Der harte, glitzernde Schnee quietschte unter ihren Füßen. Sie hatten die Sumpfebenen am Ausfluss des großen Tals erreicht, und angesichts der schiefen Bäume und der glatten schwarzen Flecken, die sie überall sahen, zogen sie ihre Schneeschuhe wieder an, um ihr Gewicht auf dem vermutlich dünnen Eis, das sich möglicherweise erst in der Nacht gebildet hatte, besser zu verteilen. Mit Seilen hätten sie sich auf solchem Gelände zusammenbinden können, doch weil sie keine dabeihatten, blieb ihnen nichts weiter übrig, als das Beste zu hoffen. Knack ging hinter Dorn, und da er deutlich schwerer als die anderen war, würde alles, was ihn trug, wohl auch Elga und Eistaucher halten. Andererseits konnte es auch Stellen geben, die nur zwei Personen hintereinander verkrafteten und bei der dritten brachen, weshalb Eistaucher und Elga dicht genug beieinanderblieben, um dem anderen beizuspringen.
Glücklicherweise stellte sich heraus, dass die schwarzen Stellen ebenso fest gefroren waren wie das weiche Eis und dass man vor allem deshalb besser einen Bogen um sie machte, weil sie glatt waren. Dorn mied sie, wo immer möglich, und wenn er eine überquerte, merkten sie, wie viel besser ihr Halt mit den Schneeschuhen war. Auf dem schwarzen Eis konnte man sogar ein wenig dahingleiten. Besser war es allerdings, auf dem weißen Schnee zu bleiben, selbst wenn er so fest wie das Eis und an manchen Stellen fast genauso eben war. Es war, als böte das Weiß an sich dem Fuß einen Halt.
Wenn sie auf Flüsse trafen, die nach Süden verliefen, folgten sie ihnen schlitternd und kamen dabei gut voran. An Land waren sie nicht so schnell. Dorn schlug immer einen geraden, oft ansteigenden Kurs Richtung Süden ein. Am besten war die Gestalt des Lands im Mondlicht zu erkennen. Unter der unebenen Schneedecke zeichnete sich deutlich jeder Muskel der Hügel ab, und der Schnee schien unter dem von winzigen Lichtern übersäten schwarzen Himmel selbst schwach zu leuchten. Durch diese weiche Haut stießen die schwarzen Felsausläufer wie erhobene Visel, und gefrorene Wasserfälle zogen sich wie Spritzmilch durch die Schluchten. Männliche Säulen oder weibliche Rundungen, das Land, das dort in Mondlicht und Schatten lag, hatte Verkehr mit sich selbst. So war es immer, seit den alten Zeiten: Mutter und Vater waren ursprünglich ein Ganzes, waren eins, ehe sie sich durch den Streit darüber, wie die Dinge sein sollten, entzweiten, einen Streit, der nie beigelegt werden sollte. Während sie unter dem Mond weiterhuschten, rief sich Eistaucher so viel wie möglich von Dorns Geschichte über den Anbeginn der Welt in Erinnerung. Einst hatte es im Nichts ein Ei gegeben, das mit einer Person angefüllt gewesen war, und diese Person trug alle Teile und Eigenschaften der Welt in sich, und sie pickte sich aus ihrer Eierschale und floss heraus und wurde zu allem. Der Himmel ist das größte übrig gebliebene Stück Eierschale, die Sonne der Rest des Dotters, die Erde und alles auf den Erdteilen gehörten zum Eiweiß. Rabe pickte auf dem Eiweiß herum, bis alles zu sich selbst wurde.
Eistaucher wusste, dass er den Großteil der Geschichte vergaß. Er fragte sich, ob es ihm jemals gelingen würde, die Geschichten so gut im Gedächtnis zu behalten wie Dorn. Anscheinend nicht. Eine ganze Weile lang hatte ihm diese Wahrheit schwer auf der Brust gelegen, als steinerne Last, und jetzt musste er sie loslassen, damit er besser laufen konnte. Das war ein Problem für andere Zeiten. Im Moment genügte das wenige, woran er sich erinnerte. Im Moment bestand ihre Geschichte aus ihrer Wanderung.
Seltsamerweise hatte man, selbst wenn man durch die Nacht eilte, noch Zeit, an andere Dinge zu denken. Keiner dieser Gedanken schien eine große Rolle zu spielen, doch trotzdem huschten sie ihm durch den Kopf wie Geister, die er abstreifte, noch während er sie heraufbeschwor, weil sie im Moment ohne Bedeutung waren. Nichts außer ihrer Wanderung war von Bedeutung, und so mussten die geschwätzigen Gedanken vor allem dazu dienen, mit Schlimmbein fertigzuwerden. Manchmal taten sie das, weil sie ihn ablenkten, wie Eichhörnchen auf einem Ast über seinem Kopf. Bei anderen Gelegenheiten benötigte er seine ganze Konzentration, um richtig auf dem linken Fuß aufzukommen, ihn möglichst wenig zu belasten und möglichst schnell wieder auf das standhafte, verlässliche Gutbein zu kommen. Wenn Gutbein jemals unter diesen Belastungen nachgeben sollte … ein fürchterlicher Gedanke. Doch bislang ließ ihn Gutbein nicht im Stich, schritt kraftvoll und ohne Schmerzen aus. Auf Gutbein war Verlass. Und wenn er dann tief in den Rhythmus dieses veränderten Laufens gefunden hatte, war es vielleicht in Ordnung, sogar gut, wenn seine Gedanken in die Vergangenheit oder Zukunft schweiften, sich anderen Sorgen zuwandten, wie ein Feuerstock um sich selbst kreisten. Unter anderem konnte er so ignorieren, dass Schlimmbein immer wieder aufkreischte.
Sie setzten ihren Weg fort, und Eistaucher wurde immer müder. Als der Mond unterging, machte Dorn an einem Eisloch halt, um sie trinken und ein paar Honigkekse essen zu lassen. Anschließend wanderten sie im Licht der Sterne, die nun überall aus dem tiefer werdenden Schwarz auftauchten. Es war jetzt schwerer, etwas zu sehen. Sie mussten besser auf den Schnee achten, wirklich aufmerksam zu Boden blicken, und erkannten manchmal trotzdem nicht, in welche Richtung er sich neigte oder wie glatt er war. Man musste das Land mit den Füßen ertasten.
Nachdem sie eine ganze Weile derart blind gewandert waren, spürte Eistaucher im letzten Abschnitt der Nacht, als die Eiseskälte am stärksten war, dass sein zweiter Atem in ihn eingefahren war, ohne dass er es bemerkt hatte. Er war jetzt stärker, leichter, zäher; er konnte weiterlaufen, und er hatte sogar das Gefühl, für immer weiterlaufen zu können, oder zumindest so lange wie nötig. Für den Rest seines Lebens mit diesen drei Gefährten weiterziehen zu können, ohne je zu ermüden. Manchmal fühlte es sich so an, wenn der zweite Atem einen überkam und der eine zum anderen sagte: Lass uns den ganzen Tag wandern und es dann bereden.
Es war ein gutes Gefühl. Fast immer empfand er enorme Dankbarkeit, wenn der zweite Atem ihn erfüllte, hieß ihn mit einem kleinen Hüpfer und einem Lied willkommen, und diesmal war er dankbarer denn je. Es fühlte sich so gut an, wenn Benommenheit und Schwäche einer tiefen inneren Stärke wichen.
Also schritt er weiter aus und stieß Drittbein dabei fest in den Boden. Er trat an Elgas Platz in der Reihe, lief dann mit einem knappen Hallo an Knack vorbei und gab mit einer Kopfbewegung seiner Hoffnung Ausdruck, Knack werde sich zurückfallen lassen und hinter Elga laufen, nur zu ihrer Sicherheit. Knack stimmte girrend zu, auch wenn nicht ganz klar war, zu was, und Eistaucher schloss zu Dorn auf.
Gemeinsam erreichten sie eine Flussbiegung, die an die großen Schleifen der Urdecha erinnerte.
Während sie über das Eis gingen, sagte Dorn: — Wir sind beinahe an dem großen Fluss, der durch das Tal fließt. Ich hoffe, dass sein Eis noch nicht gebrochen ist. Es dürfte fast schon an der Zeit sein. Selbst auf diesen Seitenarmen wird das Eis dünn. Heute ist der achte Tag des sechsten Monats. Im Süden ist das Flusseis inzwischen fortgespült. Weit kann es bis dorthin nicht mehr sein.
— Sollten wir denn dann überhaupt die Flüsse überqueren?
— Wir müssen sie überqueren! Außerdem will ich wissen, in welchem Zustand sie sind. Wenn wir über den großen gehen und er danach bricht … er beschleunigte seinen Schritt etwas.
Eistaucher überließ Dorn die Führung und folgte. Dorn war jetzt auf der Jagd, und Eistaucher wollte ihn nicht dabei stören, und außerdem wollte er sich seinen zweiten Atem für die weite Strecke, die noch vor ihnen lag, einteilen. Als er zurückblickte, sah er, dass Knack direkt hinter Elga lief und sie beide dicht hinter ihm waren. Elgas Miene war konzentriert, zu Boden und nach innen gekehrt: Sie war ein Geschöpf der Nacht, das sein Dasein hier draußen ernst nahm, und noch weniger gesprächig als sonst. In einer kurzen Pause blickte sie zu Eistaucher, und er hatte den Eindruck, dass sie einfach durch ihn hindurchsähe. Diesen Fluchtversuch hatte sie nicht erwartet, das erkannte er; sie war überrascht und erinnerte ihn darin an die Jende, als sie es von ihrem Eisfloß heruntergeschafft hatten. Sie hatte nicht damit gerechnet zu leben. Jetzt würde sie entkommen oder sterben.
Bald nach Sonnenaufgang, im nackten Gelb des Morgens, weitete sich der Flusslauf, dem sie während der letzten paar Fäuste stromabwärts gefolgt waren, und sie überquerten ein zugefrorenes Becken oder eine überflutete Wiese in der Nähe der Stelle, an der ihr Wasserlauf in den großen Fluss mündete. Dorn bog ab und stieg auf eine kleine Anhöhe hinauf, von der aus man eine weite Sicht hatte, und während Eistaucher ihm folgte, wurde ihm bewusst, wie erschöpft seine Beine waren. Selbst die kleine Steigung raubte ihm fast die letzten Kräfte. Und sobald sie über den Fluss waren, würde es nur noch bergauf gehen.
Von der Erhebung aus konnten sie den Blick weit über den Fluss schweifen lassen. Er war noch weiß, aber an vielen Stellen ragten riesige Platten senkrecht eindrucksvoll in die Höhe. Und das Eis erhob seine Stimme. Ein tiefes, gedehntes Grollen erfüllte die Luft, wie Donner, der, durch die Eisschicht gedämpft, aus dem Fluss emporstieg. Dazwischen ertönte dann und wann ein lautes Knacken oder ein gedehntes, knisterndes Geräusch, ein Sirren in der Luft. Immer wenn ein solches Knistern und Sirren zu hören war, folgte ein Ächzen. O ja: Das Eis hier würde schon bald brechen, davon kündeten unmissverständlich all diese Geräusche, auch wenn sich noch nichts bewegte.
Dorn blickte zurück Richtung Norden und deutete mit dem Finger auf einen Krähenschwarm, der dicht am Horizont über einer Stelle kreiste.
— Lasst uns jetzt den Fluss überqueren, sagte Dorn. — Keine Zeit zum Verschnaufen. Wir gehen hinüber, steigen auf der anderen Seite auf einen Hügel und sehen uns alles Weitere an.
Also machten sie sich auf den Weg über den Fluss. Sie gingen mit gleitenden, behutsamen Schritten. Wenn sie Bänder aus schwarzem Eis überquerten, sahen sie eingeschlossene Blasen unter der glänzenden Oberfläche, und unter den Blasen konnte man manchmal kurz etwas in der Tiefe erkennen — entfernte Andeutungen von grünem Gras, das sich in der Strömung wiegte, oder das Aufblitzen einer Forelle. Flussabwärts waren das Knacken und die knisternden Geräusche lauter denn je, und Eistaucher stockte der Atem; so begann es — noch vor dem Aufbrechen breitete sich das Getöse flussaufwärts aus.
Dorn senkte bloß den Kopf und ging schneller. Sie trugen noch immer ihre Schneeschuhe, und manchmal gingen sie über schwarze Stellen, die so glatt gefroren waren, dass sie nass aussahen. Das ältere, weiße Eis war sehr viel höckriger. Mit rudernden Armen schubberten und rutschten sie so schnell sie konnten voran. Eistaucher stieß sich mit Drittbein ab. Die anderen hielten sich so dicht bei Dorn, wie es ihnen sicher erschien, jeder ein paar Körperlängen hinter dem Vordermann, wobei Eistaucher ganz hinten ging. Er achtete darauf, Abstand zu Elga zu wahren, sich aber nicht zu weit zurückfallen zu lassen.
Da der Fluss so breit war, brauchten sie lange, um hinüberzukommen. Als sie das andere Ufer erreichten, waren sie alle völlig aus der Puste. Sie waren um ihr Leben gerannt, und das spürten sie nun. Nachdem sie einen Moment lang Atem geschöpft und gewartet hatten, dass ihr Herzschlag sich beruhigte, führte Dorn sie zu einem kleinen Vorsprung, der in den Fluss hinein- und etwa zwei Mannshöhen über die Wasseroberfläche ragte.
Dort oben legten sie ihre Rucksäcke ab, zogen ihre Lederlappen hervor, banden ihre Schneeschuhe los, legten die Lappen auf die Schuhe und setzten sich darauf. Sie atmeten noch immer schwer. Dorn zwang sie, aus seinem Wasserschlauch zu trinken, und sie kramten in ihren Beuteln herum und aßen Nüsse, Trockenfleisch und Körnerkekse. Dabei stellten sie fest, dass sie abgesehen von einigen Beuteln Öl, die Dorn mit sich trug, nicht besonders viel zu essen hatten; aber mit diesem Problem würden sie sich später befassen. Im Moment waren sie ausgehungert, und sie mussten viel essen, um im gleichen Tempo wie bisher weiterzumachen. Also aßen sie.
Im Norden war keine Bewegung zu sehen, mit Ausnahme eines Otterrudels, das stromaufwärts am gegenüberliegenden Ufer herumtollte, als wäre es ein Tag wie jeder andere, als stünde der Fluss nicht unmittelbar davor, unter ihren Füßen aufzubrechen. Als Dorn das sah, machte er ein finsteres Gesicht, und nach einer Weile erhob er sich und führte einen kleinen Tanz auf, während er das Lied des brechenden Eises sang:
Der Frost muss frieren, das Eis die Flüsse kleiden,
Einer allein löst des Eises Fessel
Und treibt den langen Winter aus.
Gutes Wetter wird kommen,
Ein heißer Sonnensommer.
Großes Salzmeer, Land der Toten,
Damit du das Eis brichst, verbrennen wir Hülsdorn.
Nimm ihn zurück, wir brauchen ihn nicht,
Stoß die Sonne herauf, brate die Luft,
Lass unter dem Eis das Wasser rasch strömen,
Fülle die Schluchten,
Fall herab am Felsen,
Fülle, Wasser, fülle
Jede Rinne, lauf über,
Von unten drück weg
Den Altschnee und Dreck.
Fülle von oben
Ein stürzender See
Wie der Finger im Handschuh,
Wie das Kind im Schoß
Aus dem Innersten gepresst wird.
Jetzt heißt es drücken und pressen
Und pressen und pressen,
Mutter Erde weiß,
Mutter Erde presst,
Ein Zucken ein Krampf
Ein Knoten ein Pressen
Geh in ihre Höhle und sage es ihr,
Brich, Eis, brich jetzt!
Brich, Eis, brich jetzt!
Der Fluss lebte, sie hörten seinen Puls. Unter seiner weißen Schneedecke, unter dem nackten Eis, das sich über ihm auftürmte, drückte er nach oben, angeschwollen von der Frühjahrsschmelze. Sie sahen, wie sich Schnee und Eis hier und dort verschoben oder plötzlich aufbäumten, wo die Platten in der Sonne blitzend kippten oder Risse zwischen neuen Platten aufplatzten, als wären sie mit unsichtbaren Sehnen zusammengenäht. Wasser strömte aus diesen Nähten und ließ das Eis stromabwärts blau in den Himmel blinzeln.
Dorn sang mit heiserer Stimme, tanzte, ohne die Füße zu bewegen, deutete den Tanz an, ohne ihn auszuführen. Er sprach mit dem Himmel. Der Fluss antwortete donnernd. Sowohl stromaufwärts wie stromabwärts donnerte seine Stimme. Aber er wollte nicht brechen.
Sie wussten alle, dass Eis manchmal tagelang in einem solchen Zustand verharrte, Faust um Faust, Tag um Tag hielt, bis es endlich wirklich brach und auf einem tosenden Schwall schwarzen Wassers flussabwärts geschwemmt wurde. Es war der Sommerorgasmus des Flusses, ein prachtvolles Spritzen. Nie zuvor war es ihnen darauf angekommen, wann genau es sich ereignete. Doch jetzt, als sie sahen, wie das Eis trotz allem hielt, war die Anspannung eine Qual. Bei einem so großen Fluss mochte es trotz allen Krachens und Knackens lange dauern. Und jetzt sah Eistaucher auf der anderen Seite des Flusses, weit im Nordwesten, Punkte, die sich bewegten. Er zeigte darauf, und Dorn hielt in seinem Tanz inne. — Kommt, sagte er grimmig. — Scheiß auf die Götter. Wir müssen weiter.
Eistaucher ächzte wie der Fluss. Er stellte sich hin und belastete probehalber Schlimmbein. Es fühlte sich noch immer schmerzhaft an. Er schlang sich den Rucksack über die Schultern, die unter den Gurten wund gescheuert waren.
Und weiter ging es.
