Am zweiten Abend des Acht-Acht-Fests in jenem Sommer, beim Tanz nach dem Feuerspektakel, fiel Eistaucher auf, dass Elga nirgendwo unter den Frauen war, die um das Hauptfeuer tanzten. Er tanzte einmal gegen den Kreis um das Feuer herum und ging dann zurück zu ihrem Lager, um sie zu suchen. Heide war dort, mit dem Kind und mehreren anderen der Jüngeren, aber Elga nicht. Er fragte Heide nach ihr.
Heide verzog das Gesicht auf eine Art, die seinen Herzschlag vor Sorge flattern ließ.
— Was ist?, wollte er wissen.
— Such sie. Heide blickte zu den Kindern. — Such sie, oder schick Dorn schnellstens her zu mir.
— Warum? Was ist denn los?
— Geh sie einfach suchen. Ich erkläre es dir später.
Erschreckt rannte Eistaucher los. Noch einmal umrundete er eilig das Hauptfeuer, um sich dann den Nebenfeuern zuzuwenden und schließlich den ganzen Ring von Lagern abzuklappern. Elga war nirgends zu finden. An einem der kleineren Feuer sah er Dorn inmitten seiner kleinen Gruppe von Schamanenfreunden, und vor Angst keuchend rannte er zu ihm und zog ihn beiseite.
— Ich kann Elga nirgendwo finden, und Heide hat gesagt, dass ich dich holen soll.
— Wie meinst du das? Er klang leicht angetrunken.
— Elga! Wir haben den Kleinen bei Heide im Lager gelassen und sind zum Tanz gegangen, und sie ist stehen geblieben, um mit irgendwem zu reden, und ich habe weiter im Kreis getanzt, und danach habe ich sie eine Weile nicht gesehen, aber ich dachte, sie wäre bloß auf der anderen Seite des Feuers, in der Frauenreihe. Als ich sie dann immer noch nicht gesehen habe, dachte ich, sie wäre zurück ins Lager gegangen, um etwas zu holen, also bin ich dorthin gegangen, aber da war sie auch nicht. Und Heide gefiel das irgendwie nicht, ich weiß auch nicht, warum.
— Dann wollen wir mal sehen, was sie will, sagte Dorn, die Stirn in Falten gelegt.
Als sie sich dem Lager näherten, kam ihnen Heide schon entgegen. — Das Mädchen kommt aus dem Norden, sagte sie zu Dorn. — Sie ist einem Rudel von dort oben davongelaufen. Ich fürchte, dass man sie zurückgeholt hat.
— O nein, sagte Dorn voll Entsetzen. Mit einem Blick zu Eistaucher fügte er hinzu: — Welches Rudel?
— Eines aus dem Norden. Eines, das nicht zu diesem Fest kommt.
— Warum waren sie dann hier?
— Ich weiß nicht, woher sollte ich auch? Geh Pippalott suchen und Schiefer, mal sehen, was die dazu meinen.
Dorn fasste Eistaucher an der Schulter, drückte ihn fest. — Geh Schiefer und Steinbock suchen und deine Freunde. Hol alle her. Sag ihnen von mir, dass wir ein Problem haben.
Eistaucher rannte zu den großen Feuern. Schnell fand er Schiefer und Steinbock und teilte ihnen mit, was passiert war. Innerhalb einer Faust hatten sich alle am kleinen Feuer in ihrem Lager versammelt. Dorn kehrte mit Pippalott im Schlepptau zurück, und der Reisende setzte sich zu ihnen ans Feuer, wärmte sich die Hände und hörte mit an, wie das Rudel der Wölfe die Lage besprach. Er nahm einen Wasserschlauch von Salbei entgegen und trank daraus, spritzte sich dann etwas Wasser ins Gesicht und schüttelte den Kopf, als wollte er die vom Feiern herrührende Benommenheit verscheuchen. Der Lärm der Menge um die Freudenfeuer half dabei nicht gerade.
Mit einem Mal wurde Eistaucher klar, dass Schiefer und Steinbock, aber auch Falke und Moos und Achtlos nicht die Absicht hatten, sich auf eine längere Suche nach Elga zu machen.
— Wir müssen sie retten!, rief er aus, als er das begriff. — Das können wir uns nicht von ihnen gefallen lassen!
— Sei still, sagte Schiefer zu ihm. — Die Entscheidung liegt nicht bei dir.
— Verteidigen müssen wir uns, bemerkte Dorn. — Wenn wir das nicht tun, wird es sich herumsprechen.
— Sie ist weggerannt. Sie hat nicht zu uns gehört, sie ist einfach nur bei uns aufgetaucht.
— Wir haben sie aufgenommen, erwiderte Heide. — Das kannst du nicht einfach widerrufen. Den ganzen Winter über hat sie zu uns gehört und hat uns beigestanden, und außerdem ist sie mit Eistaucher verheiratet und hat sein Kind zur Welt gebracht. Also rede nicht so von ihr.
Heides vernichtender Blick blieb bei Schiefer nicht ohne Wirkung. Er streckte die Hand aus. — Na schön, aber du hast gesagt, dass sie einem anderen Rudel davongelaufen ist. Und wir wissen nicht, wo sie hin ist.
— Und du würdest lieber weitertanzen, fügte Heide verächtlich hinzu.
Schiefer starrte sie böse an. Zweifellos hätte er sie am liebsten zum Schweigen gebracht, doch er wusste auch, dass man sich nicht so leicht mit Heide anlegte. Niemand sonst konnte jemanden so gut mit dem Bösen Blick belegen wie Heide, nicht einmal Dorn. Dies war nicht der richtige Augenblick für einen solchen Machtkampf. Und Schiefer merkte schnell, was das Rudel gerade brauchte, sonst hätte er es nicht zum Anführer gebracht.
Er setzte sich also neben Pippalott. — Weißt du, mit wem wir es zu tun haben?
— Vielleicht. Ich bin mir nicht sicher, wer sie mitgenommen hat. Aber ich habe Geschichten über die Gegend gehört, aus der sie kommt, und wenn es tatsächlich jene Leute waren, die sie sich geholt haben, dann kenne ich sie.
— Ist es ein großes Rudel?
— Die Rudel des Nordens sind meistens größer als die des Südens.
— Kannst du ihrer Spur folgen?
— Vielleicht. Es hängt davon ab, ob sie direkt nach Hause gezogen sind oder nicht.
— Warum sollten sie das nicht tun?
Pippalott sah ihn eindringlich an.
Schiefer stand auf und blickte ins Feuer. Als er sprach, sah er Eistaucher nicht an.
— Wir können nicht einer Frau nach Norden nachlaufen. Wir haben es gerade so durch diesen Frühling geschafft, wir sind noch immer geschwächt, und wir müssen hier unsere Rentiere verarbeiten und rechtzeitig zur Lachszeit am Lachsfluss sein. Und wir müssen genug zusammenbekommen, um den Raben etwas im Austausch für ihre Hilfe zu geben. Wir haben weder genug Nahrung noch die nötige Kraft, um sie zu verfolgen. So ist es nun einmal. Wir schaffen das nicht. Vielleicht können wir sie uns nächstes Jahr zurückholen.
Eistaucher verließ das Feuer. Außerhalb des Lichtkreises, auf einer niedrigen Anhöhe über dem Festplatz, blieb er stehen. In seinem Innern spürte er den Schlag der Trommeln vom großen Feuer. Er fühlte sich wie betäubt; er begriff das alles nicht. Er verstand zwar, was vorging, erkannte die Ungeheuerlichkeit des Geschehens, aber all das war so gewaltig und kam so unvermittelt, dass er es noch nicht wirklich spürte. Er war auf dieselbe Art benommen wie damals, als er einmal direkt gegen einen Baum gelaufen war, weil er beim Rennen über die Schulter geblickt hatte. Das hatte er danach nie wieder getan. Pass auf, wo du hinläufst! — den Spruch verstand er. Das Summen in seinem Inneren verwandelte sich plötzlich in einen Anfall von Übelkeit. Er stemmte die Hände auf die Knie und ließ für ein Weilchen den Kopf hängen.
Ich bin der dritte Atem
Ich komme zu dir
Wenn du alles verloren hast
Wenn du nicht mehr weiterkannst.
Pippalott verließ ihr Lager, und Eistaucher folgte ihm. Er achtete darauf, ihn erst ein gutes Stück weiter einzuholen.
— Pippa! Ich brauche deine Hilfe!
— Wie meinst du das?, fragte der Reisende zurückhaltend.
— Kannst du mir zeigen, wo diese Leute aus dem Norden leben? Und welchen Weg sie dorthin nehmen?
— Das könnte ich dir schon zeigen, räumte Pippalott ein. — Aber hör mal, Junge. Ich will nicht, dass du dich mit den Nordleuten anlegst. Es wird nicht leicht für dich, deine Frau von ihnen zurückzustehlen, vor allem, wenn du allein bist. Und auch ein Zweiter ist keine große Hilfe.
— Ich tue es trotzdem, sagte Eistaucher. — Zeig mir einfach, wo sie sind, dann kannst du gehen.
Pippalott runzelte die Stirn. — Ich werde weggehen, sagte er nach langem Überlegen. — Das muss dir klar sein. Du bist auf dich gestellt. Ich werde nach Osten reisen.
— Na schön, ich verstehe. Das reicht mir. Mehr würde ich auch nicht erwarten.
— Das will ich hoffen.
Die Sommernächte in der Steppe waren kurz, und als Pippalott bei seinen Freunden auf dem Fest Erkundigungen eingeholt hatte, hellte sich der Himmel im Osten bereits auf. Eistaucher eilte an den Freudenfeuern vorbei, schlüpfte in ihr Lager zurück und setzte sich neben Heide, die neben dem Bett des Kleinen am Boden kauerte und vor sich hindöste. Sie schreckte auf, straffte sich und blickte ihn an.
— Ich nehme die Verfolgung auf, sagte er.
Sie zischte. — Ich glaube kaum, dass du das allein kannst.
— Ich gehe. Kümmer du dich um das Kind. Ich werde vorsichtig sein.
— Das solltest du auch, sagte sie finster. — Und nicht nur das. Du wirst listig sein müssen und geduldig. Geh bei Nacht zu ihnen, wenn deine Gelegenheit kommt.
— Das werde ich.
Mit einem Mal streckte sie die Hand aus und packte ihn am Arm. — Ich finde nicht, dass du gehen solltest.
— Ich muss aber.
Und im Grau des dämmernden Morgens ging er, um sich mit Pippalott zu treffen.
Der Acht-Acht-Festplatz lag südlich eines Gebiets, das Pippalott als die Fünf Flüsse bezeichnete, wo mehrere Wasserläufe in den Lier mündeten. Während sie eilends den Ring von Lagern verließen, erklärte Pippa Eistaucher, dass die Nordleute höchstwahrscheinlich durch das Tal des Maia, der in den Lier mündete, wandern würden. Das Tal stieg in nördlicher Richtung leicht an und verlief an vielen Stellen so schnurgerade, dass der Fluss in seiner Mitte direkt auf den Spindelstern zeigte. Am oberen Ende des Maia gab es einen leicht zu querenden, breiten Pass, gefolgt von einem steilen Hang, der in ein flaches, von Osten nach Westen verlaufendes Tal führte, dessen Fluss weiter westlich in das große Salzmeer mündete. An der Nordseite dieses breiten Tals befand sich laut Pippa der große Eiswall, der alles im Norden bedeckte — das Ende der Welt in dieser Himmelsrichtung, gerade so, wie die Welt im Westen mit dem Salzmeer endete. An diesem Ort, wo Eis und Land und das Salzmeer zusammentrafen, lebten die Nordleute.
— Lebt dort oben sonst noch etwas? Was essen sie?
— Die üblichen Leute. Lachs und Rentier, Gänse und Enten, im Winter Robben von dem zugefrorenen Meer. Tatsächlich haben sie gut zu essen. Nur ist es dort immer kalt.
— Das könnte ich nicht ertragen.
— Sag das nicht, erwiderte Pippalott. Sag niemals laut, was du nicht willst, hat man dir das bei deinem Rudel nicht beigebracht?
Eistaucher antwortete nicht. Er folgte in den Fußspuren des geschwind wandernden Reisenden. Noch immer war ihm schlecht. Seine Eingeweide waren so verkrampft, dass er vornübergebeugt ging. Er wollte rennen, aber Pippa gab einen Wanderschritt vor. Einen schnellen Wanderschritt, zugegeben. Eistaucher biss die Zähne zusammen und folgte seinem Führer, wobei er im Dämmerlicht zu Boden schaute. Er hatte das Gefühl, dass Rennen ihm leichtergefallen wäre.
Pippalott atmete beim Laufen schwer durch die Zähne und gab einen pfeifenden Laut von sich, der wie ein kleines Lied klang, sein Lied vom schnellen Gehen. Reisende leisteten sich selbst Gesellschaft, und Eistaucher hatte schon viele Arten gesehen, auf die sie das taten: Manche von ihnen redeten unablässig, oft über Dinge, die niemandem aus dem Rudel der Wölfe eine Bemerkung wert gewesen wären; andere sangen, und wieder andere schlugen ihre Wanderstöcke zusammen, ehe sie sie wieder in die Erde rammten. Glücklicherweise tat Pippa nichts von alledem, er pfiff nur, und wie sich zeigte, war er schnell, sogar sehr schnell: Eistaucher musste sich anstrengen, um mitzuhalten.
Lange gingen sie einen Pfad am Fluss entlang, bis ein tiefes Seitental sie zwang, diesem flussaufwärts bis zu einer Biegung und einem Höhenzug zu folgen, der an der Westseite des Maia verlief. Oben befand sich ein typischer Gratweg, breit genug, dass man hier im Morgenlicht gut dahineilen konnte.
Doch sie mussten vorsichtig sein. Wie so oft wuchs hier oben nichts mehr, und in der grauen Dämmerung konnten sie den Grat entlang weit voraus in die Höhe blicken; was bedeutete, dass jeder, der sich dort oben befand, zu ihnen herunterblicken konnte. Sie durften auf keinen Fall gesehen werden. Und da diese Leute eine Frau geraubt hatten, mochten sie sehr wohl einige Männer zurückgelassen haben, um mögliche Verfolger aufzuhalten. Ein schneller, kleiner Hinterhalt würde genügen, um sie loszuwerden. Inzwischen wurde es heller, bis schließlich nur noch der Morgenstern und wenige andere Nadelstiche an der grauen Kuppel funkelten, und so verließen sie den Grat und wanderten oberhalb des Maia zwischen Bäumen und Felsen am Hang entlang. Hier kamen sie nur langsamer voran, aber dafür konnten sie durch die Schatten kleiner Fichten und Birken schlüpfen, ohne ins Weidengestrüpp am Ufer zu geraten, und dabei immer wieder zu dem Grat hinaufschauen, der sich vor ihnen am Himmel abzeichnete. Es war die sicherere, wenn auch langsamere Art zu reisen, und wenn sie Deckung hatten, beeilten sie sich besonders, um die verlorene Zeit wieder wettzumachen.
Sie wanderten den ganzen Tag lang und machten nur zwei Pausen, bei denen sie sich hinsetzten, etwas aus ihren Rucksäcken aßen und ausgiebig aus zweien der kleinen Seitenflüsse tranken, die sie auf umgestürzten Bäumen überquerten. Pippa aß schnell. Seine langen, ausgreifenden Schritte wirkten niemals übereilt, und doch legte er in kurzer Zeit erstaunlich große Strecken zurück. Im Laufe des Tages erkannte Eistaucher, dass er seine eigenen Wege hatte, dass er Linien durch das Land folgte, die Eistaucher überhaupt nicht gesehen hätte, die sich jedoch unter seinen Füßen als schmale Pfade erwiesen.
