Zweiter Teil Die Wölfe daheim

3

In der kühlen Morgendämmerung erwachte Eistaucher unter einer Decke von Ascheflocken. Sein Mund war ausgetrocknet, und er hatte Kopfschmerzen. Seine Wanderschaft war vorbei, und er war wieder bei seinem Rudel. Dorn stöhnte und rief nach Wasser. Die grauen Zöpfe, aus denen in alle Richtungen abgebrochene Haare herausstaken, hingen dem alten Mann übers dunkle Gesicht. Er öffnete die Augen, die rot und verklebt waren. Misstrauisch starrte er Eistaucher an; anscheinend fragte er sich noch immer, was ihm auf seiner Wanderschaft widerfahren war. Eistaucher entschied, dem Alten niemals davon zu erzählen. Seine Wanderung gehörte ihm allein. Erst jetzt verstand Eistaucher eines von Heides Sprichwörtern: Niemand anders kann dein Leben für dich leben. Er spürte die Einsamkeit in diesen Worten, die Verlassenheit. Eine weitere Lektion seiner Wanderschaft.

Dorn stieß ein Knurren aus, als sähe er Eistaucher an, dass dieser etwas verschwieg, und missbillige es. Dann schnaubte er wie ein Nashorn und kroch durch das Lager zur Sonnenaufgangsseite, wo Heide ihr Nest hatte. All ihre Sachen waren um sie herum auf Holzborden verstaut, die einen hübschen kleinen Windschutz bildeten. Dort drin befand sie sich jetzt, und als sie Dorn sah, erhob sie sich im Eingang, um ihm den Weg zu versperren. Dorn griff zwischen ihre Beine nach ihrem Wasserkürbis, aber sie trat ihm gegen den Unterarm.

— Ich spreche nicht mit Unaussprechlichen, sagte sie, — aber jeder weiß, dass man sich von meinem Nest fernhalten sollte.

— Ich möchte nur etwas Wasser, jammerte er.

— Niemand rührt meine Sachen an. Man hält sich von meinem Nest fern. Ich habe alles mit Gift bestäubt, von dem man krank wird. Jeder weiß das.

Dorn blieb geschlagen liegen. — Eistaucher, sagte er. — Hol mir bitte einen Eimer Wasser. Du hörst ja, was Heide sagt.

— Hol ihn dir selbst, sagte Eistaucher. — Ich bin nicht mehr dein Lehrling.

— Du bist gerade erst mein Lehrling geworden, hast du das nicht mitbekommen? Tu, was ich dir sage, und werd nicht unverschämt. Er warf Eistaucher einen herrischen Blick aus seinen roten Augen zu. — Das ist es, was deine Wanderschaft dich hätte lehren sollen.

Eistaucher kramte in einer Netztasche nach seinen richtigen Kleidern, die Heide für ihn aufbewahrt hatte. — Sie hat mich gelehrt, dass ich nicht dein Lehrling bin.

Aber in Wirklichkeit war er natürlich genau das. Es sei denn, er gab den Weg des Schamanen endgültig auf, und dann würde er wahrscheinlich auch das Rudel verlassen müssen. Dorns höhnischer, rotäugiger Blick machte ihm das nur allzu deutlich.

Eistaucher zog sich an und stapfte durchs Lager, um Arbeiten für den alten Zauberer zu erledigen. Er fühlte sich, als hätte er sich in einer Schlinge verfangen, obwohl er gewarnt gewesen war. Er konnte förmlich zusehen, wie er in die Falle tappte, und ihm wurde ganz schlecht davon. Manchmal war der Morgen nach einer großen Nacht so, ein Schlachtfest, auf das die Raben schissen, Sonnenlicht, das einem in die Augen stach, das Lager voll schmutziger Asche, die Menschen widerwärtig. An einem solchen Morgen verschwand man am besten schnellstens aus dem Lager, ging hinunter zum Fluss und sprang ins Wasser.

Also tat Eistaucher genau das. Die einzige eisfreie Stelle war über Nacht zugefroren, aber die dünne, durchsichtige Schicht ließ sich leicht aufbrechen. Welch ein Genuss es war, sich ins sandige, seichte Wasser gleiten zu lassen, sich abzureiben, bis das eiskalte schwarze Nass ihn frösteln ließ, und dabei die ganze Zeit zu wissen, dass das Lagerfeuer ihn wieder aufwärmen würde und dass seine Kleider gleich am Ufer lagen. Ah, welch ein Genuss, zu Hause zu sein!

Abgesehen von den Leuten. Obwohl er sich am vorangegangenen Abend wirklich sehr darüber gefreut hatte, sie zu sehen. Leute sind eher Wölfe als Vielfraße, Leute sind eher Löwen als Leoparden, weil sie in Rudeln unterwegs sind. All ihre Gesichter im Flammenschein zu sehen: Er durfte nicht vergessen, wie sich das anfühlte, wie intensiv und tröstlich dieses Gefühl war. Warum war es so schnell wieder verflogen? Es gab so viel, was er von seiner Wanderschaft nicht vergessen durfte. Man würde ihn auffordern, den Rest zu erzählen, was er nicht tun würde; doch erinnern musste er sich. Seine Wanderschaft gehörte ihm, sie war sein Besitz. Und sie hatte ihn einiges gelehrt. Zumindest, wenn er seine Lektionen nicht vergaß. Schon jetzt kam sie ihm vor wie ein lange zurückliegender Traum.

Er humpelte den Hang des Gewundenen Bergs hinauf zu der flachen Stelle, von der aus ein Sims bis zum Schwanz des Steinbisons verlief. Es war ein guter Aussichtspunkt, von dem aus man nicht nur die Große Schlucht in beide Richtungen überblicken konnte, sondern auch die Gewundene Au bis zum grauen Höhenzug dahinter. Dort unten, unterhalb einer kleinen Balme, schmiegte sich ihr Lager an den Fels.

Von hier sah es klein wie ein Kinderspielzeug aus. Das Rudelhaus war ein ordentliches rundes Ding aus Fichtenstämmen und Tierhäuten, mit einem Loch oben im Dach, aus dem Rauch aufstieg. Noch immer kamen Leute herausgetaumelt, benommen vom Tageslicht oder vielmehr von der vorangegangenen Nacht. Im Eingang des Frauenhauses saßen wie immer Gams und Blauhäher. Eistauchers Freunde Falke und Moos schliefen noch zwischen ihren Fellen, auf der Rampe unter der Balme. Da waren Dorn und Heide, und am anderen Ende des Lagers Schiefer und Steinbock, die Holz auf das große Lagerfeuer legten. Eistaucher war mit allen dort unten so vertraut, dass er sie auf jede Entfernung, selbst wenn sie kaum mehr als kleine Punkte waren, erkennen konnte. Und er konnte auch sehen, was sie wahrscheinlich gerade taten und was sie sagen würden, wenn man sie ansprach. Es war zum Schreien.

Heide hielt ihr Blasrohr auf Dorn gerichtet. Ihre Pfeile waren in Gift getunkt, das einen innerhalb weniger Herzschläge töten konnte. Dorn hatte die Hände erhoben, beschimpfte sie aber offenbar wütend. Seine Worte konnten ebenso giftig sein wie ihre Pfeile. Bei den großen Festen hatte er schon Leute zu Tode geflucht.

Eistaucher sah zu ihnen hinab, als beobachtete er ein fremdes Rudel. Rauch stieg auf, und die Leute saßen futternd in der Morgenkälte. Während er auf Wanderschaft gewesen war, hatte er sich nach Hause zurückgewünscht, und jetzt wollte er wieder auf Wanderschaft sein. Aber natürlich, hätte Heide zu ihm gesagt, wenn er ihr davon erzählt hätte. Man will immer nur das, was man nicht hat. Bei Dingen, die man hat, vergisst man, dass man sie will. Darin liegt unsere Dummheit.

Das Lager war aufgebaut wie fast alle Balmen-Lager, die Eistaucher bisher gesehen hatte. Allerdings gab es oft sogar noch bessere Felsüberhänge als den ihren. Viele befanden sich stromauf- und abwärts an den Schluchtwänden der Urdecha, andere an Flussläufen im Westen und Süden. Die Felswände, vor denen diese Lager errichtet waren, waren normalerweise bemalt, so auch bei ihnen. Vom Steinbison aus gesehen waren die Malereien winzig, ein Gewirr roter und schwarzer Punkte. Eistaucher konnte gerade so das lange Band gemalter Wölfe bei der Jagd erkennen, etwa vier Dutzend, die einander im Lauf Richtung Lager überlappten. Sie waren das Wolfsrudel. In diesem Frühjahr waren sie zwei Dutzend und zwei.

Schiefer stand am Feuer und erzählte Steinbock etwas. Schiefer war breitschultrig und hatte einen mächtigen Brustkorb. Er war nicht besonders groß, aber massig, und obwohl sein Körper die Form eines Flusskiesels hatte, war er schnell auf den Beinen. Ein sehr kluger Jäger und sehr zielsicher mit dem Wurfspieß. Er hatte ein sanftes, freundliches Gesicht, begegnete allen Angehörigen des Rudels mit Aufmerksamkeit und war umgänglich. Oft scherzte er, aber im Herzen war er sehr ernst, weil er sich zutiefst der Aufgabe verpflichtet fühlte, für genug Nahrung zu sorgen, damit sie Winter und Frühling überstanden. Das verstand er darunter, ein Anführer zu sein. Normalerweise war das etwas, worum sich die Frauen kümmerten, doch er half ihnen bei ihrer Arbeit und machte Vorschläge, wer was übernehmen sollte. Jeden Sommer, wenn die Vögel zurückkehrten und das Rudel nicht verhungert war, stimmte ihn das für ein Weilchen fröhlich; aber ab der Mittsommernacht begann er wieder damit, sich abzurackern.

Im Moment waren die Vögel noch nicht zurückgekehrt. Ihre Nahrungsvorräte gingen zur Neige, und Schiefer redete heftig auf Steinbock ein. Er sprach immer vom Essen: Mit Donner und den Frauen redete er über das Kochen und Angeln, mit den Männern über das Jagen und Fallenstellen. Er hatte ihre Vorratsgruben eigenhändig gegraben und kleidete sie immer wieder neu aus. Er sprach mit Angehörigen anderer Rudel, um in Erfahrung zu bringen, was sie wussten. Er und Dorn hatten sich ein Zählsystem ausgedacht, das so ähnlich wie Dorns Jahresstöcke funktionierte, mit sauberen Treibholzstücken, in die sie Kerben für ihre Beutel mit Tierfett und Nüssen, ihre getrockneten Lachse und ihre geräucherten Rentiersteaks machten. Alles, was sie an Nahrung für die kalten Monate ansammelten, wurde eingelagert und mit Kerben festgehalten. Von den Markierungen des letzten Winters und davon ausgehend, wie gesund die Leute im Sommer gewesen waren, wie viel Fett sie angesetzt hatten, wusste er, wie viel Essen jeder einzelne Angehörige des Rudels brauchen würde. Er wusste besser als man selbst, wie hungrig man sein würde.

Das Komplizierte an Schiefer war, dass er mit Donner verheiratet war, die gerade beim Frauenhaus saß. Zusammen mit ihrer Schwester Blauhäher war sie die oberste Frau im Rudel und trug ebenso viel wie Schiefer dazu bei, alles in Gang zu halten. Und Donner war ziemlich raubeinig. Sie und Schiefer waren zusammen im Wolfsrudel aufgewachsen und hatten jung geheiratet, was angeblich alles an ihnen erklärte. Allerdings war Schiefer gelassen und liebenswürdig, während Donner so aufbrausend und herrisch sein konnte, dass es hieß, ihre Mutter habe während der Schwangerschaft Otterfleisch gegessen. Ihre Schwester Blauhäher war sogar noch schlimmer, und die beiden standen einander nahe. Im Scherz erzählte man sich, dass Schiefer zwei Frauen geheiratet habe, die beide gemeiner seien als er. Wie konnte er das Rudel anführen, wenn er nicht mal im Ehebett das Sagen hatte? Aber irgendwie wurde alles Nötige erledigt. Letztendlich wollte das Rudel gar kein richtiges Oberhaupt, drückte Schiefer mit seinem Verhalten aus. So war es besser für sie alle. Nur bei der Nahrung lagen die Dinge anders. Wenn es um Nahrung ging, war Schiefer ein unverrückbarer Fels. Diesen Bereich überließen ihm Donner und Blauhäher, weil sie einen Streit vermeiden wollten, bei dem sie den Kürzeren gezogen hätten. Und so widmete er seine Tage ganz seinen vielfältigen Aufgaben. Er bat um Hilfe, wenn er welche brauchte, und die Leute halfen ihm, wenn er sie darum bat. Im Moment bat er wohl Steinbock um Hilfe, auch wenn er dabei erregter wirkte als sonst. Es hieß, dass er gut zu Eistauchers Vater gewesen war, als Tulik in das Rudel eingeheiratet hatte.

Eistaucher blickte auf die winzig kleinen Leute hinab, und ihm wurde bewusst, dass er sie selbst dann noch sah, wenn er die Augen schloss. Jeder kannte jeden. Die Erwachsenen waren verheiratet, die Kinder nicht, die jungen Leute waren irgendwo dazwischen und auf der Suche. Ihre Körper fingen an zu bluten oder zu spritzen, und die Älteren unterzogen sie ihren Initiationen. Es gab keinen Ausweg, kein Verstecken.

Der Hunger trieb ihn ins Lager zurück. Er war nicht glücklich.

4

Falke und Moos saßen in der Sonne und begradigten mit einem knöchernen Spitzenstrecker ihre Speerspitzen aus Stoßzahn. Falke lachte, als er die weiße Spitze in das Loch einführte, und machte Bewegungen wie mit einem Visel in einer Kolbi, rein und raus, rein und raus. Dann drehte er behutsam den Knochengriff, um die Spitze zurechtzubiegen. Mammutstoßzahn war leicht und stabil, aber beim Trocknen verzog sich das Material, und auch, wenn es nass wurde. Spitzen zu begradigen war immer vergnüglich, weil es bedeutete, dass sie bald wieder auf Jagd gehen würden. Aber Eistaucher wurde zu sehr durch seine Verletzung behindert, um zu jagen.

Wenn man einen Mann kennt, kennt man sein Gesicht, nicht sein Herz. Hilf nie jemandem, der selbst niemandem hilft. Je mehr man gibt, desto mehr erhält man.

Eistaucher schienen diese Sprichwörter nahezulegen, dass er seine Zeit vor allem damit verbringen sollte, Frauen zu helfen. Heide sagte das oft: Such dir die richtige Frau und mach, was sie dir sagt. Eine Frau kocht für dich, und dann kannst du jagen. Und er wollte wirklich gerne mit seinen Freunden auf die Jagd gehen.

Heide sagte ihm, dass sich die Verletzung an seinem Bein dadurch nur noch verschlimmern würde. — Echte Freunde würden dich nicht gehen lassen, sagte sie. Sie konnte die Männer des Rudels nicht leiden. Manchmal konnte Eistaucher die Worte in ihrem Gebrabbel verstehen, auch wenn er ihren Sinn nicht immer begriff: — Ein Haufen besoffener alter Rumtreiber, ihr Schamanen, und ihr Jäger seid nichts als Eberstecher und Wichser; mit euren riesig großen aufgeblasenen Hanswurstereien und Arschereien, Dudeleien und Palavereien, wie ihr herumlauft und euch für Männer haltet, schafft einfach Fleisch ran! Schafft Nüsse ran! Schafft Feuerholz ran! Tut eure Arbeit! Geht mir fort mit euren Lügen, den Prahlereien und Fantastereien, der ganzen so oberoffensichtlichen beschissenen Dummheit! Macht eure Arbeit und gebt hinterher damit an, wenn es sein muss, sonst scheiße ich nämlich auf euer großes Gerede, weil es nur ein Haufen Schleim vom Eimerboden ist!

Die Leute vom Wolfspack hörten Heide schon lange nicht mehr zu, und das wusste sie ganz genau. Manchmal schrie sie sie an, nur um mit anzusehen, wie sie sich umdrehten und weggingen. Aber Eistaucher musste bleiben. Nach dem Tod seiner Eltern hatten Heide und Dorn ihn großgezogen, und jetzt war er zwischen beiden gefangen. — All diese Witwen und Waisen, ich bin es so leid!, sagte Heide zu ihm, wenn er sich darüber beklagte. — Hört auf, euch umbringen zu lassen, dann passiert so etwas nicht mehr! Heide die Hebamme, Heide die Kräuterfrau, das Großmaul, die Hexe, die Vettel, die garstige Alte, die tödliche Giftmischerin. Eine geschäftige und herrische alte Frau, klein und gebeugt und stolz auf die drei Zähne in ihrem Mund, von denen zwei aufeinanderbissen. Ihr Tier war die Spinne, und angeblich verwandelte sie sich manchmal in eine.

Jetzt schickte sie ihn mit einem Wink fort, während sie in die Schierlingstanne über ihrem Nest hinaufblickte. Die Katze, die, angelockt von Heides Gaben, um ihr Lager herumstreunte, kletterte über ihr in den Ästen und knabberte anmutig an den Frühlingsnadeln und den jungen Zweigen. Das kam ihm gar nicht katzenhaft vor.

— Verschwinde von hier, ich muss mit Schiefer reden.

5

Er konnte nicht auf die Jagd gehen. Den ganzen Tag und auch die darauffolgenden Tage hatte er zunehmend das Gefühl eines drohenden Verhängnisses, und der Himmel schien mit seinem ganzen Gewicht auf ihm zu lasten.

Wenn er alle Angehörigen des Rudels tötete, konnte er alleine losziehen, sich für die Nacht weit oben einen Schlafplatz suchen und immer ein Feuer haben und alles, was er sonst noch brauchte, eine Höhle zum Malen, neue Leute, wenn er welche wollte; er konnte kommen und gehen, bei Festen vorbeischauen, und er wäre keinem Rudel oder irgendwem sonst verpflichtet. Ein Reisender, ein Waldmann, ein grüner Mann. Er konnte es nachts vor der Morgendämmerung tun, bevor Heide erwachte; sie würde er zuerst töten müssen, weil nur sie es ahnen würde, weil sie am schwersten zu überraschen sein würde, er würde sie im Schlaf erwischen müssen, ein Schlag mit dem Hackstein auf den Hinterkopf oder auf die Schläfe; dann zu denen, die immer als Erste aufwachten, dann zu den Tiefschläfern, den Langschläfern, die würden wirklich lange schlafen am nächsten Morgen! Und bei Sonnenaufgang, wenn alle tot waren, konnte er eine Wanderschaft beginnen, die niemals enden würde. Er konnte jeden Monat ein ganzes Leben leben.