Nun führte ihr Weg sie bergauf, in die Nachmittagssonne, die blendend hell vom nassen Schnee zurückgeworfen wurde, sodass Eistaucher die Augen fast ganz zukneifen musste. Er hatte das Gefühl, mit dem ganzen Körper zu blinzeln, und trotzdem musste er weiter in den Lichtsturm hineinrennen.
Doch sie wurden nicht langsamer. Eistaucher fand wieder zu seinem zweiten Atem zurück, Steigung hin oder her. Und auf dem Weg bergauf benahm Schlimmbein sich sehr viel besser. Eistaucher trat mit den Schneeschuhen genau in die Spuren, die Knack und Dorn hinterließen; und Knack trat fast immer in Dorns Spuren, sodass es fast aussah, als wäre hier nur eine Person unterwegs gewesen. Irgendwann begann Eistaucher, Knacks Spuren zu folgen, wenn beide voneinander abwichen, da der Schnee in ihnen härter war; außerdem fiel ihm langsam auf, warum Knack sich bei seinen Abweichungen stets weiter oben hielt. Er wählte immer den Weg mit der sanftesten Steigung. Eistaucher hatte mit einem Mal das Gefühl, Knack durch das Verfolgen seiner Schritte besser zu verstehen, als es ihm jemals im Gespräch gelungen war.
Elga blieb ihm dicht auf den Fersen. Sie sah durstig aus und wanderte mit gesenktem Kopf, die Augen beinahe geschlossen, während sie die Schneeschuhe vorsichtig in die Spuren vor ihr setzte.
Dorn hielt auf einen schwarzen Hügel zu, der aus dem weißen Meer herausragte. Als sie sich ihm näherten und dabei auf dem zunehmend weichen Schnee langsamer wurden, sahen sie, dass er der Beginn einer nach Süden verlaufenden Hügelkette war, die den Westrand eines Tals bildete, das Eistaucher als das zu erkennen meinte, durch das er und Elga gekommen waren, als die Jende sie nach Norden gebracht hatten. Mit Sicherheit ließ sich das jedoch nur schwer sagen.
Dorn wollte auf dem Grat entlanglaufen, damit sie keine Fußabdrücke mehr im Schnee hinterließen. Weiter im Süden würde es noch mehr schneefreien Boden geben, erklärte er, weshalb es ihnen mit etwas Glück gelingen mochte, den Grat auch spurlos zu verlassen und ihren Weg fortzusetzen. Eistaucher und Elga nickten und senkten erneut die Köpfe, um Dorn und Knack auf die kahle Anhöhe zu folgen.
Als sie den ersten aus dem Schnee ragenden Felskamm erreichten, wurde jedoch schnell klar, dass der Weg über den Grat weit beschwerlicher sein würde als der über die verschneite Ebene. Allein schon, um hinaufzukommen, mussten sie Stufen in einen steilen Schneehang treten, bis sie schließlich eine Geröllrampe erreichten, über die sie auf den Grat gelangen konnten. Inzwischen fiel ihnen jede zusätzliche Anstrengung schwer, und Eistaucher spürte, wie in seinen Unterschenkeln Krämpfe aufflammten. Aber es war entscheidend, dass sie von dem Schnee herunterkamen, also stapften sie schnaufend, ächzend und schnalzend voran. Dicht am Fels war der Schnee besonders morsch; man musste aufpassen, um nicht in eines der Löcher zu stürzen, die er verdeckte. Manchmal genügte ein einziger Schritt. Eistaucher, dem der Schweiß in den Augen brannte, mühte sich durch den Matsch empor, dessen Weiß an den Rändern schwarz zu pulsieren schien.
Schließlich standen sie keuchend und schwitzend am Anfang des Grats. Der Weg vor ihnen ging bergauf, und als sie zurückblickten, konnten sie bis zum großen Fluss sehen. Hinter ihnen war noch alles weiß, doch vor ihnen im Süden war der schmelzende Schnee bereits von vielen dunklen Flecken durchzogen. O ja: Beinahe hatten sie schon die Steppe und die vertrauten Landstriche erreicht, wo sie den Höhenwegen folgen, sich unter die Tiere, ihre Brüder und Schwestern, mischen und mit den Wäldern eins werden konnten. Sie setzten sich hin, zogen ihre Schneeschuhe aus und banden sie wieder an ihre Rucksäcke.
Doch dann streckte Knack den Finger aus: Dort waren die Eisleute, wie kleine schwarze Punkte, die den Fluss überquert hatten und nun über die verschneite Ebene rannten. Von hier aus wirkte der Fluss noch weiß und still, allerdings konnten sie sehen, dass er weit im Westen bereits schwarz geworden war. Dennoch hatten die Jende es herübergeschafft und folgten ihnen noch immer. Dorn wies auf etwas Interessantes hin: Anscheinend waren die gefangenen Wölfe fort. Entweder man hatte sie zurückgebracht, oder sie waren weggelaufen. Dorn freute sich über die Entdeckung. Aber während sie die kleinen schwarzen Punkte beobachteten, wurde ihnen zugleich deutlich, dass die Jende nun die Wölfe waren, die Hyänen, Raben oder auch Leute; so oder so gehörten sie zu jener Sorte Jäger, die ihre Beute bis zur Erschöpfung verfolgte und dann zum Todesstoß ansetzte. Raben führten Wölfe oder Menschen sogar zu verwundeten Tieren, die sie aus der Luft gesehen hatten, um später das Aas fressen zu können, das die Jäger zurückließen, nachdem sie das Tier getötet und verzehrt hatten.
Eistaucher war noch nie zuvor in dieser Weise gejagt worden. Möglich, dass das für sie alle galt; doch als er Knack beobachtete, der zu den Jende blickte, begriff er, dass der Alte das hier schon einmal durchlebt hatte und nicht überrascht war. Knack summte kurz etwas bei sich und musterte dann neugierig Dorn und Elga und Eistaucher. Mit einer Kopfbewegung fragte er: Zeit, zu gehen?
Dorn starrte weiter auf die Punkte hinab und überschattete die Augen mit seiner Hand. Schließlich atmete er einmal schwer ein und aus.
— Warten wir, ob uns dieser Grat weiterhilft. Die müssen auch irgendwann müde werden. Wenn sie den Grat hochkommen und uns nicht sehen, uns überhaupt nicht mehr entdecken und keine Spur haben, der sie folgen könnten, dann wissen sie nicht, wo wir den Kamm verlassen haben. Dann werden sie aufgeben.
Knack tat so, als äße er etwas, und betrachtete seine Leere Hand.
— Ich weiß, sagte Dorn zu ihm. — Zweiter Atem.
— Mein zweiter Atem war schon bei mir, sagte Eistaucher.
Dorn musterte ihn. — Dann der dritte Atem. Manchmal muss er einfach kommen. Wie zum Beispiel jetzt.
Er lächelte angespannt. — Dafür leben wir! Für Tage wie diesen! Also kommt.
Der breite Grat des Hügelkamms war tatsächlich in gewisser Weise schwierigeres Gelände als die verschneite Ebene, aber es war trotzdem gut, von dem Schnee herunter zu sein und mit den Füßen wieder sicheren Halt zu finden. Auch auf dem Kamm gab es kleine Schneeflecken, und links und rechts von ihnen waren breite Hangstücke noch weiß, aber um die machten sie einen Bogen und suchten sich ihren Weg von Fels zu Fels.
Auf dem Kamm ging es wie gewöhnlich auf und ab, doch insgesamt stieg er an. Manchmal wurde er auch schmaler. Größtenteils handelte es sich um einen schrundigen, zwanzig oder mehr Schritt breiten Weg aus schwarzem, flechtenbewachsenem Fels, doch hier und da verengte er sich zu einer Kante, die nicht breiter als ihre Füße war und zu deren beiden Seiten es steil hinabging. An diesen Stellen ließ Eistaucher sich auf Hände und Knie nieder und kroch, weil er sich nicht darauf verlassen wollte, dass Schlimmbein ihn trug. Manchmal krochen auch die anderen drei.
Glücklicherweise verbreiterte sich der Grat, je höher sie stiegen, und weitere Grate zweigten sowohl nach Osten als auch nach Westen ab, zwischen denen kleine, enge Kolbischluchten verliefen, in die sie im Vorbeigehen hinabblickten; sie waren noch voll Schnee. Dorn wollte in eine davon hinabsteigen, wenn sie sich unten auf trockenem Boden oder Geröll halten konnten, doch keine der Schluchten bot entsprechende Bedingungen. Allerdings gab es in ihnen Bäume. Dort, wo Lawinen abgegangen waren, verliefen breite Schneerinnen, aber ansonsten waren die Schluchtwände zunehmend bewaldet. Auch auf dem Boden unter den Bäumen lag noch Schnee, aber das Wasser in den Bächen war oft schwarz und eisfrei. Dort, wo der Boden den ganzen Tag über in der Sonne lag, war er schneefrei, und die dunkle Erde dampfte zwischen den Felsen. Während sie den Grat entlangwanderten und nach einem Abstieg Ausschau hielten, stieg von den steilen Hängen dichter Nebel auf. Sie drehten sich um und sahen, dass die schwarzen Punkte, die sie verfolgten, ebenfalls auf dem Grat waren, noch weit weg, aber bereits auf dem Grat. Dorn verfluchte sie:
Möget ihr stolpern und stürzen,
Euch in Krämpfen krümmen,
Eure Eingeweide ausscheißen,
Euch den Knöchel verstauchen und euch
Den eigenen Speer in den Bauchnabel rammen.
Möge ein Löwe euch auflauern,
Der Blitz euch treffen und verkohlen,
Eine Lawine euch drei Bäume tief begraben,
Möget ihr bei der schönsten aller Frauen liegen
Und mögen eure Visel dabei schlaff schlackern
Wie die Därme eines aufgespießten Unaussprechlichen,
… und so weiter, während er sie eilig zu dem nächsten Höhepunkt des Grats führte, hinter dem sie einmal mehr außer Sicht sein würden. Wie Eistaucher sehr wohl wusste, konnte Dorn den ganzen Tag Flüche speien, ohne sich zu wiederholen.
Als sie für die Eisleute wieder außer Sicht waren, hielt Dorn inne und blickte an einer steilen Stirnwand hinab in eine Schlucht im Westen. Der Weg nach unten schien vollständig schneefrei zu sein, allerdings gab es einen Bereich, der zu steil war, um ihn einzusehen, was nie gut war. Unterhalb jenes Hangstücks trug die Schlucht ein sich südwärts erstreckendes Baumkleid.
Dorn sagte: — Lasst uns hier runtergehen, solange sie uns nicht sehen können. Diese Stelle macht einen brauchbaren Eindruck.
Die drei anderen hatten keine Einwände. Das steile Stück würde hoffentlich schneefrei sein. Den Versuch war es wohl wert. Auf dem Grat konnten sie nicht bleiben, denn es sah inzwischen ganz danach aus, als ob die Eismänner schneller als sie waren. Und sie selbst konnten nicht schneller.
Also begannen sie ihren Abstieg. Auf dem Weg nach unten kam Eistaucher der Gedanke, dass dies auch deshalb eine gute Schlucht war, weil sie kurz war und zu einem Tal hin abfiel, das sich nach Süden erstreckte, sodass sie mehr oder weniger direkt Richtung zu Hause weiterlaufen konnten.
Wie sich herausstellte, war ein Teil des Hangs, der von oben nicht zu sehen gewesen war, ein steiles Geröllfeld, das noch von altem Schnee bedeckt war, durch den die Schmelze lange, von oben nach unten verlaufende Rinnen gezogen hatte. Überall auf dem Hang glitzerten Wassertropfen, so nass und aufgeweicht war er in der Nachmittagssonne.
Eine Weile zögerte Dorn am oberen Ende des Hangstücks. Er schob sich langsam über die Kante und trat fest auf den Schnee; sein Fuß brach bis zu dem darunterliegenden Gestein durch. Der Schnee war wirklich sehr weich. Er zog sich aus dem Schneeloch zurück auf den Felsen und überlegte weiter, ehe er sich schnaubend auf die schräge Felswand setzte und die Schneeschuhe von seinem Rucksack nahm, um sie sich wieder an die Füße zu binden.
— Wir müssen da hinunter, sagte er. — Wenn sie herkommen und nachsehen, werden sie zwar unsere Spuren finden, aber dafür werden wir danach keine mehr hinterlassen. Mit einer knappen Geste deutete er in die Schlucht hinab.
Also setzten sie sich neben ihn und banden sich ebenfalls die Schneeschuhe an die Stiefel, so fest es ging. Dann erhoben sie sich wieder. Eistaucher beugte die Knie und spürte kleine, schmerzhafte Krämpfe in seinen Schenkeln aufflackern. Es würde ein harter Abstieg werden.
Er ging nun wieder als Letzter und gab sich alle Mühe, in die Schneeschuhspur der anderen drei zu treten. Größtenteils traten auch seine Vorgänger in die gleichen Abdrücke, die einander unsauber überlappten und sehr tief waren. Manche waren hüfttief, und manche brachen unter Eistauchers Füßen hangabwärts weg, sodass er das Gewicht hastig auf das obere Bein verlagern musste, um nicht selbst hinterherzurutschen. Dankenswerterweise handelte es sich dabei um Gutbein. Eigentlich wäre es zwar besser gewesen, Gutbein auf der abschüssigen Seite zu haben, aber so, wie der Hang geneigt war, hatten sie keine Wahl, als ihn von oben gesehen nach rechts hinabzusteigen. Dorn versuchte zunächst gelegentlich, nach links abzubiegen, eine scharfe Kehre in den Schnee zu treten, doch schnell zwang ihn der Verlauf des Hangs, erneut umzukehren und weiter nach rechts abzusteigen.
Das bedeutete, dass Schlimmbein Eistauchers Gewicht auf der abschüssigen Seite halten und damit den Hauptteil der Arbeit machen musste. Es musste auf dem Weg nach unten führen; anders ging es nicht, das Land selbst erzwang es. Während er seinen Weg fortsetzte, begann jeder Schritt abwärts mit Schlimmbein ihn so stechend vom Knöchel bis in die Hüfte zu schmerzen, dass er ins Wanken geriet und sich nicht mehr sicher war, ob es nicht unter ihm nachgeben würde. Doch er hatte keine Wahl: Er musste es gerade nach unten vorstrecken und in das tiefe, nur unsicheren Halt bietende Schneeschuhloch treten, das die anderen drei ihm hinterlassen hatten. Er ließ sich in den Schmerz hineinfallen, legte sein Gewicht darauf und ignorierte das qualvolle leise Knirschen in seinem Knöchel, während er sich alle Mühe gab, Gutbein so schnell wie möglich in das höhere Loch zu befördern und dann mit ihm das Gewicht von seiner linken Körperhälfte zu nehmen. Anschließend hielt er für einen kurzen Moment auf Gutbein inne, atmete ein paar Mal tief durch und überließ sich dann wieder dem beißenden Schmerz des nächsten Schritts. Wenn die unteren Schneeschuhlöcher unter seinem Gewicht wegbrachen, musste er auf dem Schnee mitschlittern, bis sich genug davon gesammelt hatte, um ihn zum Stehen zu bringen. Wenn er Glück hatte, rutschte er dabei nicht zu weit ab, um wieder in die Spur der anderen zurückzukehren; andernfalls musste er sich eine Zwischenstufe treten. Dafür musste er Drittbein so weit oben wie möglich in den Schnee bohren, um sich an ihm hochzuziehen.
Er machte weiter, mit jedem Schritt tief einsinkend, während ihm der Schmerz von Schlimmbein ausgehend direkt durch den Visel in die Eingeweide schoss. Der Abstieg zum Wald am Bachbett war noch nicht einmal halb geschafft.
Während seiner häufigen Pausen ließ Eistaucher den Blick immer öfter am Hang entlangschweifen und überlegte, ob man sich wohl auf den Schnee setzen und in einer der vertikalen Rinnen hinunterrutschen konnte. Das Problem bestand darin, dass am Fuß des Hangs große Felsbrocken lagen, die Brocken in dem Geröll, die so schwer waren, dass sie bis ganz nach unten gepoltert waren. Inzwischen war der Schnee so weich, dass er im Rutschen vielleicht seinen Stock und seine Schneeschuhe würde hineinbohren können. Aber der Hang war zu steil, um es auf einen Versuch ankommen zu lassen. Vielleicht würde er zu schnell werden, um anzuhalten, und direkt gegen die Felsen prallen. Selbst wenn es ihm gelang, oberhalb der Felsen im Schnee zum Stehen zu kommen, würde er mitten in einem Buckelfeld voller Löcher und großer Steine festsitzen. Dort hindurchzukommen oder schräg am Hang weiterzuwandern würde mindestens so anstrengend sein wie das, was er im Moment tat, wenn nicht noch anstrengender. Außerdem konnte er ohnehin nicht wohlbehalten dorthinab gelangen!
Er musste einfach jeden Schritt mit dem linken Bein so gut wie möglich platzieren. Gerade ins Loch hinabtreten, sich dann in den Schmerz hineinlehnen, wenn möglich festen Halt finden; dann zur Erholung kurz aufs rechte Bein und alles tun, um sein ganzes Gewicht darauf zu verlagern. Schritt für Schritt, wobei die Strafe für weichen Schnee oder einen Fehltritt ein erneutes Stechen war.
Er schwitzte heftig vor Anstrengung und Schmerz. Dann und wann hielt er inne, um ein wenig nassen Schnee in den Mund zu nehmen, der ihm Zähne und Gaumen kühlte und seinen ausgedörrten Mund und seine Kehle kurz befeuchtete. Er spürte deutlich, dass es ihm inzwischen an Flüssigkeit mangelte, und wusste, dass das einer der Gründe für die Krämpfe in seinen Beinen war. An der nächsten Wasserstelle würde er trinken, bis er einen runden Bauch hatte. Der unebene Schnee strahlte hell, und schwarzes Licht waberte darauf; der Schweiß brannte ihm in den Augen; er konnte kaum etwas sehen, aber es gab auch nichts zu sehen außer dem Schnee zu seinen Füßen. Es gab überhaupt nichts mehr außer dem Schnee, zerdrückt von der Doppelreihe flimmernder Schneeschuhabdrücke, schwarz umrandet oder vollständig dunkel. Es war eine seltsame Schwärze, weil der Schnee so weiß war, wie man es sich nur vorstellen konnte, und trotzdem voller Schwärze. Wässrige Körnchen Weiß im Schwarz. In seiner Blindheit konnte er noch immer erkennen, ob das nächste Stück Schneebrei ihn tragen würde oder nicht. Und für etwas anderes brauchte er seine Augen nicht.