— Ich bin ein Geradeläufer, sagte Pippa, als Eistaucher ihn auf diese Pfade ansprach. — Damit meine ich, dass ich auf einer schönen, ordentlichen Linie reise. Ich gehe nicht gerade gegen das Land an, wenn es keinen Sinn hat, aber ich halte nichts von Umständlichkeiten. Steigungen und Gefälle sind normalerweise nicht so stark, dass man wegen ihnen vom geraden Weg abweichen müsste. Wie dem auch sei, ich suche immer nach dem besten Weg, und wenn ich mich durch eine Gegend bewege, in der ich bereits zuvor war, halte ich immer Ausschau nach besseren Wegen als denen, die ich schon kenne. Und wenn ich eine neue Gegend erkunde, tja, dann gibt es nichts Besseres, als einen guten Weg zu finden.
— Erinnerst du dich an alle Orte, an denen du jemals warst?
— O ja. Natürlich.
— Und warst du schon einmal hier in der Gegend?
— O ja. Sonst würden wir nicht so schnell vorankommen. Wir müssten nach Wegzeichen suchen. Doch so, wie die Dinge liegen, wissen wir, wohin sie unterwegs sind. Außerdem habe ich einige Anzeichen dafür gesehen, dass sie hier vorbeigekommen sind, und zwar vor nicht allzu langer Zeit. Wir können sie also hoffentlich einholen. Du hättest sehr viel bessere Chancen, wenn wir sie noch einholen, solange sie unterwegs sind, anstatt erst bei ihrem Lager.
— Tust du so etwas denn oft?
Pippa zuckte mit den Schultern. — Dann und wann kämpfen sie gegen die anderen Nordleute. Und Frauen werden auch immer wieder gestohlen, wie du ja gesehen hast. Ja, dort oben gibt es schon seit einer Weile böses Blut zwischen einigen Rudeln. Manche behaupten, dass der große Eiswall ihnen Angst macht und sie in Wut versetzt, und andere meinen, dass sie vor Kälte nicht mehr klar denken können. Aber sie verhalten sich hitzig, deshalb bin ich mir da nicht so sicher. Sie sind wie Otter.
— Ah, sagte Eistaucher, und ein Schauer lief ihm über den Rücken. Der unbezähmbare Otter, der mörderische Otter. — Das klingt sehr seltsam.
Pippa warf Eistaucher einen Blick über die Schulter zu, ehe er sich umdrehte und seine Wanderung fortsetzte.
— Du kommst aus einem guten Rudel. Ein gutes Rudel in einem guten Landstrich. Im Süden sind die Rudel alle sehr freundlich. Aber in manchen Landstrichen ist es anders. Die Nordleute sind zäh. Sie kämpfen dort oben ums Überleben.
— Aber warum?
— Was meinst du damit? Es gibt kein Warum. Es gefällt ihnen so. Sie kämpfen gerne, weil die, die überleben, es nicht weiter schlimm finden. Auf diese Weise kommen sie in den Besitz von Dingen, und dort oben ist es vielleicht das, worauf es ankommt.
Eistaucher seufzte und versuchte, den Gedanken an die Nordleute zu verdrängen. Vorerst kam es darauf an, Pippa dicht auf dem Fuß zu folgen und den Reisenden nicht aufzuhalten. Sei sein Schatten, wie es auf der Jagd hieß. Wie es um Elga stand, würden sie sehen, wenn sie die Nordleute einholten. Doch der Gedanke an sie war beinahe noch schlimmer als der an diese Otterleute. Er spürte, wie seine Eingeweide sich zusammenzogen, und ging wie ein ausgehungerter Wolf, das Rückgrat behutsam über den straffen Schmerz gekrümmt. Er versuchte, den Blick auf dem Boden unter Pippas Füßen zu halten und seine Schritte sorgfältig zu setzen.
Hier in diesem lang gestreckten Tal war die Krume dünn. Oft kamen sie an großen, kahlen Steinplatten vorbei, in deren Spalten und Vertiefungen Moos und Kriechweiden wuchsen. Der Fels war von Flechten bedeckt, die wie Farbspritzer aussahen. Auf dem Pass am oberen Ende des Maia-Tals wuchsen blassgrüne Flechten in großen Ringen, die von innen nach außen abstarben, dabei andere Flechten vom Fels verdrängten und Kreise sauberen, rosafarbenen Gesteins hinterließen. Für einen kurzen Moment nahm Eistaucher diese Dinge wahr, ehe er wieder in seiner Angst versank.
Er und Pippa kauerten sich zwischen den rosafarbenen und grünen Flecken hinter eine Reihe von Felsbrocken und hielten Richtung Norden Ausschau, den weiten Weg entlang. Sie entdeckten nichts, und während des restlichen Tages stiegen sie einen Hang in das große, flache Tal hinab, das nach Westen verlief. Pippa sagte, er wolle den Fluss in seiner Mitte an einer ihm bekannten Furt queren, die etwas weiter westlich läge, und machte sich wieder auf den Weg.
Kurz vor Sonnenuntergang blieb er stehen. — Lass uns etwas essen und dann sehen, ob wir im Mondlicht weitergehen können. Das werden sie nicht tun, also holen wir sie vielleicht ein.
Er zog sein Essen aus dem Rucksack, kramte darin herum, holte seinen Gänselederbeutel mit Murmeltierfett hervor und hielt ihn Eistaucher hin, der sich etwas von dem dickflüssigen Fett mit dem Finger in den Mund schob. Murmeltierfett war so reichhaltig, dass man es normalerweise nicht pur aß; davon wurde einem schlecht. Normalerweise erwärmte man es zu einer Brühe und stippte kleine Fleischstückchen hinein. Doch auf der Jagd konnte man kleine Schlucke davon trinken, und nach einem langen Moment der Übelkeit breitete es sich im Bauch aus und verlieh einem letztendlich doch neue Kraft. Kleine Schlückchen, Faust für Faust; in manchen Rudeln war das die Hauptnahrung für die Jagd, und Pippa stammte wohl aus einem davon.
Es war der zwölfte Tag des achten Monats, und bei Sonnenuntergang stand der zunehmende Mond bereits im Osten am Himmel und erhellte das Land, während das Sonnenlicht versiegte. Pippa führte Eistaucher zu einem niedrigen Grat, auf dem sie Richtung Norden wanderten. Er ging nun langsamer, und als sie bestimmte Vorsprünge auf dem Grat erreichten, kauerte er sich hinter Felsbrocken, um sich nicht vor dem Himmel abzuheben, und spähte wachsam erst den Grat hinauf und dann ins benachbarte Tal. Eistaucher tat es ihm mit pochendem Herzen nach, doch sie entdeckten nichts. Der Großteil der Nacht war bereits verstrichen, der Mond ging im Westen unter, und langsam setzten sie ihren Weg in der kalten Luft fort. Eistaucher spürte den langen, anstrengenden Marsch in den Füßen. Doch als der Mond unterging und die Nacht entsprechend schwärzer wurde, stieg Pippa auf einen Vorsprung und setzte sich leise hin. — Bleib unten.
Eistaucher setzte sich und verschnaufte.
— Sieh dort, sagte Pippa und deutete nach vorne. — Ihr Feuer.
Weit unten im Tal, Richtung Norden, war ein winziges gelbes Flackern zu sehen.
— Ah ja, sagte Eistaucher. Hoffnung und Angst schlugen einen wilden Doppeltakt in seiner Brust. — Und jetzt?
Eine Weile schwieg Pippa. Dann sagte er: — Sie werden wahrscheinlich eine Nachtwache haben. Und bald bricht der Tag an. Ich glaube nicht, dass wir es heute Nacht schaffen können, ohne gesehen zu werden. Wenn wir sie morgen Nacht früher erreichen, können wir sie im Mondlicht auskundschaften und dann zuschlagen, wenn der Mond untergeht. Ich glaube also, dass wir jetzt, solange wir Gelegenheit dazu haben, ein wenig schlafen und ihnen morgen in einiger Entfernung folgen sollten. Sodass wir sie beobachten können, ohne dass sie uns sehen.
Eistaucher war so müde, dass er sich fügte. Sie suchten sich flache Stellen zwischen den Steinen und Moos, aus dem sie sich Betten herrichten konnten. Sie hatten beide Pelzdecken in ihren Bündeln; die von Eistaucher bestand aus Bisamrattenfellen, die so zusammengenäht waren, dass das Fell die Nähte verdeckte, und Pippa hatte eine halbe Bärenhaut. Sie rollten sich ein und schliefen schon bald.
Bei Sonnenaufgang erwachte Eistaucher. Pippalott schlief. Nachdem er einen Moment lang das Gefühl der Sonnenstrahlen auf seinem Gesicht genossen hatte, schlief er wieder ein.
Er erwachte, als er auf die Füße gerissen wurde. Zwei große Nordleute hielten ihn fest, und drei weitere hatten ihn mit Speeren in der Hand umstellt. Pippalott war nirgendwo zu sehen.
Die Nordleute hielten ihm die Speerspitzen direkt an den Leib, was ihm schreckliche Angst einjagte. Als er aufhörte zu zappeln, zogen sie die Speere zurück und bedeuteten ihm, dass er mit ihnen über den Grat Richtung Norden gehen sollte, wenn er nicht an Ort und Stelle aufgespießt werden wollte. Schon bald stießen sie zu einer größeren Gruppe.
Gemeinsam ging es weiter. Der Höhenzug fiel ab und lief schließlich in einer Steppenlandschaft aus. Hier schlängelten sich seichte Wasserläufe um Gras- und Geröllfelder. Manchmal waren flache Felsstücke in einer Art Webmuster gesplittert, um die das Wasser rechtwinklige Rinnsale bildete.
Den ganzen Tag gingen sie auf der flachen, steinigen Ebene Richtung Norden. Bei ihrer ersten Pause bedeuteten sie Eistaucher, dass er ihnen alles geben solle bis auf seine Kleidung. Die meisten seiner Sachen befanden sich in seinem Rucksack, den sie ohnehin schon hatten, aber er gab ihnen auch seinen Gürtel mit der reich bestückten Tasche. Sie fesselten ihm die Hände mit etwas hinter den Rücken, das sich wie eine Lederkordel anfühlte. Während sie das taten, entdeckte er Elga. Sie stand inmitten der anderen Frauen und ließ Kopf und Schultern hängen. Einmal drehte sie den Kopf und sah zu ihm, nur um den Blick sofort wieder abzuwenden. Er zuckte zusammen und tat es ihr nach, weil er ihre Absicht zu verstehen glaubte. Vielleicht würde es ihr besser ergehen, wenn die Nordleute nicht erfuhren, dass sie einander kannten.
Obwohl diese das vielleicht ohnehin schon wussten. Sie sprachen eine Sprache, die fast richtig klang, aber oft verlor Eistaucher den Faden. Sie erinnerte an die Sprechweise der Steppenleute, doch die verstand Eistaucher besser. Diese Leute antworteten Eistaucher nicht, wenn er etwas sagte, und er vermutete, dass sie ihn ebenfalls nicht besonders gut verstanden. In dieser Situation wäre Pippalott, der so viele Sprachen kannte, ihm sicher von Nutzen gewesen. Was war aus ihm geworden? Hatte der Reisende ihn an die Nordleute verraten, ihnen einen Gefangenen verschafft und dafür etwas von ihnen bekommen? Das konnte Eistaucher sich nicht vorstellen, aber andererseits, wenn Pippa die Gefahr erahnt hatte und erwacht war oder sogar gewusst hatte, was ihnen drohte, warum hatte er Eistaucher dann nichts davon gesagt, sodass sie sich beide hätten davonschleichen können? Wäre das so viel schwieriger gewesen?
Letztlich konnte er nur davon ausgehen, dass Pippa ebenso von den Nordleuten überrascht worden war wie er, aber gerade noch rechtzeitig erwacht war, um sich mit seinen Sachen in die Dunkelheit davonzustehlen. Flink war der Reisende schließlich.
So oder so brauchte er keinen Übersetzer. Es war deutlich genug, was die Nordleute ihm mitteilen wollten: Geh! Ora! Also ging er.
Vielleicht würden sie ihn ihren Göttern opfern, vielleicht auch essen. Angeblich kam so etwas im Norden vor. Er war in einer schlimmen Lage, und die Aussichten waren noch fürchterlicher.
Aber Elga war da, und sie hatte ihn gesehen. Sie wusste, dass er ihr gefolgt war. Was auch geschehen würde, das konnte ihnen niemand nehmen. Er war also fest entschlossen durchzuhalten, ein gehorsamer und guter Gefangener zu sein und Demütigungen, die Elga zuteilwerden mochten, überhaupt nicht zu beachten. Er bekam mit, dass sie die Sprache dieser Leute sprach. Auf dem Fest hatte sie gesagt, dass sie fortgelaufen sei und dass dies ihr ursprüngliches Rudel gewesen sei. Sie ähnelte diesen Männern allerdings überhaupt nicht, war viel größer und so dunkelhäutig, dass sie vor dem Schnee fast schwarz aussah. Die Nordleute waren weniger dunkel, obwohl vor dem Schnee jeder aus einiger Entfernung schwarz aussah. Nicht so schwarz wie ein schwarzes Pferd, sondern eher schlammfarben, worum es auch in der Geschichte darüber ging, wie Rabe die Menschen erschaffen hatte, nämlich, indem er etwas Schlamm zu einer Kugel gerollt hatte. Deshalb waren die meisten von ihnen so braun wie die Winterwolle eines Bisons. Diese Nordleute hatten die hellbraunste Haut, die Eistaucher jemals gesehen hatte, und ihre Augen lagen tief im Schutz der faltigen Haut, die sie umgab. Die meisten dieser Leute waren klein und rundlich, obwohl ein Teil ihrer Rundlichkeit sicher von ihrer dicken Kleidung herrührte.
Zwei Männer, die Teile eines getöteten und zerlegten Rentiers trugen, stießen zu seinen Häschern. In jener Nacht grillten sie zuerst den Kopf, und Eistaucher sah, dass sie Geschmack an den gleichen Stücken fanden wie jeder andere auch: Sie aßen Zunge und Gehirn, aber auch die Wangen und die Fettpolster hinter den Augen. Anschließend grillten sie das Bruststück, die Rippen und das Becken.
Derweil gab man Eistaucher und den beiden anderen Gefangenen, die die Nordleute dabeihatten und deren Sprache er nicht verstand, die aber anders als die der Nordleute klang, die Lungen, das Herz und die Eingeweide, wenn auch nicht das Eingeweidefett, das die Frauen zuerst abkratzten, in langstieligen Geweihlöffeln schmolzen und in Beutel füllten.
Eistaucher kaute mit würdevoller Ausdruckslosigkeit auf dem harten Muskel des Rentierherzens herum, als dächte er an etwas ganz anderes. Es war nicht ratsam, zwischen diesen Leuten wie eine böse Erscheinung zu sitzen, oder wie ein schlimmes Omen. Er musste seinen Status akzeptieren und ihm so gut es ging entsprechen. Er verstand, wie es kam, dass Gefangene selbst zu ihrer Gefangenschaft beitrugen, einfach nur, um Sicherheit und Zeit zu gewinnen, für etwas Hoffnung.
Tag um Tag zogen sie weiter. Zuerst fiel die Steppe zu einem großen Fluss hin ab, der sich westwärts durch weites Sumpf- und Grasland schlängelte und großen Lärchen- und Erlendickichten in den Biegungen und an den Ufern Nahrung gab. Als sie ans Wasser kamen, fanden sie ein geflochtenes Lederseil vor, das an zwei hohen Fichten über den Fluss gespannt war. Auf beiden Seiten trieben Holzflöße im seichten Wasser. Sie stiegen auf eines davon, schlangen zwei Seile um das große Seil, das über den Fluss führte, und zogen sich mit den Händen daran entlang, indem sie die Schlaufen Stück für Stück weiterbewegten. Das Floß zog das große Seil stromabwärts, sodass sie angestrengt paddeln und ziehen mussten, während sie sich dem Nordufer näherten.