6

Besser Glück haben als gut sein. Diese Erfahrung hatte die Katze schon oft gemacht. Ein knackendes Geräusch klang in ihrem Kopf wie Donnerhall, und sie war weit oben in dem Baum, der sich über das Lager neigte, ehe sie auch nur begriff, dass es von einem der Menschen stammte, der auf einen trockenen Zweig getreten war. Lieber vorsichtig sein, als das Nachsehen zu haben. Die Menschen töteten jeden, und anschließend aßen sie ihre Beute nicht nur, sondern zogen ihr das Fell ab und rissen ihr die Zähne aus, um die schaurigen Trophäen mit sich herumzutragen. Das war einer der Gründe dafür, dass Menschen so entsetzlich waren, neben ihrem Geruch und ihrer Fähigkeit, auf Entfernung zu töten, indem sie Steine und Stöcke warfen. Dazu war kein anderes Tier in der Lage. Die Katze konnte keines der anderen Tiere leiden, nicht einmal ihre eigenen Artgenossen. Aber Katzen hielten gerne Abstand voneinander, sie besaßen zumindest dieses Grundmaß an Anstand. Mit Ausnahme der Löwen. Löwen benahmen sich, als wären sie Wölfe. Ganz schlecht konnte einem davon werden. Die größten Tiere jeder Art waren gesellig, was die Katze rätselhaft fand. All die kleineren Wölfe waren Einzelgänger: Füchse, Kojoten, Nerze, Wiesel. Das Gleiche galt für die kleineren Katzen. Aber die größten Vertreter beider Arten, Wölfe und Löwen, zogen in Gruppen umher. Natürlich war man zu mehreren sicherer. Also blieben sie beisammen und waren in Sicherheit. Und ihre Beute, die großen Herdentiere, blieben auch beisammen. Die Löwen hätten es besser wissen müssen.

Bären ließen ihre kleinen Geschwister in Ruhe, und Wölfe auch, aber große Katzen aßen kleine Katzen. Jeder, der eine kleine Katze erwischte, aß sie auch. Deshalb war sie so schreckhaft. Zuzusehen, wie die großen Katzen sich zu Rudeln zusammenrotteten, war ein bisschen widerlich, ein bisschen peinlich, und auch Furcht einflößend. Die Löwen sahen in jeder Hinsicht wie Katzen aus, und dann führten sie sich plötzlich wie Wölfe auf. Wie konnten sie nur so etwas tun?

Zu Beginn waren alle Tiere gleich gewesen, und dann waren Dinge geschehen, und das Gleiche war zu Sonne und Mond, zu Nordlichtern und Gewittern und all den verschiedenen Tieren geworden, die innerlich immer noch gleich waren und die Dinge in gleicher Weise sahen. Aber manche töteten und manche wurden getötet, und viele taten beides, wie Katze. Am besten war man vorsichtig. Wenn man ein Gewitter anfauchte, ging es vielleicht anderswohin.

Erneut das ohrenbetäubende Krachen eines Zweigs. Der Katze sträubte sich das Fell, und ihr Schwanz wurde buschig vor Unbehagen. Unter dem Baum befanden sich jetzt zwei weitere Menschen. Es handelte sich um die beiden dominanten Männchen aus dem Rudel der Kräuterfrau, beide tödlich mit Stein oder Stock. Katze spähte an dem Ast vorbei, um sie zu beobachten, und sah, dass die beiden Menschen mit einem weiteren Menschenpaar redeten. Es gehörte zu dem Rudel, in dem sie sich die kleinen Finger abschnitten und sie den Katzen gaben. Natürlich mochte Katze diese Menschen lieber, aber sie hatten keine Kräuterfrau wie die von Katze, weshalb sie die meiste Zeit über bei der Frau blieb. Bei diesem Rudel gab es viele Lagermäuse, und die Reste, die die Alte für sie liegen ließ, waren interessant. Die Alte neckte Katze mit sonderbaren Geschenken.

Jetzt stritten die Männer und zeigten dabei in beide Richtungen die Schlucht entlang. Es ging um Reviere, und sie standen Brust an Brust, pumpten sich mächtig auf. In diesem Zustand würden sie Katze nie bemerken, also streckte sie den Kopf vor, um besser zu sehen. Vielleicht würden sie ja beim Kämpfen etwas fallen lassen, oder es würde etwas Essbares zurückbleiben, seien es nur ein paar Tropfen Blut oder Leichen.

Aber die Fingerschneider gaben nach. Sie wollten nicht kämpfen. Mit den Bewegungen ihrer Hände bedeuteten sie, dass ihr Revier weit weg unter der sinkenden Sonne lag. Die Führer des Rudels der Kräuterfrau waren damit zufrieden, und so gingen die Fingerschneider talaufwärts davon.

Dann stritten die beiden zurückgebliebenen Männer miteinander. Etwas an dem Treffen hatte Unfrieden zwischen ihnen gestiftet. Katze folgte ihnen auf dem Weg zurück zu ihrem Feuer, nervös von Ast zu Ast springend. Immer schön vorsichtig. Neugier war schon mancher Katze zum Verhängnis geworden. Trotzdem war sie neugierig genug, um aus der Entfernung zuzusehen, wie die Männer das Lager betraten und zur Frau des dominanten Männchens gingen. Die große Frau lauschte ihrem Bericht und bedachte dabei beide mit finsteren Blicken. Als sie fertig waren, schimpfte die Frau mit ihnen, und sie schlichen betreten davon.

7

Früher, als kleine Jungen, waren Eistaucher und Falke und Moos zusammen auf die Jagd gegangen und auf ein Rudel Löwen gestoßen, die ein gerade getötetes großes Pferd fraßen. Während die Jungen sie von einem Felsüberhang herab beobachtet hatten, war mit dem Westwind ein Schwarm Raben herangeflattert und hatte begonnen, im Sturzflug nicht nur auf die Löwen hinabzuscheißen, sondern vor allem auf den aufgerissenen und zerfetzten Pferdeleib — wie deutlich zu erkennen war, als die Löwen fauchend den Rückzug vor dem Scheißeregen antraten. Die Raben schissen und pinkelten weiter auf das tote Pferd, bis kaum noch mehr als ein unregelmäßiger Haufen unter dem geronnenen weißen Kot zu erkennen war. Beleidigt trotteten die Löwen davon. Anschließend landeten die Raben, um mit den Schnäbeln in der Sauerei herumzupicken und das Pferd selbst zu fressen.

Die Jungen beglückwünschten sich zu dieser großartigen Gelegenheit, und als die Löwen fort waren, rannten sie hinunter und vertrieben die Raben, und wenn die schwarzen Vögel zum Gegenangriff herabstießen, bewarfen sie sie mit Steinen. Für die Raben waren die Jungen gefährlicher als die Löwen, und nach einem kurzen Scharmützel, begleitet von zahlreichen Flüchen in beiden Sprachen, flogen die Raben mit schweren Flügelschlägen und unglücklich krächzend davon.

Die drei Jungen waren sehr zufrieden mit sich, und schnell hackten sie Teile des Pferds los und trugen die Hinterkeulen und den Kopf an den Fluss hinab, um sie zu säubern. Über eine Nachmittagsfaust verbrachten sie damit, die Pferdestücke im kalten Strom des oberen Ordech zu waschen und mit Sand abzureiben, bevor sie sie nach Hause trugen und den Leuten im Lager auf Falkes Drängen hin erzählten, dass sie die Pferdefrau selbst getötet hätten und nun ihr Fleisch brächten. Dorn nahm eine der Hinterkeulen, schnupperte daran, knabberte an ihr wie Heides Katze und schlug dann Falke mit der Keule, weit ausholend wie mit einem Ast. Falke ging schreiend zu Boden, und dann versammelten sich alle, und Dorn hob die Keule auf und gab sie Heide. Heide biss hinein und verzog das Gesicht. — Wenn Raben auf ein Beutetier scheißen, verändert sich das Fleisch, erklärte sie den Jungen. — Das kann man nicht einfach abwaschen.

— Oh, sagte Falke.

Die drei Jungen mussten wohl ziemlich dumme Gesichter gemacht haben, denn plötzlich fing Dorn an, sie auszulachen, und dann lachten alle. Allerdings bekamen sie danach noch etliche Ohrfeigen.

8

Heute mischst du Farbe, krächzte Dorn eines Morgens.

— Ich mische dauernd Farbe.

— Dann mach meinen Platz sauber.

— Nein!, sagte Eistaucher mit finsterer Miene.

Dorns Grinsen erriet, dass er Eistaucher hatte provozieren wollen. — Dann misch Farbe. Ich zeige dir, was man machen muss, damit sie im Regen nicht verläuft.

Genau das hatte Eistaucher wissen wollen, weshalb er Dorn misstrauisch anstarrte. Dorn lachte ihn aus.

Ohne zu lächeln, beobachtete Heide die beiden.

— Wie geht es deinem Bein?, fragte sie.

Eistaucher zuckte mit den Schultern. — In Ordnung.

In Wirklichkeit machte er sich deshalb Sorgen. Nächsten Monat würden sie sich nach Norden zu den Rentieren aufmachen, und dann würde er beide Beine brauchen.

Jetzt folgte er dem Alten humpelnd zu seinem Nest, nahm seinen Lederbeutel mit Erdblut und Holzkohle und folgte dem Schamanen dann zum bemalten Teil der Felswand.

Dorn stand in der Morgensonne und betrachtete mit zusammengekniffenen Augen die Felswand, die immer wieder übermalt worden war. Die vielen erhobenen Schwänze und geöffneten Kolbis würdigte er keines Blickes, nicht einmal eine ziemlich gelungene Reihe, die einen Mann mit einem Visel zeigte, der so groß war, dass er die Spitze hinunterbiegen musste, um an ihr zu lutschen. Stattdessen betrachtete er eine Gruppe von zehn rostbraunen Höhlenbären. Die Bären gefielen ihm: Sie hatten sich zu einem Rudel zusammengerottet, etwas, das sie auf Erden niemals taten. Einige von ihnen standen, einige schlurften dahin, und einige hielten die unglaublichen Nasen in den Wind. Jeder Bär verriet seine Stimmung oder seine Aufgabe durch eine geschickt dargestellte Augen- oder Ohrenbewegung oder durch Falten auf den schrägen Stirnen. Einige der Bären bestanden nur aus drei Linien, aber die meisten waren ausgemalt, und Holzkohle war über die rote Farbe gerieben, um genau den Rostton zu erzeugen, den die Bären in ihrem Spätsommerkleid hatten. Und sie waren alle fett. Also war es auf dem Bild Herbst; und nach ihren Gesichtern zu urteilen, hatte etwas unten am Fluss ihre Aufmerksamkeit erregt. Oft waren die Unebenheiten der Felswand ein Teil der Darstellung, waren zu Schultern oder Rümpfen der Tiere geworden. Es war, als hätte der Maler, wer auch immer es gewesen war, die Bären aus der Felswand heraustreten sehen und sie anschließend entsprechend gemalt. Die Malereien blätterten bereits ab, und Dorn sprach schon seit einer Weile davon, sie auszubessern. Jetzt zeigte er auf den hintersten Bären.

— Den hast du an deinem ersten Tag nachgemalt!, kam Eistaucher ihm zuvor.

Dorn warf einen Kiesel nach ihm. — Sei still. Ich bin immer noch dein Meister. Wenn ich dich schlage, musst du dir das gefallen lassen. Obwohl du inzwischen stark genug bist, mich zu schlagen. Auch wenn dich das wütend macht, musst du es dir gefallen lassen, wenn du Teil des Rudels bleiben willst. Also halt den Mund, damit ich dir etwas Neues zeigen kann.

— Ausnahmsweise, sagte Eistaucher und wich einem weiteren Kiesel aus.

Während Dorn ein paar Brocken Erdblut und eine Reihe Hacksteine und Stichel hervorzog, setzte Eistaucher sich hin und sparte sich weitere giftige Bemerkungen. Er hatte begierig auf diesen Moment gewartet, und nun endlich zeigte der Alte sich bereit, seinen Wissensdurst zu stillen.

Erdblut war bröselig, wie Sand, der sich mit Blut vollgesogen hatte und anschließend getrocknet und zu Stein geworden war. Von der obersten Schicht konnte man kleine Flocken mit der Kralle abkratzen, doch darunter wurde es sehr viel härter, sodass man einen Feuersteinstichel brauchte. Mit der Spitze des Stichels kratzte man Flocken und Körnchen ab, und wenn man einen ordentlichen Haufen davon beisammenhatte, dann zermahlte man sie mit einem Feuersteinstößel in einem Granitmörser oder auf einem Schieferstein. Also kratzte Eistaucher mit einem der größeren Stichel drauflos und bohrte die Spitze mal hier und mal dort in den roten Stein, immer an die weichsten Stellen, wo die Erdblutklumpen am dunkelsten waren, wie Schorf im sandigen Stein, der zwar ebenfalls rot war, aber schwarze und braune Beimengungen hatte. Am leichtesten splitterte der Stein dort, wo Schorf und sandige Stellen aufeinandertrafen. Die abgebrochenen Schorfstücke waren weicher als die sandigen Brocken, wie sehr fester Schlamm.

— Das braucht man vor allem, sagte Dorn und deutete dabei auf das feinere Pulver von den schorfigen Stellen. — Durch die sandigen Teile wird die Farbe zu körnig. Davon darf ein wenig hinein, aber nicht zu viel. Die Farbe muss genau die richtige Dicke haben, um sie auf eine Wand aufzutragen, wie eine dicke Suppe oder eine sehr dünne Paste. Sie muss dünn genug sein, um sie zu verstreichen, aber nicht so dünn, dass sie verläuft.

— Man tut also Wasser in das Pulver.

— Natürlich. Sei nicht so vorlaut, Junge. Außerdem tut man etwas hinein, das Wasser und Pulver miteinander verbindet, und das ist es, was du nicht weißt. Beides muss sich verbinden, ohne zu klumpen. Es gibt eine Reihe von Bindemitteln, mit denen das geht, manche für Körperbemalung, manche für Wandfarbe. Heute brauchen wir ein bisschen Spucke und etwas fettes Mark von einem Reh, das ich extra mitgebracht habe.

Er zog einen Gänselederbeutel aus seiner Gürteltasche, knotete ihn sorgfältig auf und schüttete etwas von dem halb flüssigen Fett in eine Holzschale.

Eistaucher starrte den Beutel an: Von Bindemitteln hatte er nichts gewusst.

— Es ist besser, wenn das Pulver noch feiner ist als das, was du da hast. Du hast das nicht richtig gut gemacht, aber wir benutzen es trotzdem, damit du es selbst siehst.

Er nahm Eistauchers Mahlschiefer mit dem Erdblutpulver darauf und kippte es in die Schüssel. — Rühr das um und warte dann zwanzig Herzschläge, bis die größten Sandkörner auf den Boden der Schüssel gesunken sind. Dann schüttest du die Farbe in eine andere Schüssel, aber ohne den Bodensatz. So.

Er goss die Farbe um. — Siehst du, das körnigste Rot bleibt in der ersten Schüssel. Jetzt warten wir, bis sich ein feineres Pulver am Boden der zweiten Schüssel abgesetzt hat. Das wird ein bisschen dauern. Der größte Teil des Rots schwimmt ewig in der Flüssigkeit. Wenn es so weit ist, gießt du das Wasser vorsichtig ab. Später, wenn der Bodensatz in den beiden Schüsseln trocknet, hast du zwei Fladen Erdblut, einer aus grobem und der andere aus feinem Pulver. Die getrockneten Fladen kannst du in Streifen schneiden und mit ihnen malen wie mit einem Holzkohlestock, nur in Rot. Oder du kannst einen getrockneten Fladen ins Wasser legen, ihn zerstoßen und dabei mehr Mark hinzugeben, oder Spucke oder Pisse oder Hautleim oder Spritzmilch. Dann kannst du wieder damit malen. Oder du kannst einen Fladen zerkrümeln und mit Bienenwachs mischen. So macht man die Kreiden, die du schon hier und da gesehen hast.

Eistaucher nickte. — Heide macht guten Leim. Er hatte sie oft dabei beobachtet, wie sie die letzten Reste geschlachteter Tiere in einem Eimer zu weißem Schleim einkochte, wobei sie Knorpel, Fett, Sehnen, Bänder und kleine Knochen- und Muskelstücke verwendete und zermahlene Pflanzen, die nur sie kannte.

Dorn nickte. — Etwas, das sie in ihren Leim tut, lässt ihn besonders hart werden. Bei meinen Felsenbildern benutze ich immer ein paar Tropfen davon. Dann zerlaufen sie später nicht im Regen. Hier, rühr das Fett ein und zermahle dann noch mehr von dem Stein.

Den Erdblutklumpen mit dem Stichel bearbeiten. Kratz-kratz-kratz. Warme Morgenluft. Das gefiel ihm: Die Röte des Steins, seine Mürbheit. Er hielt sich den Klumpen unter die Nase: Es roch sogar nach Blut. Die Sonne heiß in seinem Nacken.

Der Morgen verging, während er den Stein zermahlte. Es war so angenehm, in der Sonne zu sitzen und ihre Wärme aufzusaugen. Er achtete darauf, Kreuch und Spucke in die Sonne zu halten, denn das machte sie glücklich. So schön war es, dass er einschlief und dabei im Traum weiter Erdblut abkratzte, genau wie er es im Wachzustand getan hatte, sodass er kaum noch wusste, in welcher Welt er sich gerade befand, und es auch nicht wissen musste. Gepriesen sei die Sonnenwärme!

Während er arbeitete, ging Dorn die ganze Zeit umher und murmelte vor sich hin. Er und Heide passten in dieser Beziehung bestens zueinander. Sie waren wie ein Paar in einer schlechten Ehe, und manche Leute behaupteten sogar, dass sie eine schlechte Ehe miteinander gehabt und sich getrennt hatten, bevor irgendjemand sonst aus dem Rudel auch nur auf der Welt gewesen war. Ob das nun stimmte oder nicht, Eistaucher bekam ihre ständigen Streitereien aus nächster Nähe mit. Tatsächlich spielte er die beiden sogar gegeneinander aus, um sich zwischen den beiden selbst ein bisschen Raum zu verschaffen.