Dann gab der Schnee unter Schlimmbein nach, und er rutschte weg und rauschte sofort auf der Seite den Hang hinab, so schnell, dass er sich nicht mit den Kanten der Schneeschuhe bremsen und auch Drittbein nicht in den Boden rammen konnte. Er konnte nur versuchen, seitlich auf den Schneeschuhen hinabzugleiten und nicht noch schneller zu werden. Weiter vorne gab es eine flache Senke, die wahrscheinlich seine beste Chance darstellte, anzuhalten, bevor er gegen die Felsen weiter unten prallte, also spannte er sich an, wartete und grub dann, als er in der Senke war, seine Schneeschuhe und Ellbogen und Drittbein in den Schnee, was ihn knirschend zum Stehen brachte.
Eine Weile saß er schwer atmend da, frierend und von brennenden Kratzern übersät, während ihm der Schweiß übers Gesicht lief. Weiter oben am Hang sah er seine Rutschspur, einen ausgefransten Graben, der in gerader Linie zu ihm führte. Kalt und heiß, verschwitzt und zitternd, stemmte er sich mit Drittbein als Stütze hoch. Aufgerichtet sah er, dass ein sanft abfallender schräger Pfad ihn zu einer Stelle oberhalb der Felsen führen würde, wo er sich mit Dorn und Knack und Elga treffen konnte. Elga rief seinen Namen; ihm wurde klar, dass sie ihn schon seit einer Weile rief. Er winkte kurz mit Drittbein und stapfte langsam zu ihnen hinüber. Der Weg hier war leichter als der am Hang hinab, aber Schlimmbein tat inzwischen so weh, dass er kaum noch damit auftreten konnte.
Als er die anderen am baumbestandenen Fuß des Hangs erreichte, brach er zusammen und konnte nicht gleich weitergehen.
Dorn sah Eistaucher eindringlich an, während er ihm half, seine Schneeschuhe auszuziehen. Als sie fertig waren, sagte er: — Ruh ein Weilchen aus, aber dann müssen wir weiter.
Während Eistaucher sich ausruhte, wanderte Dorn in dem Wäldchen herum, mit dem die Stirnseite der Schlucht zugewuchert war, und sah sich zwischen den Schneebuckeln nach einer Quelle um. Wie in vielen Kolbischluchten gab es in der Nähe der Stirnwand tatsächlich eine Quelle, doch zu dieser Jahreszeit befand sich der schwarze Halbmond offenen Wassers tief am Grund eines Lochs im Schnee. Dorn musste all ihre Gehstöcke verwenden, um sich abzustützen, während er sich erst hinkniete und dann lang hinstreckte, um mit seinem Beutel aus Krabbentaucherleder etwas Wasser zu schöpfen. Als der Beutel voll war, stemmte er sich mit einem kleinen Gebet wieder hoch, das wie ein Fluch klang: — Lass mich aufstehen, Mutter Erde!
Er teilte das Wasser mit Eistaucher und den anderen. Elga saß auf ihrem Felllappen, den sie über einen umgestürzten Baumstamm gebreitet hatte. Sie nahm ebenso tiefe Züge wie Eistaucher. Er war froh zu sehen, dass sie noch fast genauso aussah wie im Lager der Nordleute, nur ihre Augen waren etwas stärker blutunterlaufen. Jetzt hatte sie ihren Rucksack vorne auf ihren Schneeschuhen und kramte eine Handvoll Nüsse daraus hervor. Einige davon hielt sie Eistaucher hin, doch er schüttelte den Kopf: Ihm war speiübel, und er hätte nichts heruntergebracht. — Später, versprach er.
Knack saß auf einem verschneiten Stamm und kaute gemächlich auf einem Streifen getrockneten Fleisches herum, aß ihn Stück für Stück, bis nichts mehr übrig war. Er trank ein paar Schlucke aus Dorns Beutel und gab ihn dann zurück. — Dange, sagte er abwesend, wie Heide es auch getan hätte. Er schien in Gedanken woanders zu sein.
Dorn hingegen war ganz da und hielt den Blick seiner von der Sonne geröteten Augen auf Eistaucher gerichtet. — Bist du bereit? Kannst du laufen?
— Wir werden sehen, sagte Eistaucher und erhob sich rasch. Er taumelte und fing sich mit Drittbein ab.
— Du brauchst zwei gute Stöcke, sagte Dorn. — Warte hier. Er schritt einmal mehr das Wäldchen ab und kehrte mit einem stabilen Ast zurück, der ihm ein ganzes Stück über die Hüfte reichte, mit einer Krümmung oben, die angenehm in der Hand lag. — Ein guter Gehstock. Stütz dich bei Schritten mit dem linken Fuß mit beiden Spitzen ab und drück dich zwischen ihnen hindurch. Als ich in deinem Alter war, musste ich einmal eine Woche lang mit einem gebrochenen Bein wandern, und nachdem ich mich daran gewöhnt hatte, mich auf die Stöcke zu stemmen, ging es ziemlich gut.
Eistaucher probierte es aus. — In Ordnung, sagte er. Er wartete, bis die anderen losgegangen waren, und folgte Elga dann dichtauf.
Aber es war nicht in Ordnung. Mit den Stöcken konnte er zwar wirklich viel Druck von seinem linken Bein nehmen. Doch nun stiegen sie in der Schlucht hinab, und wenn sie sich zwischen den Bäumen halten wollten, dann mussten sie in einem Zickzackkurs laufen und sich dann und wann kleine Schneehänge hinabrutschen lassen. Die anderen drei glitten auf den Füßen hinab, und Eistaucher versuchte, ihnen auf einem Fuß zu folgen, was ihm manchmal auch gelang, doch meistens stürzte er. Und beim Wiederaufstehen schmerzte Schlimmbein, wie er es auch anstellte. Er keuchte und schwitzte vor Pein.
Elga wartete auf ihn, sodass sie hinter den anderen beiden zurückblieben. Die Sonne fiel schräg durch die Kiefern und Birken auf ihre Gesichter; sich in deren Schatten aufzuhalten war wahrhaft eine Erleichterung. Die Düfte der Bäume stiegen Eistaucher zu Kopf, so vertraut, dass er fast zu weinen begann. Der alte Schnee unter den Bäumen war von Kiefernnadeln und Baumstaub übersät, und in den Schatten gefror die Feuchtigkeit langsam wieder. Es kam ihm ungerecht vor, dass der eben noch weiche Schnee praktisch übergangslos wieder hart wurde. In manchen solchen Schluchten, oder auch in dieser Schlucht zu einer anderen Jahreszeit, wäre es eine einfache Wanderung gewesen, doch an diesem Nachmittag verwandelte sich ihr Grund in eine Reihe von Rutschbahnen zwischen den Bäumen. Eistaucher ging dazu über, die steilen Abschnitte auf dem Hintern sitzend zurückzulegen, wodurch er nass wurde und zu frieren begann. Wenn nur der Talgrund flach gewesen wäre, wenn nur nicht Eis und Schnee gelegen hätten … aber eigentlich gab es kein Gelände, auf dem er heute hätte leicht gehen können.
Also kämpfte er sich voran, während das Sonnenlicht schräg durch die Bäume fiel. Wenn die anderen einen Sonnenstreifen fanden, hielten sie dort an und warteten auf ihn, wobei sie mit den Schneeschuhen aufstampften, um sich warm zu halten. Natürlich hinterließen sie im Schnee nach wie vor Spuren, wenn auch nur wenige. Sobald die Schlucht ins südliche Tal mündete, würde Dorn sie wahrscheinlich eine Weile rennen lassen und dabei nach einem schneefreien Hang Ausschau halten, über den sie in ein Nachbartal steigen konnten. Die Aussicht darauf, bergauf zu laufen, gefiel Eistaucher, weil Schlimmbein dadurch der scharfe Schmerz beim Aufsetzen erspart bleiben würde. Andererseits zog jeder Aufstieg auch einen Abstieg nach sich. Außerdem würde der Weg nach oben anstrengender sein, und er wusste nicht, ob er noch genug Kraft dafür hatte. Auf jeden Fall würde er dafür den dritten Atem brauchen, so viel war gewiss.
Gehen und Verschnaufen, Gehen und Verschnaufen. Im Dämmerlicht des Waldes warteten die anderen auf ihn und ruhten sich in den Schatten aus. Als er sie erreichte, stützte er sich schwer auf seine Stöcke, Ellbogen und Oberkörper nach vorne gebeugt. Er ächzte und schnaufte, während sie ihre Lage besprachen.
— Wir müssen weiter, sagte Dorn in dem harschen Tonfall, den er immer dann anschlug, wenn er Durst hatte, wütend war oder einen Schamanenbefehl gab. — Wir kommen an schneefreien Wegen vorbei, die über den Grat führen — falls sie also hier herunterkommen, dann wissen sie nicht, ob wir in der Schlucht geblieben sind oder nicht. Wenn wir die heutige Nacht nutzen, um in eine andere Schlucht zu wechseln, hängen wir sie ab.
Eine Bö wehte durch die Bäume, und Dorn blickte auf. Die höchsten Kiefern schwankten. Ihre Spitzen neigten sich nach Osten, und tatsächlich kam auch diese Bö aus dem Westen und drückte sie weiter in dieselbe Richtung.
— Das könnte ein Unwetter werden, sagte Dorn überrascht. — Das wäre gut. Etwas Gutes könnten wir im Moment gebrauchen. Damit legte er den Kopf in den Nacken und bellte ein gedämpftes kleines Fuchsbellen.
Sie wanderten weiter, während das Licht sich langsam verflüchtigte. Eistaucher ließen sie vorne gehen, sodass er das Tempo bestimmen konnte und sie ihn nicht abhängen würden.
Er nahm sich vor, den bestmöglichen Weg in der Schlucht hinab zu finden. Das konnte er genauso gut wie die anderen. In allen Schluchten gab es eine Rampe, auf der man besonders gut hinabsteigen konnte, auch wenn sie manchmal so zwischen Felsen und Bäumen verborgen war, dass sie sich nur schwer finden ließ. Manchmal verlief der beste Weg im Zickzack von einer Seitenwand zur anderen und manchmal so gerade wie ein Riss. Manchmal war er mit Bäumen oder Sträuchern zugewuchert, insbesondere in einer Erlenschlucht, doch trotzdem würde er sich dem suchenden Auge schließlich offenbaren, wenn man hartnäckig genug blieb. Also blieb Eistaucher hartnäckig, und der Weg zeigte sich ihm. Er stapfte voran und legte dabei so viel Gewicht wie möglich auf seine Stöcke.
Schließlich war das Tageslicht geschwunden. In den Schatten der Bäume war es finster. Allerdings starrte der schief hängende Mond zu ihnen herab, sodass Eistaucher beinahe weitermachen konnte wie bisher, nachdem er sich an die Lichtverhältnisse gewöhnt hatte. Angestrengt spähte er nach unten; stieg über Büsche hinweg, die aus dem schmelzenden Schnee hervorragten; erreichte eine weitere Biegung; fand die Rampe mit den am wenigsten steilen Hangstücken; spürte durch den Schmerz, den Schlimmbein bei jedem Schritt aufbranden ließ, das Vergnügen daran, den richtigen Weg zu finden.
Doch dann gab der Schnee unter seinem linken Schneeschuh nach, ein übler Durchtritt, der ihn ins Mark erschütterte, als sein Fuß auf einem Felsbrocken landete, und vor Schmerz schrie er laut auf. Die anderen rannten herbei und halfen ihm aus dem Loch, wobei Elga die Hand ausstreckte und seinen Schneeschuh zur Seite drehte, um ihn durch das schneeschuhförmige Loch in der Eiskruste zu bekommen. Als Schlimmbein durch das Loch kam, verdrehte es sich, und sengende Pein schoss ihm durch Eier, Arschloch und Eingeweide. Noch ehe er es selbst merkte, schrie er schon und vergrub dann stöhnend sein Gesicht in einer Schneewehe.
— Scheiße, sagte Dorn, der die Arme um Eistauchers Schultern hatte. — Ganz ruhig, Junge. Hier, leg den Arm über meine Schulter. Lass das schlimme Bein hängen. So ist es gut. Lass es einfach hängen. Jetzt wackle mit dem Schneeschuh. Nur ein kleines bisschen. Bekommst du das hin?
Furchtsam versuchte Eistaucher es. Er konnte seinen linken Fuß tatsächlich bewegen, obwohl die schmerzende Stelle durch das leichte Schaukeln verdreht wurde. — Ich kann es bewegen.
— Dann kannst du vielleicht auch darauf laufen.
Eistaucher versuchte es, aber er musste sein ganzes Gewicht auf die Stöcke stützen.
Dorn fauchte, als er das sah. Er wandte sich Knack zu und deutete auf Eistaucher. — Knack, kannst du ihn tragen?
Er beschrieb mit Gesten, was er meinte. Knack begriff, und seine Stirn legte sich in vier scharfe Falten, als er die Brauen hob. In den Mondschatten erinnerten seine Hakennase, seine große, braune, gefurchte Stirn und sein borstiges kleines Kinn an die Holzmasken, die die Rudel im Westen schnitzten und die unterschiedliche Gefühle zum Ausdruck bringen sollten: in diesem Fall Überraschung. Er musterte Eistaucher von oben bis unten, als wöge er ihn in Gedanken. Jeder musste dann und wann einmal etwas Großes tragen, ein Reh, ein Kind, einen Mammutkopf, einen verletzten Freund, einen Holzklotz für das Feuer; deshalb wusste jeder, dass das nicht leicht war. Man hielt es nicht lange durch. Und es war Nacht. Und sie waren seit drei Tagen und Nächten ohne Pause unterwegs.
Dann veränderte sich Knacks Miene wie arbeitendes Holz, und die Maske nahm einen neuen Ausdruck an: Entschlossenheit. Es war ein Blick, der über das Menschliche hinausging, wie bei Dorn, wenn er zu einer Geistreise aufbrach. — Aaa, sagte er.
Dann schlurfte er zu Eistaucher. Elga und Dorn zogen Eistaucher so behutsam wie möglich die Schneeschuhe aus, und Elga band sie hinten an Dorns Rucksack. Sobald seine Füße aus ihnen befreit waren, schlang Eistaucher die Arme um Knacks Hals und hielt sich möglichst weit unten auf der Brust des Alten fest, indem er sich selbst bei den Unterarmen griff. Knack legte Eistaucher die Hände in die Kniekehlen, und so hievten sie ihn zu zweit auf Knacks Rücken. Knack machte einen Schritt nach vorn und blieb dann stehen. Er rückte Eistaucher hin und her, hoch und runter, und machte noch ein paar langsame Schritte.
— Girr, sagte er nur.
Dorn führte sie durch die Schlucht hinab. Zum Glück flachte der Boden langsam ab. Der Schnee härtete in der nächtlichen Kälte aus und wurde rutschig, das sah Eistaucher. Vorne war ihm warm, und hinten war ihm kalt. Er hoffte, dass er zumindest einen warmen Mantel für Knack abgab, während er sich fest an ihn klammerte und sich so leicht wie möglich machte, versuchte, sich selbst emporzuatmen, eine geringere Last zu werden, indem er sich auf die richtige Weise festhielt, sodass Knack ihn tragen konnte wie einen schweren Rucksack. Knacks Rucksack trug nun Dorn, und während er durch die Waldschatten lief, erinnerte er ein bisschen an den Bisonmann in der Höhle, ein großer Kopf auf Menschenbeinen.
Knack pfiff zwischen den Zähnen hindurch. Bei jedem Schritt gab er drei kleine Zischlaute von sich, wobei er die Luft zwischen den Zähnen hervorpresste. Dann atmete er tief ein und zischte wieder dreimal, im Rhythmus seiner langsamen Schritte, wie bei einem Stampftanz ums Feuer. Anscheinend atmete er nicht besonders schwer, und er beugte sich auch nicht weit nach vorne und lief nicht langsamer als Dorn. Er machte den Eindruck, dass er durchhalten würde. Eistaucher versuchte, sich in die Lüfte zu erheben, ein Vogel zu werden und davonzuflattern, den Alten mit sich in die Lüfte emporzuziehen.
Durch den Wald hinab. Der Schnee wich schwarzer Erde und angeschwemmtem Sand, hier und da auch großen, ebenen Felsflächen. Immer wieder führte Dorn sie zu diesen kahlen Felsabschnitten. Dann und wann schlief Eistaucher ein und erwachte wieder, wenn er von Knack wegkippte, worauf er sich festklammerte und dabei das deutliche Gefühl hatte, eine ganze Weile geschlafen zu haben, ohne ihn loszulassen und zu fallen. Im Schlaf träumte er, und in seinen Träumen verwandelten sich Knacks Dreifach-Zischlaute in Vogelzwitschern oder in jemandes Flötenspiel. Am Rücken wurde ihm sehr kalt. Immer wieder wackelte er ein wenig mit dem linken Fuß, um festzustellen, ob er zu etwas zu gebrauchen war, und versuchte dabei, den entstehenden Schmerz auf seinen Ursprungsort in seinem Knöchel zu begrenzen. Dort wollte er ihn einsperren, sein Blut an ihm vorbei durch den Rest seines Beins strömen lassen. Es sollte sich ausruhen und die Kraft finden, weiterzumachen.
Der Mond stand im Westen, befand sich aber immer noch ein gutes Stück über dem Horizont, als die Kälte so tief in seinen Rücken eindrang, dass er krächzte: — Ich glaube, ich kann jetzt laufen. Setz mich ab, Knack, und lass es mich versuchen.