Sie fuhren hin und her und setzten so sich und ihre Sachen über. Als sie schließlich fertig waren, brachten einige der Männer beide Flöße ans Südufer, ließen eines dort und kamen mit dem anderen zurück.
Anschließend wanderten sie über die ansteigende Steppe nordwärts. Am zweiten Tag ihres Aufstiegs durchquerten sie die meiste Zeit einen seltsamen Wald, der zwar wie die meisten Wälder aus Fichten, Kiefern, Lärchen, Birken und Erlen bestand, die aber alle nur halb so groß waren wie im Süden und sich oft in die eine oder andere Richtung neigten, als habe der Boden unter ihnen nachgegeben. Anscheinend war das auch der Fall, denn sie kamen an tiefen, moosigen Becken vorbei, in denen das Wasser weit unter Bodenhöhe stand. Manchmal war der Grund am Rand dieser abgesunkenen Becken unterhalb der Wassergrenze seltsam weiß, sodass das Wasser darin himmelblau aussah. Da unten gab es Eis. Der Erdboden und die Kiefernnadeln, aus denen der Waldboden hier bestand, und all die Moospolster und Sumpfstellen, selbst die vielen Teiche — all das ruhte anscheinend auf einer Schicht aus Eis, zu der man hier und da hinabsehen konnte. Und wo dieses Fundament schmolz, kippten die Bäume darüber zur Seite wie betrunkene Feiernde. Es war seltsam, durch diesen Wald zu gehen.
Am oberen Ende des trunkenen Walds wichen die kleinen Bäume vereinzelten Kriechweiden und Kieferngestrüpp, und man konnte weit sehen, bis zu einer Hügelkette. Und dann, als sie auf einen Höhenzug kamen, der Richtung Nordwesten verlief, und dem breiten Pfad darauf folgten, konnten sie über die Hügelkette hinweg etwas ungeheures Weißes ausmachen, Eismassen, die als gewaltiger weißer Wall jeden Hügel überragten. Eisfinger zogen sich von diesem Wall hinunter, füllten die Täler zwischen den darunterliegenden Hügeln und ergossen sich auf die Steppe, die steilwandigen Endstücke wie Pferdehufe gerundet. Einige dieser Ausläufer hatten Wälder niedergedrückt, sodass ein Gewirr zerquetschter Bäume unter den Eishufen lag. Die riesige Masse darüber ähnelte den Eiskappen in den Bergen westlich der Urdecha, war aber sehr viel größer. Soweit das Auge nach Norden reichte, herrschte das Eis. Vielleicht reichte es unendlich weit, so wie sich nach Pippas Erzählungen das Land im Osten und das große Salzmeer im Westen in die Unendlichkeit erstreckten.
Sie kamen auf eine Anhöhe, von der aus sie in ein flaches Tal hinabsehen konnten. Vor dem Eis und den Hügeln zog es sich bis weit nach Westen, wo es in das große Salzmeer mündete. Auf der gegenüberliegenden Seite des Tals, vor den Hügeln, stiegen Rauchsäulen von Lagerfeuern auf. Beim Näherkommen sah Eistaucher, dass eine Reihe von Pfählen wie Knochennadeln zwischen dem großen Salzmeer und den Rauchsäulen stand. Als sie noch näher heran waren, erkannte er, dass es sich um die abgestorbenen Stämme riesiger Bäume handelte, größer als alle, die er je gesehen hatte, und sehr viel größer als alles, was hier oben wuchs. Diese rindenlosen Stämme waren verkehrt herum in den Boden gesteckt, die Wurzelballen standen weiß und spröde vor dem Himmel, und an ihren Spitzen hingen Schädel an bunten Schnüren. Sie erinnerten sehr an die toten Bäume beim Acht-Acht, was Eistaucher irgendwie beruhigte.
Das Lager der Nordleute bestand aus zehn bis zwölf Häusern aus Holz, Knochen und Häuten. Sie waren in eine Senke zwischen einem Hang und der abgerundeten Eiswand gezwängt, der äußerste Ausläufer eines Eisfingers, der sich zwischen den Hügeln hindurchstreckte. Die Senke öffnete sich nach Süden hin, und die Eiswand befand sich im Osten. Selbst jetzt, in der zweiten Hälfte des achten Monats, gab es überall kleine Schneefelder. Und trotz der prallen Sonne blies von Norden ein kalter Wind. Ein seichter Bach entsprang unten aus dem Eishuf und floss Richtung Südwesten in das große Salzmeer, das man vom Lager aus gerade noch sehen konnte, eine lange, blaue Krümmung in der Ferne.
Sie zogen ins Lager ein. Als Eckpfeiler für ihre Häuser hatten die Nordleute weitere große, rindenlose Bäume verwendet. Da es in den letzten beiden Tagen ihrer Reise nach Norden überhaupt keine großen Bäume gegeben hatte, vermutete Eistaucher, dass es sich bei diesen gewaltigen Stämmen um Treibgut handelte, vom großen Salzmeer angeschwemmt, was wohl bedeutete, dass es irgendwo im Westen ein von Riesen bewohntes Land geben musste.
Das größte Haus war an jeder Seite zehn Schritte lang und etwa dreimal so hoch wie ein großer Mensch. Sie betraten es durch einen tiefen Einschnitt in der lehmigen Erde davor, eine Art längliche Fallgrube, in die man durch eine lange Rampe hineingelangte. Nachdem sie durch dieses Loch gegangen waren und sich unter dem großen Haus befanden, nahmen die Nordleute ihnen einige ihrer Oberkleider ab und traten dann auf einen großen Holzklotz, um sich durch ein menschengroßes Loch zu ziehen, auf eine Ebene, die etwas höher in die Erde gehauen war. Zur Hälfte war sie von Holzbrettern bedeckt, und auf einem der Bretter stand ein weiterer hoher Holzklotz, über den man erneut durch ein Loch hinaufsteigen konnte, auf einen reinen Bretterboden, der sich etwa kopfhoch über der Erde befand.
Man wies die Gefangenen an, durch beide Löcher in das Haus zu klettern.
Im Innern stammte das einzige Licht von einem Feuer und einem Loch in Form eines ausgehöhlten Asts, der an der höchsten Stelle ins Dach eingelassen war. Die Wände waren mit überlappenden Häuten bedeckt. Die Luft auf dem untersten Bretterboden war kühl, doch darüber gab es eine Plattform, die etwa das halbe Haus einnahm und auf der die meisten der Nordleute saßen. Ein paar Kinder saßen sogar noch weiter oben, auf hölzernen Hochbetten dicht unterm Dach. Die Kinder waren nackt, und die Männer und Frauen auf der oberen Plattform trugen nur Beinlinge, die von den Hüften bis zu den Knien reichten. Oben bei ihnen verbreitete das Feuer nicht bloß Wärme, sondern Hitze, und auf den rundlichen braunen Körpern der Nordleute glänzte der Schweiß. Sie reichten Kellen mit Wasser aus Holzeimern herum und tranken beim Reden. Auf einem großen Herdstein unter dem Loch im Dach brannten mehrere Fettlampen, die um ein kleines Holzfeuer auf einem Glutbett herum aufgestellt waren. Das Feuer war so klein, dass man es ständig mit Nahrung versorgen musste, und Eistaucher sah, dass sich darum die Frauen der Nordleute kümmerten. Ihre Brüste waren von unterschiedlicher Form und Größe, genau wie bei anderen Frauen auch.
Er zählte ein Dutzend und elf Personen in dem düsteren Raum. Elga war nicht dabei: Anscheinend hatte man sie in ein anderes Haus gebracht. Es gab noch einige weitere Häuser; wenn das hier das Lager eines einzigen Rudels war, musste es sich um ein sehr großes Rudel handeln.
Im Gespräch untereinander lachten sie viel, doch zu Eistaucher und den anderen Gefangenen sprachen sie in barschem Tonfall. Nachdem diese einige Zeit auf dem ersten Bretterboden verbracht hatten und von einigen der Männer durchsucht worden waren, führte man Eistaucher und die anderen beiden neuen Gefangenen wieder in den Erdbereich unter dem Boden, wo sieben weitere Personen auf Fellen lagen sowie ein paar gefrorene Enten in Beuteln aus Zedernwurzel.
Unten auf dem Erdboden war es kalt. Über den Brettern, die sich von dem Holztritt aus gesehen am anderen Ende des Raums befanden, lagen mehrere Rentierfelle, in die sich die anderen Gefangenen gewickelt hatten. Sie schmiegten sich dicht aneinander, um es wärmer zu haben. Eistaucher erhielt keine Antwort, als er sie fragte, was hier vorging. Er wusste nicht, ob sie ihn überhaupt verstanden.
Die Nordleute weiter oben tauschten anscheinend Neuigkeiten aus. Sicherlich erzählten die Neuankömmlinge von der Reise, von der sie soeben zurückgekehrt waren. Einige zerlegten ein gefrorenes Rentier und reichten die Einzelteile an die Köche am Feuer weiter. Herz und Lungen warfen sie zu den Gefangenen hinab, und später, nachdem sie das Fett von ihnen abgekratzt hatten, auch die Eingeweide. Die unten Liegenden teilten die Mahlzeit ohne viel Aufhebens zwischen sich auf, jeder nahm ein paar Bissen und reichte die Stücke dann weiter. Als alle satt waren, war noch eine Menge von den Rentierinnereien übrig. Diese Reste schichteten sie sorgfältig in der gegenüberliegenden Ecke auf. Zwar handelte es sich um die schwer verdaulichen Teile, aber hungrig hätten sie auch diese noch gegessen.
Eistaucher wartete, bis alle anderen Gefangenen sich in ihre Felle gerollt hatten, ehe er zu einer unbenutzten Halbhaut krabbelte, die aus Hinterläufen und Rücken eines kleinen Rentiers bestand, und sich darin einwickelte, so gut es ging. Wenn er die Knie anzog, bedeckte sie ihn ganz. Er kauerte sich zusammen und versuchte, so zu schlafen, dass möglichst wenig von ihm durch das Fell auf den Boden drückte. Er brauchte eine zweite Haut zum Unterlegen, also stand er auf und holte sich ein Fellstück aus einer Ecke. Das Rentierfleisch lag ihm kalt und schwer im Magen. Er fühlte sich ebenso betäubt wie in der Nacht, in der man Elga gefangen genommen hatte. Irgendwie begriff er nicht recht, was geschehen war. Es war so schlimm, dass er sich kaum rühren konnte, und selbst in sein Fell eingewickelt und auf dem Fellstück liegend begann er zu zittern, wenn auch mehr aus Angst als vor Kälte.
Ich bin der dritte Atem
Ich komme zu dir
Wenn dir nichts geblieben ist
Wenn du nicht mehr kannst
Aber trotzdem weitermachst
Ich kam ihm zu Hilfe. Mit meiner Unterstützung konnte er zwischen den Welten wechseln, im Wachsein schlafen, im Schlaf wachen und in der Traumwelt weiterleben. Dort allein konnte er durchhalten und überleben.
Einige der anderen Gefangenen sprachen auf eine Weise, die er mehr oder weniger verstand. Ihnen zufolge betrachteten die aus dem Norden ihre Gefangenen nicht als Leute. Für sie waren sie bloß Gefangene, die man am Leben hielt, damit sie den Jende, den echten Leuten, halfen, für sie arbeiteten.
Und so zogen sie tagsüber los, ein oder zwei Gefangene in Begleitung von zwei oder drei Jende-Männern mit Speeren und Klingen. Normalerweise führten die Jende-Männer sie stromabwärts an den Strand, von wo sie Schleifen und Schlitten mit Säcken voller Fische zurück ins Lager schleppen mussten oder auch ganze gefrorene Robben oder Haut- und Fettbrocken, die man aus riesigen pelzigen Robben oder gestrandeten Walen herausschnitt. Wenn weicher Schnee lag, gab man den Gefangenen Schneeschuhe. Die Schleifen, auf denen sie die Lasten schleppten, hatten flache Geweihstücke hinten an den Stangen, sodass sie durch ihre größere Auflagefläche höher durch den Schnee glitten. Die Schlitten hatten Kufen aus Walrippen. Die Jende trugen Rucksäcke an Holzgestellen, die sie am Strand befüllten und mitsamt Inhalt ins Lager trugen.
Sobald sie wieder im Lager waren, hoben die Gefangenen ihre Last auf eine Holzplattform auf einem dicken, abgestorbenen Baumstumpf, der so in den Boden getrieben war, dass sich das obere Ende ein gutes Stück über Kopfhöhe befand. Etwas weiter unten war eine weitere Plattform im Kreis um den Stamm gebaut worden, und auf diesem Hochboden lagen viele Zwanzig-Zwanzig Fische, alle hart wie Feuerstein gefroren und so aufgeschichtet, dass sie eine Wand um den Außenrand der Plattform bildeten. Am oberen Ende einer Leiter gab es eine Öffnung in dieser Wand. Rentierfelle schützten die Fische vor der Sonne.
Oben auf der Plattform, die Eistaucher an die Bestattungsplattform seines Rudels erinnerte, stellte er fest, dass innerhalb der Mauer aus gefrorenem Fisch Robbenhautsäcke in sorgfältig angeordneten Stapeln lagen. Jeder einzelne Sack bestand aus einer ganzen Haut, die man dem Tier abgezogen hatte, fast ohne sie einzuschneiden; die Löcher waren zugenäht, und nun waren all diese Häute prall gefüllt mit gefrorenem Fett, das man durch die Nähte sah. Einer der Jende schnitt die Fäden an einem dieser Säcke auf und schaufelte etwas halbfestes weißes Fett in einen Eimer. Der Anblick all dieser Säcke verblüffte Eistaucher so sehr, dass er für einen Moment aus seinem Wachtraum aufschreckte. Die Nahrungsvorräte auf dieser Plattform reichten, um die Leute im Lager für zwei oder drei Winter zu ernähren. So etwas hatte er noch nie gesehen. Diese Leute waren reich.
Nicht nur das, sie hielten auch Wölfe gefangen, genau wie sie Menschen gefangen hielten. Eistaucher schreckte erneut aus seinem Dämmerzustand hoch, als er das zum ersten Mal mitbekam: Dort am Ostende ihres Lagers, unter der ächzenden Eiswand, stand eine Art dachloses Haus, eine runde Wand aus zusammengebundenen hohen Erlensprösslingen, und darin war ein kleines Rudel Wölfe eingesperrt, die knurrten und schnappten, wann immer die Jende die kleine Tür zu dem Verschlag öffneten. Doch wenn die Jende hineingingen, schraken die Wölfe zurück, rollten sich auf den Rücken und bepinkelten sich, während sie flehentlich zu den Nordleuten emporstarrten und sich dabei hungrig die Schnauzen leckten. Die Nordleute warfen ihnen die gleichen Innereien vor, die auch die menschlichen Gefangenen zu essen bekamen, und die Wölfe schnappten sich eilig die Brocken und schlangen sie hinunter. Anschließend versammelten sie sich mit gesenkten Köpfen und schwanzwedelnd um die Nordleute, und die Nordleute griffen sie bei den Ohren und zogen ihre Köpfe hin und her! Und die Wölfe wedelten nur umso mehr mit dem Schwanz! Eistaucher sah mit offenem Mund zu und war noch erstaunter, als die Männer die Wölfe aus dem Gehege ließen und in Schneeschuhen losmarschierten, während einige der Wölfe fröhlich um sie herumrannten. Und als sie später ins Lager zurückkehrten, waren die Wölfe immer noch bei ihnen und zogen an Seilen Stücke von Holz und blutigem Fleisch durch den Schnee. Die Seile waren an Geschirre um ihre Vorderläufe befestigt, jenen ähnlich, die Menschen sich um die Hüften banden, um Schleifen zu schleppen.