Beide redeten ununterbrochen. Wenn Dorn einmal innehielt, dann normalerweise nur, weil er eingeschlafen war. An diesem Morgen erzählte er einmal mehr die Geschichte des langen Winters, bei der es sich um eine seiner Lieblingsgeschichten handelte. Die schlimmen Geschichten mochte er immer am liebsten, aber nur, wenn man sie zur rechten Zeit erzählte. Eistaucher hörte ihm beim Kratzen zu oder ließ sich eher von Dorns Worten umspülen wie von dem Keckern der Eichhörnchen in den Bäumen.

Dorns leise Stimme klang wie der heisere Ruf eines Raben:

Damals, in den alten Zeiten, lebten wir wie Vögel,

Zu jeder Jahreszeit, bei Regen, Schnee oder Sonnenschein

Pickten wir und zitterten und taten, was wir konnten.

Doch heißt es, dass einst, vor langer Zeit,

Als wir so tief im Süden lebten,

Dass die Sonne am nördlichen Himmel stand,

Kein Frühling auf den Winter folgte.

Auch der Sommer kam nicht in jenem Jahr,

Die Tage wurden zwar länger, doch blieb es schrecklich kalt,

Kalt stürmte es Frühling, Sommer und Herbst,

Und kalt blieb es bis zum folgenden Winter,

Sodass niemand mehr Essen fand.

Das Gleiche geschah auch im nächsten Jahr,

Auch im Jahr darauf kam der Sommer nicht wieder,

Nichts als Winter, ZEHN LANGE JAHRE LANG.

Und gäbe es nicht die große, salzige See,

Dann wären alle überall gestorben und tot,

Und nicht ein Mensch wäre geblieben auf der Mutter Erde.

Das grimmige Krächzen, mit dem Dorn diese Sätze sprach, war denkwürdig. Diesen Teil sagte er immer auf die gleiche Art auf, hoch aufgerichtet und mit dem Gesicht zur Sonne.

Anschließend ging er dann umher und zählte mit morbidem Vergnügen all die verschiedenen Hungertode auf, die die armen sommerlosen Leute gestorben waren, ihr Leid und ihre Schmerzen und all die seltsamen Dinge, die sie hatten essen müssen, um zu überleben. Aufzählungen liebte Dorn seit jeher, mit ihren Dreimaligkeiten, mit all den Worten, bei denen er die Lippen spitzte, als spuckte er Kerne aus, und dabei jede einzelne sichtlich genoss. Auf eben diese Weise zählte er in den Hungergeschichten allerlei Nahrung auf, und das natürlich immer genau in dem Monat, in dem sie selbst bei ihren letzten Beuteln mit Nüssen und Fett angelangt waren und jeden Tag loszogen, um nach leeren Fallen zu sehen und Schneeschuhhasen und Moorhühner zu jagen, und den südlichen Himmel mit Blicken absuchten, in der Hoffnung, die Enten heimkehren zu sehen. Wenn die Enten heimkehrten, waren die Hungermonate vorbei, aber normalerweise war es erst gegen Ende des fünften Monats, manchmal sogar erst im sechsten so weit. Bis dahin würden sie sich ihr Essen in kleinen Häppchen einteilen müssen und ein beständiges Zwacken in den Eingeweiden verspüren.

— Es macht dir Spaß, uns wehzutun.

— Ja! Genau darum geht es, wenn man Schamane ist! Man erzählt die Hungergeschichten, wenn die Leute hungrig sind. Das ist die Zeit, in der man sie wirklich fest im Griff hat. Nie ist es leichter, sie zum Weinen zu bringen, als dann, wenn sie ohnehin schon am Ende ihrer Kräfte sind. Das habe ich schon oft beobachtet. Und jetzt zähl mir auf, was sie während des zehnjährigen Winters zu essen hatten.

Eistaucher konnte sich immer nur dann an die Gedichte erinnern, wenn er sie von Dorn hörte, wenn er sie wiedererkannte, doch aus sich heraus konnte er sie nie richtig aufsagen. Er verlieh seinem Unmut also mit einem schweren Seufzer Ausdruck und sagte:

Wir aßen, was nach zehn Jahren Winter noch lebte,

Das waren Wellhörner und Muscheln und Meeresschnecken,

Das waren Seetang und Krebse und Napfschnecken und Aale.

Wir aßen Fische, wenn wir welche erwischten,

Und wenn nicht, aßen wir Scheiße.

Dorn nickte. In Gedanken war er bereits anderswo, was gut war, weil Eistauchers Aufzählung so kümmerlich kurz im Verhältnis zu denen von Dorn war. Eistaucher kratzte weiter Erdblut ab und streckte sich in der Sonne. Er spürte, wie das Licht in sein Bein eindrang und Kreuch beglückte.

Er erkannte, dass das, was er abkratzte, sein Leben war, sein Schicksal. Die Welt würde ihn genauso abwetzen, wie er dieses Stück Stein abwetzte. Es würde so weitergehen, bis Dorn starb, und dann würde der Haufen Körnchen namens Eistaucher ihn ersetzen und all das tun, was Dorn getan hatte, wozu auch gehörte, dass er selbst einen Lehrling abwetzen würde. Und dann würde er selbst sterben, und der Lehrling würde mit seinem Lehrling genauso verfahren, und so weiter und weiter und weiter und weiter und weiter und weiter und weiter und weiter und weiter und weiter und weiter, im Schein der Sonne würden sich Erdblut und ihr eigenes Blut vermischen.

Verglichen mit seiner Erinnerung an die Wanderschaft fühlte sich diese Vorstellung an, als wäre Kreuch in seine Brust hochgeklettert und würde sich nun dort rekeln. Welcher Schmerz ihm plötzlich die Kehle zuschnürte! Wie war das möglich? In den vierzehn Tagen seiner Wanderschaft hatten sich manchmal ganze Monate und sogar Jahre seines Lebens in jedem einzelnen Herzschlag zusammengeballt! So sollte das Leben doch wohl immer sein. Sicher war es doch besser, zweimal im Monat auf Wanderschaft zu gehen und dadurch für Dutzende von Dutzenden von Dutzenden Jahren zu leben.

Sitz in der Sonne und zermahle den Stein zu Pulver.

Ruhelose Nächte am Feuer und in seinem Bett, in denen er an seine Wanderschaft dachte und sich zu ihr zurücksehnte. Der entsetzte Blick der Ricke, die er getötet hatte, im Augenblick ihres Todes, trat ihm vor Augen. Sollte man nicht eigentlich jeden einzelnen Augenblick in einer solchen Angst leben, beständig in der bangen Hoffnung auf ein Weiterleben zittern? Wie er die Ricke geliebt hatte. Eistaucher liebte den Anblick von Rehen fast so sehr wie den von Pferden. Er trug die Zähne der getöteten Ricke noch immer um den Hals, und ihr Fell hatte er zwischen seinen Bettpelzen, obwohl es nicht richtig getrocknet war.

All die jungen Männer hatten Halsketten aus den Zähnen der von ihnen getöteten Tiere. Heide meinte, dass sie das seit jeher immer so lange taten, bis sich jemandem einer dieser Zähne bei einem Unfall ins Gesicht oder in den Hals bohrte. Dann verschwanden die Ketten wieder. Und tatsächlich trugen die älteren Männer sie nicht.

Eines Morgens erwachte Eistaucher aus einem Traum, in dem er bei seiner Ricke in ihrem Unterschlupf geschlafen hatte. Brust und Bauch hatte er gegen ihren Rücken gepresst, und sein harter Visel drückte gegen ihr Fell; den Arm hatte er um ihren Bauch gelegt. Sehr langsam und behutsam hatte er seinen Daumen in ihre etwas feuchte und glitschige Kolbi geschoben und ihn vorsichtig bewegt, sodass sie nicht aufwachte. Er hätte ewig so liegen bleiben können, sie beide zusammen, er bei ihr, aber weil sein Visel so fest gegen ihren Rumpf drückte, versuchte er schließlich doch, in sie hineinzustoßen; doch als er seinen Daumen herauszog, damit Platz für seinen Visel war, weckte er sie, und sie warf ihm einen Blick über die Schulter zu und sprang dann mit einer einzigen Zuckung ihres Körpers aus dem Unterschlupf hinaus. Erschreckt und ungläubig sah sie ihn aus ihren riesigen, weit auseinanderstehenden braunen Augen an und sagte: — Du verlangst zu viel, ehe sie davonhuschte, ein weißes Aufblitzen zwischen den Bäumen.

Als er wach war und an den Traum und daran zurückdachte, wie er ihren Körper an seinem gespürt hatte, bekam er ein schlechtes Gewissen. Er fragte sich, ob sie, wenn es ihm gelungen wäre, mit ihr zu schlafen, schwanger geworden wäre und einen Menschen mit Hirschkopf zur Welt gebracht hätte. Dorn hatte ihm mal ein Bild von einem solchen Mann an einer der Schamanenfelswände jenseits der Eiskappen gezeigt. Vielleicht war dort draußen im Westen ja etwas Ähnliches geschehen. Das Herz tat ihm weh von seiner Liebe zu der Ricke, die er getötet hatte.

Das Licht in der Stunde vor Sonnenaufgang. Er erwachte und sah, dass der Himmel nun grau war. Am östlichen Horizont hatte er sich zu einem dumpfen Rot verfärbt, mit einem gelben Streifen darüber. Als ihm klar wurde, dass es gleich Tag werden würde, schlief er mit diesem tröstlichen Gedanken prompt wieder ein. Die meisten Träume, an die er sich erinnerte, träumte er in solchem Dämmerschlaf. Doch auch die restliche Nacht über träumte er, was er daher wusste, dass er immer, wenn er aufwachte, in der Traumwelt gerade emsig beschäftigt gewesen war, sei es, dass er wunderbar erregenden Mädchen oder Katzen oder Pferden oder Ricken begegnet war, oder dass er verworrene Anstrengungen unternahm, nicht von Katzen oder Mädchen und manchmal sogar von Pferden oder Ricken gefressen zu werden.

Wenn Dorn ihn morgens weckte, dann für gewöhnlich mit der leisen Frage: — Was träumst du? Und wenn Eistaucher dann langsam aus der Traumwelt auftauchte, blickte er zurück und erzählte Dorn, was dort geschehen war. Das waren seine schönsten Momente mit dem Alten, der früh morgens entspannter war. Vor sich hin nickend saß er da, betrachtete Eistauchers Gesicht und fragte ihn weiter aus, offenkundig interessiert, egal wie unwichtig oder seltsam Eistauchers Träume sein mochten.

— Die Traumwelt ist anders, bemerkte Dorn immer, wenn Eistaucher zum Ende kam. — Sie ist voll von unseren Wünschen und Ängsten, aber uns selbst fehlt es in dieser Welt an Urteilsvermögen, weshalb so viele seltsame Dinge geschehen. Wenn möglich, versuche deine Träume zu träumen, ohne dir dabei etwas zu wünschen. Beobachte einfach. Aber wenn du im Traum die Gelegenheit zum Fliegen erhältst, fliege. Vor allem das solltest du wollen. Es hat keinen Sinn, in einem Traum Sex zu wollen, weil die Leute in einem Traum einen niemals wirklich berühren. Vielleicht kommst du, aber meistens nicht, und wenn doch, dann nur, weil du mit der Erde fickst. Das kannst du sonst auch jederzeit. In Träumen solltest du dich aufs Fliegen konzentrieren, weil du in dieser Welt nicht fliegen kannst, aber in der Traumwelt schon. Und wenn du in der Traumwelt fliegst, dann übst du damit für das Fliegen in der Geisterwelt. Die Geisterwelt und die Traumwelt sind nicht dasselbe, aber sie berühren einander im Himmel. Die Traumwelt ist in dieser Welt, die Geisterwelt ist außerhalb, aber fliegen kannst du in beiden. Und draußen jenseits des Himmels sind sie auch miteinander verbunden. Deshalb kann man zwischen ihnen hin- und herfliegen. Die Geisterwelt ist der Ort, an dem alle Welten einander begegnen, deshalb begeben wir Schamanen uns dorthin. Wenn man in der Geisterwelt ist, kann man sich in allen Welten zugleich aufhalten.

Eistaucher hörte diesem Vortrag meistens nickend zu, gedanklich noch in seine Träume verstrickt, oder er schlief einfach wieder ein. Aber Dorns Fragen halfen ihm dabei, sich an die Träume zu erinnern, und wenn er nachts aufwachte, konnte er oft ohne jede Verwirrung auf sie zurückblicken, und wenn er danach einschlief und sich dabei vornahm, den Faden seines Traums wieder aufzunehmen, gelang ihm das. Und wenn er flog, wusste er, dass das etwas Gutes war, und so versuchte er, mehr zu fliegen, es zu genießen, selbst in den Träumen, in denen er anscheinend um sein Leben flog, wie es oft vorkam.

9

Am Nachmittag nach dem Malen luden sie sich auf dem Weg zurück ins Lager die Arme voller Feuerholz vom Hang unter der Felswand. Heide hatte ein paar Mittagsnüsse für Eistaucher aufgehoben, und ihr winteralter Geschmack erinnerte ihn daran, dass der Sommer kurz bevorstand. Wenn sein Bein nicht bald heilte, war es zu spät.

Er folgte Moos und Salbei und humpelte am Flussufer entlang zum Strand unter dem Steinbison. Im seichten Wasser teilten sie sich auf, um Seggen für neue Körbe zu sammeln. Unten im Schlamm brach der weiße, weiche Stiel der Pflanzen mit einem knackenden Geräusch. Die Korbweberinnen brauchten weibliche Seggen; männliche schmissen sie einem vor die Füße.

Später setzten sie sich unter den großen Fels, der den Fluss überspannte, und verarbeiteten die Blätter, damit sie nicht so viel tragen mussten. Die Außenblätter entfernten sie, schälten dann die inneren ab und spalteten sie der Länge nach, indem sie mit einem Daumennagel durch die Mittellinie fuhren. Blätter, die nicht genau in der Mitte geteilt waren, mussten sie wegwerfen. Die halbierten Blätter pressten sie mit den Fingern zusammen, bis sie glatt und biegsam wurden. Dabei musste man aufpassen, damit man sich nicht an den scharfen Kanten in die Finger schnitt. Die verarbeiteten Blätter schnürten sie zu Bündeln von mehreren Dutzend zusammen und brachten sie den Weberinnen im Lager, die sie zum Trocknen und Färben ausbreiteten. Ihre Frauen woben sehr gute Körbe, die bei den Acht-Acht-Festen hoch geschätzt wurden. Mit ihrem Wissen über Färbemittel leistete Heide einen wichtigen Beitrag dazu.

Heides Geistertier war genau genommen nicht die Spinne, sondern der Vielfraß, und das passte bestens zu ihr. Vielfraße waren Einzelgänger und standen in Sachen Schläue und Bosheit keinem anderen Tier nach. Das Gleiche galt für Heide. Dann und wann mochte sie guter Stimmung sein, was sich wahrscheinlich auch über Vielfraße sagen ließ, aber keiner der beiden ließ jemals andere an diesem Gefühl teilhaben, weil es sich in Gesellschaft sofort verflüchtigte.

Allerdings war Heides Verhalten in dieser Hinsicht nicht völlig vorhersehbar. Manchmal atmete sie etwas von Dorns Pfeifenrauch ein und ließ sich ans Feuer sinken, um in der Hitze zu schmoren wie eine Katze und mit dem Nächstbesten aus dem Rudel zu plaudern. Und manchmal, wenn der schwere, graue Regen niederging, der einen ansonsten ereignislosen Tag ankündigte, war sie es, die ein fröhliches Lied anstimmte, in einem heiteren, den Umständen völlig unangemessenen Ton. Offensichtlich meinte sie es sarkastisch und wollte sich über die anderen lustig machen. Doch wenn alle unter ihrer Balme saßen und in den herabströmenden Regen starrten, brachte Heides Gesang sie irgendwann zum Lachen.

Eistauchers Geistertier war natürlich der Eistaucher. Einmal war er als Kind wohl ganz hingerissen vom Ruf eines Eistauchers auf dem nächtlichen Fluss gewesen, und er hatte mit seinen kleinen Armen gewedelt und einen ganz roten Kopf bekommen bei dem Versuch, das seltsame Lied mitzusingen, sodass ihm die Erwachsenen in jener Nacht seinen Namen gegeben hatten. Und seitdem lief Eistaucher immer ein Schauer über den Rücken, und heiße Tränen traten ihm in die Augen, wenn er seine Namensvettern in ihrer unirdischen Sprache miteinander reden hörte, die auf ihre glucksende Art sogar noch seltsamer war als die der Wölfe. Dann erhob er sich aus seinem Bett, stellte sich an den Rand des Lagers und erwiderte die Rufe, trötete und tutete in der Hoffnung, dass die großen, wunderschönen schwarz-weißen Vögel mit den roten Augen ihn hörten und dass sie erkannten, dass er ihre Sprache zwar nicht beherrschte, sie aber liebte. Und tatsächlich hörten sie ihn manchmal und antworteten, und Dorn sagte, dass einem Mann nur selten eine so große Ehre zuteilwurde und dass der Ruf eines Eistauchers die wunderbarste Stimme war, die einem Menschen zu Ohren kommen konnte. Welches Glück er hatte, dass sein Geistertier seinen Ruf des Nachts erwiderte und seine Gedanken zu den Sternen emporsandte!

Kreuch beklagte sich noch immer, weshalb es am besten war, in Lagernähe zu bleiben und zur Sonne um eine schnelle Heilung zu beten. Den Knöchel immer wieder im Sonnenbad strecken, Heide darum bitten, ihn noch einmal einzureiben. Ruh ihn aus, sagte sie immer. Massiere ihn und ertaste dabei genau, wo es wehtut und wie. Fang dort, wo es sich gut anfühlt, zu drücken an und drück dann sehr langsam in den Schmerz hinein. Und halte ihn so viel wie möglich in die Sonne.

Also ging er hinunter an den Fluss, wo die Sonne niederknallte und vom Wasser zurückgeworfen wurde. Der Sand unter ihm war warm, und es fühlte sich an, als küsste ihn die Sonne.

Als Salbei also ganz allein am Ufer auftauchte und sich neben ihn setzte, versuchte er, sie auch zu küssen. Er beugte sich zu ihr hinüber und sah, dass sie sah, was er vorhatte, und dann sah er den begierigen Ausdruck, der in ihre Augen trat, und verliebte sich in sie. Einmal mehr. So viele Male war ihm das schon passiert, seit sie kleine Kinder gewesen waren, und dieses Mal war sein Visel hart, und sie rieb ihn, während sie sich küssten, bis es aus ihm herausspritzte, und sooft er daran dachte, rieb er beim Küssen ihren kleinen Fuchs, bis auch sie erbebte, sich um ihren Bauch zusammenkrümmte und mit dem Mund an seinem Hals quietschte.