— Dange, sagte Knack. — Girr, girr.
Eistaucher ließ sich auf Gutbein hinabgleiten und dann auf seine Gehstöcke, die ihm Elga hinhielt. Behutsam setzte er Schlimmbein auf und verlagerte dadurch sein Gewicht. Ein kleiner, schmerzhafter Stich, oder ein Schnappen; doch als der Schmerz sich anschließend in seinen Beinmuskeln verteilte, verdünnte er sich auf ein erträgliches Maß. Er hatte immer noch die Kontrolle über das Bein, um den wabernden Schmerz herum oder durch ihn hindurch. Es würde funktionieren.
— Guter Mann, sagte Dorn, und sie machten sich wieder auf den Weg.
Eistaucher humpelte hinter Dorn her, und Knack ließ sich zurückfallen, um die Nachhut zu bilden. Wolken rasten unter dem Mond entlang und sammelten sich auf dem Weg nach Westen, doch noch waren sie dünn genug, um das Licht des Mondes durchzulassen, sodass sie um ihn herum erstrahlten und den ganzen Himmel erhellten. Dorn hielt oft inne, um sich im Stehen auszuruhen, worauf Elga jedes Mal zu ihnen aufschloss und Eistauchers Arm ergriff. Ihre Kräfte hatten sie noch nicht verlassen, wenn ihre Schritte auch etwas kürzer geworden waren, als humpelte sie mit beiden Beinen. Sie trat auf wie ein Reiher im Moor. Zweifellos hatte sie Schmerzen. Sie wurden alle langsamer. Der Mond stand nach wie vor ein paar Fäuste über dem Horizont: Sie hatten noch eine lange Nacht vor sich. Eistaucher fragte sich, ob sie es bis zur Morgendämmerung schaffen würden. Jedenfalls war er froh, gehen zu können. Nur ein kleiner Schmerz knackte jedes Mal in seinem Bein, wenn er das Fußgelenk beugte, und selbst über den konnte er sich mit seinen Armen und Stöcken fast ganz hinwegstemmen. Er konnte also gehen. Und das Gehen wärmte ihn auf, nicht ganz, aber in ihm drin, wo es darauf ankam. Die Haut auf seinem Rücken brannte, als das Gefühl in sie zurückkehrte. Auch seine Finger brannten, als er sie wieder zu spüren begann.
Der Wind nahm weiter zu. Selbst unten im Wald spürten sie es. Die Bäume an den Hängen sangen gemeinsam ihr brausendes, ächzendes Lied, während sie in den Böen hin und her wogten. Von Westen her ergoss sich die Wolkendecke über den ganzen Himmel, wurde dicker und brach dann zu mondbeschienenen weißen Bäuschen auseinander. Dort, wo die Wolken aufgerissen waren, schwammen flüchtige Sterne im Himmel, die aussahen, als hätten sie sich aus ihrer Verankerung gelöst und würden nun nach Westen treiben. Sah man länger hin, kamen sie zum Stehen, und man erkannte, wie schnell vielmehr die Wolken nach Osten flogen. Ein Unwetter, das vom großen Salzmeer aufzog. Eistaucher roch das Salz auf dem Wind. Dorn hob seinen Speer und hieß das Wetter mit einem Lied willkommen. Offenkundig freute er sich darüber. Eine frische Schneedecke würde sicher alle ihre Spuren verdecken, weshalb auch Eistaucher fand, dass ein Unwetter gut für sie sein würde. Aber es würde kalt werden.
Kalt, nun ja. Daran war er gewöhnt. Ihm war jetzt schon seit Monaten kalt, das konnte er auch noch länger aushalten. Die Welt war ein kalter Ort. Um es in ihr auszuhalten, atmete und bibberte und tanzte man dagegen an. Solange es etwas zu essen gab. Und ein Feuer wäre natürlich auch nicht schlecht. In einem Unwetter würde niemand den Rauch eines Feuers sehen können. Aber eines zu entfachen würde eine Herausforderung sein. Eistaucher verzog das Gesicht, als er sich an sein Scheitern in der ersten Nacht seiner Wanderschaft erinnerte. Aber Dorn war ein wahrer Feuermeister, wie alle alten Schamanen. Und er hatte sein Feuerzeug dabei, den Feuerstock und den Klotz dazu, die Feuersteine und Beutel mit Mulm, trocken verpackt in Krabbentaucherleder. Er würde es schaffen. Sie würden sich einen Unterschlupf bauen, ein Feuer entfachen und notfalls warten, bis das Unwetter sich gelegt hatte. Es durchwandern, wenn es ging. Vielleicht ein bisschen von beidem. Dorn würde das entscheiden. Er würde einen Plan für sie aushecken, Eistaucher musste sich nicht darum kümmern; und das war gut, weil er zu müde war, um etwas so Anstrengendes wie Denken zu tun. Er konnte nicht weiter denken als bis zu dem nächsten Knacken in seinem Knöchel.
Als der Mond unterging, wurde es sehr viel dunkler. Auch die Wolken verdunkelten und zogen sich zusammen, sodass keine Sterne mehr zu sehen waren. Obwohl Eistaucher wusste, dass es schon bald dämmern würde, konnte er kein Anzeichen dafür entdecken. So viel Zeit verging, dass es ihm inzwischen vorkam, als wären sie in eine Höhlenwelt gestürzt und die Nacht würde niemals enden.
Er sah nicht, wie der Himmel im Osten sich aufhellte, doch als er vom Boden aufblickte, stellte er fest, dass die ganze Welt sich grau eingefärbt hatte und wieder sichtbar war. Weder Schwarz noch Weiß störten diese Welt der Grautöne. Die Wolken hatten sich über Nacht abgesenkt und kratzten jetzt an den Graten um das Tal herum. Graues Schneegestöber bildete einen Schleier über grau bewaldeten Hängen. Mehr Tag würde es heute für sie nicht geben.
Es war so windig, dass sie zwischen den Bäumen bleiben mussten. Der Gesang der Kiefernadeln war ein stetes Brausen. Wie groß die Welt bei einem Sturm wurde. Sie waren auf Mutter Erde wie Ameisen, die zwischen Grashalmen umherkrochen, dankbar für den Schutz. Auch unten zwischen die Bäume fuhr der Wind gelegentlich hindurch, beutelte sie und stahl ihnen das bisschen Wärme aus den Kleidern. Selbst die Jende würden bei einem solchen Wind Unterschlupf suchen.
Sie konnten nicht besonders weit sehen. Es war schwer vorstellbar, dass ihre Verfolger bei diesem Wetter immer noch unterwegs sein würden, und schwer vorstellbar, dass sie ihnen in eben diese Schlucht hätten folgen können. Sie wussten ja selbst nicht einmal, wo sie waren.
Trotzdem wanderte Dorn weiter, und Eistaucher senkte den Kopf und folgte ihm Schritt für Schritt. Abgesehen von dem peinigenden Knacken meinte er, noch immer das Flackern des dritten Atems in seinem Innern zu spüren, das dem Unwetter die Stirn bot. Man muss sich dem Narsuk stellen. Er würde weitergehen, bis Dorn ihm befahl anzuhalten. Es war ganz einfach, er konnte sich an dem Gedanken festhalten. Weitergehen, bis Dorn ihm befahl anzuhalten.
Der Wind brauste. Den ganzen Tag über blieb es Abend. Sogar zwischen den Bäumen fiel der Schnee; erst waren es schwere Flocken, dann prasselte Eissand auf sie ein.
Dorn blieb bei einer kleinen Gruppe von Bäumen und Sträuchern stehen, die an einer flachen Stelle in der Nähe eines Eislochs im Bach wucherte. Schwarz glucksend fraß das Wasser den darauffallenden Schnee. Hier hörte man den Wind eher, als dass man ihn spürte.
— Hier sollten wir lagern, sagte Dorn.
— Ah, gut, sagte Eistaucher.
Dorn entfachte ein Feuer, während die anderen drei erst Holz sammelten und anschließend Äste zu einer Wand verwoben, die sie an der Windseite des Baumgestrüpps aufstellten. Eistaucher hüpfte auf seinen Stöcken herum, hob Holz vom Boden und brach tief hängende tote Äste ab. Er durfte Schlimmbein nicht belasten, aber das bekam er hin, und es war gut, herumhüpfen und etwas Sinnvolles tun zu können, ohne sich dabei Schmerzen zuzufügen.
Dorn kauerte an der Windseite auf einem flachen Felsen, den er für das Feuer vorbereitet hatte, indem er auf einer Seite Stöcke und Zweige aufgeschichtet und etwas Fett aus seinem Beutel darüber geträufelt hatte. Er holte seinen Feuerstock und seinen Drehklotz hervor und verteilte den Mulm um das Drehloch und in der Rinne, die von dem Loch zu seinem kleinen Haufen fettgetränkter Zweige führte. Dann drehte er kräftig den Feuerstock, wobei er die Hände so schnell vom unteren Ende des Stocks zum oberen bewegte, dass Eistauchers Blick kaum folgen konnte. Hin und her drehte er den Stock, seine roten Augen traten aus seinem schwarzen Schlangengesicht heraus, und er bleckte wild die Zähne, rieb, bis seine Hände unten ankamen, wechselte nach oben, rieb weiter.
Die Spitze seines Feuerstocks verfärbte sich schwarz, und kleine Rauchfähnchen stiegen aus dem Mulm empor, der am dichtesten an der Mulde lag. Weiter kräftig drehend, schob Dorn den Kopf vor und blies leicht auf den Klotz, sein ganzer Körper verdreht in der Mühe um das Feuer. Als der Mulm am Rande gelb zu knistern begann und mehr Rauch aufstieg, hörte er auf zu drehen und bückte sich noch tiefer, hielt das Gesicht direkt vor die Flamme, beschirmte sie mit einer Hand und stupste den Mulm mit der anderen behutsam an. Die Flamme im Mulm war kaum mehr als ein kleiner, leuchtender Funke, und als der danebenliegende Zweig Feuer fing und das Wunder einmal mehr die Welt betrat, blies er fester, blies es empor, wie er eine schnelle Melodie auf seiner Flöte gespielt hätte. Eistaucher half ihm, indem er erst windseitig des Feuers und dann um das restliche Feuer herum Steine positionierte. Als er einen richtigen Feuerring gebaut hatte, brannte Dorns Zweighaufen bereits hell, und vorsichtig legte er kleine Äste über die Flammen, damit auch sie Feuer fingen. Dann und wann kam Knack herangestapft, die Arme mit Holz beladen. Elga war immer noch damit beschäftigt, an der Windseite die Äste der Bäume ineinander zu verweben und schließlich auch einen Kreis um sie zu errichten, mit Ausnahme einer Öffnung zwischen den Bäumen an der windabgewandten Seite. Sie steckte so viele Äste in den Windschutz, dass er zu einer gewebten Wand aus Holz, Blättern und Nadeln wurde.
Nachdem sie sich um Dorns Feuer zusammengefunden hatten, das nun hell genug brannte, damit keine einzelne Bö es ausblasen konnte, wickelten sie sich in ihre Pelze und saßen da, wie vier besonders große Steine im Feuerring, in einem Halbkreis um die windzugewandte Seite aneinandergedrängt. Eistaucher saß links am Rand und hielt Schlimmbein vor sich ausgestreckt. Die Wärme des Feuers linderte den Schmerz. Dorn stand auf, ging ins Unwetter hinaus und kehrte mit einem Krabbentaucherbeutel voll Wasser vom Bach zurück. Nachdem sie daraus getrunken hatten, bis ihre Bäuche voll waren, hielt er den Beutel so nah an die Flammen wie möglich, ohne dass er zu brennen begann.
Das Feuer war sogar noch schöner als normalerweise. Selbst Eistauchers erstes Feuer auf seiner Wanderschaft hatte ihm nicht so viel Trost gespendet wie dieses. Manchmal wehten Böen die Wärme von ihm fort, doch wenige Momente später spürte er wieder die strahlende Kraft der Flammen. Eistauchers Gesicht und seine Fingerspitzen und Ohren brannten und juckten wie wild. Endlich konnte er Elgas sorgenvollen Blick erwidern: Es ging ihm gut. Neben diesem Feuer würde er sich ausruhen und aufwärmen können, Wasser trinken und etwas von ihrem verbliebenen Proviant essen. Langsam ging ihnen das Essen aus. Doch wenn der Sturm vorbei war und die Jende ihre Spur verloren hatten, dann konnten sie auf der Wanderung Nahrung suchen. Sie konnten in Erfahrung bringen, wo sie waren, falls Dorn es nicht wusste. Eistaucher hatte jedenfalls keine Ahnung.
— Weißt du, wo wir sind?, fragte er.
Dorn bedachte ihn mit einem bohrenden Blick. — Hier sind wir!
— Und weißt du, wo hier ist?
— Nah genug, sagte Dorn. Er kramte zwischen den Beuteln in seinem Rucksack herum. Erst dachte Eistaucher, dass er nachsehen wollte, wie viel Proviant sie noch hatten, doch dann zog Dorn ein Stück Kleidung nach dem anderen heraus, um sie an die Flammen zu halten und zu trocknen: Lederstücke, Pelzlappen, Handschuhe … nach einer Weile stand er auf, kehrte den Flammen sein Hinterteil zu und knurrte, als die Hitze darauf brannte. Schon bald fingen seine Kleider zu dampfen an. Von seinem Beispiel angeregt, standen die anderen auf und taten es ihm nach. Knack zischte noch immer sein dreifaches Pfeifen, als würde er im Traum weiter dahinmarschieren.
Als sie sich am Feuer getrocknet hatten und gut durchgewärmt waren, nahm Dorn einen der Beutel aus seinem Rucksack und holte sein Nähzeug daraus hervor. Elga hatte bisher die ganze Wanderung über nicht mehr als ihre Beinlinge und einen Bärenfellumhang aus dem Frauenhaus getragen, und so bot Dorn ihr seine Hilfe dabei an, ein richtiges Hemd und einen Mantel aus dem Umhang zu machen und ihre Beinlinge zu verlängern.
Sie war sofort einverstanden, und während Dorn sich mit ihrem Umhang ans Werk machte, stand sie in ihren Beinlingen über das Feuer gebeugt, wie eine Jende-Frau. Eistaucher stockte der Atem, als er sie so sah.
Dorn zerschnitt ihren Umhang mit seiner scharfen Klinge und hielt ihr zwischendurch immer wieder Pelzstücke an den Körper. Als er schließlich mit dem Zuschneiden fertig war, stanzte er mit seiner Geweihahle Löcher entlang der Ränder, wobei er sich konzentriert auf die Lippe biss. Dann zog er eine um ein Holzstück gewickelte Lederkordel aus seinem Rucksack und nähte die Stücke damit zusammen.
Knack starrte ins Feuer, während sie arbeiteten, doch Dorn blickte häufig auf und betrachtete eingehend Elgas Körper, wie sie da am flackernden Feuer stand. Ihre Brüste waren nur noch etwa halb so groß wie beim letzten Mal, als Eistaucher sie gesehen hatte, und ganz allgemein war sie dünn, obwohl ihre Schenkel ein gutes Stück dicker waren als die der drei Männer, und auch länger. Inzwischen waren sie alle dünn, sogar Knack. Eistaucher spürte, dass sein Bauchnabel nur einen Fingerbreit von seinem Rückgrat entfernt war. Es war nicht mehr viel an ihm dran. Und Dorn bestand seit jeher aus Haut und Knochen, jetzt umso mehr.
Trotzdem, sie hatten es inmitten eines Unwetters warm, und Elgas Leib glänzte dunkel vor dem Schnee und den Flammen und den Bäumen, die im Feuerschein flackerten. Dorn setzte seine Arbeit fort und passte ihr dabei dann und wann Teile an. Es wurde Nacht, ehe die Kleider für sie fertig waren. — Das hätten wir, sagte Dorn und fügte hinzu: — Gut siehst du aus. Selbst jetzt, nachdem ich dir etwas zum Anziehen gemacht habe.
Elga lachte und schlang die Arme um sich. — Das fühlt sich wunderbar warm an. Danke, Dorn.
In jener Nacht lagen sie in der Hitze der Flammen wie ein Feuerring aus Fleisch, direkt außerhalb des Steinrings. Dann und wann legten sie Äste von ihrem Feuerholzstapel nach. Der Wind toste weiter, und Schnee rieselte durch die Bäume auf sie herab. Wenn eine Schneeflocke auf ihnen landete, schmolz sie noch auf ihrem Haar oder auf den Pelzspitzen und verdampfte schnell. Inmitten dieses Unwetters hatten sie alle es so gemütlich wie schon seit Monaten nicht mehr, und die Begeisterung darüber war eine weitere Art der Wärme.
Eistaucher schlief zwischen dem Ein- und Ausatmen ein, und er schlief fest. Als er erwachte, weil sein Rücken kalt wurde, und etwas aufs Feuer legte, sah er, dass auch die anderen in tiefem Schlaf lagen.
Als der Morgen graute, schneite es noch immer, war aber weniger windig als am Vortag. Große Flocken fielen gerade zu Boden. Sie mussten entscheiden, ob sie hierbleiben oder weiterziehen sollten, und Dorn unternahm einen kurzen Rundgang außerhalb ihres Wäldchens, um ein besseres Gefühl für den Tag zu bekommen. Als er zurückkehrte, sagte er düster: — Man kann wandern. Wir sollten wahrscheinlich weitergehen.
Die anderen schwiegen. Das Feuer zischte und knackte auf seinem großen Glutbett und lockte sie, im Warmen zu bleiben. Es erschien undenkbar, dass die Nordleute in diesem Unwetter auf der Jagd nach ihnen waren, ohne Sicht in dem dichten Schneegestöber; oben auf den Graten würde es wahrscheinlich noch immer stürmisch sein. Haufen weichen Schnees konnten als Lawinen abgehen oder unter den Füßen nachgeben. Mit Sicherheit saßen die Nordleute irgendwo um ein Feuer gekauert.