Eistaucher traute seinen Augen kaum. Diese Leute waren … er wusste nicht, was sie waren.
In den darauffolgenden Tagen begriff er, dass die Nordleute von ihren menschlichen Gefangenen nicht in erster Linie erwarteten, dass sie Nahrung vom großen Salzmeer heranschafften, was die gefangenen Wölfe genauso gut konnten; vielmehr sollten sie in den Spalten östlich des Lagers Feuerholz sammeln. So verbrachten sie sehr viel weniger Tage damit, an den Strand zu gehen und Fische und Robben und Fett zu tragen, als mit langen Wanderungen nach Osten, entlang der Hügelkuppe, zu den kleinen Tälern, die zu der großen Eiswand hin anstiegen. Die Talgründe waren von überraschend dichten Wäldern bedeckt, obwohl einem auch hier die größten Bäume kaum über den Kopf reichten. Größtenteils handelte es sich um die gleichen Baumsorten wie im Süden, allerdings gab es hier mehr Birken und Lärchen, weniger Kiefern und keine Eichen; doch alle Bäume blieben klein. Wenn Eistaucher den ganzen Tag zwischen diesen Bäumen herumlief, fühlte er sich, als hätte er ein Reich auf der anderen Seite des Himmels betreten, wo alles Leben kleiner war, wodurch gewöhnliche Menschen wie Riesen erschienen. Vielleicht war das einer der Gründe dafür, dass die Nordleute so seltsam waren.
Ihre Führer oder Wachen trugen Steinklingen, die seitlich an Ästen befestigt waren, und diese Klingen schwangen sie dicht überm Boden, um eine erste Kerbe in die Bäume zu schlagen. Anschließend schoben sie dann einen Keil in den Schnitt und ließen die Gefangenen mit Steinen oder mit den dicken Enden fester Zweige auf ihn einhämmern, bis der Baumstamm splitterte und fiel. Die Gefangenen wurden in den steilen Tälern auch nach oben geschickt, um Fallholz zu suchen oder tote Äste, die sich von Bäumen abbrechen ließen.
Die Jende gaben sich keine Mühe, ihre Gefangenen bei diesen Vorstößen in die kleinen Täler zu bewachen. Hier konnte man nirgendwohin fliehen, außer in den Tod. Dennoch fand Eistaucher dieses Versäumnis so interessant, dass er darüber dann und wann aus seinem Dämmerzustand erwachte und ins Grübeln kam. Wenn er bei einem dieser Ausflüge Elga dabeihaben und ihnen die Flucht gelingen würde, und wenn sie Beutel mit Fett und Schneeschuhe dabeihaben würden, dann konnten sie doch sicher schnell genug laufen, damit kein Verfolger sie einholen würde? Er hatte nämlich zunehmend den Eindruck, dass er und Elga auf weite Strecken schneller sein würden als die Nordleute.
Allerdings würden sie nicht schneller sein als die Wölfe. Aber wenn sie die Wölfe mit Steinwürfen vertreiben konnten, welcher Mensch sollte sie dann fangen? Konnte man gleichzeitig rennen und werfen?
Diese Fragen ließen ihm keine Ruhe, und obwohl er sich so fühllos stellte wie bisher, juckte es ihn jetzt in den Fingern. Er war wieder wach oder zumindest in einem weniger betäubten Traumzustand. Er hielt nach Möglichkeiten Ausschau, die Jende zu bestehlen und seine Beute zu verstecken. Anfangs ergab sich nichts, doch er hielt weiter die Augen offen.
Eines Tages fand er heraus, in welchem Haus man Elga gefangen hielt, weil sie beide im gleichen Moment aus ihren Häusern traten. Zuerst bemerkte sie ihn nicht, während er sie aufmerksam betrachtete. Ihr war nicht anzusehen, wie sie behandelt wurde. Er vermutete, dass sie nun wieder die Frau eines der Jende in jenem Haus war. Und er vermutete oder hoffte zumindest, dass man sie als Jende behandelte und nicht als Gefangene, doch sicher war er sich nicht. Vielleicht waren die Frauen bei den Nordleuten auch Gefangene, obwohl es ein Frauenhaus am oberen Ende des Lagers gab, wo sie sich wahrscheinlich während ihrer Monatsblutungen aufhielten. Und die Frauen ums Feuer im Haus waren fröhlich und geschäftig und kochten alles für alle. Ob Elga daran teilhatte oder nicht, ließ sich nicht sagen.
Doch jetzt, wo es ihn in den Fingern juckte, Dinge in Erfahrung zu bringen, wollte er auch das wissen. Zeigen durfte er das allerdings nicht.
Unter den Gefangenen gab es einen jungen Mann, der wie Eistaucher sprach und der auch die Jende verstand. Eines Abends beim Essen in ihrer kalten Grube erzählte er Eistaucher, dass er der Adlersippe angehöre. Bei den Jende gebe es keine Adler, behauptete er. Sie hätten noch nicht einmal Sippen.
Dieser junge Mann wusste nicht, wie lange er schon in dem Haus gefangen war. Seit vielen Monaten, erklärte er, anscheinend mehr, als er zählen konnte.
Während Eistaucher draußen Feuerholz sammelte, ließ er den Blick schweifen und erzählte sich selbst Geschichten darüber, wie ihm und Elga die Flucht gelingen würde. Keine dieser Geschichten würde sich problemlos in die Tat umsetzen lassen. An einigen Tagen konnte er eine oder zwei Fäuste lang allein umherlaufen, aber wenn er sich davonmachte, würden die Jende es früher oder später herausfinden und ihm wahrscheinlich ihre gefangenen Wölfe hinterherhetzen. Außerdem hatte er keine Ahnung, wo Elga sich tagsüber aufhielt. In welchem Haus sie in den Nächten war, wusste er, aber nachts saß er ebenfalls unter den wachsamen Augen der Jende im Haus.
Wenn der Morgen orangefarben dämmerte, sagte man auch hier, dass ein Gewitter aufzog. An Gewittertagen blieben sie drinnen und saßen beisammen, kochten, aßen, werkelten, schliefen oder erzählten Geschichten. Die Männer der Jende wurden schnell unduldsam, wenn sie drinnen bleiben mussten. Einmal scheuchten sie Eistaucher nur in seinen Beinkleidern hinaus und befahlen ihm, um den Unterschlupf zu rennen, während sie ihn mit Schneebällen bewarfen und dabei fröhlich das Gewitter anschrien, dass es sich verziehen solle. Am nächsten Tag verzog es sich tatsächlich. Das war das einzige Mal, dass sie eine Art Schamanenzeremonie durchführten, und eigentlich war es wohl eher ein Witz gewesen. Anschließend gaben sie ihm ein Stück Räucherlachs und einen gerösteten Rentierschenkel zu essen.
Im Neuschnee trugen sie Schneeschuhe, die größer und besser waren als die des Wolfsrudels. Sie bestanden aus einzelnen langen Kiefernästen, die hinter den Hacken stark gebogen und zusammengebunden waren. Quer über die breiteste Stelle dieses Bogens waren zwei harte Stöcke gebunden. Ein an diesem Rahmen befestigtes lockeres Gewebe aus Lederstreifen bildete die Lauffläche, mit der man sich über den Schnee bewegte. An den Kreuzteilen festgebundene Riemen hielten das Ganze an den Stiefeln. Es waren leichte und feste Schneeschuhe, mit denen ein Läufer nur im weichsten Schnee einsank. Auf flachen Ebenen funktionierten sie besser als an Hängen. Genau wie bei den weniger ausgefeilten Schneeschuhen, die man daheim im Wolfsrudel benutzte, konnte man auch auf diesen einen verschneiten Hang hinabsteigen, indem man auf einem Bein rutschte, bis sich unter dem Schneeschuh genug Schnee angesammelt hatte, um einen zum Stehen zu bringen, und in genau diesem Moment auf das andere Bein wechselte, sodass man in langen, gemächlichen Schritten hinabschlitterte. In den steilen Spalttälern verstärkten diese verträumten Rutschpartien noch Eistauchers Gefühl, ein Riese in diesen Landen zu sein.
Halt den Kopf unten und versuch, am Leben zu bleiben. Iss, so viel du herunterbekommst. Das Essen lag schwer im Magen, ständig hatte er Bauchkrämpfe, obwohl er manchmal zugleich einen rasenden Hunger verspürte. Er konnte Hunger und Übelkeit nicht mehr voneinander unterscheiden, sodass ihm letztlich nachts sehr kalt wurde und er manchmal sogar zu zittern anfing. Niemand hält es lange durch zu zittern.
Tage vergingen. Die Wintersonnenwende verstrich. Etwa zu jener Zeit ließen die Jende einen der gefangenen Wölfe aus dem Gehege, umstellten ihn und prügelten ihn unvermittelt zu Tode, und dann zogen sie ihm die Haut ab und aßen ihn, wobei jeder der Jende einen Bissen erhielt. Die gefangenen Menschen, die das beobachtet hatten, waren in der folgenden Nacht in ihrer kalten Grube sehr schweigsam.
Tief in jenem Winter lernte Eistaucher auch die Umgebung kennen, insbesondere die Spalten im Osten und die Landstriche im Süden und Westen, die zum großen Salzmeer hin abfielen. Auf diesem weiten, zerklüfteten Hang fingen die Jende Biber und Marder und Füchse und die anderen kleinen bepelzten Leute der Sümpfe und Wasserläufe, die jetzt unter einer dicken Schneedecke lagen.
Als es trotz der länger werdenden Tage immer kälter wurde, verbrachten sie ihre Zeit zunehmend im Haus, und dort lernte Eistaucher noch mehr von dem, was es hier zu lernen gab. Er sah, welche Männer und welche Frauen dieses große Rudel anführten, und wie die Gruppe sich in Sippen aufteilte, oder was sie anstelle von Sippen hatten. Die Frauen kümmerten sich genauso um die häuslichen Angelegenheiten, wie Eistaucher es aus seinem eigenen Rudel kannte. Elga begab sich zu Neumond nach wie vor ins Frauenhaus, genau, wie sie es daheim getan hatte. Das zu wissen war gut. An den Tagen, an denen er sie auf dem Weg dorthin sah, verspürte er einen Stich der Hoffnung, als hätte sich ein Teil eines Rätsels gelöst. Jedes Mal, wenn er sie sah, musste er sich zusammenreißen, um nicht zusammenzuschrecken und den Blick abzuwenden. Er war sich immer noch nicht sicher, ob die Jende von seiner Verbindung zu ihr wussten.
Später im Winter gingen einige der Jende-Männer auf die vereiste See hinaus, um Jagd auf die Robben an ihren Atemlöchern zu machen. Das große Salzmeer war bis weit hinaus zugefroren, sodass das Eis sogar bis zu einigen niedrigen Felseninseln reichte, die vom Land aus gesehen über den Horizont ragten. Dort gingen sie also hinaus, und an manchen Tagen musste Eistaucher ihnen folgen, wobei es ihm ebenso kalt ums Herz war wie um die Füße.
Die Jende-Männer liefen geradewegs zu Stellen, an denen sie Robbenlöcher vermuteten, und schichteten Schneewälle auf, um sich dahinter zu verstecken und die nichtsahnenden Robben aufzuspießen, die aus den Löchern kamen. Sie banden Lederleinen an ihre Speere, sodass die Robben nicht zum Sterben wegschwimmen konnten. Einige der getöteten Robben waren trächtig, und ihre Ungeborenen galten daheim im Lager als Delikatesse.
Eistaucher fiel die Aufgabe zu, den Schlitten mit der Beute zu ziehen, der schwer war und deshalb vermutlich am ehesten durch das Eis brechen und ihn mit sich hinab in die große Salzsee ziehen würde. Doch er hielt den Blick gesenkt und folgte.
Manchmal gab es erneut zugefrorene große Risse, in denen das Eis durchsichtig war, sodass man bis auf den Meeresgrund hinabblicken konnte. Einmal sah er dort unten gelben Sand, der von violetten Seesternen bedeckt war wie von riesigen Blumen. Auf dieses durchsichtige Eis klopften die Jende oft mit ihren Speeren, um festzustellen, ob es tragfähig genug war. Einmal hielt der Jende namens Elhu kurz inne und blickte auf die violetten Seesterne hinab. — Zu dumm!, sagte er in dem besonderen Tonfall, den die Jende verwendeten, wenn sie über ihr eigenes Pech lachten. Er fügte noch etwas darüber hinzu, dass solche Seesterne aus irgendeinem Grund sehr geschätzt würden, wobei er eine Kratzbewegung machte.
Eistaucher nickte und sah sich um. Hier draußen konnte man sehen, dass der riesige Eiswall, der die Hügel überragte, sich gen Westen erstreckte, so weit das Auge reichte. Er bedeckte das Salzmeer ebenso wie das Land, obwohl er auf dem Meer nicht so hoch aufragte. Wahrscheinlich lag er auf dem Meeresgrund auf, genau wie das Eis am Strand; oder vielleicht der Wall auch, wie das Eis weiter draußen. Im Westen konnte man sehen, wo die Sommerwellen gegen die Eismauer geschlagen und als heitere Zierde aus weißen Kringeln und Eiszapfen an ihr festgefroren waren. Dieses weiße Gewirr erinnerte ein wenig an Wasserspritzer, in seltsamer Reglosigkeit erstarrt.
Draußen auf dem Eis hatte Eistaucher immer Angst, und er sah auch den Nordleuten ihre Nervosität an. Sie waren wachsam wie Rehe, die Wölfe witterten, und deshalb wusste er, dass seine Angst nicht unbegründet war. Manchmal gab das Eis unter ihnen etwas nach, besonders unter den Schlitten. Man konnte es hinter sich spüren. Die Jende wechselten dann die Richtung und gingen in lockeren Schleifen, ohne innezuhalten, und einer rief dem langsamer werdenden Eistaucher zu, dass er nicht anhalten, auf gar keinen Fall anhalten solle: Oma! Oma! Anscheinend war es genau falsch, stehen zu bleiben, wie der Nordmann ihm mit Gesten deutlich machte, die einen Sturz durchs Eis darstellen sollten.
Am sichersten war es offenbar auf dem weißesten Eis. Neues Eis war beinahe schwarz. Solche Bereiche bezeichneten die Nordleute als Beltze und hielten sich von ihnen fern. Wenn das neue Eis dicker wurde, nahm es einen Grauton an, und wenn es noch dicker wurde, erschien es weiß. Der Streifen, auf dem das Grau zu Weiß wurde, hielt einen Mann und einen Schlitten. Um offenes Wasser machten sie generell einen großen Bogen, egal wie weiß das nahe gelegene Eis war. Sie hatten einen langen Stecken mit einer Knochenspitze an einem Ende und einem Knochenhaken am anderen dabei; dieser wurde als Una bezeichnet, war leichter und länger als ein Speer und wurde benutzt, um fragwürdiges Eis weiter vorne abzuklopfen und festzustellen, ob man es weit genug aufbrechen konnte, damit Seewasser hindurchschwappte. Schneeverwehungen auf dem Eis wurden ebenfalls abgetastet, um festzustellen, ob sich darunter überhaupt Eis befand; anscheinend war das Wasser der winterlichen See so kalt, dass Schnee ohne zu schmelzen schwimmen und den trügerischen Eindruck festen Grunds erwecken konnte. Dieser Matsch wurde Pogasa genannt, und wenn er zu einer festen Masse gefroren war, Igini. Igini trug einen Mann und sogar einen Schlitten, aber es war beinahe unmöglich, einen Schlitten hinüberzuziehen oder auch nur darauf zu gehen, ohne zu stürzen. Außerdem ließ der Unterschied zwischen Igini und Pogasa sich mit bloßem Auge nicht erkennen, weshalb sie beides so weit wie möglich meiden mussten und auch Igini nur im Notfall und dann mit äußerster Vorsicht überqueren durften, um zu besserem Eis zu gelangen. Mit Hingabe spielten sie ihm vor, was geschah, wenn man in Pogasa fiel; da gab es nichts, woran man sich herausziehen konnte, nichts zum Festhalten, weshalb man erfror und starb. Anscheinend machte es ihnen Spaß, nachzuahmen, wie jemand starb.