— Spritzt es in dir drin?, fragte er.

— Es zieht sich zusammen.

Sie umfasste seinen Arm mit der Hand und drückte ihn rhythmisch, um es ihm zu zeigen, und dabei wurde sein Visel wieder hart. Weibliche Bisons und Ricken zogen sich so zusammen, und ihre Kolbis pochten rosig, wenn sie einen Bullen oder Hirsch wollten. Es war absolut klar, wie Eistaucher und Salbei zusammenpassten: Finger im Handschuh, Geweih in Spalte, Reiher und Füchsin. Aber Salbei war sehr streng, weil man ihr vor Kurzem im Frauenhaus den roten Punkt aufgemalt hatte. Auf keinen Fall wollte sie ihm erlauben, seinen Visel in sie reinzustecken. Also küssten sie sich nur noch etwas und unterhielten sich dann in der Sonne, zufrieden und wohlwollend. Das Glitzern auf dem Flusswasser tanzte in seinen Augen, und sein Nachglühen fühlte sich wie ein Leuchten an, das von ihm ausging. Er wusste, wie er wieder heil wurde. Selbst Kreuch verheilte allmählich.

— Hast du gehört, dass Schiefer den Löwen etwas von unserem Essen gibt?

— Nein!

— Tut er aber. Blauhäher ist richtig wütend auf ihn. Er sagt, wir hätten genug, aber er hat niemand sonst gefragt, sondern es einfach gemacht.

— Aber wir essen nur noch zehn Nüsse am Tag!

— Ich weiß. Blauhäher und Donner sind wirklich wütend auf ihn. Seine Schwester Mondtraum hat bei den Löwen eingeheiratet, und alle sagen, es sei wegen ihr und dass wir ihn überhaupt nicht kümmern.

— Dann kommen die Enten hoffentlich pünktlich zurück.

— Da hast du recht. Wenn nicht, wird man Schiefer über dem Feuer braten.

Und sie lachten. Die Enten würden schon kommen.

Das war also gut, aber derweil gingen seine Freunde auf die Jagd, und er konnte sie nicht begleiten, noch nicht. Das würde er später wiedergutmachen.

Allerdings fiel ihm auf, dass Falke schnell wuchs. Von fast jeder Jagd brachte Falke etwas mit zurück, selbst jetzt, im Hungermonat. Er wurde gut darin. Als sie Kinder gewesen waren, war Eistaucher besser in allem gewesen, was es brauchte, um ein guter Jäger zu sein. Sie hatten Wettrennen gemacht und einander gejagt, gespielt und gerungen, Steine und kleine selbst gebastelte Speere geworfen, und er wusste, dass er besser in alldem war, weil sie es oft ausprobiert hatten. Falke wusste es auch. Aber jetzt hatte sich das vielleicht geändert. Jetzt war Falke breitschultrig und hatte eine schmale Taille, weil sein ganzes Fett aufgezehrt war. Er war hochgewachsen und hatte einen schönen Kopf mit dichten Locken und kantigen Zähnen. Er sah gut aus, sehr stark und voller Anmut.

Eines Nachts am Feuer sah er Falke und Salbei dann zusammen in die Nacht hinausschlüpfen, und die Kehle schnürte sich ihm zu, und er bekam kalte Füße. Nun ja, sie würde auch Falke nicht allzu viel erlauben. Trotzdem bedeutete es etwas. Er würde mit Entchen herumspielen müssen, um Salbei auch eifersüchtig zu machen. Kleine Blicke, dumme Witze, Essen teilen oder Zöpfe flechten.

Da er im Lager festsaß, half er Heide und Blauhäher beim Schuhmachen. Das war eine Fummelarbeit, und Eistaucher führte die Knochennadel langsam durch Heides Ahlenlöcher, die alle in gleichem Abstand und in gleichem Winkel zueinander standen, in einer bogenförmigen Linie, die die Bärenfellsohlen und die Rehfelloberteile miteinander verband.

Eines Tages, als Blauhäher nicht da war, brummte Eistaucher etwas darüber, dass Salbei mit Falke ging.

— Und was stört dich daran?, fragte Heide.

— Ich bin wohl eifersüchtig.

— Eifersucht ist, wenn man nicht will, dass jemand anders etwas bekommt, das man selber hat. Neid ist, wenn man etwas will, das jemand anders hat. Für mich klingt es also eher, als wärst du neidisch und nicht eifersüchtig. Weil Salbei nämlich nicht dir gehört.

— Ist doch egal, wie das heißt, brummte Eistaucher unglücklich.

— Das ist es nicht. Du solltest besser alle Worte und ihre Bedeutungen kennen, sonst denkst du nämlich nur Grütze.

Heide wandte ihre Aufmerksamkeit wieder den Schuhen zu. Bei den Winterschuhen wollte sie es mit Murmeltierfell für die Oberteile versuchen. Sie probierte gerne neue Einfälle aus. Manchmal machte sie die Dinge verkehrt herum, insbesondere für Dorn. Sie sprach selten direkt mit Dorn und sah ihn an, wie man eine Hyäne oder ein anderes wertloses Tier ansieht.

Er erwiderte ihren Blick dann mit einem finsteren Starren, als betrachtete er einen Vielfraß.

Als er in diesem Moment vorbeikam, grinste sie schaurig und sagte: — Hier, Unaussprechlicher, nimm dies als Geschenk von mir!

Es war ein Paar Schuhe aus Stachelschweinhaut. Stachelschweinmütter hatten es beim Gebären besonders leicht, weshalb man schwangeren Mädchen vorsichtig kleine Stachelschweinpüppchen als Glücksbringer vorne ins Kleid steckte. Jetzt hatte Heide also Schuhe aus Stacheltierhaut gemacht, mit der glatten Seite nach außen, sodass die Nadeln nach innen zum Fuß zeigten. Sie waren fertig und hatten sicher eine oder zwei Fäuste Arbeit gekostet, und doch waren sie abgesehen von diesem einen Augenblick schneidenden Gelächters absolut nutzlos.

— Sie gehören dir!, rief sie Dorn zu. — Mögen sie dir auf deinen Reisen Flügel verleihen!

Dorn bedachte sie mit einem bösen Blick, doch dann nahm er die Schuhe von ihr entgegen und blickte hinein. — Moment mal, ich sehe etwas, sagte er. — Du hast die Schuhe für mich aus deinem Fuchs gemacht!

Er nahm eine der Bärenkrallen an seiner Halskette und stieß sie in den Schuh hinein wie einen Visel. — So war es mit uns, sagte er und warf ihr die Schuhe wieder hin.

— Immerhin hast du dich bei deiner Viselgröße nicht vertan, sagte sie, während sie den Schuhen auswich.

— Ich habe nur den Maßstab gewahrt, weil du ja deine Mammutkolbi so zusammengeschrumpft hast.

Wütend starrten sie einander einen Moment lang an, ehe Dorn davonging.

10

Ein weiterer Morgen in der Sonne beim Erdblut-Mahlen. Dorn saß ganz in der Nähe und nähte etwas. Wenn er nicht gerade Sehnenenden abbiss, das Gesicht nur einen Daumenbreit entfernt von dem durchstochenen Fell, redete er ununterbrochen. Dann und wann befahl er Eistaucher, eine der Geschichten aufzusagen, die er auswendig kennen sollte.

— Fang mit den Jahreszeiten an, um dein Gedächtnis auf Trab zu bringen. Die kennst du schon länger, als du deinen Namen hast.

Oder auch nicht. Eistaucher seufzte und versuchte es:

Im Herbst essen wir, bis die Vögel ziehen,

Und tanzen im Mondenschein.

Im Winter erwarten wir schlafend den Frühling

Und über uns wandern die Sterne.

Im Frühling hungern wir bis zur Rückkehr der Vögel

Und beten um Sonnenwärme.

Im Sommer tanzen wir auf unsern Festen

Und betten uns zu zweit auf den Grund.

— Nein, nein, sagte Dorn. — Es heißt:

Im Sommer tanzen wir auf dem Fest

Und betten unsere Knochen in den Grund.

— Warum erinnerst du dich ausgerechnet an den Teil falsch? Außerdem heißt es:

Im Winter schauen wir schlafend gen Frühling

Und über uns ziehen die Sterne.

— Versuch es noch einmal.

Eistaucher wiederholte die Verse so, wie er sie beim ersten Mal aufgesagt hatte. — Der Sommer ist die Zeit, in der die Leute beisammenliegen, erklärte er. — So gefällt es mir besser.

— Aber so ist es nicht richtig!

— Ich habe es schon oft so gehört.

Dorn gab auf und setzte seine Selbstgespräche wieder fort. — Ah, sieh einer an, das Hemd, das ich trage, habe ich im vorletzten Jahr gemacht, und zwar im neunten Monat, als wir wieder zu Hause waren, und ich saß dabei an genau dieser Stelle hier. Ich kann also eine Handlung der Vergangenheit kennen. Und nun ist das Hemd hier. Und wenn ich nächsten Sommer hierher zurückkehre, wird es auch wieder hier sein. Das Jetzt ist also das Jetzt, aber in dieses Jetzt mischt sich auch etwas Vergangenheit und Zukunft in den Dingen und pustet durch unsere Gedanken. Alles dreht sich. Denn nächstes Jahr wird es am gleichen Tag des Jahres ein Jetzt geben. Am neunzehnten Tag des fünften Monats. Das wissen wir. Deshalb ist jeder Tag der Geburtstag aller Tage im kommenden Jahr, die der heutige Tag sind.

— Ich verstehe dich nicht, sagte Eistaucher. — Habe ich schon genug Pulver?

— Nein, sagte Dorn, ohne hinzuschauen. — Natürlich verstehst du mich. Weil ich mit dem Du in dir spreche, das der Geburtstag der Dus ist, die noch kommen werden. Und wenn du mich dann verstehen wirst, dann verstehst du mich auch jetzt. Aber dann werde ich bereits tot sein, nur noch ein weißer Punkt am Nachthimmel. Wie ein Wolf werde ich mich in deine Hacken verbeißen, so wie der Wolfstäuscher sich in die Hacken des Flammenbringers verbeißt.

— Dann werde ich der Flammenbringer? Ich dachte, Flammenbringer wäre der Flammenbringer.

— Ich rede nicht mit dem Du, das jetzt hier ist, du bist zu unverschämt.

— Erzähl mir einfach, wie man die Krümmung eines Bisonhalses meißelt, so wie du es machst. Wie schaffst du es, dass die Krümmung so glatt verläuft, wenn du doch mit Stein in Stein kerbst?

— Ich kerbe nicht mit Stein in Stein, sondern mit Feuerstein in Weißstein, und das ist der Trick dabei. Man meißelt ihn in Körnchen heraus. Behalte einfach die Linie, die du meißeln willst, im Blick, und tu es.

— Kommt es also darauf an, sie zu sehen, bevor sie da ist? Kein Wunder, dass du Geburtstage aus der Zukunft brauchst.

— Tja, genau. Siehst du, du verstehst mich.

— Nein. Ich verstehe dich überhaupt nicht. Zeig mir, wie man eine solche Linie macht. Zeig mir, wie man es anfängt.

— Lass es dir von der Zukunft selbst zeigen.

— Hast du dafür deine Jahresstöcke? Um deiner Zukunft zu sagen, was genau du zu der Zeit getan hast, als du es getan hast?

— Ja, genau.

— Aber das ist albern. Dumm. Falsch herum.

— Deshalb bin ich der Schamane und du nicht.

Dorn betonte immer wieder nachdrücklich, wie wichtig seine Jahresstöcke waren. Jeden Morgen nahm er eine in einen Stab geklebte Obsidianklinge, mit der man feine Schnitte machen konnte, und schnitt eine Linie in seinen Jahresstock, immer ein schönes Stück Eichentreibholz, vom Fluss sauber gewaschen. An jedem Neumondtag schnitzte er einen Kringel über die jeweilige Tageslinie. Beim Acht-Acht-Fest kam er dann mit den anderen Schamanen zusammen, die allesamt ziemlich verrückt und unausstehlich waren, und im Laufe des Tages glichen sie ihre Stöcke miteinander ab. Auf Dorns Anweisung hin verwendete Eistaucher inzwischen seinen eigenen Jahresstock, der unabhängig von Dorns sein sollte, aber da Dorn seine Striche nie vergaß und Eistaucher manchmal schon, war keiner von ihnen besonders glücklich damit. Dorn fand, dass Heide ebenfalls einen Jahresstock verwenden sollte, weil sie ihre Striche zu dritt auch innerhalb des Rudels hätten abgleichen können, aber sie weigerte sich. Eistaucher hatte zwar den Eindruck, als käme das Heides sonstigen Tätigkeiten ohnehin sehr nahe, aber sie wollte Dorn wohl einfach keinen Gefallen tun. Also war Eistaucher immer im Unrecht, und wenn er zufälligerweise einmal nicht im Unrecht war, dann würden sie bei der großen Zusammenkunft Riesenprobleme bekommen.

— Ich glaube nicht, dass Flammenbringer ein Feuer macht, sagte Eistaucher. — Ich glaube, dass sein Horn zu uns herabstößt. Er liegt auf dem Rücken und versucht, sich mit Mutter Erde zu paaren, aber er kommt nicht nah genug heran, und die Sprudelnde Spritzmilch kommt von ihm.

— Aber die Sprudelnde Spritzmilch steht am Sommerhimmel, bemerkte Dorn.

— Das stimmt, er ist so doll gekommen, dass seine Milch bis in den Sommer gespritzt ist.

Dorn lachte auf eine Art, auf die er Eistaucher nie zuvor angelacht hatte, ehrlich belustigt.

— Das glaube ich nicht, sagte er schließlich kopfschüttelnd. — Der Feuerstock steht genau im richtigen Winkel. Und dann ist da auch noch das Feuerbrett. Diese Sterne können nicht seine Eier sein, dafür sind sie zu weit auseinander.

— Das sind seine Hüftgelenke, erklärte Eistaucher.

Erneut lachte Dorn. — Na schön, ist gut, sagte er. — Da haben wir eine neue Geschichte zu erzählen.

11

Die Augen sprechen aus, was die Zunge nicht sagen kann. Druck löst Widerstand aus. Selbst eine Maus kennt den Zorn. Nach Einbruch der Dunkelheit ist jede Katze ein Löwe. Im Frühling ist Mutter Erde schwanger, im Sommer gebiert sie. Kinder sind die wahren Menschen. Ein gut aussehender Junge ist vielleicht nur im Gesicht gut. Gefahr kommt ohne Vorwarnung. Am Anfang ist jedes Feuer gleich groß.

Wie sehr es ihn danach juckte, dass etwas anderes geschah. Wie sehr er wieder auf Wanderschaft wollte. Die Enten waren immer noch nicht wieder da, und Donner und Blauhäher hielten Schiefer nun täglich vor, dass er einen Teil ihres Essens dem Löwenrudel gegeben hatte. Schiefer machte immer nur ein abweisendes Gesicht, kehrte ihnen den Rücken zu und ging seines Wegs. Niemand sollte sich bei ihm über Nahrung beschweren, auch wenn sie den Hunger in den Eingeweiden spürten.

Schließlich konnte Eistaucher nicht mehr anders. Er musste auf die Jagd gehen, Kreuch hin, Kreuch her.

— Du wirst das schon schaffen, denke ich, sagte Heide zweifelnd. — Wenn nicht, komm einfach zurück. Man kann einen Fluss nicht drängen. Bricht das Eis zu schnell, gibt es eine Überschwemmung. Also sei vorsichtig. Lass dich von deinem gesunden Bein tragen. Wenn es irgendwie geht, dann wird es gut für dich sein. Wenn der Schmerz ganz verschwinden soll, musst du raus.

Also zog er mit Falke und Moos stromaufwärts, über den niedrigen Grat zwischen der Gewundenen Au und dem Zusammenfluss von Ordech und Urdecha.

Falke und Moos waren froh, dass er wieder mit ihnen auf Jagd ging, und nachdem sie ihn ein- oder zweimal nach seinem Bein gefragt hatten, erwähnten sie es nicht weiter, weil sie ihn nicht daran erinnern wollten. Das war der höfliche Umgang, den Männer auf der Jagd miteinander pflegten. Sie gingen weder langsamer noch schneller als sonst, und als sie zur Au der Mutter Bisamratte am Ordech gelangten, verfielen sie in Schweigen und folgten im Gänsemarsch und mit gesenkten Köpfen dem westlichen Höhenzug, der darum herumführte. Eistaucher konzentrierte sich auf den Boden, darauf, einen Tanzschritt zu finden, bei dem das gesunde Bein das verletzte trug. Sein Wurfspeer leistete ihm die gleichen Dienste wie Ständer auf seiner Wanderschaft, und das hintere ausgehöhlte Ende war nach einer Weile etwas mitgenommen; hoffentlich würde es noch richtig auf seine Speerschleuder passen, wenn es so weit war. Am besten achtete er darauf, es nicht direkt auf Steine aufzusetzen und es gerade, mit dem ganzen Rand um das Loch auf den Boden aufzusetzen. Ach was, natürlich würde der Speer funktionieren. Seine Freunde waren froh, und er war froh.

Oberhalb der Au trafen sie auf einige Kinder von Mutter Bisamratte, die in der Flussbiegung spielten. Ihre schwarzen Köpfe schwammen im Wasser herum, und ihre Schnurrhaare zogen kleine Kräuselungen in die Wellen um ihre Schnauzen. Sobald sie Wind davon bekamen, dass die drei jungen Männer sie beobachteten, würden sie untertauchen und Zuflucht in einem Biberbau suchen, der nahe am gegenüberliegenden Ufer aus dem Wasser ragte. Vielleicht hätten die Menschen sich im Schutz der Bäume weit genug hinabschleichen können, um einen Speer zu werfen, aber es wäre ein sehr weiter Wurf gewesen. Da war es besser, sich die Stelle zu merken, später wiederzukommen und unter Wasser eine Falle aufzustellen. Sie waren ohnehin auf der Suche nach etwas Größerem.

Größer, sagten sie zueinander und wanderten ins Hochland oberhalb des Ordech, größer, größer, größer. Und tatsächlich hatten sie heute Glück: Der Hungermonat war beinahe um, und manche Geschöpfe von Mutter Erde litten Not. Am Rande des Hochlands stand ein Elch, der unter seinem gewaltigen, ausladenden Geweih dünn aussah. Er wirkte fehl am Platz in der weiten Heidelandschaft, über die man bis zu den Eiszitzen am westlichen Horizont schauen konnte.