Aber wenn dem so war, dann konnten sie Abstand zu ihnen gewinnen, wenn sie jetzt weitergingen; und wenn nicht, wenn die Nordleute nach wie vor auf der Jagd nach ihnen waren, dann konnten sie ihren Abstand zumindest wahren, indem sie weiterzogen. So oder so war es besser weiterzugehen. Sie alle erkannten, dass Dorn recht hatte. Aber es war eine Überwindung, das Feuer zu verlassen und ins Unwetter hinauszutreten.
Es schneite den ganzen Tag. Der weiche Neuschnee breitete eine dicke Decke aus, häufte sich zwischen den Bäumen an und machte die Welt zu einem schwarz-weißen Flickenteppich. Unwetter im Sommer waren mitunter so.
Zum Glück hatten sie Schneeschuhe, denn ohne sie wären sie bei jedem Schritt hüfttief eingesunken. Selbst mit den Schuhen sank derjenige, der voranging, knietief ein und musste hohe Schritte machen. Den größten Teil des Tages über führte Knack sie an, der deutlich schwerer war als die anderen, wodurch sie leichter in seine Fußstapfen treten konnten als er in ihre.
Dorn ging direkt hinter Knack und gab ihm Anweisungen. Gelegentlich hörte Eistaucher ihn dabei. — Nein, links, links! Links ist zu deiner Linken, rechts ist zu deiner Rechten, geradeaus ist geradeaus! Warum kapierst du das denn nicht? Sag mir, wie du die Richtungen nennst, dann benutze ich stattdessen deine Worte! Ich bin es leid, dass du es immer falsch machst!
— Girr, sagte Knack und zeigte dabei nach rechts. — Girr, girr, fügte er hinzu und zeigte nach links.
— Na bitte!, sagte Dorn schwer seufzend. — Wenn du das hinbekommst, warum kannst du sie dann nicht links und rechts nennen?
Knacks Schweigen ließ vermuten, dass er darauf keine Antwort wusste.
— Mutter Erde, sagte Dorn schließlich. — Du willst mich doch bloß ärgern.
Von da an ging er dichter hinter Knack und tippte dem Alten mit dem Speer an die eine oder andere Schulter, sagte: — He, he, dort entlang, und zeigte dabei mit dem Speer in die entsprechende Richtung. — Geh dort entlang, das ist links, girr, girr, links, und dann pfiff er einen durchdringenden, ansteigenden Ton, der an den Ruf eines Falken erinnerte. Später tippte er ihm dann auf die rechte Schulter: — Nach rechts, rechts, girr, so ist es richtig, und pfiff einen absteigenden Ton. Den ganzen Tag über hörte Eistaucher mit, wie Dorn Knack mit solchen Angaben piesackte. — Geradeaus heißt einfach geradeaus! Weder rechts noch links, einfach geradeaus. Dort entlang!
Eistaucher wollte sagen: Er kennt den Weg besser als du!, aber er hatte keine Kraft zum Reden übrig. Er konnte nur seine Schneeschuhe in die Spuren setzen und versuchen, schmerzhafte Bewegungen mit dem linken Bein zu vermeiden. Knack nahm wahrscheinlich ohnehin den besten Weg, ganz egal, wie sehr Dorn ihn vollplärrte.
Spät am Nachmittag öffnete sich das Tal, in dem sie hinabgestiegen waren, auf eine weite Ebene, die so groß war, dass man ihre Ausmaße im fallenden Schnee nicht erkennen konnte. Dorn betrachtete eine Weile lang den weißen Himmel, der in Flocken auf sie herniederfiel, ehe er Knack die Richtung wies, und weiter ging es über den weichen Neuschnee. Nach einer Weile erreichten sie einen flachen Streifen, bei dem es sich eindeutig um einen Fluss handelte. Wie bei dem großen Fluss hinter ihnen im Norden stand auch bei diesem das Eis kurz davor zu brechen, aber unter der frischen Schneedecke ließ sich schwer sagen, wann oder wo es dazu kommen würde. Alle Geräusche waren gedämpft. Schneegekrönte Eisschollen ragten in unregelmäßigen Reihen auf, und in der Nähe des gegenüberliegenden Ufers waren lange Bänder schwarzen, fließenden Wassers zu erkennen. Von weiter stromabwärts, als sie im Schneetreiben sehen konnten, erklang ein tiefes, nasses Brausen.
Und dann erzitterte mit einem Mal der Neuschnee auf dem Fluss direkt vor ihnen, brach mit gedämpftem Knacken auf und wurde von einer schwarzen Flut mit gewaltiger Kraft stromabwärts gerissen. Unten an der letzten noch sichtbaren Flussbiegung sammelten sich knirschend Eisdämme, verkeilten sich ineinander, wurden aufgesprengt und donnerten weiter stromabwärts.
Stromaufwärts von ihnen hielt das Eis noch. Das schwarze Wasser strömte flach darunter hervor wie eine gewaltige Quelle aus einem weißen Berg. Der Anblick war atemberaubend.
— Lauft!, schrie Dorn die anderen drei an. Sie konnten ihn kaum hören. Er deutete stromaufwärts und rannte los, und sie folgten ihm am Ufer entlang. Doch selbst Dorn war zu müde, um wirklich schnell zu rennen, und so übernahm Knack bald wieder die Führung und stampfte den Schnee für sie nieder, während Dorn ihm dicht auf den Fersen blieb und auf ihn einredete. Auch Elga folgte dichtauf. Eistaucher gab sich alle Mühe, nicht zu weit hinter ihr zurückzubleiben. Er hoffte, dass Dorn sie nicht zu nah an der Bruchkante und dem irrsinnigen Strom darunter über den Fluss führen würde. Er wusste, je schneller er lief, desto schneller würden sie den Fluss überqueren können und desto besser standen ihre Chancen, dass das Eis halten würde, bis sie auf der anderen Seite waren. Und wenn Eistaucher dicht hinter ihm blieb, dann würde Dorn sie vielleicht als schnell genug einschätzen, um es noch etwas weiter stromaufwärts zu probieren. Also senkte Eistaucher den Kopf und lief und stakste durch die Fußspuren der anderen, ohne auf die auflodernden Schmerzen in seinem Knöchel zu achten, keuchend und schwitzend und fest entschlossen, direkt hinter Elga zu bleiben. Sie war schnell, und in ihren neuen Kleidern sah sie verändert aus — größer, ausschreitender. Mit einem Mal wurde ihm bewusst, dass sie tatsächlich da war, dass das seine Elga war, genau vor ihm, von den Eismännern befreit, mit ihm auf der Flucht aus ihrer Gefangenschaft und auf dem Weg nach Hause. Etwas an dieser Erkenntnis verlieh seinem Herzen Flügel, und er zeigte seinem Knöchel die Zähne und rannte weiter, immer darauf bedacht, mit den Vorderseiten seiner Schneeschuhe nicht in die ausgefransten Ränder aus hohem, weißem Schnee zu treten, die einen Fußabdruck vom anderen trennten. Hohe und saubere Schritte, Schnaufen und Keuchen und auf den Schmerz fluchen. Spüren, wie die kalte Luft zu Kopf steigt und die Sinne schärft — wie bei der Jagd oder in Todesangst. Er sah nur auf den Schnee zu seinen Füßen und auf den Fluss neben ihnen, der nach wie vor weiß und unbewegt war. Alles in dieser Blase aus fallendem Schnee war näher an ihn herangerückt, trat schärfer und heller hervor, alles war von seinem Herzschlag durchpulst und strahlte sogar an diesem trüben, verschneiten Tag hell. Alles war von innen heraus erleuchtet, und Eistaucher sah die Dinge wie sonst wahrscheinlich nur ein Falke.
Dorn tippte Knack auf die Schulter und wandte sich Richtung Fluss, und Eistaucher sog vor Angst zischend die Luft zwischen den Zähnen hindurch. Er beugte sich vor und verdoppelte seine Anstrengungen, um auf jeden Fall bei den anderen zu bleiben. Das gelang ihm auch, allerdings lastete dadurch womöglich mehr Gewicht auf dem Flusseis, als es tragen konnte. Dorn sah zu ihm zurück, als wüsste er um seine Angst, und durchbohrte ihn mit seinem Blick.
In dem Moment fuhr etwas in ihn hinein und packte ihn so fest, wie er seine Stöcke umklammerte. Langsamer. Denk dran, was die Nordleute dich gelehrt haben, draußen auf dem gefrorenen Salzmeer.
Er sah zu, wie Dorn und Knack am Ufer auf und ab liefen und prüfend auf das schneebedeckte Eis einstachen. Ihm wurde klar, dass er selbst vermutlich mehr über Eis wusste als die beiden. Stromabwärts hallte das Brausen des offenen Wassers zwischen den Bäumen wider, so laut, dass sie es durch die Fußsohlen spürten.
Eistaucher sah ein gutes Stück Eis am Ufer, das sich anscheinend fast ganz über den Fluss erstreckte. Er lief, als hätte er zwei gesunde Füße. — Lasst mich vorgehen!, sagte er, als er an Dorn vorbeikam und die verschneite Böschung zum Fluss hinunterstapfte. — Das habe ich den ganzen Winter über gemacht.
Er betrat das Eis und klopfte es dabei behutsam mit seinen Gehstöcken ab, als wären sie kurze Unas. Langsam, aber stetig schob er sich vor und achtete dabei darauf, ob das Eis unter ihm in irgendeiner Weise nachgab. Ein Summen erfüllte seinen Leib, wie damals, als ihn mehrere Bienen gestochen hatten. Die Schneeflocken in der Luft waren nun sehr klein, fast nur noch ein feiner Nebel, von einer feinen Brise verwirbelt.
Als sie in der Mitte des Flusses angelangt waren, hörten sie deutlicher denn je das offene Wasser stromabwärts. Das Eis unter ihnen wurde unter der Schneedecke leicht angehoben und ächzte in allen Richtungen, auch stromaufwärts. Unverkennbar spürte es das Nahen des großen Brechens, und deshalb wand es sich stellenweise und schrie — Eistaucher wusste nicht, ob vor Angst oder Verlangen. Er schob sich im gleichen, stetigen Tempo weiter. Die anderen drei blieben dicht hinter ihm und wahrten etwas weniger Abstand voneinander, als die Nordleute es in einer solchen Lage getan hätten.
Stromabwärts kündete ein gewaltiges Knacken und ein mehrfaches tiefes Rumpeln von einem weiteren Abbruch. Eisplatten bäumten sich auf und bescherten ihnen eine noch bessere Sicht auf die schwarzen Fluten. Das Krachen klang wie Donnergrollen.
Eistaucher schob sich so schnell es ging weiter vor. Den Schmerz in Schlimmbein spürte er nicht mehr: Sein ganzer Leib war von einem gleichförmigen Summen erfüllt. Er hielt den Blick fest auf den Teil der Eisdecke gerichtet, den sie noch überqueren mussten. An der Außenkante einer Krümmung ist das Eis am dünnsten. Und nun versperrten ihnen mehrere Löcher den Weg.
Eistaucher wandte sich nach links, stromaufwärts, und stieß seinen Stock vor sich auf das Eis, um sicherzugehen, dass es unter der Schneedecke fest war. Ein dumpfer Laut ließ hoffen, dass das Eis dick genug war, um ihn zu tragen. Er wandte sich nach rechts und schob sich rasch, mit flachen Schritten, über das letzte Stück hin zur Uferböschung, wo er für die anderen Stufen in den Schnee trat. Sie folgten ihm genau in diesen Abdrücken, als führten sie mit großen Schritten einen Tanz auf, den sie schon tausendmal geübt hatten.
Als Dorn ihn oben auf der Böschung eingeholt hatte, legte er den Kopf in den Nacken und stieß ein Heulen aus. Die anderen fielen mit ein und heulten ebenfalls wie Wölfe. Im Krachen des brechenden Eises und im Tosen des Windes konnten sie sich kaum selbst hören.
Und auch ich stimmte in das Geheul mit ein, dann kehrte ich unauffällig an meinen Platz zurück.
Eistaucher spürte die Hitze der Flussüberquerung jetzt als Pochen im ganzen Körper, und zu seiner Überraschung tobte Schlimmbein in rasendem Zorn. Sein ganzes linkes Bein fühlte sich heiß an, als er es berührte. Er ging zu einem umgestürzten Baumstamm, wischte den Neuschnee herunter und setzte sich hin. Seinen Rucksack legte er vorne auf seine Schneeschuhe, stützte die Ellbogen darauf und Kinn und Hände auf die Ellbogen. Dann beobachtete er das tosende Spektakel, das der Fluss bot, während die Eisschollen abbrachen und in der Strömung aneinanderstießen.
Elga setzte sich neben ihn. Knack kauerte sich auf einen Felsen. Dorn nahm seinen Rucksack von der Schulter, stellte ihn in den Schnee, tanzte einen kleinen Tanz auf der Stelle und sang das Lied vom Eisbrechen.
— Sei still, sonst bleibt das Eis wegen dir noch!, rief Eistaucher.
Dorn beachtete ihn nicht, wenn er ihn überhaupt hörte. Und da sie mit Sicherheit hier sitzen bleiben würden, bis das Eis auf diesem Flussabschnitt vollständig gebrochen war, würde er nach jedem Wortwechsel ohnehin als Sieger dastehen. Also hielt Eis-taucher den Mund und beobachtete Dorn beim Singen und Heulen. Nach einer ganzen Weile begann Eistaucher in seinem Rucksack herumzukramen und stellte erschreckt fest, wie klein seine Essensbeutel inzwischen waren. Irgendwie hatte er geglaubt, noch einen vollen Beutel dort drin zu haben, aber er hatte sich geirrt.
— Wie steht es um unseren Proviant?, fragte er.
Doch in diesem Moment richtete sich das Eis direkt vor ihnen auf und zerbarst in weiße Schollen, die gegeneinanderkrachten und um die Flussbiegung davontrieben. Es war ein unglaublicher Lärm. Das rauschende schwarze Wasser, das nun zu sehen war, kam in einer so weißen und lautlosen Welt wie ein Schock.
Nach einer Weile konnten sie sich wieder schreiend verständigen, aber es gab nichts zu sagen, also saßen sie da und beobachteten wortlos das Spektakel. Eisschollen lösten sich und trieben eine nach der anderen an ihnen vorbei. Weiter flussaufwärts strömte das schwarze Wasser unter einer gezackten weißen Linie hervor, die sich immer weiter entfernte. Das ganze Tal hallte von dem Tosen und Krachen wider.
Stromaufwärts, an der Biegung, hinter der sie den Fluss nicht mehr einsehen konnten, war nun eine seichte Stelle zu erkennen, an der Felsen aus dem Wasser ragten und das glatte Schwarz zu weißem Schaum aufwühlten. Das Rauschen, Klatschen und Gurgeln des strömenden Wassers war nun wieder deutlich zu hören, ein Geräusch, das ihnen den ganzen Winter über nicht zu Ohren gekommen war. Noch immer rasten Eisbrocken an ihnen vorbei. Nach einer Weile war der ganze Fluss in beide Richtungen schwarz.
Dorn beendete das Lied des Eisbrechens. — Diesen Fluss wird für eine ganze Weile niemand überqueren, sagte er. — Lasst uns ein Feuer machen!
Sie zogen ein Stück stromaufwärts und fort vom Ufer und fanden schließlich eine flache Stelle in einem kleinen Wäldchen aus Kieferngestrüpp und Birken. Inzwischen lag überall Schnee, sodass ihnen nichts übrig blieb, als ihn an einer Stelle mit ihren Schneeschuhen platt zu treten und von einem nahen Geröllhaufen die schwersten Steine zu holen, die sie tragen konnten, als unebene Plattform für das Feuer und als Hocker. Zum Schlafen würden sie sich in den Schnee legen müssen; aber mit einem Feuer und ihren Rentierfellen würde das nicht allzu schlimm sein.
Den restlichen Tag über richteten sie ihr Lager her, und als sie damit fertig waren, war Eistaucher praktisch ein Einbeiniger. Dorn hatte in seiner Gürteltasche ein bisschen Glut von ihrem Feuer der letzten Nacht mitgenommen, und damit und mit etwas Mulm, fettgetränkten Zweigen und kunstvollem Pusten entfachte er das Feuer erneut. Anschließend war er sehr zufrieden mit sich selbst. Unter dem bewölkten Abendhimmel ließen sie sich um das Feuer herum nieder. Einmal mehr hatte Elga um ihren Platz herum zwischen den Bäumen Wände aus Ästen und Schnee errichtet. Und gemeinsam hatten sie einen ordentlichen Stoß Feuerholz gesammelt.
Eigentlich hätte es ein guter Moment sein müssen. Niemand würde hinter ihnen den Fluss überqueren können, zumindest nicht im nächsten halben Monat, vielleicht sogar erst spät im Sommer. Sie waren ihren Verfolgern also entkommen, wenn nicht die Nordleute durch ein unerwartetes Schicksal eine ganz andere Route zu genau dieser Stelle eingeschlagen hatten. Das war so unwahrscheinlich, dass es nicht lohnte, darüber nachzudenken. Es war eine beachtliche Leistung, so hartnäckige Jäger hinter sich zu lassen. Sie hätten stolz sein können. Und ihr Feuer brannte hell im Zwielicht.
Aber sie hatten so wenig zu essen. Und es schneite noch immer.
Sie gingen ihren Proviant durch. Dorn hatte noch einen fast vollen Beutel Nüsse, und so zählte er jedem von ihnen ein paar in die Hand und reichte seinen Wasserschlauch herum. Sie aßen langsam, während sie sich am Feuer trockneten. Da sie ziemlich nass waren, dauerte das eine ganze Weile. Noch bevor Eistaucher damit fertig war, schlief er wider Willen ein. Er gab einfach auf und legte sich direkt an den Steinring ums Feuer, zusammengerollt, um seinen Pelz möglichst fest um sich ziehen zu können. Er bemerkte kaum, dass Elga es ihm nachtat und sich neben ihn legte.