An einem der Tage, an denen sie draußen unterwegs waren, Mitte des zweiten Monats, versteckte Eistaucher sich gerade hinter einer Schneemauer bei einem Eisloch, während ein Jende-Mann namens Kaktak zusammen mit Elhu und anderen Freunden die daraus hervorkommenden Robben tötete, als plötzlich ein lautes Krachen aus Richtung Festland zu hören war. Sofort rannten die Nordleute in die Richtung los, aus der das Krachen gekommen war, und überließen es ihren Gefangenen, ob sie folgen wollten oder nicht. Als Eistaucher und die anderen beiden Gefangenen sie eingeholt hatten, waren sie bereits wieder stehen geblieben und starrten auf einen Streifen schwarzen, offenen Wassers, der zu breit war, um hinüberzuspringen. Diesmal war es kein Spiel. Sie standen auf einem Eisbrocken und trieben auf die See hinaus.
Die Nordleute berieten sich kurz untereinander, ehe sie zum Robbenloch zurückkehrten und aus ihrem Schneewall, den Schlitten und einigen Fellstücken von den Schlitten einen Unterschlupf errichteten. Jeder von ihnen setzte sich auf ein Fell, und sie legten den flachen Stein, den sie immer als Herd auf dem Schlitten dabeihatten, in die Mitte. Rasch entfachten sie ein Fettfeuer, das nicht besonders warm war, aber besser als nichts. Danach konnten sie nur herumsitzen, warten und hoffen, dass schließlich von Westen her ein auflandiger Wind kommen würde, der sie zurück zu einer Eisfläche trieb, die noch bis zur Küste reichte. Derweil saßen sie auf einem Floß aus Eis und trieben auf dem großen Salzmeer. Einer der Jende stand auf und schrie ein Gebet an den Wind hinaus, oder einen Fluch; dann kauerten sie sich in ihren Fellen zusammen und warteten ab, ob sie leben oder sterben würden.
Mitten am Nachmittag brach die Nacht herein, und schnell wurde es eisig kalt. Die Wärme des Fettfeuers war nun deutlich zu spüren, obwohl es kaum mehr als eine kleine Leuchte war, und sie verschlossen den Eingang zu ihrem niedrigen Unterschlupf mit Schnee und Fellen und rückten dichter um die kleine Flamme zusammen, drückten sich in einem engen Kreis aneinander, um über ihre Flanken so viel Wärme wie möglich zu teilen. Dann und wann hielten sie die Hände ans Feuer, um sie etwas zu wärmen und sie sich anschließend wieder unter die Achselhöhlen zu stecken.
Eistaucher war so kalt, dass er kaum noch denken konnte. Er saß vornübergebeugt da, mit angezogenen Zehen, und verspürte eine tiefe Trauer darüber, dass er Elga nicht würde retten können, dass so bald alles für ihn zu Ende sein würde. Seit Langem hatte er keine so starken Gefühle erlebt.
Aber irgendwann im Laufe der Nacht drehte der Wind anscheinend. Jedenfalls blies er kräftiger. Im Dunkeln konnten sie sich nicht sicher sein, aber als das erste graue Licht über den östlichen Horizont kroch und sie einen Blick aus ihrem Unterschlupf wagten, stellten sie fest, dass er eindeutig von Westen kam. Langsam regten sie sich wieder unter ihren Fellen und aßen etwas gefrorenen Fisch, um zu Kräften zu kommen; sie mussten gewappnet sein, was immer der Tag ihnen auch bescheren mochte.
Sobald die Sonne über den Horizont lugte, verließen sie ihren Unterschlupf, um sich umzusehen. In weiter Ferne sahen sie die Hügel hinter ihrem Lager und den Eiswall, der über ihnen aufragte. Das Wasser schwappte über die Ränder ihrer schwimmenden Insel, die glücklicherweise groß genug war, damit sie in der Mitte trocken blieben, obwohl es windiger wurde und sich im Westen die Wellen brachen und kleine Gischtnebel emporschleuderten.
Sie gingen wieder hinein, um sich so warm wie möglich zu halten. Eine ganze Weile saßen sie im Zwielicht ihrer Behausung. Schließlich kam das Floß knirschend zu einem Halt, und als sie herausrannten, stellten sie fest, dass sie sich noch ein gutes Stück südlich von der Stelle befanden, an der sie sich von der Küste gelöst hatten. Der Wind hatte sie gegen eine frische, sehr dünne Fläche aus schwarzem Meereis getrieben. — Pech!, riefen die Jende und lachten freudlos.
Die Nordleute suchten ihre kleine Insel einmal rasch ab und diskutierten anschließend lange. Es würde nicht leicht werden, das schwarze Eis zu überqueren; offensichtlich war die Gefahr, einzubrechen, groß.
Kaktak wandte sich an die Gefangenen und machte Gesten, aus denen Eistaucher nicht ganz schlau wurde. Anscheinend ahmte er die großen weißen Bären nach, die draußen auf dem Meereis lebten. Wenn die es mit schwarzem Eis zu tun bekamen, ließen sie sich auf Brust und Bauch nieder und schoben sich voran, so schnell es mit den Zehen ging und ohne dabei nach unten zu treten. Man durfte sich nur mit den Zehen abstoßen und mit den Fingern voranziehen; mehr Druck auf das Eis auszuüben war zu riskant. Das Einzige, was die Menschen dabei von den Eisbären unterschied, war Kaktaks Gesten zufolge, dass sie in jeder Hand einen Una längs vom Körper halten und sich darauf stützen würden, um ihr Gewicht beim Vorwärtsrobben über eine größere Eisfläche zu verteilen.
Kaktak sprach kurz mit Elhu und dem anderen Mann, und dann ging er in die Hocke und ließ sich elegant nach vorne auf das schwarze Eis gleiten, wobei er sich wie eine große Eidechse voranschlängelte und die Unas immer dicht am Körper hielt. Als er das graue Eis erreicht hatte, stand er eilig auf und begann sofort, sich mit den Fingern das Wasser von seiner Pelzjacke und den Hosen zu streichen, in den Schnee zu seinen Füßen. Fröhlich rief er den anderen — Omoo! zu und ließ die Stöcke über das schwarze Eis zu ihnen zurückschlittern. Es geht!
Ja, wenn man gut war, ging es. Aber am wichtigsten war das Wissen, dass es überhaupt machbar war, und nachdem Kaktak das bewiesen hatte, waren die übrigen gestrandeten Jende schnell auf der anderen Seite, einer nach dem anderen, wobei sie sich immer über etwas andere Abschnitte bewegten, in dem Versuch, dicht an Kaktaks Weg zu bleiben, ohne ihm ganz genau zu folgen.
Als Eistaucher an der Reihe war, versuchte er nicht daran zu denken, wie seine Namensgeber beim Abheben von einem See mit den Füßen aufs Wasser klatschten, und stellte sich stattdessen eine rote Wasserechse vor, die er einmal über einen umgedrehten Stein im Fluss hatte davonflitzen sehen. Sie hatte ausgesehen wie eine lebende Wurzel und war in Windeseile verschwunden gewesen. Er kauerte sich hin und ließ sich so geschmeidig es ging nach vorne gleiten, wobei er sofort mit Nase und Mund aufs Eis knallte und Salzwasser schmeckte. Auf Knien und Zehen und den beiden Unas, die er fest umklammert hielt, schob er sich vorwärts. Es war eine mühsame Art des Kriechens, doch schon bald war das Eis unter ihm schmutzig weiß, und er konnte sich auf die Knie hochstemmen und aufstehen. Sofort drückte er das Wasser vorne aus seinen Kleidern, bevor es im Pelz festfror. Obwohl die Luft sehr kalt war, stand über dem neuen Eis eine Schicht Wasser, das noch salziger war als das große Salzmeer. — Gatzi!, sagte Kaktak, als er Eistauchers Miene sah. Salzig!
Die Nordleute waren sichtlich froh, wieder an Land und dem Tod entronnen zu sein, tatsächlich wirkten sie so ausgelassen, dass Eistaucher mit einem Mal klar wurde, dass sie nicht damit gerechnet hatten zu überleben. Während ihrer Zeit auf dem Meer hatte er ihnen das nicht angesehen, und nun beeindruckte es ihn, wie sie sich der Lage gestellt hatten.
Auch die anderen Gefangenen krochen aufs graue Eis hinüber und taten es den Jende nach, indem sie mit den Fingern so weit wie möglich das Wasser aus ihren Pelzen strichen. Hinterher waren ihre Hände rosig und pochten vor Kälte. Dann holten die Jende die Schlitten von ihrem Eisfloß, indem sie Seile mit Schlingen zu ihnen hinüberwarfen und sie, nachdem sie sie erwischt hatten, so behutsam und gleichmäßig wie möglich heranzogen. Das schwarze Eis bog sich unter ihnen durch, brach jedoch nicht.
Sobald sie ihre Schlitten zurückhatten, brachen die Nordleute Richtung Lager auf, schneller, als Eistaucher sie je hatte laufen sehen. Bald wurde ihm der Grund dafür klar — trotz aller Bemühungen waren ihre Kleider noch immer nass; die Kälte war so betäubend, dass sie rennen mussten, um warm genug zu bleiben, damit sie sich überhaupt bewegen konnten. Die Gefangenen folgten ihnen, so gut es ging. Nachdem sie vom Laufen etwas warm geworden waren, verlangsamten sie ihren Schritt und holten Atem, doch schon bald froren sie und mussten wieder rennen. So ging es weiter, rennen und gehen, rennen und gehen, aber die meiste Zeit rannten sie ächzend und schnaufend, so schnell, dass das Blut ihnen in den Adern hätte brennen müssen, was jedoch nicht der Fall war; es gelang ihnen gerade mal, warm genug zu bleiben, um ihren Weg fortsetzen zu können.
Eistaucher folgte den Jende und gab sich keine Mühe, den anderen beiden Gefangenen zu helfen, die hinter ihm zurückfielen. Das war doch wohl Aufgabe der Nordleute. Doch die Nordleute halfen nicht, sie sahen nicht einmal zurück, und als Eistaucher schließlich einen Blick über die Schulter warf, stellte er fest, dass der Hinterste von ihnen, Bron, gefallen war und nur unter Mühen wieder auf die Beine kam. Eistaucher wartete, und als Bron ihn eingeholt hatte, band er den Schlitten des Mannes an seinen eigenen, sodass Bron ohne die zusätzliche Last weiterlaufen konnte.
Doch als er sich ein wenig später erneut umblickte, sah er, dass Bron im Schnee zusammengebrochen war. Er ließ Brons Schlitten stehen, lief zurück, zog den Mann auf seinen eigenen Schlitten, hängte sich die Schlinge um und versuchte, den Schlitten in Bewegung zu versetzen. Er zog und zog an dem Seil, und schließlich rührte der Schlitten sich, als seine Beine bereits vor Hitze brannten und der Rest von ihm vor Kälte. Die Hitze wollte von innen nach außen und die Kälte von außen nach innen, und beide schmerzten. Und doch waren beide zusammen Antrieb genug, um ihn zurück nach Hause zu bringen. Er begann, eines von Dorns Laufliedern zu singen, als er sich dem Lager der Nordleute näherte, und hörte erst damit auf, als er den Tunneldurchgang zur Kältefalle am großen Haus erreichte. Er ging hinein, um Hilfe für Bron zu holen, der noch immer auf dem Schlitten lag. Er war sich nicht sicher, was die Nordleute davon halten würden, dass er einen Mitgefangenen gerettet hatte, und ärgerte sich über sich selbst, weil er auffällig geworden war. Eistaucher ging zu seiner Ecke unten auf dem Boden, zog sich alles bis auf seine Beinlinge aus und stellte sich direkt an das Lampenfeuer der Gefangenen, um sich aufzuwärmen und zu trocknen. Wie immer brannte das Auftauen am schlimmsten, aber es war nur ein oberflächlicher Schmerz, nur ein Brennen, als zuerst in seine betäubten Hände und dann in sein Gesicht und seine Ohren das Gefühl zurückkehrte, und, nachdem er eine Menge in Murmeltierfett getunkten Fisch gegessen hatte, sogar in seine Füße. Derweil trugen die Nordleute Bron zur Plattform in der Mitte des Hauses und legten ihn ans Feuer, und erst als er wieder zusammenhängend sprechen konnte, schickten sie ihn für die Nacht hinunter zu den Gefangenen. Sobald er dort war, drückte er Eistauchers Arm und machte dabei eine Miene, die Eistaucher bei keinem Gefangenen sehen wollte: Er wollte sich nicht als einen der Ihren betrachten und auch nicht als hilfsbereiten Fremden. Doch in den darauffolgenden Nächten erwachte Eistaucher manchmal und stellte fest, dass Bron an seinem Rücken lag und sich in den kältesten Stunden der Nacht zur lebenden Decke für ihn machte. Sie kannten keine Worte in derselben Sprache, mit Ausnahme einiger weniger Worte der Nordleute, die aber keiner der Gefangenen jemals laut aussprach. Meistens war es still in der Grube unter dem großen Haus.
Eistaucher hatte für die Nordleute unsichtbar bleiben wollen, ein Gefangener, der ihrer Aufmerksamkeit nicht wert war. Er hatte einen Schafsknochen in einer Ecke der Kältefalle versteckt, und jeden zweiten Neumond ritzte er ihn mit einem Steinchen ein, um festzuhalten, wie viele Monate vergangen waren, doch eines Nachts war der Knochen fort. Ob der, der ihn genommen hatte, die Markierungen bemerkt oder gewusst hatte, dass er Eistaucher gehörte, ließ sich nicht sagen. Es gab kein Anzeichen dafür, dass Kaktak oder Elhu oder einer der anderen Nordleute ihn beobachtete. Doch er hatte das Gefühl, dass die Männer, die am frühesten zu ihren Erledigungen loszogen und die weitesten Wege vor sich hatten, ihn öfter zu sich riefen. Und während sie unterwegs waren, um nach Fallen zu sehen oder auf dem Meereis zu jagen oder nach Feuerholz zu suchen, gaben sie ihm ebenso viel zu essen und zu trinken, wie sie sich selbst nahmen, und behandelten ihn fast wie ihresgleichen, abgesehen davon, dass er den Schlitten nach Hause ziehen musste. Und natürlich ließ man ihn nicht an die gefangenen Wölfe heran, die sie manchmal mitnahmen. Wenn sie miteinander sprachen, dann bekam Eistaucher zwar nach wie vor nur Bruchstücke mit, aber er verstand schon deutlich mehr als zu Anfang. Die Nordleute waren zufrieden mit ihrem Leben am großen Salzmeer. Es war immer kalt und im Winter die meiste Zeit dunkel, aber See und Hügel versorgten sie mit allem, was sie zum Leben brauchten. Sie mussten nie hungern. Wenn sie Pech hatten, lachten sie darüber. Sie stellten sich dem Narsuk.
Eines Morgens kam Eistaucher aus dem Haus und stand direkt vor Elga. Er sagte: — Hallo!, doch sie beachtete ihn nicht und hielt den Blick abgewandt, und dann versetzte ihm jemand einen Stoß in den Rücken: Kaktak, der von der anderen Seite um das Haus herumgekommen war, stand hinter ihm.