Die drei Jäger erstarrten, als sie den Elch sahen, und dann bewegten sie sich, ohne sich zu bewegen, glitten wie Schlangen in ein Erlendickicht, das in einer nassen Naht im Heidemoor wucherte. In dem Dickicht mussten sie über die Erlenäste hinwegsteigen, ohne auch nur ein Knarzen oder gar eine Erschütterung zu verursachen. Elche selbst waren trotz ihrer gewaltigen Größe unerwartet gut in solch komplizierten Manövern, weshalb es eine besondere Glanzleistung sein würde, sich auf diese Art an so ein Tier anzuschleichen. Und so viel Fleisch und Fell mit zurück ins Lager zu bringen würde ebenfalls eine Glanzleistung bedeuten. Sie würden zweimal gehen müssen und das Beste hoffen, was die zunächst zurückgelassenen Teile betraf.

Aber so weit waren sie noch nicht. Vorerst mussten sie durch das Dickicht auf den Elch zugleiten, ohne dabei entdeckt zu werden. Elche hatten keine besonders gute Nase, und die drei Jäger waren auf der windabgewandten Seite ihrer Beute. So schlängelten sie sich eine ganze Weile durch das dichte Geflecht von Erlenzweigen und achteten dabei sorgfältig darauf, nicht mit ihren Speeren hängen zu bleiben. Manchmal war es schwieriger, einen Weg für den Speer zu finden als für sich selbst. Einige der Dornenranken, die unter den Erlen wuchsen, waren so dicht mit Dornen besetzt, dass man mit der Haut über sie hinwegstreichen konnte, ohne dass sie einen stachen, weil die vielen Spitzen eine Art Oberfläche ergaben. Wenn man es an denen vorbeischaffte, ohne hängen zu bleiben … aber oft genug blieb man hängen. Man musste die giftigen kleinen Kratzer hinnehmen und weiterschleichen, beharrlich wie ein Otter.

Eistaucher erreichte den Rand des Dickichts, und durch das letzte Stück Zweiggeflecht hindurch sah er, dass der Elch immer noch an derselben Stelle stand. Er hatte zwar keine wunden Stellen am Rücken, doch er war abgemagert. Wahrscheinlich war er krank oder alt. Trotzdem handelte es sich um einen lohnenden Fang. Falke und Moos tauchten links und rechts von ihm auf, und sie verständigten sich kurz mit Blicken. Das Problem war klar ersichtlich: Wie sollten sie ihre Speere auf ihre Speerschleudern bekommen und sie werfen, ohne dabei von dem Elch entdeckt zu werden? Das war unmöglich, wenn ihnen der Elch nicht den Rücken zukehrte, was es wiederum schwer gemacht hätte, ihn mit Speeren zu töten. Wenn sie ihn trafen und er wegrannte, dann hätten sie ihre Speere an ihn verloren. Also war es am besten, wenn zwei von ihnen ihre Speere in der Hoffnung warfen, den Elch zu verwunden, und der dritte ihm hinterherrannte und versuchte, einen Wurf oder Stich aus unmittelbarer Nähe zu landen. Das wollte Falke übernehmen, also verbogen und wanden Eistaucher und Moos sich, bis sie die Speere auf die Schleudern gesetzt hatten, und zielten. Eistaucher sah sich um, wie viel Platz er zum Werfen hatte, und machte sich bereit. Der schnelle Ruck mit der Schleuder musste perfekt sitzen. Ein letztes Mal sah er den beiden anderen in die Augen, ein irres Flackern der Begeisterung im Blick. Sie zählten mit Lippenbewegungen — eins, zwei, drei, Wurf!

Falke sprang im gleichen Augenblick aus ihrem Versteck und rannte auf den Elch zu, der die Flucht ergriff. Beide Speere hingen ihm aus dem rechten Hinterlauf. Also hatten sie beide getroffen, aber jetzt mussten sie den Elch noch einholen. Eistaucher und Moos krochen aus dem Dickicht und folgten Falke, der dem Elch hinterherjagte, den Speer mit der Rechten wurfbereit über die Schulter erhoben. Sie brauchten einen Bauchtreffer, um das Tier zu Fall zu bringen, deshalb musste Falke ihn überholen, und zu Eistauchers Überraschung gelang ihm das tatsächlich. Er rannte schneller, als Eistaucher jemals einen Menschen hatte rennen sehen.

Dann blieb der Elch mit einem Mal stehen und trat nach Falke aus, der sich um seinen Speer herum abrollen musste, sich dann auf ein Knie aufrichtete, die Spitze in den verletzlichen Bauch rammte und weiterrollte, wobei er knapp einem Vorderhuftritt auswich. Er hatte dem Elch eine tiefe Wunde geschlagen. Eine Weile stand das Tier schwer atmend da, Blut rann ihm aus der Stichwunde, die sich dicht bei den Rippen befand und vielleicht einen Lungenflügel getroffen hatte.

— Stirb, Bruder, stirb, beschworen sie ihn und hielten dabei nach Steinen Ausschau, die groß genug waren, um ihm damit einen wirksamen Kopftreffer zu versetzen. Vielleicht konnten sie auch einen ihrer Speere aus dem rechten Hinterlauf ziehen, aber dafür mussten sie es auf einen weiteren bösen Tritt ankommen lassen, und wenn ein Elch mit den Hinterläufen ausschlug, war das gefährlich. Außerdem war der letzte Tritt eines Tiers immer der schlimmste.

Praktisch überall in der Heide lagen genug Steine bereit, und sobald sie alle drei beide Hände voll hatten, warfen sie dicht hintereinander sechs Steine. Eistauchers erster Stein traf den Elch genau am Ohr, worauf dieser ein Röhren ausstieß und sich umdrehte, um auf sie zuzustürmen, doch seine Kräfte verließen ihn. Zitternd stand er vor ihnen, das Blut floss in Strömen aus seinem Bauch, und langsam zog der Speer ihn zu Boden. Moos flitzte um ihn herum wie ein Nerz und machte einen Satz nach vorne, um einen der Speere aus dem Hinterlauf zu ziehen. Der Elch trat tatsächlich nach ihm, aber nur schwach. Moos versetzte ihm mit dem Speer einen leichten Stoß, um einen weiteren kraftlosen Tritt zu provozieren, duckte sich zur Seite, nutzte die Blöße, um dem Elch oberhalb des Hinterlaufs tief in die Eingeweide zu stechen, drehte den Speer noch einmal in der Wunde und sprang dann zurück, um dem nächsten Tritt auszuweichen. Genau so hatte Moos sich immer verhalten, wenn sie sich als Kinder geprügelt hatten. Er unterlief seinen Gegner.

Der Elch begann, aus Mund und Nase zu bluten, was bedeutete, dass einer der Treffer seine Lunge durchbohrt hatte. Sie jubelten, als der Elch in die Knie ging und schnaubend seine letzten Atemzüge tat. — Ha!, brüllten sie und klopften einander begeistert auf die Schultern. — Danke, Bruder!, riefen sie dem sterbenden Tier zu.

Der Elch krachte auf die Seite und verendete röchelnd. Sie erkannten es sofort, als er endgültig tot war; wenn der Geist ein Lebewesen verließ, war das immer eine deutliche Veränderung. Mit einem Mal war es so leblos wie ein Stein. Manchmal blieb der Geist noch in der Nähe, und aus Respekt vor diesen verharrenden Geistern gab es gewisse Anstandsregeln und Tabus darüber, wie bald nach dem Tod man ein Geschöpf essen durfte. Aber die Leiber selbst waren leer, und es galten keine Tabus, wenn es darum ging, das Fleisch ins Lager zurückzubekommen, bevor Aasfresser eintrafen und alles verkomplizierten. Jetzt war Eile angeraten.

Es war harte Arbeit, einen so großen Bruder zu zerlegen. Sie konnten ihre Speerspitzen als Klingen verwenden, die zwar nicht so gut wie richtige Fleischmesser waren, aber immer noch sehr viel besser als der Hackstein, mit dem Eistaucher sein Reh zerlegt hatte. Trotzdem war es harte, schweißtreibende Arbeit, und sie schnauften, während sie die Gelenke mit ihren Speeren auseinanderhebelten und die Sehnen durchschnitten.

Sie trennten die Keulen ab, nahmen den Rumpf aus und schnitten dann direkt oberhalb der Vorderbeine Kopf und Hals ab. Von den drei Teilen, die sie ins Lager zurückbringen wollten, war der Kopf am schwierigsten zu tragen.

Während ihrer Arbeit ging die Sonne unter, und die Dunkelheit brach wie immer in der Hochheide schnell herein. Noch dazu waren sie am ganzen Leib mit Elchblut verschmiert, weshalb ihnen draußen im Freien etwas mulmig zumute war. Es gab mehrere Wolfsrudel, die hier regelmäßig vorbeikamen. Das Rudel, das ihrem Lager am nächsten war, lief sein Revier für gewöhnlich innerhalb von zehn Tagen ab, und sie hatten es schon beinahe einen halben Monat nicht gesehen, was bedeutete, dass es jederzeit wieder auftauchen konnte.

Als der Halbmond aufging, schulterten sie ihre Elchstücke und liefen zur Ordech-Mündung. Bei ihren kurzen Rasten tauschten sie die Teile, um sich nicht immer gleich zu belasten. Sie hatten ohnehin schon einen langen Tag hinter sich, und irgendwann spürte Eistaucher die Erschöpfung in seinen Schenkeln und im ganzen Leib. Er musste ziemlich stark humpeln, um sein verletztes Bein zu besänftigen. Er holte tief und schnell Luft und rief dann seinen zweiten Atem an. Zwischen dem Moment, in dem man ihn rief, und dem, in dem er kam, fühlte man sich eine Zeit lang richtig mies. Man musste einfach durchhalten und sich trotz Entkräftung weiterschleppen; erst das Durchhalten war der eigentliche Ruf nach dem zweiten Atem und gleichzeitig das Zeichen, dass er bald eintreffen würde. Und wie so oft vergaß er in dem Moment, in dem der zweite Atem dann kam, dass er jemals erschöpft gewesen war; die Nacht durfte so lange dauern, wie sie wollte, das war ihm egal. Heide sagte immer, dass man ab diesem Moment von seinem eigenen Leib zehrte, der einen eine ganze Zeit versorgen konnte.

Als die Nacht weiter fortschritt, musste Eistaucher sich dennoch eingestehen, dass es seinem verletzten Bein gar nicht gut ging. Aber er hatte auch noch ein gesundes Bein, und weil das gesunde Bein so gesund war, konnte er es schaffen; er konnte das verletzte Bein entlasten, und früher oder später würde es ihm besser gehen. Heute Nacht kam es also darauf an, herauszufinden, wie gut er mit seinem gesunden Bein auskam, und dabei das verletzte Bein auf ihrem Lauf nach Hause nicht noch schlimmer zuzurichten.

Sie erreichten das Lager eine Faust vor Sonnenaufgang, und die meisten aus dem Rudel erwachten und jubelten ihnen zu, legten Holz auf das Feuer und aßen ein wenig gegrilltes Fleisch, während der Rest des Elchs in Teile zerlegt wurde, die sich besser halten würden. Man beglückwünschte Falke und Moos und Eistaucher und umsorgte sie, während sie die Geschichte ihrer Jagd erzählten, und Eistaucher sagte zwar nichts von seinem Bein, barg es aber, während sie am Feuer saßen, unwillkürlich dicht an seinem Körper, was sowohl Heide als auch Dorn bemerkten. Böse starrten sie einander an, als ob jeder der Meinung war, dass den jeweils anderen die Schuld daran träfe. Fast hätte Eistaucher gelacht, aber er war zu besorgt zum Lachen.

12

Am nächsten Tag blickte Eistaucher an sich herab und kniff sich in die Haut über den Hüftknochen. Die Speckfalten, die er dort während des Winters gehabt hatte, waren verschwunden. Seine Haut war vom selben Braun wie die Mähnen mancher Pferde, ein seltsames Braun, das heller war als die Hautfarbe der meisten anderen in seinem Rudel. Die Leute behaupteten, dass ein bisschen Klotzkopf in ihm steckte und er deshalb so dumm sei. Auch um seinen Bauchnabel herum war ihm kein Fett geblieben. Aber viel mehr Speck hätte er sich im letzten Herbst auch nicht anfressen können, sonst wäre er zu langsam geworden. Manche Männer hatten so viel gegessen, dass sie beinahe wie schwanger ausgesehen hatten, aber natürlich nicht richtig, weil bei ihnen das Gewicht weiter unten saß und aussah wie ein Kiesel am Flussgrund, während Frauen ihre Kinder direkt unterhalb der Rippen trugen und dabei wunderschön waren. Es war ein scharfer Kontrast, der Eistaucher manchmal sehr deutlich ins Auge stach, wenn er alte Männer mit Hängebäuchen betrachtete; was allerdings nur selten vorkam, weil er normalerweise nur Augen für die Frauen hatte. Männer bewertete er mit derselben Leidenschaftslosigkeit wie sich selbst: Wie gut ging es diesem oder jenem, wie kam sein Körper mit der täglichen Mühsal zurecht? An Männern bewunderte er nicht die Körper, sondern ihre Bewegungen, so wie er seine eigenen Sätze und Sprünge bewunderte, wenn sie ihn überraschten, wenn sie sich so schnell ereigneten, dass sie ihm erst im Nachhinein bewusst wurden, als Erinnerungen. Manche Dinge geschahen so schnell, dass sie nur in seinem Gedächtnis existierten. Wenn er sah, wie andere Männer sich so bewegten, fand er das wunderschön. Sie waren begabte Geschöpfe, zähe Tiere unter Tieren. Bei Verfolgungsjagden waren sie auf lange Strecken ausdauernder als jedes andere Tier, und das wollte etwas heißen.

Aber die Frauen — die Frauen waren schön. Sie waren so schön wie Pferde. Ihre Haare, ob sie nun zu Zöpfen geflochten waren oder frei im Wind flatterten, sahen aus wie Mähnen. Und diese Mähnen warfen sie in den Nacken wie Pferde, und dabei saßen sie beieinander, plapperten wie Eichhörnchen und sahen einen an; sie sahen einen an, sie sahen alles mit ihren durchdringenden Blicken an. Sie waren die seltsamsten Tiere von allen, sogar noch seltsamer als ihre Schwestern Fuchs und Katze. Sie konnten einen mit einem Blick durchbohren.

Es gab ein Wäldchen mit einigen verstreuten Seifenbäumen zwischen den Fichten, knapp hinter dem Pass am oberen Ende des Obertals, in der nordwärts abzweigenden Schlucht, die als das Lier bezeichnet wurde. Nach ihrer Jagd verbrachte Eistaucher einige Tage damit, gemächlich dorthin zu wandern und einige gerade Seifenbaumäste zu schneiden. Es war festes Holz, aber im Kern frischer Triebe befand sich ein weicher Brei, den man herauskratzen konnte. Den hohlen Stock konnte man anschließend als Blasrohr benutzen oder eine Flöte daraus machen. Andere Zweige ließen sich der Länge nach in vier Teile spalten, und wenn man diese Viertel polierte, anspitzte, im Feuer härtete und erneut polierte, ergab das zwei Paar Nähnadeln, eines für Heide und eines für Salbei.

Einige Tage verbrachte er mit dieser Arbeit, saß dabei mit dem Rücken an einen Stein gelehnt, unterhielt sich mit den Kindern und aß Elchsteaks und Elchkopfsuppe. Der Mond war zu einer schmalen Sichel geschrumpft, und im Feuerschein arbeiteten sie an den Dingen, die sie zum Acht-Acht-Fest mitnehmen wollten. Die von Eistaucher mitgebrachten Seifenbaumblätter hatten sie in einem langen Trog zerstampft, und wenn es ein besonders sonniger Morgen war, wuschen sie ihre Kleider in dem schaumigen Wasser. Danach hing der Duft der Frühjahrswäsche in der Luft, und sie wussten, dass es bald Zeit für ihren Sommerzug und für das Acht-Acht-Fest sein würde. Bald würde der Hungermonat zu Ende sein, die Enten konnten jeden Moment eintreffen. Die verbliebenen Nüsse schmeckten zwar inzwischen noch älter und noch mehr nach Winter, aber immerhin fanden sich noch welche davon unten in ihren Beuteln. Schiefer hätte die Nörgler auf diese Tatsache hinweisen können, aber das war nicht seine Art. Außerdem war der Hungermonat noch nicht vorbei. Solange die Enten nicht aus dem Süden zurückkehrten, würde er sich nicht mit seiner Voraussicht brüsten. Aber wenn sie kamen, würde der Ausdruck verbissener Sorge in seinem Gesicht endlich einem zufriedenen Glitzern weichen, womöglich gar einem Lächeln.

Dorn zeigte Eistaucher, wo man die Löcher bohren musste, damit die Flöte einen guten Klang hatte, und wie man oben hineinblasen musste, um die verschiedenen Töne zu erzeugen. Danach klang Eistauchers Lied wie der Ruf einer kleinen Eule oder, wenn er zu fest blies, wie das Krächzen eines Hähers. Er hätte gerne wie ein Eistaucher geklungen, aber der Ton brach sich anders in der Flöte. Jeden Abend spielte er im Bett. Nach einem Viertelmonat beherrschte er die verschiedenen Töne. Er wollte sie in der Höhle spielen.

Erneut gingen sie auf die Jagd, machten sich auf die Suche nach weiteren Tieren, die unter dem langen Hungermonat litten, diesmal in einer größeren Gruppe, zu der auch Speerwerfer, Achtlos und Dorn gehörten. Dorn ging immer ganz hinten, aber er wusste gut Bescheid über Tiere, und es war interessant, ihn dabeizuhaben. Eistaucher hatte den Verdacht, dass er mitkam, um die Gruppe zu verlangsamen, damit Eistaucher sein Bein nicht so sehr beanspruchen musste, aber das hätte er natürlich niemals zugegeben, und so ließ Eistaucher kein Wort darüber verlauten.

Sie töteten einen alten Bison, der sich allein in einem Gestrüpp versteckt hatte. Gerade hatten sie ihn fast vollständig für den Transport zerlegt, seine Knochen und Eingeweide an der tiefsten Stelle des Bachs versenkt und waren weiter stromaufwärts selbst hineingesprungen, um sich zu waschen, da begannen sie, Achtlos damit aufzuziehen, dass er vor Kurzem Rose geheiratet hatte, ein gut aussehendes Adlermädchen aus dem Löwenrudel. Moos machte die üblichen Sprüche darüber, dass Achtlos nach seiner Heirat wahrscheinlich weniger von ihrem Fuchs zu sehen bekäme als vorher, worauf Achtlos versicherte, dass das Gegenteil der Fall wäre. Als darauf alle ungläubig lachten, sagte er eingeschnappt, dass er sich eben nehme, was er wolle. Ihr mache es nichts aus.