Die ganze Nacht lang schlief er tief und fest und erwachte nur, wenn kalte Luft durch eine Lücke in seiner Umwicklung einsickerte und ihn frösteln ließ. Dann rutschte er herum, zog den Pelz fester um sich, sah nach dem Feuer und warf falls nötig einen Ast darauf, um anschließend das Kinn an die Brust zu legen und wieder einzuschlafen. Weil es die Nacht über schneite, wurde es nie zu kalt.
Sie erwachten, als es hell wurde. Es schneite noch immer und war wieder windiger geworden. Selbst im Dämmerlicht fiel Eistaucher auf, wie abgehärmt seine Gefährten inzwischen waren, und wahrscheinlich sah er selbst nicht besser aus. Er spürte, wie der Hunger ihn von innen ins Rückgrat kniff, bis er sich schwach und schwindelig fühlte.
Sie setzten sich auf, legten Äste aufs Feuer, tranken Wasser und begutachteten ihren verbliebenen Proviant, den sie dazu auf einem vom Schnee befreiten Stein neben dem Feuer ausgebreitet hatten. Viel war es nicht. Nüsse, Trockenfleisch, Honigkekse. Dorn seufzte schwer, holte seine schärfste Klinge hervor und begann, sehr schmale Streifen von seinem Sitzlappen abzuschneiden, Bänder wie die, mit denen er Elgas Kleider genäht hatte. Leder und Pelz: kein besonders verlockendes Mahl. Doch er reichte jedem von ihnen einen solchen Streifen und begann selbst, auf einem herumzukauen. Eine Nuss, ein Bissen Trockenfleisch, ein Stück Leder und Pelz. Es war nicht leicht, das Leder zu zerbeißen. Man musste es vor dem Schlucken lange kauen.
Noch immer fiel Schnee und verdampfte zischend im Feuer. Der aufgefrischte Wind brachte die Bäume auf den umliegenden Hängen zum Singen. Es war kein guter Tag zum Reisen. Vielleicht konnten sie ein paar Wurzeln zum Essen ausgraben, wenn sie den Tag damit zubrachten, unter der Neuschneedecke nach Nahrung zu suchen. Und sie hatten hier ein gutes Glutbett. Es sah also ganz danach aus, dass es am besten sein würde, wenn sie noch einen Tag hierblieben, und Eistaucher beobachtete Dorn erwartungsvoll, als dieser ihren Unterschlupf verließ, um sich umzusehen. Aber in dem Moment, in dem er das kleine Baumgrüppchen verließ, ertönte dreimal hintereinander ein gewaltiger Donner, der zwischen den Felskämmen über ihnen widerhallte, als würde auch über ihnen am Himmel ein Fluss aufbrechen.
Dorn hatte der Mut noch nicht ganz verlassen, denn er lächelte ein wenig, als er zu ihrem Lagerplatz zurückkehrte. — Ich schätze, wir sollen den Rest des Tages hierbleiben. Lasst uns mehr Holz sammeln und uns auf die Suche nach Nahrung machen.
Es war der sechste Monat, und ein schlimmer Frühling lag hinter ihnen: eine denkbar schlechte Zeit, um etwas zu essen zu finden. Aber vielleicht konnten sie zumindest ein paar kleine, tote Tiere auftreiben. Die Aussicht auf eine solche Nahrungssuche war immer noch besser als die auf die Fortsetzung ihrer Wanderung.
Also verbrachten sie den Tag mit kurzen Ausflügen ins Gewitter hinaus, von denen sie weiteres Feuerholz mitbrachten, nachdem sie auf der Suche nach etwas Essbarem vergeblich mit Stöcken im Schnee herumgekratzt hatten. Sie versorgten die Flammen mit reichlich Nahrung. Einmal, als Eistaucher sich schwach vor Hunger neben dem Feuer auf den Boden plumpsen ließ, um sich von einem Schwindelanfall zu erholen, fragte er Dorn erneut: — Weißt du, wo wir sind?
— Ja, antwortete Dorn kurz angebunden.
Doch Eistaucher konnte sich nicht vorstellen, dass Dorn es wirklich wusste. Kein Zweifel, Dorn wusste über viele Dinge mehr als er selbst. Vielleicht auch darüber, wo sie waren. Aber vielleicht meinte er auch nur, dass er ihren Aufenthaltsort bei Gelegenheit würde bestimmen können. An Dorns Gesichtsausdruck sah er jedenfalls, dass er besser keine weiteren Fragen stellte. Heute würden sie nirgendwohin gehen, und morgen wahrscheinlich auch nicht; bei all dem Neuschnee, der sich zu Schneewehen sammelte, war das Wandern auf ebenem Boden beschwerlich und an den Hängen gefährlich. Darüber hinaus stellte Eistaucher fest, dass er kaum noch gehen konnte. Sobald er Schlimmbein auch nur leicht belastete, schwanden ihm vor Schmerz die Kräfte. Als Dorn beobachtete, wie er neben ihrem Steinhaufen einen entsprechenden Versuch unternahm, schüttelte er den Kopf und winkte Eistaucher ans Feuer zurück. Ihnen blieb nichts weiter übrig, als noch etwas Leder zu essen und abzuwarten. Sie würden erst dann herausfinden, wo sie waren, wenn sie ihren Weg fortsetzen konnten.
Die folgende Nacht war lang. Je hungriger man ist, desto mehr friert man. Das alte Sprichwort erwies sich einmal mehr als wahr. Sie mussten Feuer essen, wie man sagte, weil sie sonst nichts hatten. Nur das Feuer half ihnen durch die lange Nacht.
Am nächsten Tag schneite es heftiger denn je. Bei diesem Wetter weiterzuziehen kam nicht infrage.
Spät am Tag, als es immer dunkler wurde, fand Elga auf ihren Streifzügen eine kleine Wiese unter der Schneedecke und kehrte mit einem Beutel voller Frühlingszwiebeln zurück, die sie mit einem Stock ausgegraben hatte. Die anderen zogen erneut mit ihr los, um noch mehr zu holen.
Wenn man die Zwiebeln über dem Feuer briet, schmeckten sie größer. In ihren Mägen waren sie nicht besonders groß, aber immerhin waren die Lederschnüre dort nun nicht mehr allein. Sie aßen auch Teile der grünen Stängel über den Wurzelknollen, und einmal, während sie auf dem gebratenen Grünzeug herumkauten, beäugte Dorn Elga und sagte: — Eigentlich wollte ich nie in der Geschichte von der Schwanenfrau leben, aber jetzt bin ich trotzdem hier. Und noch dazu nur als der alte Helfer.
Elga schürzte die Lippen und schüttelte den Kopf. — Wenn ich könnte, würde ich davonfliegen, erwiderte sie.
Dorn lachte sein abgehacktes, bellendes Lachen, das ein wenig an das Grunzen eines durch den Wald polternden Unaussprechlichen erinnerte. Er hielt ihr eine der Frühlingszwiebeln hin.
— Wenn du noch mehr Gänsefutter isst, lernst du es vielleicht.
Wieder war die Nacht lang. Einmal erwachte Eistaucher aus einem Traum, in dem sein Vater ihn davor warnte, einen vereisten Fluss zu überqueren. Er hatte seinem Vater gesagt, dass er sich keine Gedanken machen müsse, weil sie es bereits herübergeschafft hätten. Doch jetzt sollten sie umkehren und den Fluss anscheinend in die Gegenrichtung überqueren. Es würde schwer werden, hatte er sorgenvoll zu seinem Vater gesagt, jetzt, wo das Eis weg war.
Das Feuer war beinahe heruntergebrannt. Nur ein Flämmchen flackerte noch in der rosigen, grau verkrusteten Glut, die langsam schwarz wurde und von den darauffallenden Schneeflocken zischte. Er legte drei Äste darüber und schlief wieder ein, noch bevor sie Feuer gefangen hatten.
Am Morgen wurden sie von Dorn geweckt, der hinter Eistaucher und Elga im Schnee kniete. Er schürzte die Lippen, was ihn wie eine große Eidechse aussehen ließ.
— Knack ist tot.
— Was?, rief Eistaucher. — Wie? Warum?
Er hatte nicht warum sagen wollen, doch jetzt hing das Wort in der Luft wie ein im Flug innehaltender Schwirrvogel. Es hätte unangenehm sein können, aber Dorn war mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt und hatte ihn anscheinend nicht gehört.
— Ich weiß nicht, sagte er schließlich, — vielleicht hat er sich an etwas verschluckt, oder er war hungriger, als wir dachten. Jedenfalls ist er tot. Nichts dran zu machen.
Eistaucher und Elga setzten sich unwillkürlich auf. Es schneite noch immer. Elga hielt sich eine Faust vor den Mund und blickte über das Feuer hinweg auf den in Pelze gehüllten Klumpen, der einmal Knack gewesen war. Regungslos lag er da. Eistaucher sah, dass Dorn die Wahrheit gesagt hatte: Eine Leiche war etwas Unverkennbares. Es fehlte plötzlich so viel.
Dorn stand auf und nahm einen seiner tiefen Atemzüge: ein und dann aus. — Ich bringe ihn vom Feuer weg.
Auf wackligen Beinen stapfte er um das Feuer herum zu Knack, ging neben ihm in die Hocke und sah dem Alten ins Gesicht. Es war abgewandt, als wollte Knack nicht, dass sie ihn tot sahen. Dorn streckte die Hand aus und zog dem Mann die Bärenpelzdecke über den Kopf, in die der Rest von ihm schon eingewickelt war. Jetzt war er nur noch ein mannsgroßer Klumpen in einem Bärenfell. Dorn fasste den Pelz dort an, wo er um Knacks Füße gewickelt war, und zog ihn über den Pfad, den sie auf ihren Wegen aus ihrem Unterschlupf und wieder hinein in den Schnee getrampelt hatten. Der Schnee fiel in dichten Wolken, und die Kiefern an den Hängen sangen ihr rauschendes Windlied.
Sobald Dorn Knacks Leichnam hinter einige Bäume außer Sicht gezogen hatte, hörten Eistaucher und Elga, wie er eines seiner Schamanenlieder sang, das dem Sterbenden auf dem Weg in die nächste Welt helfen sollte:
Jetzt reist du zum Himmel,
Finde Frieden, wir denken an dich.
Anschließend herrschte für eine Weile Stille, dann und wann unterbrochen von Schnaufen und Poltern. Als Dorn ans Feuer zurückkehrte, hielt er Knacks zusammengeknüllten Mantel in den Händen. Er ließ sich schwer auf einen Stein am Feuer nieder und holte einige seiner Klingen aus dem Rucksack. Ohne ein Wort begann er, Lederstreifen aus Knacks Mantel zu schneiden.
Nach einer ganzen Weile schlug er vor, dass die beiden anderen Feuerholz sammeln gehen sollten. Elga stand auf und verließ den Unterschlupf, wobei sie mit Bedacht eine Richtung einschlug, die sie von Knack wegführte. Eistaucher erhob sich ebenfalls und humpelte los. Schlimmbein wollte sich überhaupt nicht mehr bewegen, und er hatte in der ganzen linken Seite Schmerzen, und auch in Brust und Schultern. Angesichts all der zerschundenen Stellen wurde ihm klar, wie sehr er sich hatte verausgaben müssen, um selbst mit seinen Stöcken zu gehen. Bei den nächstgelegenen Bäumen wühlte er im Schnee nach totem Holz. Die Flocken sanken auf ihn nieder.
Die folgende Nacht war windig. Sie gaben dem Feuer viel Nahrung und schliefen hungrig.
Am nächsten Tag war es wieder stürmisch. Sie lagen in ihre Pelze gewickelt da und starrten ins Feuer. Von Zeit zu Zeit stand einer von ihnen auf, um sich zu erleichtern oder um mehr Holz zu sammeln. Inzwischen hatten sie ein Glutbett, auf dem auch feuchtes oder grünes Holz brannte, weshalb es leichter war, Brennstoff zu finden. Aber in dem immer tieferen Schnee wurde es schwerer, sich zu bewegen, und es wurde schwerer, an etwas anderes zu denken als an den Hunger, der an ihren Eingeweiden nagte. Kaum zu glauben, dass es der sechste Monat war. Andererseits war bekannt, dass Unwetter im sechsten Monat immer besonders schwer waren.
In jener Nacht stürmte es wieder. Hungriger denn je hielten sie das Feuer in Gang. Hungern bedeutete frieren.
Im Morgengrauen legte Dorn immer mehr Äste aufs Feuer, bis es hoch aufloderte, und wandte sich dann mit ausgestreckt erhobenen Armen nach Osten. Er sang ein Lied, dessen Worte Eistaucher nicht verstand und die so seltsam klangen, dass es sich vielleicht nur um bedeutungslose Laute handelte.
Als Dorn damit fertig war, wandte er sich Eistaucher und Elga zu und stemmte die Hände in die Hüften. Sie sahen aus ihren Pelzen zu ihm auf.
— Wir müssen etwas essen, sagte er zu ihnen. — Den Weg nach Hause suchen wir, wenn der Sturm vorbei ist und der Schnee zur Ruhe kommt, aber wir brauchen Nahrung, sonst schaffen wir es nicht.
Er starrte auf sie herab.
Elga sagte: — Dann müssen wir also Knack essen.
Dorn nickte schwer. Er sah sie auf eine Art an, auf die er Eistaucher noch nie angesehen hatte.
— Ja, sagte er. — Genau. Knack ist seit zwei Tagen tot. Er ist gefroren. Ich werde also ein paar Fleischstücke aus ihm herausschneiden, die wir anschließend braten und essen. Sein Fleisch ist zäh und alt, aber etwas anderes haben wir nicht. Es betrübt mich, das zu tun, aber Knack wird es verstehen. Ich habe gerade mit ihm darüber geredet, und sein Geist ist inzwischen weit aus seinem Körper heraus und oben zwischen den Sternen. Er sagt, dass es ihn freut, wenn er uns behilflich sein kann. Und er sagt Dange. Wie er es immer gesagt hat.
Eistaucher warf Elga einen Blick zu. Mit einem Mal spürte er, dass ihm der Mund offen stand. Sie erwiderte seinen Blick und schluckte schwer. Eistaucher schloss den Mund, und auch er schluckte. Das Wasser lief ihm im Mund zusammen. Er musste pinkeln, und beim Gedanken an gebratenes Fleisch lief ihm beinahe der Speichel übers Kinn. — Ich muss pinkeln, sagte er.
— Geh dort entlang, sagte Dorn und zeigte von Knack weg. — Und dann lass mich in Ruhe. Damit stapfte er, eine Klinge in der Hand, durch den frischen Schnee dorthin, wo er Knacks Leichnam abgelegt hatte.
Eistaucher erhob sich und ging zum Pinkeln in die andere Richtung. Die Luft war eiskalt. Er spürte den Hunger in seinem Innern. Das Schlimmste daran war nicht die Schwäche seiner Muskeln, sondern der Schwindel. Die Welt um ihn herum hatte keine Tiefe, sie war ausgebleicht. Er konnte die Bäume, die sich an den höheren Hängen im Wind hin und her warfen, nicht ansehen, er musste den Kopf abwenden, damit er nicht das Gleichgewicht verlor. Er wusste nicht mehr, wie weit entfernt die Dinge waren. Das war die eigentliche Gefahr, die der Hunger mit sich brachte, das und die schiere Schwäche.
Als er zum Feuer zurückkehrte, saß Elga in ihren Pelz gehüllt und kümmerte sich um das Feuer. Frisch aufgelegte Äste entflammten. Sie sah zu ihm auf, und während sie einen Blick wechselten, erkannte Eistaucher, was sie dachte: Da lässt sich nichts machen. Später würden sie einander den Rücken decken, die gleiche Geschichte erzählen. Nichts zu machen. Jetzt war es an der Zeit, weiterzuleben.
Er ließ sich neben ihr nieder, brach fast zusammen, und sie wickelten sich ihre Pelze gemeinsam um die Schultern, zogen sie über ihre Köpfe. Sie kauerten sich aneinander wie Welpen, während die Füchsin fort war.
Als Dorn zurückkehrte, hielt er eine in seinen Lederlappen gewickelte Masse mit beiden Händen vor sich ausgestreckt. Er setzte sich ans Feuer, griff nach einem schlanken, alten Ast, entfernte die Rinde davon und brach die Spitze ab. Dann schlug er das Leder zur Seite und holte einen Brocken Fleisch heraus, etwa von der Größe seiner Faust; anscheinend ein Rumpfstück. Es war noch gefroren. Er musste mit seiner Klinge ein Loch hineinbohren, um das spitze Ende des Stocks hindurchzubekommen. Als das Fleisch schließlich fest auf dem Stock saß, hielt er es ins Feuer. Zuerst hielt er es mitten in die Flammen, um es zu grillen; dann neben die Flammen, um es aufzutauen; und dann über die Flammen, um es zu garen. Ein leichtes Brutzeln war zu hören, als Fett und Blut ins Feuer tropften, worauf Dorn das Fleisch sofort zurückzog und in der kalten Luft dampfen ließ. Der Wind wehte einige Schneeflocken von den Bäumen über ihnen herab. Er berührte das Fleisch prüfend mit den Lippen, entblößte dann einen Eckzahn und biss wie eine Katze hinein; biss ein Stück ab und begutachtete das Fleisch an der entsprechenden Stelle: rosig. Es war durch. Er kaute und schluckte das Stück. — Ah, sagte er. — Danke.
Er reichte das gegarte Fleisch mitsamt Ast Elga, die sich bedankte und ohne viel Aufhebens hineinbiss, als wäre es ein ganz normales, aus einem Tier geschnittenes Stück. Eistaucher lief das Wasser im Mund zusammen, und er war froh, als sie ihm den Stock weiterreichte und ihn abbeißen ließ. Das Fleisch schmeckte ein wenig wie Bärenfleisch. Sehr zäh, als hätte Knacks ganzer Körper aus Herzmuskelfleisch bestanden. Einen Moment lang zuckte etwas in Eistauchers Gesicht, und er weinte, doch Elga und Dorn reagierten nicht darauf.