Während Eistaucher sein Gleichgewicht wiederfand, starrte Kaktak ihn böse an. — Warum hast du etwas zu ihr gesagt?, fragte er, und Eistaucher verstand die Worte genau, obwohl Kaktak die Sprache der Nordleute verwendete. — Du weißt doch, dass du nicht mit den Frauen sprechen sollst.
Eistaucher nickte und sah zu Boden. — Sie stand einfach vor mir. Entschuldigung.
Kaktak starrte ihn noch immer an. — Warum bist du für diesen anderen Gefangenen umgekehrt? Das ging dich nichts an. Du überlässt uns die anderen Gefangenen, verstanden?
— Ja.
— Gut. Weil ich dich nämlich mitnehmen möchte. Du ziehst kräftig. Aber wenn du noch mal so etwas tust, lassen wir dich im Haus.
— Ich verstehe, sagte Eistaucher, den Blick noch immer zu Boden gerichtet, mit brennenden Wangen.
Kaktak ging ins Haus und drehte sich dabei noch einmal zu Elga um, die weiter Richtung Frauenhaus ging.
Eistaucher beschloss, eine versteinerte Miene zu wahren und nichts zu tun außer dem, was man ihm sagte.
Spät im dritten Monat des neuen Jahrs befahlen Kaktak und einige der anderen Nordleute Eistaucher, einen mit Feuerholz und Säcken beladenen Schlitten hinter ihnen herzuziehen, während sie die nächstgelegene Talwand erklommen, um auf den Eiswall zu steigen. Jetzt lassen wir uns da oben den Wind um die Nase wehen, sagten sie zu Eistaucher, als sie das Lager verließen.
Um die steile Eiswand hinaufzukommen, stiegen sie zuerst auf eine der Anhöhen am Tal und folgten von dort einem Grat, der weiter nach Norden und oben führte, bis sie den Blick schließlich weit über die Spalten zu beiden Seiten schweifen lassen konnten. Dieser Grat lief direkt auf den gewaltigen Eiswall zu, der leicht fortgeneigt über ihnen aufragte, grau von Geröll, Erde und Staub und von tiefblauen Rissen und Schmelzlinien durchzogen. Sie mochten noch so weit oben sein, das Eis türmte sich immer noch über ihnen auf, und ihr Blick reichte nicht auf die Hochebene, die es dort geben musste. Allerdings ließ sich von hier aus erkennen, dass das Eis zu beiden Seiten steil in die Täler abfiel und dabei dicke Zungen bildete, die die Jende Gletscher nannten. Diese Eishänge endeten entweder in glatten Wänden, wie die am Ostende des Lagers, oder in halbmondförmigen Geröllfeldern mit milchigen grauen Teichen darin.
Die Jende schlugen einen Weg ein, der sie östlich des Grats quer über den Gletscherhang führte, über ein Gemisch von Eis und Felsbrocken verschiedenster Größen. Wenn man von einem Stein zum anderen trat, konnte man Halt finden, da die meisten davon halb aus dem Eis ragten. Anscheinend erwärmten die Steine sich tagsüber so weit, dass sie etwas einsanken, um in der darauffolgenden Nacht wieder festzufrieren, und irgendwann waren sie zu tief im Eis, um sich noch in der Sonne zu erwärmen, sodass sie einfach stecken blieben. Auf diesen Trittsteinen gelang es ihnen also ohne Schwierigkeiten, am Eishang emporzusteigen, und weiter oben wurde der Hang schließlich flacher.
Es erwies sich als schwierig, einen beladenen Schlitten über diesen Pfad emporzuziehen, und einmal kehrten die Jende um und halfen Eistaucher dabei, seine Last durch eine Eissenke zwischen zwei Felsbrocken zu zerren und sie anschließend über einige weitere zu heben. Doch schon bald waren sie alle oben angekommen. Von dort folgten sie einer kleinen Steigung nach Norden auf die eigentliche Mauer, während Eistaucher den Schlitten hinter ihnen herzog.
Als sie die Hochebene auf der Mauer erreicht hatten, hielten sie inne und blickten zurück nach Süden, auf die Hügel und die Steppe und das große verschneite Tal hinab und auf den gefrorenen Halbmond am Rande der großen Salzsee, der im weißesten Weiß leuchtete, und auf das blaue Wasser dahinter. Das große Salzmeer war Eistaucher noch nie so groß erschienen. Aus dieser Höhe war der Anblick atemberaubend. Es erstreckte sich weit nach Westen und Süden, und nirgendwo im Westen war ein Ufer zu sehen. Die Welt war gewaltig.
Das Eis auf der Hochebene wies einige Senken und Anhöhen auf, genau wie die Heide nördlich ihres Lagers daheim. Auf der Wanderung Richtung Norden hörte Eistaucher, wie das Eis unter seinen Füßen sich verschob und atmete. Ah: Es lebte. Ein weißes, kaltes Etwas aus dem Norden, das die Welt verschlang. Es sprach mit einem leisen, aber schweren Knirschen oder auch mit einem Knacken oder Krachen, das ihn erbeben ließ und das tiefste Geräusch war, das er jemals gehört hatte.
Die Eisebene war ganz anders als eine Landschaft unter einer winterlichen Schneedecke. Fast überall lag das Eis nackt da, größtenteils weiß, doch hier und da auch blau und an anderen Stellen durchsichtig. Es warf andere Wellen auf als normaler Erdboden und auch anders als das große Salzmeer: Die Kämme und Täler waren ein Mittelding zwischen Hügeln und Wellen, weder das eine noch das andere. Es gab absolut ebene Flächen, doch meistens krümmte das Eis sich nach oben oder unten. Hier und dort war es zu einer Art Geröll zersplittert, das einer dicht zusammengedrückten Masse von Eisklingen mit abgerundeten Kanten glich. Hier und da durchschnitten kleine Wasserläufe das Eis, die natürlich bergab flossen, dabei aber Biegungen machten, die sich kein Bach auf festem Erdboden jemals hätte einfallen lassen. Wenn die Jende einen Wasserlauf überqueren wollten, der zu breit war, um hinüberzuspringen, folgten sie ihm stromabwärts statt stromaufwärts, weil ein solcher Bach früher oder später immer in einem Loch im Eis verschwand und mit Furcht einflößendem Getöse in die eisblauen Tiefen strudelte. Die Männer hielten immer Abstand von diesen runden Löchern und entschuldigten sich bei dem geschwätzigen Eis laut dafür, dass sie es durch ihr Vorbeiziehen störten. Auch die großen Flecken gesplitterten Eises umgingen sie.
Die Fläche, über die sie wanderten, war größtenteils schartig und etwa so weiß wie alter Schnee. Sie war zu hell, um sie lange anzusehen, und Eistaucher musste die Augen zusammenkneifen, wenn er überhaupt etwas erkennen wollte. Auf ihrem Weg Richtung Norden wurde das Eis unter ihren Füßen sauberer, und es gab weniger Verwerfungen. Hier und dort lagen lange, gewundene Bänke von Steinen und Kieseln. Je weiter sie nach Norden kamen, desto weniger wurden es, aber hier und da wanden sie sich hüfthoch über das Eis. Sie boten einen seltsamen Anblick, weil sie von Leuten aufgeschichteten niedrigen Wällen ähnelten, aber zu lang und dick dafür waren. Wenn sie sich umdrehten, konnten sie sehr weit nach Süden blicken, aber nach vorne gewandt sahen sie schließlich nur noch Eis; selbst das große Salzmeer war nicht mehr als ein in der Sonne glitzerndes Band Richtung Südwesten. Sie schienen sich durch eine gänzlich von Eis bedeckte Welt zu bewegen, ein Anblick, bei dem es einem die Kehle zusammenschnürte. Doch die Nordleute wanderten weiter.
Spät am selben Tag zogen sie über sahnig blaues Eis, das beinahe zu glatt war, um darauf zu gehen. Von einer niedrigen, runden Kuppe aus diesem blauen Eis aus konnten sie weit in jede Richtung sehen. So weit das Auge reichte, gab es nichts als Eis. Hier oben machten die Nordleute halt, errichteten ein kleines Feuer auf einem mitgebrachten Herdstein und brieten kleine Streifen Fisch und Robbe und Rentier, bis sie schwarz wie Holzkohle waren. Diese schwarzen Stückchen zerbrachen sie, warfen sie aufs Eis und stimmten dabei einen Gesang an, in dem immer wieder die Worte für Eis und Kälte vorkamen. Eeeeesch! Kelt!
Anschließend reichten sie eine Pfeife herum, und als Letzter in der Runde durfte auch Eistaucher einen Zug nehmen. Der Rauch schmeckte herb und bitter. Die Jende husteten, wenn sie ihn ausatmeten, und obwohl Eistaucher zuvor beschlossen hatte, das nicht zu tun, konnte auch er ein Husten nicht unterdrücken.
Einer der Jende-Männer namens Orn entschuldigte sich beim großen Windeis. Dann deutete er nach Norden. Dort am Horizont gab es eine niedrige schwarze Erhebung. Das war ihr Ziel, das sie Nuna nannten. Eine Felsinsel in einem Meer aus Eis. Sie bezeichneten sie als die Pupille und deuteten dabei auf ihre eigenen zusammengekniffenen Augen. Es war eine umgekehrte Version der Eiskappen auf den Hügeln westlich des Wolfslagers.
Die Jende machten sich auf den Weg Richtung Nuna. Eistaucher folgte ihnen mit gesenktem Kopf, die Augen fast geschlossen, um nicht so sehr von dem hellen Sonnenlicht geblendet zu werden, in dem Eis und Himmel erstrahlten. Er hätte die Augen am liebsten ganz geschlossen, doch er musste den Boden unter seinen Füßen sehen können, um Halt auf den kleinen Unebenheiten zu finden.
Als sie sich der Felseninsel weiter näherten, sahen sie, dass das Eis an ihren Rändern aufgeworfen war, wie eine erstarrte Welle, die ans Ufer brandete. Das blaue Wellental zwischen der gefrorenen Welle und dem zerkratzten Felsen ließ sich nicht passieren; sie mussten um die Insel herum nach Westen gehen, bis zu einer Bresche in der Eiswoge, durch die sie zu dem Felsen gelangen konnten. Doch eben hier ragte das schwarz-rötliche, schieferglatte Gestein als niedrige Felswand auf, an der sich kein Weg nach oben finden ließ. Die Jende wandten sich nach links und folgten einem zunehmend flachen Streifen blauen Eises, der zwischen der Felswand und der ansteigenden Eiswoge verlief. Dieser abschüssigen, gekrümmten Spalte folgten sie in die Tiefe. Hier und da lag rötliches Geröll, wobei jeder einzelne Stein halb im Eis versunken war. Es war ein seltsames Gefühl, durch diese von Steinchen übersäte Klamm zu laufen, mit einer Felswand zur Rechten und einer einwärts gekrümmten blauen Eiswand zur Linken. Man hatte den Eindruck, dass die Eiswoge jeden Moment über ihnen zusammenschlagen müsste, doch sie bewegte sich nicht, ächzte nicht einmal, atmete kaum. Trotzdem gingen die Jende schweigend, und Eistaucher folgte nervös ihrem Beispiel, während er den Schlitten vor sich hinabließ. Nach etwa einer Faust endete die unbehagliche Wanderung, als sie um eine Biegung kamen, hinter der die Felswand niedriger wurde, bis Eis und Fels auf der gleichen Höhe waren und sie einfach hinübertreten konnten.
Sie kamen über flache Blöcke aus dunkelrotem Gestein, über die die Knochenkufe kratzten, doch der Fels war glatt genug, damit Eistaucher den Schlitten weiterziehen konnte. Es gab deutlich erkennbare Stufen, und die Jende halfen Eistaucher bei jeder dieser knie- bis hüfthohen Wände, den Schlitten emporzuhieven. Als sie den Mittelpunkt des Nuna erreichten, befanden sie sich zwei bis drei Baumhöhen über dem Eis. Die Oberseiten der roten Felsklötze waren glatt geschliffen, und an ihren Nord- und Südenden verliefen gerade Kerben. Auch Vertiefungen in Form eines drei- oder viertägigen Halbmonds waren in den Fels geschnitten. In den kleinen Vertiefungen zwischen den Blöcken hatte sich eine Mischung aus Steinchen und Sand angesammelt, darüber wuchsen Flechten — das Einzige, was auf dieser Insel lebte.
Sie erreichten den höchsten Punkt des Felsens. Von dort konnten sie in alle Richtungen weit über das große Windeis sehen. Allein mit einer Drehung seines Kopfes erfasste Eistaucher den gesamten Erdkreis, an dessen westlichem Rand die blendende Sonne funkelte. Das Eis unter ihnen war sahnig blau, überzogen von weißen Flecken und grauen Linien aus gesplitterten Steinen. Es war erstaunlich, dass sie nur einen Tag gebraucht hatten, um auf diese neue Welt hinaufzusteigen. In den Geschichten von zu Hause ging es immer um drei Welten, eine im Innern der Erde, eine im Himmel und eine auf der Oberfläche dazwischen. Eistaucher hatte von allen drei zumindest kurze Einblicke erhascht. Doch die Nordleute hier waren einfach auf eine vierte Welt hinaufgestiegen, die sich über der Erde auftürmte. Ein höheres Reich, ein gefrorener Himmel.
Die Nordleute blickten sich aufmerksam um. Es war nicht ihre Art, viel zu sprechen, wenn sie tagsüber unterwegs waren. Später, abends ums Feuer, redeten sie ausgiebig über die Ereignisse des Tages, doch während sie sie erlebten, schwiegen sie lieber.
Am nördlichsten Ende des großen Felsklotzes auf der Spitze der Insel war ein Ring hüfthoher Bruchsteine aufgestellt. Zu diesem Steinkreis gingen die Nordleute, und ehe sie ihn erreichten, bedeuteten sie Eistaucher, dass er zurückbleiben sollte.
Von diesem höchsten Felsklotz hatte man all die kleinen Steine entfernt, die fast überall sonst auf der Insel verstreut lagen. Nur der Steinkreis war geblieben. Die Steine waren alle mehr oder weniger rechteckig und so aufgestellt, dass sie an kleinwüchsige Männer erinnerten. Es waren etwa ein Dutzend. Sie hier zusammenzutragen war mit Sicherheit eine gewaltige Aufgabe gewesen, an der sich viele Männer beteiligt hatten. So große Steine ließen sich nur unter großen Mühen bewegen.
Inmitten dieses Steinkreises lag ein flacher Felsbrocken, auf dem die Nordleute mit Ästen und Zweigen von Eistauchers Schlitten ein Feuer errichteten. Sie träufelten Fett aus einem Beutel darauf, und schon bald erwachte das Feuer zum Leben. Darauf verbrannten sie eine Adler- und eine Rabenschwinge, während sie mit ihren rauen Stimmen sangen. Als das Feuer am höchsten loderte, wobei es im blendenden Licht von Sonne und Himmel und Eis trotzdem fast unsichtbar blieb, holte Orn ein rotes Bündel aus seinem Rucksack und schlug den Stoff zurück. Ein Menschenschädel kam zum Vorschein, bei dem der Kiefer fehlte, der jedoch ansonsten sauber und frisch aussah. Orn hielt ihn empor, damit er ein letztes Mal die Sonne ansehen konnte, und auch die anderen blickten mit geschlossenen Augen und singend zur Sonne. Dann legte Orn den Schädel ins Feuer, und sie sahen zu, wie er sich schwarz verfärbte und, nachdem sie etwas Fett daraufgegossen hatten, ebenfalls zu brennen begann, nicht wie Holz, sondern wie die Spitze eines riesigen Dochts. Und wie ein Docht brauchte er sehr lange, um zu verbrennen. Weiße Flammen tanzten in den Augenhöhlen und aus dem offen stehenden Mund, als ginge es dem Schädel dort im Feuer recht gut, doch schließlich zerbrach er, fiel in sich zusammen und wurde Teil der darunterliegenden Glut. Als das Feuer schließlich herunterbrannte, waren von dem Schädel nur noch einige schwarze Stücke geblieben, die sich kaum von den anderen Kohlestücken in der Asche unterschieden.