Ein unbehagliches Schweigen schloss sich an. — Und wie hast du herausgefunden, dass das so geht?, fragte Dorn.

Achtlos war es sichtlich unangenehm, Dorn auf eine solche Frage zu antworten, aber seine Freunde hörten zu, also sagte er: — Indem ich es einfach gemacht habe! Eines Nachts, als ich es wollte, hat sie Nein gesagt, und ich sagte, o doch, und habe sie dazu gezwungen. Nach einer Weile hat es ihr gefallen.

Erneutes Schweigen.

Schließlich sagte Dorn: — Warum hast du so etwas Dummes getan? Begreifst du nicht, dass du ihr damit alle Macht in eurer Ehe gegeben hast?

— Wie meinst du das?, fragte Achtlos beleidigt.

— Jetzt musst du tun, was sie sagt, erklärte Dorn, — sonst erzählt sie den anderen Frauen, was du getan hast. Und wenn sie das tut, dann bringen sie dich um. Also hat sie jetzt alle Macht über dich.

— Die Frauen können mich nicht umbringen.

— Natürlich können sie das, erwiderte Dorn. Mit eingezogenem Kinn und einem Ausdruck übertriebener Verblüffung im Gesicht starrte er Achtlos an. Die Blicke aller Jüngeren ruhten auf ihm. — Wie kannst du etwas so Einfältiges sagen?, fragte Dorn. — Die Frauen kochen für dich und tun in das Essen, was ihnen passt. Sie geben dir das Leben, sie geben dir den Tod. Sie bluten und sie lassen dich bluten. Sie bluten vielleicht einmal im Monat, aber sie können dafür sorgen, dass du täglich blutest, aus dem Pimmel und aus dem Arsch und aus den Ohren und aus der Nase, sogar aus den Augen. Vielleicht kommt es von Gift in deinem Essen, vielleicht auch nur daher, wie sie dich anschauen. Nach einer Weile wirst du dir wünschen, nie geboren worden zu sein. Du wirst vom Steilhang in die Schlucht springen, um deinem Elend ein Ende zu bereiten. Solche Macht haben sie. Sie haben den Himmel hinter den Augen, das sieht man, wenn sie einen anschauen. Und jetzt musst du Rose also gehorchen, sonst sagt sie es den anderen, und dann bist du ein toter Mann. Es überrascht mich, dass du jemandem so viel Macht überlässt, vor allem, wenn es nur ums Spritzen geht. Du hättest es dir genauso gut selbst machen oder einfach höflich sein können und warten, bis du wieder darfst. Auch Ehemänner dürfen nicht immer.

— Woher willst du das wissen?, fragte Achtlos in dem Versuch, sich des Alten zu erwehren.

Dorn wischte die Erwiderung mit einer Handbewegung beiseite. — Ich war verheiratet. Damals, in der Traumzeit, bevor ihr Jungs auch nur auf der Welt wart. Heute trage ich weder diese Bürde noch habe ich diese Zuflucht. Du solltest dich daran freuen, solange du kannst. Sei dankbar. Mutter Erde spricht durch diese albernen Mädchen. Es wundert mich, dass man dir in diesem Rudel das nicht beigebracht hat. Mamma mia, wenn Heide jemals davon erfährt! So eine Scheiße. Wirklich, im Moment könnte jeder von uns dich umbringen, ein Wort an die alte Vettel wäre genug. Jetzt bist du der schwächste Klotzkopf im ganzen Rudel.

Damit wuchtete Dorn einen Brocken Bisonfleisch hoch und machte sich auf den Heimweg. Die anderen folgten ihm, erst niedergedrückt, doch dann zunehmend erfreut über die Aussicht, einen so großen Fang ins Lager zurückzubringen. Selbst Achtlos bekam wieder bessere Laune: Sein Name passte zu ihm. Und ob sie nun mörderische Gottheiten waren oder nicht, auf jeden Fall würden ihre Frauen hocherfreut sein, so viel Fleisch zu sehen, und sie würden es bis tief in die Nacht kochen und räuchern und trocknen. Einige der jüngeren Jäger würden Frauen Fleisch geben, die keines hatten, und manche von ihnen würden sie dafür spritzen lassen, so wie es Brauch war. Während sie durchs schräg einfallende Nachmittagslicht nach Hause zurückkehrten, tanzten sie mit ihren langen Schatten und sangen ein besonders unanständiges Lied, um Dorn zu ärgern, der nach seinem Redeschwall wieder schweigsam wie ein Vielfraß geworden war und missmutig die Stirn in Falten legte. Und dann, als sie über den letzten Pass kamen und ins Lager hinabstiegen, hörten sie die Frauen das Sonnenuntergangslied singen. Und ihre Herzen waren von banger Freude erfüllt.

13

Der Vielfraß lebte nicht weit unter einem Felsbrocken, auf einer schrägen, von Felsbrocken übersäten Geröllhalde am Fluss. Sein Zuhause war warm und trocken, und über die Jahre hatte er es zu einem bequemen Nest ausgebaut. Es hatte vier Eingänge, einen nach oben, einen nach unten, einen stromaufwärts und einen stromabwärts.

Niemand kam dem Vielfraß zu nahe. Das lag nicht an seiner Größe, sondern an seiner Mordlust. Außerdem, selbst wenn es einem gelang, Vielfraß zu töten, ohne selbst dabei getötet zu werden, hätte sein Fleisch sich als fettlos und zäh wie Wurzelholz erwiesen. Es war die Mühe nicht wert. Nur sehr hungrige Wölfe oder Löwen wären jemals auf die Idee gekommen, ihn zu fressen.

So wanderte Vielfraß also auf der Suche nach Nahrung des Tags am Fluss entlang, und manchmal auch bei Mondschein, wenn der Mond voll war. Beeren waren zu dieser Zeit nicht mehr als grüne Pünktchen, aber er aß trotzdem ein paar, um den Tag mit ihrem Geschmack im Mund zu beginnen. Beeren am Morgen und Fleisch am Abend, so hielt Vielfraß es für gewöhnlich. Bären waren große, umhertappende Dummköpfe, die fraßen, was immer sie gerade fanden, und sich nicht die Mühe machten vorauszuplanen. Vielfraße hatten immer Pläne. Dieser Vielfraß würde seinen großen Rundgang machen. Zuerst würde er in der Großen Schlucht talabwärts wandern, dem Seitenbach an der zweiten Biegung folgen, dessen linke Gabelung nehmen, den Pass oberhalb überqueren und dann bei der ersten Biegung wieder in die Große Schlucht absteigen, von wo aus es nur noch ein kurzer Spaziergang bis zu seinem Felsbrocken war.

Auf diesem Rundgang fand er nicht nur Nahrung, sondern konnte auch sein Revier in Augenschein nehmen. Von all den Tieren, mit denen er es teilte, all den Katzen, Waschbären, Wieseln, Füchsen, Bären, Pferden, Stachelschweinen, Bibern, Bisamratten, Steinböcken, Gämsen, Elchen, Elks, Nashörnern, Hyänen, Löwen, Leoparden, Mammuts, Eichhörnchen und anderen vielfältigen Geschöpfen waren die Menschen aus dem nahen Rudel mit Abstand die gefährlichsten, für ihn wie für alle anderen. Aber sie waren auch die interessantesten. Nicht so interessant, dass Vielfraß sich besonders nah an ihr Lager herangewagt hätte, aber er kannte alle ihre Fallen und Schlingen, obwohl er zugegebenermaßen immer wieder neue aufspürte, die sie anfertigten, sobald sich in den alten Tiere verfangen hatten. Vielfraß wahrte Abstand. Allerdings wanderte er regelmäßig oberhalb der Großen Schlucht entlang, um auf ihren Bau hinabzusehen, und manchmal beobachtete er sie, wenn sie loszogen. Wie alle Rudeltiere waren sie für sich allein nicht so gefährlich wie in Gruppen. Einzelne Menschen gingen Vielfraß aus dem Weg, wenn es sich nicht gerade um junge Männchen mit Speeren handelte. Von denen hielt er sich grundsätzlich fern. Die übrigen Menschen waren dagegen ganz zufrieden damit, sich ihrerseits von ihm fernzuhalten. Niemand legte sich mit Vielfraß an.

An diesem Morgen, er war gerade am Grat oberhalb der westlichen Gabelung des Tals der zweiten Flussbiegung angelangt, hörte er zu seiner Überraschung ein leises Stöhnen. Er hielt inne und schnupperte, und dann roch er einen der langköpfigen Menschen, die meistens schwerer und langsamer waren als die aus den Bauten und die weiter Richtung Sonnenuntergang lebten, wenn man von Einzelgängern absah. Der Arm dieses Menschen kam aus einem Dickicht, als streckte er die Hand nach Vielfraß aus. Vielfraß setzte den Hang hinauf und landete wie immer auf allen vier Pfoten, bereit, zu beißen und zu kratzen. Aber dazu bestand keine Notwendigkeit. Das Menschenmännchen hielt nur eine Schlinge aus Birkenrinde in den langfingrigen Händen. Seine stumpfen, flachen Klauen waren im Vergleich zu denen von Vielfraß nutzlos. Der Arm hing einsam aus dem Gebüsch. Dahinter, zwischen den Blättern hindurch, konnte Vielfraß die Augen des Menschen sehen, die ihn feucht und traurig anblickten. Er war verletzt. In einem oder zwei Tagen würde er eine bequeme Mahlzeit abgeben. Wenn er mit einer Schlinge aus Birkenrinde einen Vielfraß fangen wollte, musste er wahrhaft verzweifelt sein. Seine Wunde roch faulig.

Der Mensch stieß einen Pfiff aus, der genau wie der Gruß eines weiblichen Vielfraßes klang. Erst verblüfft und dann beeindruckt trat Vielfraß näher heran, um zu sehen, ob der Mensch den Laut wiederholen würde. Das tat er: ein wirklich einladender Gruß. Vielfraß hatte bereits gehört, wie gut die langköpfigen Menschen darin waren, Geräusche nachzuahmen. Das Pfeifen dieses Langkopfs veränderte sich nun, klang wie der Ruf einer Lerche, ein glucksendes Trällern. Auch das war sehr beeindruckend. Vielfraß setzte sich auf seine Hinterläufe wie ein großes Murmeltier und machte es sich gemütlich, um mehr zu hören.

Der Mensch pfiff und summte eine ganze Weile und sang Vielfraß mehrere Vogel- und Tierlaute vor — darunter sogar das nasse Klatschen eines Biberschwanzes auf Wasser.

Schließlich hörte er auf.

Vielfraß erhob sich und ging seiner Wege. Er fragte sich, was wohl aus dem Menschen werden würde und ob es sich lohne, am folgenden Tag noch einmal zurückzukehren, bevor er seine weite Wanderung wiederaufnahm. Menschen schmeckten seltsam, aber andererseits waren sie eine interessante Abwechslung. Die Langköpfe aus Richtung Sonnenuntergang hatten besonders festes und schweres Fleisch. Nun, das konnte er auch am nächsten Morgen noch entscheiden, je nach Hunger und Wetter, und wie es der kleinen Verstauchung in seiner rechten Vorderpfote ging. Je nach Laune.

Aber dann kam eine Menschenfrau, die er kannte. Er roch sie, bevor er sie sah, und das genügte, um Bescheid zu wissen. Altes Weibchen, das oft allein unterwegs war, stieg mit einem Korb über der Schulter den Hang herauf. Kräuterfrau; niemand sonst im ganzen Wald roch wie sie.

Heute schien sie sich für die frischen Pilze zu interessieren. Die ersten Pilze waren immer dünn und geschmacklos. Sie fiel vor ihnen auf die Knie, pflückte und beschnupperte sie und warf sie dann entweder in ihren Korb oder ließ sie fallen. Dann erhob sie sich, indem sie eine Hand ins Gras stellte und sich hochdrückte, wie ein dreibeiniges Wesen. Kein anderes Tier tat das.

Als sie sich aufrichtete, sah sie Vielfraß. Sie hob ihren Korb über den Kopf und zog dann ihr Kleid hoch und zeigte ihm ihr Geschlecht. Das war ihre übliche Begrüßung. Vielfraß hielt inne, hob den Kopf und schnüffelte zwei- oder dreimal laut, was sie immer zum Lachen brachte. Sie ließ ihr Kleid wieder herunter und ließ den Blick oben am Hang entlangschweifen, in der Gewissheit, dass Vielfraß einfach weiterziehen würde. Was er normalerweise auch getan hätte. Er hatte gesehen, wie dieses Menschenweibchen einen Rotluchs getötet hatte, der auf sie zugesprungen war, indem sie einen hohlen Stock an die Lippen gesetzt und ihm etwas ins Gesicht gepustet hatte. Der Luchs war jaulend davongerannt und hinter der nächsten Hügelkuppe zuckend und mit Schaum vor dem Maul verendet. Vielfraß hatte sich nicht getraut, ihn zu fressen.

Also ließ er das Menschenweibchen in Ruhe. Falls sie einander im Wald begegneten, grüßten sie einander immer kurz, sie lachte, und weiter geschah nichts. Aber heute dachte Vielfraß an das Menschenmännchen, das wie so viele andere Tiere klingen konnte, und er dachte, dass die Kräuterfrau vielleicht gerne von ihm erfahren hätte. Also stellte er sich erneut wie ein Murmeltier auf die Hinterläufe, und als sie zu ihm blickte, deutete er mit dem Kopf in Richtung Pass, der nur ein kurzes Stück über ihnen lag.

Die Frau lachte und sagte etwas Freundliches. Vielfraß führte sie den bewaldeten Hang hinauf, wobei er zwar den geraden Weg nahm, anstatt wie sie in Serpentinen zu gehen, aber immer darauf achtete, dass sie ihn nicht aus den Augen verlor. Als er den Pass erreichte, pfiff er ihr zu, damit sie ihm an der baumbestandenen Westseite des Hangs hinabfolgte, zu dem kleinen Wäldchen, in dem sich der Langkopf aufhielt. Als Vielfraß sah, dass sie den Menschen bemerkt hatte, der angesichts seiner Rückkehr die Augen weit aufriss, kehrte er um und ging im weiten Bogen um sie herum wieder den Hang hinauf. Einen Moment lang zögerte er und spähte zu den beiden Menschen hinab, um zu sehen, wie sie miteinander auskamen. Sie pfiffen einander freundlich an. Vielfraß trottete zurück über den Pass und ging seiner Wege.

14

Heide kam ins Lager und bat Dorn und Eistaucher und Falke und Moos, ihr dabei zu helfen, einen verletzten Alten zu versorgen, oberhalb des Passwegs zwischen Ober- und Untertal.

Sie wolle den Alten nicht ins Lager holen, erklärte sie. Darüber waren alle erleichtert, weil sie schon alle möglichen verwundeten Geschöpfe ins Lager geholt hatte — deshalb lag ihr Nest auch so weit wie möglich vom Feuer entfernt. Diesmal wollte sie nur Hilfe dabei, einen geschützten Platz für den Alten zu finden.

Wie sich herausstellte, meinte sie damit, dass sie einen Unterschlupf um ihn herumbauen sollten, weil er zu schwer verwundet war, um ihn zu bewegen. Also woben sie einen Windschutz aus Fichtenzweigen um und über ihn, während er auf den Boden starrte, dann und wann zu ihnen aufblickte und dabei gelegentlich einen gurrenden Pfiff ausstieß.

— Bei uns sagt man Danke, erklärte ihm Heide.

— Dange.

Sie brauchten ein Weilchen, um die Fichtenzweige richtig ineinanderzuweben, und in der Zwischenzeit befahl Heide Eistaucher, sich neben sie zu setzen, um ihr bei der Versorgung des Alten zu helfen.

Er war breitschultrig und gedrungen. Früher war er stark gewesen, aber jetzt wirkte er ausgezehrt. Eistaucher zog sich der Magen zusammen, als er so nah an ihn heranmusste. Er roch wie ein Alter, und er hatte ein Altengesicht, ein richtiges Saiga-Gesicht, verzerrt und dümmlich. Seine Haut war pilzblass und so viel heller als normale Haut, dass sie fast durchsichtig wirkte. Eistaucher konnte die blauen Adern unter seiner blassen Haut erkennen. Es war richtig ekelhaft. Der Alte hatte sich eines oder beide Beine schwer verletzt. Sein Umhang war mit groben Stichen genäht, sein Pelzrock bestand aus einer Art von Fell, die Eistaucher nicht kannte. Seine Schuhe waren nicht mehr als Lappen aus Bärenhaut.

Er schaute ihnen nicht in die Augen, aber dann und wann blickte er vom Boden zu ihnen auf. Er hatte eine große Hakennase, struppige Brauen und eine fliehende Stirn unter einem fast kahlen Schädel, die ein bisschen an die von Dorn erinnerte. Der Ausdruck in seinem Gesicht, das vielleicht an einen Biber erinnert hätte, wäre da nicht die große Nase gewesen, war aufmerksam, verständig, besorgt. Bei einem sprachlosen Gesicht übernehmen die Augen das Reden. Was diese Augen sagten, war ziemlich deutlich: Der Alte war krank und in Schwierigkeiten, setzte aber alle Hoffnung darein, dass sie ihm wohlgesinnt waren.

Sie beendeten die Arbeit an dem Windschutz. Er pfiff und schnalzte und summte sie an, und Heide gab ihm beruhigende Antworten und pfiff sogar etwas, das er zu verstehen schien. Offenbar handelte es sich um ein Wort aus seiner Sprache. Sofort pfiff er auf sie ein, doch sie schüttelte den Kopf und wiederholte ein paar tiefe, gurrende Laute, gefolgt von Worten in ihrer eigenen Sprache. Iss, trink.

— Dange, sagte er.

Anschließend beauftragte Heide die Jungen damit, ihn zu bewachen und ihm ein paar der schlechtesten Winternüsse zu geben, während sie sein Bein mit ihrer Medizin versorgte. — Es muss sich vor allem erholen, sagte sie zu Eistaucher. — Verletzungen müssen ruhen, man darf es nicht zu schnell angehen. Sie heilen, aber das braucht Zeit. Deshalb musst du der Verletzung Zeit geben. Ein und ein halber Mond für die Verletzung, die du hattest, und die gleiche Zeit für ihn.