Dorn garte ein zweites Stück, und während sie es aßen, ein etwas kleineres drittes, das vom vorderen oder hinteren Oberschenkelmuskel stammen mochte. Sie reichten den Stock herum und aßen schweigend. As sie fertig waren, reichte Dorn seinen Wasserschlauch herum. Eine Weile sah er zum Himmel; die Wolken hingen noch immer tief und eilten nach Osten, aber sie brachen auch langsam zu dunkelgrauen Massen auf, zwischen denen weiße Fäden wie Sprösslinge verliefen. — Legt euch hin, solange ihr das gute Essen im Bauch habt, damit es sich in euch ausbreitet, sagte er. — Ihr kennt das ja, nach einer Weile ist der Magen so leer, dass er vergisst, wie man isst. Heute sollten wir ohnehin nicht mehr weiterziehen, dafür ist der Schnee zu weich. In einer Weile essen wir noch einmal, und morgen gehen wir dann los.
Und es stimmte, was er über Nahrung und einen leeren Magen gesagt hatte: Eine Weile war Eistaucher schlecht, und sein Bauch fühlte sich hart an. Am leichtesten war es, einfach dazuliegen und ins Feuer zu schauen, während er Elgas Arm umklammert hielt. Nach einer Weile ging es ihm besser. Er fühlte sich wärmer, gekräftigt, konnte wieder klarer sehen. Später musste er zum Scheißen hinaus in den Schnee, und als er wieder am Feuer war und sich aufwärmte, fühlte er sich besser denn je.
Den ganzen Tag lagen sie zu dritt da und badeten im Feuerschein, während Knacks Fleisch sie von innen wärmte und ihnen Kraft gab. Jeder ging dann und wann in den grauen, windigen Tag hinaus, um sich zu erleichtern oder einfach nur aufzustampfen, bis das Gefühl in die Beine zurückkehrte. Eistaucher machte sich Sorgen, weil er Schlimmbeins Fuß nicht mehr spürte. Erfroren war er anscheinend nicht, aber weitgehend taub. Das war besser als der Schmerz, aber er wusste nicht, wie er so laufen sollte.
Der nächste Morgen graute klar und kalt, und nachdem sie das Feuer ein letztes Mal hoch aufgeschichtet und eine weitere Mahlzeit, die aus Knacks gegrillten Unterschenkeln bestand, eingenommen hatten, erhoben sie sich, sammelten ihre Sachen ein und schnürten ihre Rucksäcke. Schon bald waren sie aufbruchbereit.
Dorn bedeutete ihnen zu warten. — Knack nehmen wir mit, sagte er. — Wir werden ihn brauchen.
Er hielt ein Seil hoch, das er aus Knacks Mantel gemacht hatte. Die Streifen hatte er zu einer Leine zusammengebunden. Sie war länger, als Eistaucher vom Ansehen des Mantels her vermutet hätte, und machte einen festen Eindruck. Dorn ging zu Knacks Leichnam, und als er zurückkehrte, zog er ihn mit den Füßen voran hinter sich her. Um Knack hatte er mit Lederbändern eine Bärenhaut gebunden, sodass sie eine Art Schlitten bildete, in dem man ihn über den Schnee ziehen konnte. Das Seil war lang genug, damit Dorn es als Behelfsgeschirr zweimal um seinen Rumpf schlingen und es anschließend am Knoten um Knacks Füße befestigen konnte. So zog er das verschnürte Bündel aus dem Wäldchen auf die Schneefläche hinaus und ging anschließend seine Schneeschuhe und seinen Rucksack holen. Die Schneeschuhe zog er an, ohne dafür das Geschirr abzulegen.
Sie machten sich auf den Weg. Der Schnee war noch nicht ganz fest, aber die Schneeschuhe erwiesen sich einmal mehr als große Hilfe und sorgten dafür, dass sie nur knöcheltief einsanken.
Doch als es das erste Mal bergab ging, kippte Eistaucher nach links und kam nicht wieder auf die Beine. Schlimmbein ließ sich weder am Knöchel noch am Knie beugen, und er konnte seinen Fuß nicht spüren. Er schrie und mühte sich, kam auf die Knie, rückte die Schneeschuhe zurecht, stand mithilfe seiner Arme und der Stöcke auf und fiel dann beim nächsten Schritt wieder nach links. Hilflos sah er zu den anderen auf.
— Ich sagte doch, dass wir Knack noch brauchen werden, sagte Dorn grimmig. — Eistaucher, kriech hierher und setz dich auf den Schlitten. Leg dich seitlich darauf. Knack ist es egal. Und wir müssen weiter.
— Ich ziehe ihn, sagte Elga. — Such du den richtigen Weg. Ich ziehe die beiden.
— In Ordnung. Das ist gut. Während sie das Seil zu einem Geschirr um Elgas Brust schnürten, fügte er an Eistaucher gewandt hinzu: — Deine Frau gefällt mir.
Für einen kurzen Moment lachten sie alle.
Es war, als läge er auf einem umgestürzten Baum. Im Wald hatten sie das alle schon das eine oder andere Mal probiert — hatten sich zu einem Nickerchen auf die flachste verfügbare Oberfläche gelegt. Knack war vollständig von dem um ihn gewickelten Bärenpelz bedeckt, und Dorn hatte ihn an Zehen und Kopf gut zugeschnürt. Und Knack war steif gefroren. Mit den Schneeschuhen an den Füßen und sich mit ihren beiden Gehstöcken abstoßend zog Elga den Schlitten ohne große Schwierigkeiten durch den Schnee. Später am Tag, als der Schnee weicher wurde, hatte sie es schwerer. Doch der alte Schnee war steinhart, weshalb Eistaucher und Knack nur in die frische Schicht darüber einsanken, und auch der frische Schnee würde in einem oder zwei Tagen härter werden. Außerdem war Elga stark.
Als es bergab ging, musste sie den Schlitten vor sich hinabgleiten lassen und an den steilen Stellen aufpassen, damit sie nicht mitgerissen wurde. Eistaucher konnte ihr helfen, indem er Gutbein und einen seiner Stöcke in den Schnee hinausstreckte, um zu bremsen. Auf der Seite liegend, konnte er Elga, wenn es bergab ging, direkt ins Gesicht sehen. An den steileren Hängen bildeten die Falten zwischen ihren Brauen einen Keil auf ihrer Stirn. Ihre Augen lagen tief in den Höhlen, und ihre Rippen stachen hervor: Die Fettpolster hinter ihren Augen und um ihre Rippen waren aufgezehrt.
Ein- oder zweimal führte Dorn sie seitlich an Hängen hinab, doch wenn sie ihm dabei zu folgen versuchte, rutschte der Schlitten immer hangabwärts, sodass sie mehrmals mit den Schneeschuhen aufstampfen und dann einen großen Schritt nach unten machen und sich eine weitere Stufe stampfen musste, wobei sie nur mit Mühe und Not das Gleichgewicht wahrte und sich rasch zurücklehnte, wenn der Schnee wegbröckelte. Immer wieder war Eistaucher verblüfft über ihre fließenden und kraftvollen Bewegungen; er hätte es ihr wohl nicht nachtun können, nicht einmal mit zwei gesunden Beinen. Mit einem Mal erkannte er, dass sie eine Nordfrau war, dass sie im Schnee aufgewachsen war. Seine Frau kam aus einer anderen Welt, wie Dorn es am Feuer mit seiner Rede von der Schwanenfraugeschichte angedeutet hatte. Wenn es schwierig wurde, stand sie ächzend und schnaufend da, mit rotem Gesicht und die Augen zu Schlitzen zugekniffen, aber jede ihrer Bewegungen war sicher. Und sie ließ nicht nach.
Auch Dorn bemerkte, welche Schwierigkeiten ihr der Schlitten an den Hängen bereitete, weshalb er immer öfter vorauslief, an den Hängen hinabschlitterte, um die Steinspitzen zu begutachten, um sie dann hinterherzuwinken oder sich wieder emporzumühen und eine andere Richtung einzuschlagen.
Das Tal, in dem sie sich befanden, verlief nach Süden, und bald wurde klar, dass Dorn nach Osten wollte. Zu Mittag legten sie eine Rast ein, und während Eistaucher und Elga neben dem Schlitten auf einem Baumstamm saßen, steckte er einen Stock in eine Schneefläche und brach weitere Stöcke ab, um abzumessen, wie lang der Schatten zu Mittag war. Sie befanden sich in der Mitte des sechsten Monats; Eistaucher war sich nicht sicher, welcher Tag es genau war, weil der Mond so lange von den Unwetterwolken verdeckt gewesen war. Aber Dorn wusste es. Und er wusste auch, so erklärte er ihnen, während er Stöcke in verschiedenen Längen abbrach, wie lang der Schatten eines Stocks im Verhältnis zu seiner Höhe an einem Mittsommermittag in ihrem heimischen Lager war. Was bedeutete, dass er daran, wie viel länger oder kürzer der Schatten hier war, vielleicht erkennen konnte, ob sie sich nördlich oder südlich ihres Lagers befanden. Zu Hause hatte der Schatten ein Sechstel der Länge des Stocks.
Hier war es etwa genauso, was ihn nach eingehender Untersuchung und ausgiebigem Gemurmel zu dem Schluss gelangen ließ, dass sie einfach nur weiter Richtung Osten gehen mussten, um nach Hause zu gelangen. Er war sich nämlich ziemlich sicher, dass sie sich westlich ihres Lagers befanden.
— Wir können von Glück sagen, dass ich das weiß, weil man nämlich unmöglich herausfinden kann, ob man sich östlich oder westlich eines Orts befindet. Nur ob man nördlich oder südlich ist, lässt sich in Erfahrung bringen. Der alte Pfeifhase hat mir diesen Trick gezeigt, und er meinte, dass er ihn von seinem Raben gelernt habe und der erste Mensch sei, der ihn gekannt hätte. Das hat er dauernd behauptet, aber ich habe nie einen anderen Schamanen von diesem Trick erzählen hören, weder auf dem Acht-Acht noch anderswo.
— Wenn wir östlich des Lagers wären, dann befänden wir uns in den großen Bergen, bemerkte Elga.
— Das stimmt.
Also mussten sie sich, soweit möglich, Richtung Osten halten. Aber die Täler in dieser Gegend verliefen nach Süden, weshalb sie es nicht leicht hatten.
Schließlich stiegen sie über einen Hügelkamm in ein schmales Tal mit ebenem Grund, das einen Bogen nach Osten beschrieb, und Dorn führte sie etwas abseits des Bachbetts hindurch, dort, wo der Schnee am härtesten war. Den ganzen Nachmittag lang wanderten sie weiter. Als die Sonne hinter ihnen tief stand, sodass ihre Schatten sich vor ihnen weit durchs Tal dehnten, machte Dorn bei einem Wäldchen halt, wo ein kleiner, zugeschneiter Wasserlauf in den Talbach mündete. An der Einmündung gab es ein Loch im Schnee, und das freundlich glucksende Wasser war beinahe der einzige Laut abgesehen von ihrem Atmen.
Endlich war es windstill. Über dem südlichen Horizont waren Wolken zu sehen. Die Nacht würde kalt werden, und Dorn stampfte einen Bereich für ihr Lagerfeuer nieder. Erneut hatte er etwas Glut mitgenommen, eingewickelt in Kiefernnadeln und in einem Wurzelknoten verstaut, der in seinem Gürtel steckte. Mit dieser Glut entlockte er einer weiteren Handvoll Mulm aus seinen Vorräten eine Flamme. Er machte es sehr gut, doch diesmal beglückwünschte er sich nicht selbst zu seiner Arbeit. Er zog Knack vom Feuer fort, damit er nicht auftaute. Eistaucher hüpfte auf Gutbein und seinen Stöcken umher, um Feuerholz zu sammeln. Insbesondere bei dieser Aufgabe fehlte ihnen Knacks Unterstützung, weil er Äste hatte abbrechen können, die für sie zu dick waren. Es war schon beinahe dunkel, bevor sie genug Nahrung für das Feuer beisammenhatten.
Einmal mehr entfernte Dorn sich mit quietschenden Schritten über den zunehmend harten Schnee, seine Klinge in der Hand. Der Himmel im Westen war von einem üppigen, reinen Blau, scharf abgeschnitten vom hügeligen schwarzen Horizont. Direkt über den Hügeln, wo das Blau am hellsten war, pulsierte und knisterte es rötlich vor Eistauchers Augen. Wenn er den Mund öffnete, dann hörte er sein Herz hinten in seiner Kehle pochen. Er war wieder hungrig.
Dorn kehrte wie schon in der vorangegangenen Nacht mit einem in Leder gewickelten Klumpen zurück, den er diesmal allerdings weiter von sich weghielt als zuvor. Er versengte die Stücke und briet sie dann. Einmal mehr lief Eistaucher das Wasser im Mund zusammen, obwohl er heute nicht einmal hatte wandern müssen. Elga starrte so angestrengt auf das Fleisch, dass das Weiße in ihren Augen rund um die Iriden sichtbar war.
Sie aßen schweigend, ehe sie sich am Feuer in ihre Pelze wickelten und mehr Feuerholz aufschichteten, um ein großes Glutbett zu bekommen. Ein letztes Mal erleichterten sie sich unter dem Sternenhimmel, und Dorn zog Knack etwas dichter ans Feuer, damit nächtliche Aasfresser sich nicht an ihn heranwagen würden. Schon ein paar Schritte vom Feuer entfernt war die Luft eisig. Auch die heutige Nacht würde kalt werden, vielleicht sogar die kälteste Nacht ihrer bisherigen Reise. Am Ende eines Unwetters ist es immer am kältesten.
Sie rollten sich fest in ihre Pelze und legten sich so dicht an das Feuer, dass ihnen dann und wann der Geruch versengten Fells in die Nasen stieg. Nach Mitternacht war es so kalt, dass sie sich ohne darüber zu reden aneinanderdrängten wie Pferde in einem Gewitter. Erst lag Elga zwischen den beiden Männern, später, als die Sterne langsam über den Himmel krochen, rückte der am weitesten vom Feuer Liegende direkt an den Steinring und drückte dabei die anderen beiden mit dem Rücken weg. So zwängte der kälteste Teil ihres Dreierleibs sich an den wärmsten Platz, und die Person, die nun außen lag, kuschelte sich an den Rücken derjenigen, die in der Mitte lag. Immer im Kreis ging es so, Faust um Faust, wie bei einem Wurf Kätzchen. Schließlich ging der Mond Atemzug für Atemzug unter. Es war der einzige Zeitpunkt, zu dem sich leicht erkennen ließ, wie der Nachthimmel sich über einem drehte. Danach mussten sie bis zum Ende der Nacht nur noch etwa zwei Fäuste überstehen.
Als der Morgen am östlichen Himmel graute, erwachte Eistaucher direkt an der Glut, den Rücken an Dorn gedrückt. Eine Bewegung auf der anderen Seite des Feuers veranlasste ihn, den Kopf zu heben. Es war Knack. Er stand auf den Knien, weil Dorn seine Unterschenkel ja entfernt und gebraten hatte. Auf Knacks Gesicht lag ein Ausdruck, den Eistaucher nicht ganz begriff, eine seltsame Mischung aus Stolz und Sehnsucht, Enttäuschung und Kummer. Eistaucher wollte ihm zugirren, sagte dann aber doch lieber nichts, weil er Angst hatte, Dorn und Elga zu wecken. Ihm wurde klar, dass auch er noch schlief, dass er träumte. Er formte die Worte mit den Lippen und sprach sie im Traum: — Danke. Und dann ließ er den Kopf sinken, schloss die Augen und dachte: Jetzt wird Knacks Geist für den Rest der Nacht über uns wachen. Allerdings waren in einer so kalten Nacht ohnehin nur Geister unterwegs, weshalb ihm keine Gefahren drohten.
Die nächsten drei Tage waren hart. Es wurde etwas wärmer. Ihr Schlitten wurde kürzer. Eistaucher stand so oft wie möglich auf und ging ein wenig, aber jedes Mal musste er viel früher, als es ihm lieb war, auf den Schlitten zurückkehren. Elga und Dorn wechselten sich nun mit dem Ziehen ab. Elga verlor noch immer Gewicht: Ihre Brüste waren inzwischen fast völlig flach, ihre Augen hatten sich tief in die Höhlen zurückgezogen, ihre obersten Rippenbögen stachen weit hervor. Die Form ihres Schädels war gut zu erkennen. Dorn, der seit jeher nur aus Haut und Knochen bestand, hatte einen Schlangenkopf bekommen, ohrlos, lippenlos, fleischlos. Er sprach sehr wenig, vor allem im Vergleich zu seinen normalen Zeiten, und hatte es immer eilig, auf Grate zu gelangen, von denen aus man nach Osten sehen konnte, weshalb er oft voranlief. Sie folgten seinen Spuren und fanden ihn oben wieder, wo er, die Augen mit der Hand beschirmt, nach Osten blickte, sorgenvoll auf der Suche nach Hinweisen. Niemand sprach davon, dass sie sich verlaufen hatten. Jeden Nachmittag machten sie halt und entfachten ein Feuer, wobei sie die Glut der vergangenen Nacht verwendeten, und jeden Abend aßen sie in der blauen Dämmerung gebratenes Fleisch, darunter Nieren, Leber und sogar das Herz, das noch zäher war als die zähen alten Muskeln, die sie zuerst verzehrt hatten. Bei Nacht lagen sie aneinandergeschmiegt am Feuer. Nur eine der folgenden Nächte war annähernd so kalt wie die letzte Unwetternacht, und am darauffolgenden Morgen zog Dorn los und kehrte mit zwei Händen voller Stare zurück, die er bei den Füßen hielt. Er hatte sie in einer kleinen Gruppe von Schwarzkiefern gefunden, wo sie in der Nacht erfroren und von den Ästen gefallen waren. Gegrillt stellten sie eine willkommene Abwechslung dar.