Als das Feuer erlosch, scharrten die Männer behutsam in der letzten Glut und warteten wieder. Im eisigen Nordwind kühlte die Asche schnell aus, und sobald sie kalt genug war, um sie anzufassen, nahmen die Nordleute so viel davon, dass beide Hände gefüllt waren und trugen sie mit ausgestreckten Armen aus dem Steinkreis, den sie einmal auf der Außenseite umrundeten und dabei an jedem Stein stehen blieben und sangen. Anschließend stellten sie sich um einen aus ihrer Gemeinschaft herum auf und warfen die Asche in die Luft, sodass der Wind sie auf den Mann in der Mitte blies. Er hielt Arme und Gesicht nach oben und empfing den Ascheregen wie ein willkommenes Geschenk.
Von allem, was Eistaucher bisher bei den Nordleuten gesehen hatte, kam das einer Schamanenangelegenheit am nächsten, und er verspürte einen Stich in der Brust, als er an Dorn dachte, und fragte sich, was er wohl von dieser Sache gehalten hätte und ob er Dorn jemals wiedersehen und die Gelegenheit erhalten würde, ihm von der Zeremonie der Nordleute zu berichten, ihrem Steinkreis und dieser gewaltigen vierten Welt aus Eis, auf die sie einfach heraufgestiegen waren. Er hatte nach wie vor keine Ahnung, wie er es zu Dorn zurückschaffen sollte, und dieser schmerzliche Gedanke ließ ihn körperlich ermatten. Sein Magen zog sich zusammen, ihm wurden die Knie weich, und er musste sich zusammenreißen, um gehen zu können. Vom Herumstehen waren ihre Füße kalt, und sie mussten auf ihre Schritte achtgeben, als die Jende ihren Weg nach Westen und Norden fortsetzten, bis zu einer Kante der Felsinsel, die sie bislang noch nicht aufgesucht hatten.
Hier ragte der Fels hoch über das Eis hinaus. Zu ihren Füßen fiel eine steile Klippe aus rissigem Gestein zum sahnigen Blau hin ab. Die vielen schmalen Simse an der Wand waren grün von Moos, sodass sie von oben fast ganz grün erschien. Weiter unten fiel sie noch steiler ab und entzog sich dem Blick. Das Eis jenseits des grünen Mooses schien sehr viel weiter unten zu liegen.
Auf dem Weg zu der Kante waren die Jende verstummt, und sie bedeuteten Eistaucher mit Gesten, ebenfalls zu schweigen. Dann traten sie wieder von der Kante zurück und blickten sich um. So weit das Auge reichte, war alles vom großen Windeis bedeckt, das bis zum sonnenversengten Horizont reichte.
Unvermittelt rannten die Jende auf die Kante zu, als wollten sie sich in die Tiefe stürzen, um dann schreiend anzuhalten und Hände voller kleiner Steinchen die Felswand hinabzuwerfen, die über die Vorsprünge kullerten.
Kreischend stieg ein großer Schwarm Vögel in die Lüfte empor, wild durcheinanderflatternd, wobei einige sogar zusammenprallten und ins Trudeln gerieten, ehe sie sich wieder fingen. Von diesen krähengroßen, schwarz-weißen Vögeln mit den großen, gekrümmten, orangefarbenen Schnäbeln schwirrten bald viele Zwanzig-Zwanzig-Zwanzig in wilden Kurven überall über den Männern umher.
Als ihre Panik sich gelegt hatte und sie hoch genug aufgestiegen waren, bildeten die Vögel Schwärme, zogen in Gruppen Kreise und kehrten entweder zur Felswand unter ihnen zurück, ohne die Nordleute, von denen sie aufgescheucht worden waren, weiter zu beachten, oder flogen davon. Schwarze Rücken, weiße Bäuche, entenartige Füße vom gleichen Orange wie die Schnäbel. Ihre Gesichter bestanden aus zwei großen weißen Kreisen, in denen kleine schwarze Augen saßen. Sie flogen so dicht beieinander, dass sie eigentlich hätten zusammenstoßen müssen, doch nachdem sie ihren Schreck verwunden hatten, passierte ihnen nichts Derartiges mehr. Vögel waren gut in so etwas.
Aufmerksam verfolgten sie die wilden Flugbahnen der Vögel, die Hände an die Stirn gelegt, um die Augen zu beschatten. Als die Vögel schließlich davongeflogen oder zur Klippe zurückgekehrt waren und nur noch einige wenige über ihnen kreisten, besprachen sie sich für eine Weile, auf eine für sie sehr untypische Art und Weise. Eistaucher begriff, dass sie aus dem Auseinanderstieben der Vögel ihre Schlussfolgerungen zogen, denn zuweilen kratzten sie Kurven auf den Felsen oder vollführten schwirrende Bewegungen mit ihren Händen. Es würde ein gutes Jahr werden, sagten sie einander.
Danach machten sie sich auf den Rückweg. Die vielen eingekerbten Felsblöcke hinab, zurück auf das atmende blaue Eis, einmal mehr vorsichtig dahingleitend. Das Licht der im Westen gleißenden Sonne wurde nun in einem schmerzhaften Winkel reflektiert. Sie mussten die Augen fast ganz zukneifen, und hier verschafften die Lider der Jende ihnen anscheinend einen deutlichen Vorteil. Für Eistaucher war das Eis so hell, dass es schwarz wirkte, als brenne es an den Rändern. Es war ein Licht wie das Feuer im Schädel auf der Felsspitze. Blind stiegen sie den Hang am Rande der Eisebene hinab, den Wind im Rücken. Die Wanderung zog sich, und Schlimmbein machte sich heftig pochend bemerkbar. Sie kehrten in die Welt zurück. Bald würde die Sonne untergehen, und sie würden das letzte Stück des Abstiegs im Dunkeln zurücklegen müssen. Doch derzeit strahlte die Welt noch hell.
Die Spätwinterstürme tobten hier manchmal einen halben Monat oder länger. Solche Zeiten verbrachten sie im großen Haus, essend, schlafend und nochmals schlafend. Auf den oberen Plattformen saßen oder lagen die Jende. Im Dämmerlicht, das durch das Röhrenloch im Dach fiel, fertigten sie Dinge an und redeten, und ihre Ältesten erzählten Geschichten, lange Geschichten, die sie in kurzen, rhythmischen Sätzen hervorstießen. Die flatternden Worte lullten Eistaucher in eine Art Halbschlaf, in dem ihm so war, als ob er träumte, obwohl er es nicht tat. Die Ältesten beendeten ihre Geschichten genau wie Pippalott, indem sie beispielsweise sagten: Seht nur, die Eiszapfen scheinen schon fast zu schmelzen, um ihr Publikum daran zu erinnern, wie viel Zeit sie mit ihrer Geschichte aufgezehrt hatten. Je mehr, desto besser, an Tagen wie diesen.
Manchmal fertigte auch Eistaucher etwas an. Er schnitzte Speerschleudern aus den Schulterknochen ihrer Nahrung, wofür er keine Klingen benutzte, die sie als Gefangene nicht haben durften, sondern Steinchen. Wenn sie Knochen aufbrachen, um das Mark herauszubekommen, dann blieben manchmal Splitter, die sich gut für Fallen verwenden ließen; aber sie gaben auch gute Klingen ab, die ganz offensichtlich gefährlich waren, und da er sie nirgends verstecken konnte, zerbrach er sie normalerweise, wenn er mit ihnen fertig war. Doch eine davon steckte er zwischen zwei einander überlappende Felle an der Wand, dicht überm Boden. Niemand bemerkte etwas davon.
Trotzdem fiel ihm kein Fluchtweg ein.
Während sie die Frühlingsgewitter aussaßen, verbrachten sie sehr viel mehr Zeit im Haus als in den Wintermonaten. Bei Morgengrauen zogen sich ein oder zwei an, warfen einen Blick durch den Eingang nach draußen und berichteten anschließend, welche Tätigkeiten die Winde ihnen heute gestatten würden. Wenn es nicht gewitterte, machten sie sich auf den Weg hinaus in die Kälte und taten, was getan werden konnte. Sie fütterten ihre gefangenen Wölfe, suchten ihr Scheißfeld auf und holten neuen gefrorenen Fisch von ihrer Vorratsplattform. Bei Sonnenuntergang versammelten sie sich in ihrem großen Haus, das an einen Biberbau erinnerte, aßen in der erwärmten Luft und besprachen die Ereignisse des Tages. Abends ruhten sie sich in den höchsten Bereichen, wo es am heißesten war, aus und schwitzten hemmungslos. Zum Schlafen kehrten sie dann auf die tieferen Ebenen direkt über Eistaucher und den anderen Gefangenen zurück, wo es kühler war. Anscheinend schliefen sie gerne in ihre Pelze eingemummelt. Die Luft, die durch die Kältefalle einströmte, war natürlich so kalt wie die Luft draußen, und wenn man die Hand von der Gefangenenebene in den Eingangstunnel hinabstreckte, spürte man diese Kälte, die sehr viel beißender war als die unten im Haus, so schnell erwärmte sich die Luft bei ihrem Aufstieg. Es verblüffte Eistaucher immer wieder, doch er konnte es selbst spüren, und wenn er die Hand hochhielt, spürte er auch, dass es direkt über ihm wärmer war. Auf dem Weg von der Kältefalle bis zum ersten Stockwerk der Jende erwärmte sich die Luft von frostig kalten auf angenehm kühle Temperaturen, sie war dann fast schon warm, oder zumindest irgendwo zwischen warm und kalt. Es war so ähnlich, wie sich die Luft auf dem Weg von der Nase zu den Lungen erwärmte oder wenn morgens die Sonne auf einen fiel: ein seltsam schneller Wandel.
Im großen Haus kam die Wärme vor allem von dem Feuer, das auf der Plattform brannte, und daher, dass alle Wände mit Leder bedeckt waren, um sie winddicht zu machen und die Wärme wie in einem Beutel innen zu halten. Die gedrungenen Leiber der Jende leuchteten wie Lampen im Zwielicht, ihre Haut gerötet und schweißglänzend. Sie sahen aus wie die Steine, die sie ins Feuer legten und anschließend mithilfe dicker Äste in Eimer mit Kochwasser tauchten; auch diese Steine leuchteten im Dämmerlicht und versengten die Luft. An Unwettertagen wurde der hohle Ast oben im Dach fast vollständig mit einem Fellflicken verschlossen, wodurch die Wärme noch besser im Innern gehalten wurde. Bevor die Jende abends schlafen gingen, zogen sie den Fellflicken heraus und öffneten das Loch, wodurch das Hausinnere sich insgesamt etwas abkühlte. Anschließend rollten sie sich in ihre Felle, legten sich in die Beinahe-Dunkelheit am kleinsten Feuer, das eigentlich nur der Beleuchtung diente und in dem die ganze Nacht über drei Dochte brannten.
Bevor sie schlafen gingen, nahmen sie dann noch eine letzte Mahlzeit ein. Oft aßen sie die Fische gefroren und kauten mit Hingabe auf ihnen herum. Aber manchmal kochten sie sie auch in Holzeimern, wobei sie das Wasser mit den heißen Steinen erwärmten. Dabei aßen sie erst den Fisch und tranken anschließend die Brühe, in der sie ihn gekocht hatten. Die Frauen der Jende holten die Fische aus der Brühe, rieben sie mit den Fingern trocken und verteilten sie an alle Jende im Haus, wobei sie genau darauf achteten, wer welche Teile bekam. Wenn die Fische aufgegessen waren, reichten sie Kellen mit der Brühe herum. Dann gingen sie zu Bett. Manchmal erwachten sie nachts, um in ihre Pinkeleimer zu pinkeln. Die meiste Zeit schliefen sie, und oft saß nur Eistaucher während der langen Fäuste der Nacht sinnierend da und spürte, wie Schlimmbein in der Kälte pochte.
Die Tage wurden länger. Bald würden die Hungermonate des Frühlings anbrechen, doch die Jende waren weit davon entfernt, dass ihnen die Nahrung ausging. Eistaucher vermutete, dass sie mit dem gefrorenen Essen auf ihren Plattformen noch einen weiteren Winter hätten durchstehen können, vielleicht sogar einen dritten. Und trotzdem zogen die Männer an jedem Tag, an dem der Wind es gestattete, los, um zu jagen, zu fischen und Fallen zu stellen. Eistaucher wusste nicht, was er davon halten sollte. Wahrscheinlich wollten sie einfach nicht untätig bleiben. Sie hatten mehr Kinder in ihrem Rudel als die meisten Rudel des Südens. Und Eistaucher wusste nur zu gut, dass sie manchmal Frauen von anderen Rudeln stahlen. Vielleicht wollte man noch andere Dinge tun, wenn man so viel zu essen hatte. Vielleicht wollten sie viele Kinder, wollten sie mehr werden. Einmal erhaschte er einen Blick auf Elga am Eingang zum Frauenzelt. Sie sah wohlgenährt aus, und er fragte sich, ob sie schwanger werden würde. Bei dem Gedanken sog Eistaucher die Luft zwischen den Zähnen hindurch. Doch er wusste nicht, was er dagegen unternehmen sollte. Nachts konnte er nur in sein Fell gewickelt auf dem kalten Boden liegen und sein kaltes Fleisch essen; und wenn ihn der Drang dazu überkam, konnte er die kalte Erde ficken. Doch dazu trieb es ihn nur selten. Er hatte immer kalte Füße und einen kalten Klumpen im Bauch. Er konnte nichts sehen, was ihn aus seiner Gefangenschaft hätte befreien können.
Dennoch. Er hatte die versteckte Knochenspitze zwischen den Fellen an der Wand. Und wann immer man ihn losschickte, um Feuerholz zu holen oder gefrorenen Fisch von der Vorratsplattform oder Robbenhautbeutel voller Fett, versuchte er, etwas zu stehlen und zu verstecken, erst zwischen den Fellen an den Wänden oder in Schneewehen im Lager und später, als er Feuerholz sammeln ging, unter einem Felsbrocken im nächstgelegenen Tal, einem Felsbrocken in einer ganzen Ansammlung von Felsbrocken am Fuß einer Geröllhalde. Das Loch unter diesem Felsbrocken ähnelte einer Murmeltierbehausung, und da ein Murmeltier natürlich auch hineingelangen konnte, hinterließ er dort kein Essen. Doch mit der Zeit hatte er gestohlene Beutel und Rucksäcke versteckt, und später auch zwei Jacken mit Kapuzen und Stöcke, die sich als Gehstöcke oder Speere verwenden ließen. Alles, was er zusammenstehlen konnte und was keine Nahrung war, ihm aber trotzdem als nützlich für seine Heimreise erschien, nahm er und versteckte es dort.
Aber nach wie vor fiel ihm keine Möglichkeit zum Entkommen ein.
Dorn war gerade oben beim Kurzen Pass angelangt, als eine Gestalt auf der Wiese an der Oberen Klamm erschien. Dorn erstarrte und beobachtete sie eine Weile. Er sah nicht mehr so gut wie früher. Dann winkte die Gestalt ihm zu. Es war Pippalott. Dorn winkte zurück, und der Reisende stieg rasch das letzte Stück des Tals bis zum Pass hinauf. Dorn zupfte sich an den Resten seines linken Ohrs, die er nur selten berührte. Als der Reisende den Pass erreicht hatte, ging Dorn ihm entgegen, und sie umarmten einander und hielten sich anschließend bei den Händen und schauten einander an.
— Weißt du, wo Eistaucher ist?, fragte Dorn.