Dem Alten musste sie wohl etwas Ähnliches zugepfiffen haben, denn fast einen Monat lang lag er herum und aß und trank, was Heide und Eistaucher ihm brachten. In dieser Zeit brachte sie ihm mehrere Worte bei, aber meistens sagte sie einfach nur — langsam, langsam, wobei sie die Bedeutung des Worts mit Handbewegungen untermalte. Dann nickte er, indem er sich aus der Hüfte vorbeugte, und sagte mit sichtlicher Anstrengung: — La-ssam, La-ssam.

Als er schließlich wieder halbwegs auf die Beine gekommen war, ging er eines Morgens nach Sonnenaufgang zu ihr, umfasste ihre Hand mit seinen Händen, pfiff kurz und machte sich auf zum Passweg. Später sahen sie ihn noch dann und wann in der Ferne, wie man gelegentlich auch andere Waldleute aus der Gegend sah, die zwar meistens versuchten, nicht entdeckt zu werden, aber manchmal nachlässig wurden. Und dann und wann fand sich eine Gabe in Form eines Schneehasen oder eines Zickleins oder von Blumen vor Heides Nest. Und auch sie hinterließ in der Nähe des zusammengestürzten Unterschlupfes immer wieder etwas für ihn, genau, wie sie ihrer Katze etwas hinlegte.

Weil Eistaucher bei Heide schlief und ihr half, erhaschte er öfter als die meisten anderen einen Blick auf den Alten; und weil er mit Dorn oder für Dorn loszog, um Erdblutklumpen von der Stelle unter dem Nordgrat zu holen, die sie als Hünenstatt bezeichneten, sah er den Alten auch immer wieder draußen. Anscheinend lebte er wie ein Waldmann: Er war von seinem Rudel getrennt, falls er jemals eines gehabt hatte. Mit schweren Bärenschritten zog er seine Runden, stellte Fallen für kleine Tiere und Vögel auf und aß unterwegs Beeren und Grassamen. Er bewegte sich seltsam und roch ein wenig vergoren. Sein Bart sah aus wie der Bart einer Saiga, hing ihm als Gegengewicht zu seinen klobig vorspringenden Brauen vom Kinn herab. Seine Hakennase war wahrscheinlich irgendwann mal seitlich gebrochen. Sein Haar wurde von einem Lederband gehalten und hing ihm über die Schultern. Er trug immer einen Pelzumhang und ging inzwischen barfuß. Anscheinend waren seine Bärenfellschuhe zerfallen, und er wusste nicht, wie man sich neue anfertigte.

Dorn meinte, man könne kein guter Graveur werden, ohne zu lernen, wie man gute Werkzeuge herstellt. Ein guter, gerader Stichel, ein paar gute Klingen und ein Schaber mit einer schönen scharfen Kante, darauf kam es an. Wenn man Stein mit Stein bearbeitete, dann mussten die Schneidwerkzeuge so hart und scharf wie möglich sein.

Also saßen sie in der Sonne und bearbeiteten Feuersteinbrocken mit Hacksteinen aus Granit und Schiefer.

Dorn streckte sich wie eine Katze in der Sonne und sagte: — Moment, ich sehe etwas.

— Nicht schon wieder eins von deinen Rätseln.

— Es sind nicht meine Rätsel. Es sind die Rätsel der Welt. Pass auf:

Es schweigt mein Kleid, wenn ich am Boden schreite

Oder daheim bin oder einen Fluss überquere.

Manchmal erhebt mein Leben und des Windes Auftrieb

Mich über das Reich, in dem Menschen wandeln,

Und die Macht der Wolken trägt mich weiter

Über die Menschenwelt, und mein Kleid

Klingt laut in seinem Lied.

Bin ich losgelöst von Erde und Wasser

Ein fliegender Geist, dann schallt es klar.

Jetzt finde heraus, was ich bin.

— Du bist der zweite Atem, sagte Eistaucher, der daran dachte, wie er kürzlich mit Falke und Moos von der Jagd zurückgekehrt war. Es freute ihn, dass er die Antwort so schnell erkannt hatte.

Dorn lachte.

— Was ist, habe ich nicht recht?

Dorn tippte sich erst rechts und dann links an den Kopf, was sein Zeichen für Ja und Nein war. — Es ist wie der zweite Atem, räumte er ein, — aber du denkst zu klein.

— Der zweite Atem ist niemals klein, wandte Eistaucher ein.

Es hieß, dass Dorn in seiner Jugend ein sehr starker Jäger gewesen war, aber davon hatte Eistaucher nie etwas gesehen. Vielleicht hatte er vergessen, wie der zweite Atem sich anfühlte, wenn er in einen hineinfuhr.

— Das stimmt, räumte Dorn ein, — der zweite Atem ist groß. Aber die Antwort ist etwas noch Größeres.

— Ich denke darüber nach.

— Und gleichzeitig kleiner, vergiss das nicht. Die meisten Jungen, denen man dieses Rätsel aufgibt, sagen, dass es von einem Grashüpfer handelt. Und dann lachte Dorn, als er Eistauchers Miene sah.

Dorn verbrachte den Morgen oft damit, sich auf dem Plateau am Ende des Lagers, wo unter den Bäumen eine Mischung aus Licht und Schatten herrschte, um die Kinder zu kümmern. Die Kleinen behandelte er ganz anders als die Erwachsenen. Er saß mitten unter ihnen, spielte mit ihren Spielzeugen und alberte herum, brachte ihnen aber gleichzeitig immer etwas bei. — Mit ihnen ist es so viel einfacher als mit euch, sagte er immer zu Heide und Eistaucher.

— Kinder sind die wahren Menschen, verkündete Heide dann meistens, wobei Eistaucher sich nie sicher war, ob sie es sarkastisch meinte oder nicht.

— Tja, da hast du recht. Sie sind noch nicht alt genug, um Probleme zu haben. Ich bin euch und eure ganzen Probleme so was von leid. Männer und Frauen sind nichts als große Säcke voller Probleme.

— Du musst es wissen, sagte Heide.

— Allerdings, wenn ich mir euch und den Rest ansehe. Bei den Kindern verbringe ich meine Zeit sehr viel sinnvoller.

— Der kleine Finger einer Mutter ist mehr wert als ein ganzes Rudel Schamanen, erinnerte Heide ihn.

Dorn winkte mit dem Handrücken ab.

Aber bei den Kindern in der Morgensonne war alles anders.

— Moment, ich sehe etwas: kleine Punkte in der Ferne.

— Die Vögel kommen zurück, sagten die Kinder.

— Ganz genau. Unsere Sommerfreunde. Die werden wir schon sehr bald wiedersehen. Aber Moment mal, ich sehe etwas: kleine Holzkrümel, die aus einem Baum fallen.

— Das Raufußhuhn isst dort oben, sagte eines der Kinder. Wenn nur ein Kind etwas sagte, dann war es normalerweise Donners Tochter Stern.

— Das stimmt. Manche Leute nennen sie auch Steinpocher, wegen des lustigen, sausenden Geräuschs, das sie beim Rennen machen. Das Geräusch kennt ihr doch. In besonders kalten Nächten schlafen sie unter einer Schneedecke. Wenn man an einem verschneiten Morgen herumläuft, kann man manchmal eines überraschen und fangen. Aber dafür muss man schnell sein.

Die Kinder versicherten ihm, dass sie schnell seien, und er pflichtete ihnen bei.

— Moment, ich sehe etwas: kleine, über den Schnee verteilte Holzkohlestückchen.

Schweigen.

— Niemand? Es sind welche von den Winterweißen. Die Schnäbel von Schneehühnern. Im Winter sind sie so weiß, dass man nur ihre Schnäbel sehen kann. Sieht lustig aus. Moment mal, ich sehe etwas: in den Büschen sind wir weit geöffnet.

Erneutes Schweigen.

— Noch ein Winterweißes! Das sind die Augen des Schneeschuhhasen. Mit denen beobachten sie einen, während sie in ihren Verstecken sitzen, und tatsächlich kann man nichts von ihnen sehen außer den Augen. Wie wäre es damit: Moment, ich sehe etwas: ein Stück verkohltes Holz, das in der Luft herumwedelt.

— Wieder das Gleiche!, rief Stern triumphierend. — Der Schwanz des Hermelins im Winter.

— Sehr gut. Moment mal, wartet, ich sehe noch etwas: Weit in der Ferne fährt ein feuriger Blitz herab.

— Fuchs im Sommer, verkündete Stern.

Dorn zerzauste ihr das Haar. — Aus dir wird mal was, Kind. Na schön, das Letzte. Moment, ich sehe, dass der Fluss um mich herum Dinge mit sich reißt.

— Bist du das?, fragte Stern mit großen Augen.

Dorn lachte. — Ja, du böses Mädchen. Aber es kann auch eine Insel sein. Aber wir sind alle Inseln.

Und dann beschlossen sie, ein Spielzeugdorf auf einer Insel in einer Pfütze zu basteln und es anschließend mit einer schrecklichen Flut aus einem Eimer zu überschütten. Sie alle liebten dieses Spiel, am meisten von allen Dorn.

15

Er war mit Salbei unterwegs, bei dem Sumpf an der Stelle, an der die Edisch in die Urdecha mündete, um für Heide Kräuter zu sammeln.

Salbei, die ihren eigenen Gedanken nachhing, füllte ihren Korb nur langsam. Sie hatte lange Beine, die von einem feinen schwarzen Flaum bedeckt waren, der auf ihrer dunklen Haut beinahe unsichtbar wirkte. Ihr Hemd hing locker, und wenn sie sich vorbeugte, um ein Minz- oder Thymianzweigchen zu pflücken, waren ihre Brüste zu sehen, die wie Euter baumelten. Eistaucher summte fröhlich vor sich hin und bettelte um einen Kuss, aber sie war nicht in Stimmung. Sie sammelte grünes Moos für die Windeln der beiden Kleinkinder und auch für den nächsten Vollmond, wenn das Frauenhaus voll sein würde, weshalb Eistaucher so tat, als bemerke er nichts davon. Der Vollmond war eine seltsame Zeit, weil sich dann so viele Frauen in ihren Unterschlupf zurückzogen und unter sich blieben, während die jungen Männer Beerenmaische verschlangen und loszogen, um die Welt im blassen, aber aufschlussreichen Licht des Vollmonds zu sehen. In anderen Rudeln war das nicht so: In manchen bluteten die meisten Frauen zu Neumond und saßen in den sternenklaren Nächten gemeinsam ums Feuer gekauert, bis es vorbei war. So oder so würden sie eine Menge trockenes Moos brauchen.

Sie beobachteten, wie eine Stacheltiermutter vier kleine Stachelkugeln über ein unbewachsenes Stück Boden führte. Bären und Stacheltiere waren miteinander verwandt. Sie lebten auf ähnliche Weise und halfen einander. Otter hatten keine Verwandten, voll Bitterkeit töteten sie alles und jeden. Weiter flussabwärts rutschte eine Otterfamilie auf dem schlammigen, schrägen Uferstreifen herum, selbst ihr Spiel war bitterer Ernst. Frauen durften nicht vom Otter essen, wenn sie nicht wollten, dass ihre Kinder hektisch und unbezähmbar wurden. Einmal war Eistaucher an einem Biberteich vorbeigekommen, bei dem das Biberhaus direkt hinter dem Damm aus Baumstämmen lag. Alles hatte gut ausgesehen, aber seltsam still. Dann war neben dem Biberhaus ein Otter aufgetaucht und hatte sich gewandt aus seinen runden Augen umgeschaut, mit Blut an der Schnauze. Eistaucher war erschauert, als er sich das Gemetzel in dem runden Haus vorgestellt hatte, ein ganzes Rudel zufrieden daheim, und dann war plötzlich ein geschwindes schwarzes Etwas hereingeschwommen und hatte alle totgebissen.

Aber essen musste schließlich jeder.

Oben auf dem Grat über der großen Höhle sah Eistaucher etwas zwischen den Bäumen aufblitzen. Es war nicht rot, also kein Fuchs. Vielleicht ein Waldmann. Dann und wann tauchten sie in der Ferne auf, normalerweise in Wäldern, weshalb sie auch so hießen. Die meisten von ihnen waren glücklos, sagte Dorn immer, so glücklos, dass sie ihr Rudel verloren hatten. Weil Glück nämlich etwas Wirkliches war.

Dorn sagte immer, dass er kein Glück mehr habe und auch keine eigenen Geisterkräfte mehr, aber er habe gelernt, wie man die äußeren Geisterkräfte herbeirief, damit sie Besitz von einem ergriffen. Es sah nicht besonders angenehm aus. Manchmal seufzte er schwer, wenn er morgens aufwachte und begriff, dass es Zeit für eine seiner Geistreisen war. Dann trank er den ganzen Tag Beerenmaische und zitterte, während der Moment seiner Heimsuchung näher rückte. Oft versetzte er Eistaucher ohne jeden Grund einen Klaps auf die Ohren. Die Geister, die ihn besuchten, waren der Bisonmann, die Birkenfrau, die Farben der Nacht und ein weiterer, dessen Namen er niemals nannte. Wenn man anderen von seinen Fähigkeiten erzählte, vertrieb man die Geister dadurch manchmal, weshalb Dorn normalerweise nur zurückhaltend von derlei Dingen berichtete und sie oft auch ganz verheimlichte. Aber Eistaucher war sein Lehrling, und obwohl Dorn in dieser Beziehung nicht besonders viel von ihm hielt, musste er ihn entweder ausbilden oder sich einen neuen suchen. Eistaucher wäre froh gewesen, wenn Dorn ihn einfach aus seinen Diensten entlassen und fortgeschickt hätte. Immer wieder versuchte er, ihn so weit zu treiben, wenn auch mit wenig Hoffnung auf Erfolg. Während die Enten auf sich warten ließen und alle magerer und angespannter wurden, benahm Eistaucher sich Dorn gegenüber zunehmend unverschämt, oder er verließ einfach mehrere Tage hintereinander von morgens bis abends das Lager, wie er es als Kind so oft getan hatte. Aber Dorn war anscheinend fest entschlossen, ihn bei sich zu behalten, und letztlich gefiel es Eistaucher auch, Zeichnungen in den Stein zu kerben, Holz, Geweihe und Stoßzähne zu beschnitzen, Farben herzustellen und Bilder zu malen. Er wollte die großen Tiere in ihrer Höhle malen, wenn es für ihn so weit war. In dieser Hinsicht wollte er sehr wohl Schamane werden. Und Dorn wusste das und verwendete dieses Wissen gegen ihn. Außerdem rief er Eistaucher immer wieder ins Gedächtnis, dass man als Schamane die Möglichkeit hatte, viele Frauen aus der Nähe kennenzulernen, wenn auch nur dann, wenn sie krank waren. Eistaucher fand diese Vorstellung scheußlich. Vieles von dem, was Schamanen tun mussten, machte ihm Angst oder ekelte ihn.

Nicht nur blieben die Enten aus, eines Tages wurde die Luft sogar so kalt, dass man die Ohren der Sonne sah, und alle kehrten ins Lager zurück und begannen, sich auf einen Kälteeinbruch vorzubereiten. Jetzt war die schlechteste Zeit dafür, weil der letzte Schnee gerade schmolz und die Gänge all der kleinen Tiere zwischen Schnee und Boden geflutet waren. Es war ohnehin schon die gefährlichste Jahreszeit für alle Tiere, sehr viel schlimmer als der Winter selbst; wenn es zum Ende noch einmal Frost gab, war das ein großes Unglück. Aber der Himmel war von Raureif überzogen, und um die Sonne herum leuchteten ihre Ohren. Die Kälte kam unaufhaltsam. Jetzt war Feuerholz wichtiger als Nahrung.

Es war so kalt, dass einem das Gesicht einfror, so kalt, dass man sich den Pimmel abfrieren konnte; alle versammelten sich im großen Haus, sogar Heide.

Zwei Tage später, als überall erfrorene kleine Tiere herumlagen, wurde es wieder wärmer. Und am darauffolgenden Tag wurde es sehr warm. Sie hörten die erste Mücke, und wenn man eine Mücke hört, dann sind mit Sicherheit zehn mehr nicht weit. Schon bald würde das Eis auf dem Fluss brechen.

Sie versammelten sich auf dem Steinbison, wo sie zu beiden Seiten weit in die Große Urdecha-Schlucht hineinblicken konnten und das flache, verfärbte Eis mit den vielen Bruchstellen an den Ufern direkt unter ihnen lag. Dorn setzte seinen Bisonkopf auf und leitete die Gebete an, in denen sie den Fluss baten, sauber aufzubrechen, sodass er sich nicht aufstaute und die Gewundene Au und das Lager überflutete. So etwas war in früheren Jahren schon geschehen, und nur für den Fall, dass es erneut dazu kam, hatten alle ihre wertvollsten kleineren Besitztümer in ihren Gürteln und trugen ihre besten Kleider. Der Tag war eigentlich zu heiß dafür, so viel anzuziehen, aber schon bald würden sie im offenen Fluss schwimmen und all ihren Schweiß und ihre Bemalung abwaschen können. Es war einer der größten Tage des Jahrs. Und nachdem das Eis gebrochen war, würden auch ganz sicher die Enten kommen.

Stromauf- und stromabwärts ächzte der Fluss. Im Herbst, wenn er beim Zufrieren solche Laute von sich gab, schrie er nach seiner Schneedecke. Jetzt schrie er, weil er frei sein, weil er dahinströmen und die Sonne wieder sehen wollte. In dem tiefen Grollen und Knirschen erkannte Eistaucher eben jene Worte, die sein eigener Geist seit seiner Wanderschaft in ihm rief. Wie viele andere aus dem Rudel saß auch er auf dem Rücken des Steinbisons und ächzte gemeinsam mit dem Fluss.

Große, gezackte Schollen stiegen an den Stellen auf, wo das Eis auf dem Fluss zersplittert war, als drückte etwas, das an die Freiheit wollte, sie von unten hoch. Manche offene Stellen wurden zu Rinnsalen, in denen sich stromabwärts kleine Eisplatten sammelten. Viele Eisstücke waren an der Unterseite schwarz vom Flussschlamm. Das Grollen und Knirschen ertönte in immer kürzeren Abständen und wurde immer lauter.

Dorn trat an Eistaucher heran. Unter seinem Bisonkopf sah er seltsam klein aus. Mit lauter Stimme sagte er zu Eistaucher: — Lass uns zusammen die Geschichte vom brechenden Eis aufsagen, hier und jetzt, während wir zuschauen.

— Nein, sagte Eistaucher, ohne nachzudenken. Er konnte das Gedicht nicht.