Auf den Wiesen, an denen sie vorbeikamen, fanden sie auch weitere Frühlingszwiebeln. Von denen fühlten sich ihre Bäuche zwar aufgebläht an, aber sie aßen sie trotzdem. Der frische Schnee schmolz schnell, und jeden Tag taute auch etwas von dem alten Schnee. An den Nachmittagen sahen sie immer öfter schwarzes Wasser, das zwischen zunehmend schwarzen Ufern rauschte. Endlich kam der Sommer. Jetzt mussten sie nach Schneebahnen Ausschau halten, auf denen sich der Schlitten leichter ziehen ließ. Während der letzte alte Schnee schmolz, wurden die Mulden darin immer tiefer, sodass der Schlitten sich durch sie fast ebenso schlecht ziehen ließ wie über schneefreien Boden. Eistaucher ging über immer weitere Strecken selbst, wobei er statt Schlimmbein seine Stöcke verwendete, doch Dorn war ungeduldig und befahl Eistaucher manchmal, sich wieder auf den Schlitten zu legen und ziehen zu lassen. Elga schürzte darauf bloß die Lippen und zog, ob Eistaucher nun aufsaß oder nicht. Manchmal übernahm Dorn für sie, doch wenn es bergab ging, musste er wieder an Elga übergeben, da er inzwischen zu leicht war, um den Schlitten zu halten.
Dann kam ein Nachmittag, an dem Elga in den Schnee fiel und nur sehr langsam wieder auf die Beine kam. Eistaucher stieg von dem Schlitten, der inzwischen sehr viel kürzer und unförmiger war, und humpelte zu ihr. Er fühlte sich furchtbar. Mit einem Mal wurde ihm klar, wie ausgemergelt und sonnenverbrannt sie war, beinahe zu schwach, um wieder aufzustehen. Sie hatte sich zuschanden gelaufen, ohne ein Wort darüber zu verlieren.
— Nein!, sagte Eistaucher, als sie schließlich aufstand und die Schlittengurte festzog. — Jetzt bin ich dran.
Er nahm ihr das Geschirr ab und legte es sich um die Hüften. Mit seinen Gehstöcken und seinen Beinen hatte er sich in einen Vierbeiner verwandelt, einer Hyäne nicht unähnlich, hässlich und mit hochstehenden Schultern. Aber er konnte noch immer weiterhüpfen, wobei er Schlimmbein hinter sich herzog und wann immer möglich zu Hilfe nahm. Elga humpelte hinter ihm in der leichten Vertiefung, die der Schlitten im Schnee hinterließ.
Inzwischen konnte keiner von ihnen noch besonders gut gehen, weshalb sie sich immerhin mit etwa der gleichen Geschwindigkeit bewegten. Wortlos taumelten sie weiter, schlugen jeden Tag früher ihr Lager auf und machten sich auf die Suche nach Knollen und Feuerholz. Nachts schliefen sie auf trockenem Boden oder trockenem Fels, warm von der Hitze des Feuers.
Schließlich kam der Tag, an dem sie alle der völligen Erschöpfung nahe waren. An jenem Tag war es Schlimmbein, das sie durchbrachte, weil es als Einziges noch Muskeln hatte, die nicht völlig ausgelaugt waren. Es war nun Schlimmbein, das Eistaucher beim Gehen am meisten Vortrieb gab, trotz aller Schmerzen. Also zog Eistaucher den Schlitten, manchmal mit Dorn darauf und manchmal sogar mit Elga, die vor Wut weinte, weil sie sich hinlegen und schleppen lassen musste. Doch Eistaucher bestand darauf. Verglichen mit allen anderen war Schlimmbein ausgeruht, und Eistaucher lernte bald, den Schmerz einzudämmen, sodass nur ein kleines, quälendes Stechen bei jedem Schritt blieb, das man ignorieren konnte wie einen ungebetenen Gast, einen Eindringling, jemanden, an dem man rasch und grußlos vorbeiging wie an einer Hyäne oder einem Hecht. Schritt für Schritt schaffte er es mit dieser Einstellung, zumindest fast. Sein dritter Atem, vielleicht sogar ein noch späterer Atem, war nun in ihm, und er biss die Zähne zusammen und spürte der Kraft in jenen Teilen von Schlimmbein nach, die nicht schmerzten. Selbst Gutbein war inzwischen weniger kräftig als Schlimmbein.
Ich bin der dritte Atem
Ich komme zu dir
Wenn dir nichts geblieben ist
Wenn du nicht mehr weiterkannst
Aber trotzdem weitermachst
In jenem äußersten Moment
Am Nachmittag desselben Tages stiegen sie einen bewaldeten, verschneiten Hang zu einem kahlen Grat empor, der von Südwesten nach Nordosten verlief. Alle drei bis vier Schritte machten sie eine Pause. Oben angekommen, beschirmte Dorn sich mit der Hand die Augen und sah nach Osten.
Plötzlich sagte er: — Nanu, was ist das?
Er streckte den Finger aus. — Siehst du den Gipfel, der dort hinten genau über den Horizont ragt, jenseits der Bäume? Das ist die südliche Eiskappe. Pui Mir.
Dorn spähte weiter nach Osten. Dann sah er Elga und Eistaucher lächelnd an. Es war, als sähe man eine Schlange lächeln, unerwartet und abstoßend, aber trotzdem war es ein Lächeln.
— Ich bin mir sicher.
Die Vorstellung, zu wissen, wo sie waren, machte ihnen natürlich neuen Mut. Aber ihre Probleme waren alles andere als vorbei, weil die südliche Eiskappe sich ein gutes Stück westlich ihres Lagers befand und das Eis über all den Flüssen und sogar über den Bächen inzwischen gebrochen war und sie Hochwasser führten. Von jetzt an würden sie nicht mehr übers Eis gehen, was einerseits eine Erleichterung war; aber andererseits waren sie zu schwach, um einen Wasserlauf an einer mehr als knöcheltiefen Furt zu durchqueren. Das Lager befand sich östlich von ihnen, aber die Schluchten verliefen hier von Nordosten nach Südwesten, sodass sie oft gegen die Maserung des Lands laufen und einen Bach nach dem anderen durchqueren mussten. Normalerweise war es am einfachsten, diese kleinen Bäche auf umgestürzten Bäumen zu überqueren. Doch da Eistaucher sich nicht darauf verlassen konnte, mit Schlimmbein das Gleichgewicht zu wahren, machten solche Stämme ihm mehr Angst als jede Furt. Jedes Mal setzte er sich auf den Hintern und rutschte oder kroch über den Baum, selbst wenn der Stamm so dick war, dass er ihn normalerweise auch im Handstand hätte überqueren können. Elga und Dorn, die sich inzwischen etwas erholt hatten, mussten auf dem Weg über solche Stämme Knack zwischen sich tragen wie einen in Fell gewickelten Holzscheit und ihn zwischen den nach oben weisenden Ästen hindurch oder über sie weg bugsieren. Eistaucher konnte ihnen dabei nicht helfen.
Hinzu kam, dass jetzt, wo es zwischen Mittag und kurz nach Sonnenuntergang deutlich wärmer wurde, der arme Knack nachmittags leicht zu tauen begann und in der Nacht wieder gefror, wodurch sein Fleisch zunehmend ungenießbar wurde. Eines Abends, nachdem sie einige seiner Rippen abgenagt hatten, machte Dorn sich ein letztes Mal an ihm zu schaffen und kam mit den letzten drei Beuteln Fleisch zurück, die sie in eine nahe Schneewehe steckten.
— Du kannst jetzt ohne Pause gehen?, fragte er Eistaucher.
— Ja, antwortete dieser, in der Hoffnung, dass es die Wahrheit war.
— Gut. Morgen lassen wir ihn zurück. Wir können später wiederkommen und seinen Leichnam richtig bestatten.
Er holte Knacks Beinlinge aus einer der Taschen und legte sie zum Verbrennen aufs Feuer, dabei sang er für Knacks Geist ein Abschiedslied:
Nun bist du fort, wir liebten dich.
Nun bist du fort, wir danken dir.
Nun ruhst du über uns im Himmel.
Und wir werden dich nie vergessen.
Nach einer weiteren kalten Nacht, die sie aneinandergeschmiegt am Feuer verbrachten, eine Nacht, in der ihnen Knack keinen Besuch abstattete, erwachten sie in einem kalten Nordwind. Das war nicht gut für sie; der Wind war mit Abstand ihr schlimmster Feind; Schnee wäre besser gewesen, sogar Regen. Ihr Glück schien sie gänzlich im Stich gelassen zu haben, vielleicht wegen dem, was sie Knack angetan hatten. Es war jedenfalls schlimm.
Nachdem sie sich so gut wie möglich eingemummelt hatten, gingen sie gemeinsam zu den Resten von Knacks Leichnam, schleppten ihn zu einer Gruppe nach Süden blickender Felsen und legten ihn für die Vögel aus. Schon jetzt zankten sich schwarze Bussarde über ihnen im böigen Wind. Dorn sang das Trauerlied und versprach Knack, zurückzukehren und die verbliebenen Knochen einzusammeln, um sie richtig zu bestatten, wenn es so weit war.
Dann setzten sie ihren Weg ohne ihn fort.
Inzwischen ging Eistaucher so viel wie möglich mit seinen Stöcken, aber natürlich musste auch Schlimmbein seinen Beitrag leisten, daran führte kein Weg vorbei. Wann immer sie nachmittags über Schneereste gingen, kamen sie mit ihren Schneeschuhen besser voran, und für die brauchte er Schlimmbein in jedem Fall. Eistaucher musste einfach über dieses kleine, peinigende Knacken hinwegschreiten. Man konnte es beinahe hören. Und tatsächlich: morgens, wenn seine Gelenke steif waren und um ihn herum Stille herrschte, hörte er es knacken, wenn der Schmerz ihn durchfuhr. Das Geräusch ähnelte sehr einem von Knacks kleinen Schnalz-Worten, weshalb es Eistaucher bald vorkam, als hätte Knack den Platz von Schlimmbein und von Kreuch eingenommen. Knack war in ihn eingezogen, um gegen die schlechte Behandlung zu protestieren, die seine Kameraden ihm nach seinem Tod hatten angedeihen lassen, oder vielleicht um ihm auf seinem Weg zu helfen. Mit jedem Schritt knackte Knack in ihm.
Dorn wahrte ein langsames, stetiges Tempo, obwohl er jedes Mal, wenn sie sich einem Grat mit Blick nach Osten näherten, mit einer Geschwindigkeit hinaufeilte, die Eistaucher vermuten ließ, dass der alte Mann noch immer gewisse Kraftreserven hatte. Elga war langsamer, und Eistaucher sah, dass sie zunehmend ermattete. Sie hatte all ihr Fett aufgezehrt und war nun so dünn, wie sie werden konnte. Aber sie war auch stur. Das wusste er inzwischen ganz genau, und er konnte es auch daran sehen, wie straff sie ihre Schultern hielt, an dem tiefen Keil zwischen ihren Brauen und an ihrem Blick. Sie würde nicht aufgeben, jetzt, wo sie ihrem Ziel so nahe waren.
Letztlich galt es, Knack auf seinen einen kleinen Protest zu beschränken, den immer wiederkehrenden Stich, und ohne noch mehr Schmerzen weiterzukommen. Auf nassem Grund, über Steine und, wenn es sich nicht vermeiden ließ, über große Schneehöcker; Letztere machten ihm ernsthaft zu schaffen, ob nun des Morgens, wenn sie hart waren, oder nachmittags, wenn die Sonne sie aufgeweicht hatte. In Schluchten hoch und über Pässe, manchmal auf Tierpfaden, auf denen sich zuweilen auch menschliche Wegmarken fanden. Im Großen und Ganzen hielten sie sich ostwärts. Von jeder hohen Stelle aus starrten sie begierig nach Osten, und Dorn zeigte bei solchen Gelegenheiten auf das eine oder andere Detail, das er wiedererkannte, worauf es weiterging, hinunter zum nächsten Bach und auf der anderen Seite wieder hinauf zum nächsten Pass.
In jener Nacht am Feuer aßen sie die letzten Reste von Knacks Fleisch, und Dorn ließ das Feuer noch höher lodern als sonst, wärmte sich die Hände an den Flammen und tanzte ein wenig auf der Stelle. — Morgen kommen wir an, sagte er.
— Wirklich?, fragten Eistaucher und Elga gemeinsam. Sie blickten einander an, beide überrascht.
— Morgen oder übermorgen, wenn wir langsam sind. Aber darauf kommt es jetzt nicht mehr an. Wir werden es schaffen. Danke, Knack, danke, Knack, danke danke danke.
Am nächsten Tag erwachten sie und tranken Wasser, setzten sich zum Aufwärmen ans Feuer, gingen in den Schnee hinaus, um sich zu säubern. Erhoben sich mit steifen Gliedern und machten sich schlurfend wieder auf den Weg. Im Laufe des Tages erreichten sie einen Wasserlauf, der Dorn zufolge in den Nordbach mündete. Elga band sich ihre Schneeschuhe um und führte sie in ein Tal voller weicher Schneehöcker hinein, wobei sie einen Pfad trampelte, dem Eistaucher folgen konnte; und auch Dorn folgte. Jetzt, wo ihre Reise beinahe zu Ende war, wurde Dorn schließlich langsamer und schien bei jedem Schritt seine letzten Kräfte aufzuwenden, als sei er völlig ausgelaugt und als seien ihm der zweite und dritte und überhaupt jeder Atem endgültig ausgegangen. In dieser Hinsicht ähnelte er nun Eistaucher, und Eistaucher fragte sich, ob Dorn sich verletzt hatte oder ob er einfach nicht mehr konnte. Als Eistaucher ihn danach fragte, schüttelte er den Kopf und ging auf die gleiche Art weiter.
— Denk dran!, sagte Eistaucher und ahmte dabei Dorns belehrenden Tonfall nach, — auf einer Reise von zwanzigzwanzig Tagen kann man immer noch beim letzten Schritt straucheln!
Dorn schüttelte bloß den Kopf. Er war zu müde, um zu widersprechen. Aber er hatte selbst oft gesagt, dass etwas Ärger den Geist auf gute Art anspornte. Also machte Eistaucher weiter. Er hatte sich das oft genug selbst anhören müssen. — O ja, wiederholte er in Dorns Tonfall, — selbst auf einer Reise von zwanzigzwanzig Jahren kann man immer noch beim allerletzten Schritt Scheiße bauen! Also tu das lieber nicht! Er musste beinahe lachen, so oft hatte er diese Worte schon gehört.
Die erste Landmarke, die Eistaucher ohne Dorns Hilfe wiedererkannte, war der riesige Felsbrocken, der mitten im Westteil des Nordbachs lag und fast von einem Ende des Bachbetts zum anderen reichte. Wie benommen starrte er ihn an. Ein kleiner Keim der Erleichterung spross in ihm, direkt hinter seinem Bauchnabel. Zu diesem Felsen war er oft mit Falke und Moos gegangen, wenn sie die Schlucht entlanggewandert waren; die Holzkohlezeichnung eines Höhlenbären, die er darauf hinterlassen hatte, war noch immer da, auf der großen weißen Fläche, die direkt zum Wasser hin abfiel. Er hatte von der anderen Seite auf den Felsbrocken klettern, sich von oben herunterlassen und mit dem Kopf nach unten malen müssen. Falke und Moos hatten sich kaputtgelacht. Aber dort schlurfte der Bär dahin und beäugte unter seiner flachen Stirn hervor jeden, der ihn vom Ufer aus sah, als überlegte er, ob er ihn angreifen sollte. Dafür, dass sie über Kopf hängend entstanden war, handelte es sich um eine hervorragende Arbeit, und Eistaucher weinte, als er es sah, nicht wegen der Zeichnung oder weil er zu Hause war, sondern einfach nur wegen der Vorstellung, dass er bald nicht mehr auf Schlimmbein würde laufen müssen. Jetzt musste er nur noch eine begrenzte Anzahl Schritte machen. Sie waren weniger als einen halben Tagesmarsch von zu Hause entfernt.
Allerdings brauchten sie länger. Erst spät am Nachmittag, im letzten guten Licht, als alles gelb von der Seite angestrahlt wurde, der Himmel über ihnen sich verdunkelte und die Welt mit dem Herannahen der Nacht größer wurde, stolperten sie hinter ihren langen Schatten her über den Westpass und blickten auf die Wiese an der Felswand hinunter. Sie war leer. Doch Heide kam hinter einem Baum hervorgeschlendert.
Sie blieb abrupt stehen, als sie sie sah. Einen Moment lang war sie starr vor Überraschung. Dann blickte sie über die Schulter und sagte: — Kind, deine Eltern sind hier. Sogar der Unaussprechliche ist hier.
Und dann setzte sie sich unvermittelt auf einen Baumstamm und sah ihnen entgegen, während sie sich näherten. — Ich dachte, du wärst fort, rief sie und vergrub das Gesicht in den Händen.
Das Kind blickte neugierig zu Elga auf, die ihre Stöcke fallen ließ, es ergriff und hochhob. Es blickte mit einer Mischung aus Angst und großer Überraschung auf sie hinab. Eistaucher trat hinzu, und zu zweit hielten sie das Kind zwischen sich, das zu heulen und zu strampeln begann.
Heide wischte sich durchs Gesicht und sah von ihrem Baumstamm aus zu. — Du kannst wirklich von Glück sagen, Junge, sagte sie zu dem Kind.
Sie stand auf und umarmte erst Elga, dann Eistaucher und dann sogar Dorn.
— Was ist mit Knack?, fragte sie.
Dorn schüttelte den Kopf. — Er ist gestorben. Ich erzähle dir später davon.
Heide musterte ihn. Schließlich sagte sie: — Wie ich sehe, bist du hässlicher denn je.
— Du hast mir meine Schönheit vor langer Zeit gestohlen, antwortete Dorn und wandte sich von ihr ab. — Hier, nimm unsere Rucksäcke. Nimm Eistauchers Rucksack. Sein Bein macht ihm wieder zu schaffen.
— Das hat er seiner Schamanenwanderschaft zu verdanken.
— Frau!, sagte Dorn. — Sei still. Bitte. Sei jetzt still und hilf uns zurück ins Lager. Wir sind müde.