Dorns rechte Hand schoss vor und verpasste Eistaucher einen Schlag aufs Ohr. Es war das erste Mal, dass der Schamane Eistaucher erwischt hatte, seit er von seiner Wanderschaft zurückgekehrt war. Eistaucher heulte auf und erhob sich, um wegzugehen.

— Nein, rief Dorn, baute sich vor Eistaucher auf und deutete zu Boden. Mit Augen wie zwei kleine Sonnen fixierte er Eistaucher. — Sag es auf, jetzt, während es vor deinen Augen geschieht, und merk es dir! Merk es dir!

Nach einer Weile neigte Eistaucher den Kopf. Er rieb sich das pochende Ohr und schaute auf den steinigen Rücken des Steinbisons herab. Tja, irgendwie hatte es immer in seinem Ohr gepocht, wenn er dieses Gedicht gelernt hatte. Mit einem lauten Seufzer begann er:

Der Frost muss frieren, das Eis Brücken schlagen,

Das Wasser trägt dich und verbirgt die Saat.

Einer allein löst des Eises Fessel

Und treibt den langen Winter aus.

Es wird wieder gutes Wetter geben,

Einen heißen Sonnensommer.

Großes Salzmeer, tiefer Pfad der Toten,

Damit du das Eis brichst, verbrennen wir Hülsdorn.

Nimm ihn zurück, wir brauchen ihn nicht,

Stoß die Sonne hinauf, brate die Luft,

Lass unter dem Eis das Wasser rasch strömen,

Flute die Auen mit geschmolzenem Schnee.

Fließ Wasser fließ,

füll die Schluchten füll die Schluchten,

Falle, Wasser, zurück in der Sonne, den Fels herab,

Falle Wasser falle.

— Nein, nein, sagte Dorn. — Es heißt: Fülle Wasser fülle.

Fülle Wasser fülle,

Steig aus der Tiefe

Schieb fort Eis und Schnee

Fülle von oben

Wie ein Finger im Handschuh

Wie das Kind aus dem Schoß

Ans Licht gepresst wird.

Presse nun, presse fest

Mutter Erde weiß Mutter Erde presst

Ein Zucken ein Krampf ein Knoten ein Pressen.

Brich Eis brich nun,

Brich Eis brich nun.

Eistaucher versuchte sich zu erinnern, was als Nächstes kam. Unter ihnen stieß die tiefste Seitenschlucht ein gewaltiges Stöhnen aus, wie eine riesige Frau, die unter Schmerzen ein Kind gebar.

Mit einem Mal sprach Dorn, und Eistaucher hörte dankbar zu, weil er sich die folgenden Worte noch nie hatte merken können.

Allerdings schwenkte Dorn auf eine andere Geschichte um, eine, die Eistaucher sehr viel vertrauter war.

Eines Frühlings kam ein großes Unwetter aus dem Westen,

Das die Häuser der Leute vom Fluss zerstörte.

Sie banden ihre Fellboote fest zusammen

Und saßen darin, als das Wasser in allen Tälern stieg

Und das Land ganz und gar bedeckte.

Hilflos trieben sie dahin.

In der bitterkalten Nacht erfroren so manche,

Und ihre Leichen fielen ins Wasser.

Dann beruhigten sich Wind und See

Und die Sonne brannte herab,

So hell schien die Sonne, dass manche an der Hitze starben.

Schließlich schlug ein Schamane mit dem Speer aufs Wasser

Und rief: Genug! Genug! Lass ab von uns!

Und dann warf der Mann seine Ohrringe in die See

Und rief erneut: Genug!

Und schon bald sank das Wasser

Und bildete wieder Bäche und Flüsse

Und zog sich nach Westen zurück, wo es heute noch liegt.

— Das muss ziemlich genau zu dieser Jahreszeit passiert sein, scherzte Eistaucher, als Dorn fertig war.

— Was meinst du damit?

— Ich meine, dass es keine Rolle spielte, was der Schamane gesagt oder getan hat. Das Wasser wäre ohnehin zurückgegangen, es war einfach an der Zeit.

Dorn starrte ihn an. — Wiederhole das, was ich gesprochen habe.

Eistaucher stand auf und sagte so laut er konnte:

Eines Frühlings kam ein Unwetter aus dem Westen,

Das die Häuser des Volks vom Fluss zerstörte.

Sie banden ihre Boote fest zusammen,

Und das Wasser stieg und bedeckte alles Land.

Hilflos und ängstlich trieben sie dahin.

In der bitterkalten Nacht erfroren so manche,

Und ihre Leichen warf man über Bord.

Dann beruhigten sich Wind und See

Und die Sonne kam heraus,

So hell schien sie, dass manche an der Hitze starben.

Und so streckte ein Schamane seinen Speer in die See

Und klagte laut: Genug, genug!

Und er warf seine Ohrringe in die See,

Ob als Gabe oder Geschoss, wusste er nicht.

Und weil das Wasser ohnehin schon sank

Änderte das nichts.

Das Land kehrte wieder

Mit den Bächen und Flüssen wie wir sie heut kennen

Und dem großen Salzmeer an seinem Platz.

Bei Eistauchers Änderungen hob Dorn voller Zorn die Faust, aber inzwischen krachte und donnerte es unter ihnen schon sehr laut, und die Geräusche klangen fast wie das Krachen und Donnern eines Gewitters am Himmel. Eistaucher hoffte, dass es eines Tages wirklich so kommen würde, dass das Eis während eines gewaltigen Gewitters brechen würde, und er hatte eine Idee für ein Gedicht, das er dann hoffentlich würde aufsagen können, falls es jemals dazu kam.

Doch dieser Moment, mit dem wolkenlosen Himmel und dem Donnern, das von unten kam, war zu Ehrfurcht gebietend, um bei Geschichten oder irgendetwas Menschlichem zu verweilen. Es blieb nichts, als stummer Zeuge zu werden. Stromabwärts zersplitterte wogend das weiße Eis, angefangen an den Außenseiten der Flussbiegungen, und trieb von dort den Fluss hinab, bis weite Teile des schwarzen, gekräuselten Wassers zum Vorschein kamen. Eisschollen lösten sich von den Ufern oder brachen auseinander und traten ihre Reise mit der Strömung an, weiße Flöße, die ineinanderkrachten und neue, gewaltige Ansammlungen bildeten, die ihrerseits weiterschwammen, bis sie schließlich gegen ein Ufer oder ein weiteres Eisfloß prallten, sich übereinanderschoben oder brachen und die Kanten dabei gen Himmel hoben. Manchmal verliefen ganze Eisdämme von einem Flussufer bis zum anderen, und hinter ihnen sammelte sich Wasser und trieb ihnen weitere Eisflöße zu, sodass sie schnell wuchsen und sich mehr Wasser aufstaute und mehr Druck ausübte, bis mit einem Tosen, das lauter war als der Donner, die ganze weiße Masse in den schwarzen, strudelnden Strom kippte. Platschend polterten die Eisschollen hinab, bis sich ein weiterer Damm verfing und sie erneut aufhielt.

Alle standen mit ausgestreckten Armen an der flussabwärts gewandten Seite des Steinbisons und beobachteten das Spektakel; alle riefen durcheinander, doch niemandes Stimme war zu hören. Selbst Heide hatte den Mund aufgerissen. Ihre Wangen waren gerötet, und sie grinste übers ganze Gesicht. Das Rudel stieß ein Wolfsgeheul aus, doch inmitten des ohrenbetäubenden Lärms war auch davon nichts zu hören. Als sich das Krachen stromaufwärts bis unter den Steinbison selbst ausbreitete, tanzten sie und umarmten einander und drehten sich herum, um stromaufwärts zu schauen, wobei sie sich sorgsam von der Kante fernhielten — jetzt hinunterzufallen wäre keine gute Idee gewesen. Und als die Risse unter ihnen zu sehen waren und sich weiter stromaufwärts fortpflanzten, heulten sie lauter denn je und konnten sich über das gewaltige Grollen der Welt noch immer nicht vernehmen.

Und dann machte jemand eine Reihe Enten am Himmel aus.

Der Sommer war da.

16

Sie waren also nicht verhungert. Sie hatten das Zwacken des Hungers verspürt, und da sie die ersten eintreffenden Enten nicht fingen, mussten sie es noch ein Weilchen länger erdulden. Sie verspeisten die letzten Winternüsse und machten sich daran, Schlingen für die in den nächsten Tagen eintreffenden Enten auszulegen. Doch das Hungern fühlte sich anders an, wenn man wusste, dass es nicht mehr lange anhalten würde: bohrender, aber auch weniger Furcht einflößend.

Nach den vier erfolgreichen letzten Wintern war ihr Rudel langsam ziemlich groß geworden. Zwei Dutzend und zwei war noch immer eine gute Zahl: nicht so klein, dass sie sich um ihre Verteidigung hätten sorgen müssen, und nicht so groß, dass sie nicht mehr genug Nahrung für alle hätten sammeln können.

Trotzdem war da die Art, wie jeder jeden kannte. Verwandtschaft, Gewohnheiten, Vorlieben, Abneigungen, Schwächen. Alles. Gerüche, Verdauung, Redewendungen. Sie kannten sich so gut, dass sie nicht mehr interessant füreinander waren. Ein Teil der Vorfreude auf den kommenden Sommer hatte mit der Aussicht darauf zu tun, endlich wieder andere Leute zu treffen.

Nachdem sie an den gemächlich fließenden Stellen des Flusses ihre Entenfallen aufgestellt hatten, zog Eistaucher mit Heide los, um ihr bei der Suche nach bestimmten Kräutern zu helfen. Manche davon wuchsen nur in feuchten Senken, und Eistaucher konnte an Stellen hinabsteigen, die für Heide mit ihren steifen Knochen unerreichbar blieben.

Heides Katze folgte ihnen in einigem Abstand. Heide hatte sie als verwaistes Kätzchen gefunden und sie durchgefüttert, aber ab einem gewissen Alter war sie ihrer eigenen Wege gegangen und kehrte inzwischen nur noch im Winter zurück, um im Lager herumzuschleichen und Essen zu ergattern. Sie hatten eine ganze Reihe von solchen Lagerdieben, größtenteils Habichte und Eichhörnchen, aber auch einen Nerz, ein paar Murmeltiere und Füchse und sogar eine in der Nähe lebende Biberfamilie, die immer wieder vom Fluss her bei ihnen einfiel.

Heide benutzte ihre Katze, um neue Kräuter zu erproben. Sie legte ihr ein Stück von ihrem Lieblingsfleisch mit einem Zweiglein einer seltsamen Pflanze darin hin, und wenn die Katze es fraß, wartete Heide ab, was passierte. Sie ging davon aus, dass die Katze an keiner Pflanze sterben würde, weil sie alles, was ihr nicht bekam, gleich wieder hochwürgte.

Wenn Heide das beobachtete, scheuchte sie die Katze weg und sah sich das Erbrochene genau an. Sie nahm sogar Klümpchen davon zwischen Daumen und Zeigefinger und berührte sie mit der Zunge.

Als sie das diesmal tat, sagte Eistaucher: — Heide, du isst Katzenkotze.

— Na und? Ich kann Geschmäcker schmecken, die mich an andere Geschmäcker erinnern, die ich kenne. Dadurch bekomme ich eine Ahnung, wie man diese Blume vielleicht anwenden kann.

— Und wenn du daran stirbst?

— Katzen haben einen sehr feinen Magen. Ich werde nicht daran sterben.

Eistaucher sagte: — Ich habe letzte Nacht von ein paar Löwen geträumt, ein kleines Rudel, das ein Bison gejagt hat.

Das interessierte Heide nicht. — Ich habe keine Ahnung von Träumen. Vielleicht sind sie eine dieser Welten, die wir nicht so gut sehen können. Wir erhaschen immer nur kurze Blicke davon. Ich weiß nicht, was wir da sehen. Es ist diese Welt, die ich kenne. Es ist diese Welt, die ich sehen möchte.

— Und deshalb isst du Katzenkotze.

— Besser, als Scheiße zu fressen.

— Natürlich, aber wer würde das denn tun?

Heide schüttelte düster den Kopf. — Wir müssen alle manchmal Scheiße fressen.

Eistaucher wusste nicht, was er darauf erwidern sollte.

Heide musterte ihn einen Moment lang und lachte dann ihr kurzes Hexenlachen. — Wenn du hungrig genug bist, isst du alles. Und wenn das Essen das erste Mal durch dich durchgeht, dann wird nicht alles aufgezehrt. Einen Teil scheißt man unverzehrt aus. Also gibt es in der Scheiße auch Nahrhaftes. Ich muss zugeben, dass ein solcher Durchgang wirklich ziemlich scheußlich ist. Man bekommt Blähungen, Durchfall, und es schmeckt wie Scheiße, das ist mal sicher. Aber man kann immer noch etwas herausholen. Das merkt man daran, dass man es wieder tut.

— Wieder?

— Nicht mit dem gleichen Zeug. Später, meine ich. Ein dritter Durchgang funktioniert nicht. Der Körper weiß das und würde das Zeug ohnehin nicht reinlassen.

— Also hattest du sonst nichts zu essen?

— So ist es. Manchmal ist der Winter hart. Stirnrunzelnd blickte Heide zum westlichen Himmel. — Härter als irgendeiner, den du jemals erlebt hättest.

Sie hob mehr von den Kräutern auf, die die Katze hochgewürgt hatte, und suchte sie nach unbeschädigten Blüten ab. — Und hoffentlich härter als jeder, den du noch erleben wirst, fügte sie hinzu. — Aber es hat den Anschein, als käme immer mal wieder ein solcher Winter.

17

Als der siebte Tag des siebten Monats nahte, begannen sie, ihre Sachen durchzusehen und zu entscheiden, was sie mit auf ihre Sommerreise nehmen und was sie hier vergraben würden. Sie würden das große Haus und das Frauenhaus flach zusammenlegen und mit großen Steinen bedecken; wenn man sie aufgebaut ließ, wurden sie nur ausgeplündert. Selbst zusammengelegt und verdeckt machten die Häuser bei ihrer Rückkehr manchmal den Eindruck, als hätten sich fremde Leute oder ein paar Klotzköpfe daran zu schaffen gemacht, während andere Male deutlich zu erkennen war, dass Bären mit den Tatzen einige der Steine weggerollt und darunter herumgeschnüffelt hatten, zweifellos angezogen von den Gerüchen. Doch da das Rudel sein Lager immer so aufgeräumt wie möglich hinterließ, würden Plünderer nichts als alte Felle zu essen finden, und obwohl hungrige Bären auch alte Felle aßen, wie sie überhaupt alles aßen, was lebte oder gelebt hatte, wurde das zusammengelegte Lager doch oft in Frieden gelassen und war so nach ihrer Rückkehr sehr viel leichter wieder aufzubauen.

Eistauchers Kleider waren gut gearbeitet und sauber. Er hatte sie selbst zusammengenäht, zugeschnitten hatte die meisten Teile allerdings Heide, die ihren eigenen Stil hatte. Eistaucher gefiel es, wie ihre Kleider sich trugen und aussahen, und wenn er an die Behelfslösungen seiner Wanderschaft zurückdachte, überkam ihn ein Wohlbehagen und er fühlte sich fein herausgeputzt.

Er trug einen Webhut aus Schilf, der eine breite Krempe gegen die Sonne hatte und sich bei Wind mit einer Schnur unterm Kinn festbinden ließ. Den hatte er selbst gemacht, und er würde ihn so lange tragen, bis er endgültig hinüber war, und sich dann einen neuen weben.

Über seiner restlichen Kleidung trug er einen gewebten Schilfumhang, dem Wasser und Sonne so zusetzten, dass Eistaucher jeden Sommer einen neuen brauchte. Wenn er ihn gerade nicht brauchte, faltete er ihn zusammen und stopfte ihn in seinen Sack, was auch nicht gerade dazu beitrug, dass der Umhang länger hielt.

Darunter kam eine Jacke aus Rentierfell, mit Krausen aus Marder- und Murmeltierpelz um die Kapuze, die Ärmel und den unteren Saum.

Untenherum trug er einen Rock aus Rehhaut, die er mit dem Fell nach innen trug, und dazu eine Schlinge aus Kaninchenfell, in der er seinen Pimmel verstecken konnte, wenn es kalt war.

Schließlich hatte er auch Beinlinge aus Rentierfell, doch die ließ er in seinem Bündel, wenn es nicht gerade bitterkalt war oder er durch ein dichtes Dornengestrüpp musste; lieber ließ er so oft es ging die Luft an seine Beine.

Oft ging er auch barfuß, aber seine Schuhe, die er auf hartem Grund oder bei langen Wanderungen trug, gehörten zu Heides besten Werkstücken. Ihre Sohlen bestanden aus Bärenfell und die Oberteile aus Rehleder, und sie waren groß genug, dass man eine Schicht dünnen Strohs oben hineinstopfen konnte, wenn man es warm haben wollte.

Über den Schultern verliefen die Fellriemen seines Rucksacks, und darin befand sich sein Feuerzeug, etwas Mulm und Zunderpilze, eine Glutschale und ein paar Bärenfellpolster für seinen Hintern. In seiner Gürteltasche trug er Feuerstein und Geweihspitzen und Nadeln, einen Stichel, ein paar Klingen, eine Quaste aus durch einen Knochenring gezogenen Lederriemen, einen Klingenschärfer und eine Sammlung von Glückskieseln und -zähnen, darunter auch die seiner Ricke.

Das war eigentlich alles, was man brauchte, und dazu noch einen Speer und eine Speerschleuder. Mit dieser Ausrüstung konnte man auf Reisen gehen. All das nahm man einem Jungen weg, wenn er auf Wanderschaft ging, angeblich, damit er beweisen konnte, dass er alleine zurechtkam; aber nun kam Eistaucher der Gedanke, dass viele Jungen vielleicht überhaupt nicht zurückkehren würden, wenn man ihnen erlaubte, ihre Sachen mitzunehmen.

Eistaucher dachte sich selbst ein Rätsel aus:

Moment, ich sehe etwas:

Mein Herz ist von Schilf bedeckt.

Marder und Murmeltier sind mein Pelz.

Rentier und Saiga bedecken meine Beine.

Mit Rehen an den Füßen wandele ich auf dem Rücken eines Bären.

Ich kann Stein zerbrechen Holz zersägen Feuer entzünden,

Knochen schnitzen Wände bemalen Schnitte zukleben,

Jedes Tier töten außer einem,

wie ein Vogel singen wie der Donner trommeln.

Was bin ich?

Ich bin Eistaucher der Wanderer.

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