— Ja. Die Nordleute, die seine Frau geholt haben, haben ihn gefangen genommen.
Dorn knurrte. — Wann?
— Gleich, nachdem sie sie geholt haben. Ich habe ihm dabei geholfen, ihre Spur zu verfolgen, aber bei Morgengrauen haben ihre Kundschafter ihn geschnappt. Ich habe sie kommen hören und mich fortgeschlichen, doch dafür musste ich leise sein.
— Und dann?
— Sie sind nach Norden zu ihrem Lager gezogen. Erst bin ich ihnen gefolgt, doch dann musste ich nach Osten. Jetzt bin ich auf dem Heimweg, aber ich wollte dir sagen, was geschehen ist.
Dorn nickte stirnrunzelnd. — Komm mit in unser Lager. Du sollst unser Gast sein, dann kannst du auch Heide davon erzählen.
Pippalott nickte.
Zurück im Lager versammelten sich die Leute ums Feuer, um sich Pippalotts Geschichte anzuhören. Stehend trug er sie vor.
Der junge Mann und ich folgten den Nordleuten,
Die auf dem Weg nach Hause waren.
Wir hielten Abstand, sie sahen uns nicht.
Zwei Tage folgten wir nachts ihrer Spur und schliefen am Tag.
Und in der zweiten Nacht machten wir in einem guten Loch am Grat halt,
An einer Stelle, von der ich früher schon Ausschau gehalten hatte.
Doch wir beide schliefen ein, und in der Dämmerung nach dem ersten Licht
Erwachte ich und wusste, dass Männer nah waren,
Und ehe ich Eistaucher wecken konnte, waren sie schon über uns,
Und während sie ihn ergriffen, schlüpfte ich wie ein Murmeltier unter einen Stein
Und musste stillschweigen, um unbemerkt zu bleiben.
Bei all meinen Schlafplätzen gibt es Verstecke,
Und auch ihr solltet es so halten, wenn ihr allein reist,
Wenn ihr Schlaf braucht, und sei es nur eine Faust dann und wann.
Danach folgte ich ihnen mit einem Tag Abstand,
Sah nur ihre Kundschafter, die spät an jedem Nachmittag
Als Nachhut ausgesendet wurden.
Die Nordleute sind nicht besonders vorsichtig,
Denn sie glauben, dass niemand ihnen zu folgen wagt,
Deshalb halten sie nur nach Löwen und Bären Ausschau.
So folgte ich ihnen nach Norden
Zum großen Fluss, der westwärts fließt,
Unten in jener weiten Ebene.
Ich glitt durchs Sumpfgras
Und durch Weidensträucher, ohne auch nur den Boden zu berühren,
Und ich machte keinen Laut, und kein Ast regte sich durch mich,
So flink geht mein Fuß.
Und ich sah sie am anderen Ufer des Flusses
Und sah sie von dort aus nach Norden ziehen.
Denn ein Vorsprung an einer Flussbiegung
Ließ mich sie von ferne erkennen,
Wie sie nordwärts nach Hause zogen.
Weit dort draußen fallen einige Hügel zur großen Salzsee hin ab,
Und über und hinter diesen Hügeln liegt eine höhere Welt,
Ein großes Windeis, das alles nördlich jener Hügel bedeckt,
Nur nicht das große Salzmeer.
Manchmal lässt dieses Eis sich besser queren
Als das Land darunter, denn es ist glatt
Und Tiere gehen nicht dorthin,
Außer den großen weißen Bären, die sich aber nie weit vom Wasser entfernen.
Draußen auf den weißen Höhen kann man tagelang dahinlaufen,
Ohne sich um Gefahren zu sorgen,
Abgesehen von den Rissen im Eis, die so groß sind, dass ein Mann hineinfallen kann,
Doch die sieht man und kann sie umgehen.
Die, die Eistaucher geholt haben, leben dort, wo Eis und Land und Wasser aufeinandertreffen,
Sie nennen sich die Jende, was die Leute bedeutet, nach Art vieler unwissender Rudel.
Dorn sagte: — Kannst du uns zu ihnen führen?
— Ich kann den Weg beschreiben, sagte Pippalott, — so, dass ihr sie nicht verfehlen könnt. Ich selbst muss nach Hause zurück.
Die Leute vom Wolfsrudel sprachen die Sache durch. Schiefer und Steinbock sagten kaum etwas, ließen aber erkennen, dass sie wenig Lust verspürten, sich mit den Nordleuten anzulegen — für eine Frau, die diesen ohnehin ursprünglich gehört hatte. Die jüngeren Männer, Moos, Falke und ihre Freunde, sprachen hitziger, weil sie ihren Freund vermissten, doch eigentlich wollten sie die Reise auch nicht wagen. Zwar drängten sie Schiefer zum Handeln, deuteten aber gleichzeitig an, dass sie daheim gebraucht wurden, damit sie ihre Arbeit für das Rudel leisteten, womit sie nicht ganz unrecht hatten.
Dorn verließ das Feuer und ging am Fluss entlang, um zum nördlichen Himmel zu schauen. Es war spät. Die Zwei Täler waren auf die Seite gekippt, und die Kelle goss ihren Inhalt über ihren gebogenen Griff.
Noch später kehrte Dorn ins Lager zurück und ging zu Heides Nest. Er saß an ihrem kleinen Feuer und wärmte sich die Hände. Die Mädchen, die ihr halfen, schliefen in ihren Rentierfelldecken, die Gesichter dem Feuer zugekehrt. Schließlich kam Heide herangeächzt und setzte sich neben ihn. Eine ganze Weile lang sprach keiner der beiden.
— Ich gehe sie holen, sagte Dorn schließlich.
— Nein.
— Doch.
Heide gab ein leises Schnauben von sich. — Wir brauchen dich hier.
— Sie brauchen wir auch.
Heide antwortete nicht. Sie war es, die sich um Eistauchers und Elgas Kind kümmerte.
— Ich werde schnell zurück sein.
Heide betrachtete ihn eine ganze Weile. — Wird Pippalott dich begleiten?
— Nein.
— Aber du wirst Hilfe brauchen.
— Mag sein.
Heide schwieg.
Dorn sagte: — Ist der Alte, den du geheilt hast, noch in der Gegend? Wie hieß er doch gleich?
— Knack, antwortete Heide. — Ich nenne ihn Knack. Das klingt wie das Geräusch, das er macht, wenn er sich selbst meint. Sie gab ein schnalzendes Geräusch von sich, indem sie die Zunge vom Gaumen nach unten schnellen ließ. — So sagt er es. Ja, er ist in der Gegend. Oben auf der Mittelkuppe. Er besucht mich immer, wenn ich dort oben Nieswurz sammle.
— Hilfst du mir dabei, ihn zu finden? Und fragst ihn, ob er mich begleitet?
Sie starrte Dorn ins Gesicht, und er hielt ihrem Blick stand. Schließlich sagte sie: — Warum er?
Dorn zuckte mit den Schultern. — Er ist stark.
Sie starrte ihn weiter an. — Und er ist der Einzige, der dich begleiten würde.
— Das auch. Aber er ist gut dafür. Er ist stärker als alle anderen.
Er ging zu Pippalott und sagte: — Erklär mir, wo sie sind. Zeig es mir.
Sie gingen zu der Sandbank an der Flussbiegung. Pippa glättete ein Stück Ufersand und zeichnete erst ein sehr genaues Abbild der Festwiese und der umliegenden Hügel hinein, wobei er mit zusammengedrückten Fingern Hügelkämme aus Sand errichtete und die Gipfel mit einigen Steinchen markierte. Er gehörte zu den besten Vogelsichtmalern beim Acht-Acht, und als er mit seiner Nachbildung des Festbereichs fertig war, wandte er sich dem nördlich gelegenen Sand zu und zeichnete Flüsse ein, die erst über die Steppe führten und dann durch ein breites Tal, das von Osten nach Westen verlief. Nördlich davon, direkt am Rande der See, zeichnete er eine gekrümmte Linie, die eine niedrige Hügelkette darstellte, und inmitten dieser Hügel stellte Pippa einen Stock auf.
Dorn nickte. Es war ein weiter Weg nach Norden.
Bei Sonnenaufgang stand Dorn auf und packte seine restlichen Sachen. Als sein Bündel voll war und er etwas geräucherten Lachs und ein paar Hände voll Pinienkerne gegessen hatte, ging er zu Heides Nest.
Sie war bereit und hatte ihr Bündel bereits auf dem Rücken. Bevor sie aufbrachen, gab sie ihm ein kleines Beutelchen. — Es wirkt nicht sofort. Schnell, aber nicht augenblicklich.
— Ich werde daran denken, sagte Dorn und steckte den Beutel in eine Innentasche seines Mantels.
Gemeinsam verließen sie stromaufwärts das Lager, in Richtung Kurzer Pass und Mittelkuppe. Heide ging zügig voran. Dort, wo die Obere Klamm sich weitete und der Bach sich um die Mittelkuppe gabelte, blieb sie bei einem kleinen Zedernhain stehen und pfiff einen ansteigenden Ton, der mit einem dreifachen Piepen endete, wie der Ruf eines kleinen Vogels.
Nach einer Weile ertönte ein ähnliches Pfeifen von dem Hügel. Aus dem Wald trat der Alte, dem Heide und Eistaucher geholfen hatten, als er verletzt gewesen war. Dorn hatte den Alten in der Zeit seiner Genesung kurz besucht. Er hatte eine kleine Exorzismus-Melodie gespielt und dem Alten dabei einen Klumpen Spucke aus dem Hals gezogen, der so groß wie eine Kröte gewesen war. Deshalb erkannte der Alte ihn nun, und obwohl er offensichtlich überrascht war, wirkte er nicht weiter beunruhigt. Dorn nickte ruckartig, wie die Alten es taten, und gab den leisen Girr-Laut von sich, den sie verwendeten, wenn sie einander in den Wäldern finden wollten, und der genau wie der klang, mit dem die Eistaucher ihre Gefährten suchten, wenn sie von einem Tauchgang zurückkehrten.
Knack wiederholte das Geräusch.
— Ein Eistaucher, um einen Eistaucher zu finden, sagte Dorn zu Heide. Die achtete nicht auf ihn, sondern sprach langsam mit Knack. Knack legte den Kopf schief. Anscheinend verstand er sie, obwohl sie die meiste Zeit über die ganz normalen Worte des Rudels verwendete.
Das Gesicht des Alten war haarig. Sein Bart, sein Haupthaar und seine dichten Brauen waren alle ineinander verfilzt und bildeten eine Matte, die an den Winterpelz eines Bären erinnerte. Die Haut auf seinen Wangen, seiner Stirn und Nase war blass wie ein Pilz; und er hatte eine große Hakennase. Seine Iriden waren dunkelbraun, das Weiße in seinen Augen blutunterlaufen. Sein Blick hatte etwas Starres, das Dorn an den alten Pfeifhasen erinnerte. Um den Hals trug er einen Lederriemen mit drei Löwenzähnen daran. Er war ein wenig kleiner als Dorn; seine Brust war kräftig, er hatte kurze Beine und humpelte leicht. Sein Kopf war lang gestreckt, von der Stirn bis zum Nacken; er verhielt sich zum Kopf einer gewöhnlichen Person wie der Kopf eines Höhlenbären zu dem eines Waldbären. Sein rauchiger Geruch überdeckte nicht ganz einen Bisamratten-Moschusgeruch. Er trug einen Speer in der Hand und ein großes Fellbündel über der linken Schulter. Seine Kleidung bestand aus Marder- und Fuchsfellen und Bärenfellstiefeln, und er wirkte so verständig wie jeder andere Waldmann auch. Schließlich gab es auch Waldmänner, die vergessen hatten, wie man redete. Dennoch war dieser Alte seltsamer als ein Waldmann. Die Alten waren alt.
An Heide gewandt gab er ein zustimmendes Grunzen von sich, oink, oink, bei dem es sich eindeutig um eine Art Ja handelte. Sein starrer Gesichtsausdruck ließ ahnen, dass er nicht so genau wusste, wozu er sich bereit erklärte, aber davon ausging, dass er es schon früh genug herausfinden würde. Vielleicht war er einfach gutmütig; aber trotzdem wollte man, wenn man allein unterwegs war, nicht mehr als einem Alten auf einmal begegnen. Auch in dieser Hinsicht ähnelten sie Bären. Bären waren angeblich früher einmal Menschen gewesen, bevor Rabe ihnen aus Versehen ihr Fell angeklebt hatte. Vielleicht waren die Alten Bären, die kein Fell bekommen hatten.
Heide sprach in einer Mischung aus Alten- und Menschensprache. — Dorn gut, girr, girr, geh Eistaucher suchen. Gefolgt von einer Reihe Schnalzlaute.
Sie drehte sich zu Dorn um. — Er wird dich begleiten und dir helfen. Er weiß, dass du Richtung Norden in die Kälte gehst, um Eistaucher und das Mädchen zu retten.
Sie schnalzte Knack zu, dessen Lächeln Dorn angstvoll erschien. Er nickte erneut. — Dange, sagte er, etwas, das er während seiner Heilung gelernt hatte.
— Nein, ich danke dir, erwiderte Dorn und sagte dann zu Heide: — Wie sage ich ihm, dass er gehen soll?
— Huusch, sagte sie und wedelte dabei mit der Hand.
Dorn nickte und probierte es aus. Er sah Knack in die Augen. — Huusch, sagte er und wedelte Richtung Norden, zur Mittelkuppe hin. Und dann sagte er das Wort, das das Rudel dafür verwendete: Skai. So konnte er dem Alten vielleicht etwas von der Sprache des Rudels beibringen. — Skai, Huusch, Skai.
— Oink, sagte Knack erneut und fügte hinzu: — Essen, wobei er ebenfalls eine Handbewegung in Richtung der Mittelkuppe machte.
Dorn nickte. — Gute Idee. Geh Essen holen.
Knack drehte sich Bestätigung heischend nach Heide um, die ihm zuschnalzte. Er schlüpfte zwischen die Bäume.
Dorn und Heide standen da und warteten auf seine Rückkehr.
Schließlich tauchte Knack wieder zwischen den Bäumen auf. Das Bündel über seiner Schulter war nun dicker als zuvor.
Unvermittelt packte Heide Dorn am Arm. — Ich will hoffen, dass du zurückkommst. Wir brauchen dich.
— Ich weiß. Ich komme zurück.
— So schnell du kannst.
— Wenn ich nicht in zwei Monaten zurückkomme, komme ich überhaupt nicht wieder.
Sie wechselten einen Blick, und dann ließ Heide seinen Arm los.
— Huusch, sagte sie zu Knack. — Skai. Geh mit Dorn, tu, was er sagt.
Die beiden Männer wanderten schnell dahin. Es war der vierte Monat, in dem die Tage bereits länger als die Nächte waren und schnell noch länger wurden. Auf den Südhängen war der Schnee mit kleinen Mulden voll Schmelzwasser übersät. Morgens war er so fest, dass sie beinahe darauf rennen konnten, und an den Nordhängen konnten sie sich auf den Stiefelsohlen hinuntergleiten lassen.
Bei den Löchern im Eis auf den Flüssen ließ sich deutlich erkennen, dass viele Lebewesen vorbeigekommen waren. Die Abdrücke im Schnee waren zerschmolzen, sodass sie dreimal so groß aussahen wie gewöhnlich. Es kam Dorn vor, als würden sie durch ein Land voller Giganten ziehen.
Während des ersten Teils ihrer Reise folgten sie einfach der Route der Rentiere, weshalb Dorn den ganzen Tag lang so rasch er konnte lief und rutschte und in den Nächten um Vollmond bis Mitternacht weiterging. Die schneebedeckten Hügel leuchteten im Mondlicht so hell, dass man fast wie bei Tag sehen konnte, wobei das Mondlicht allem die Farbe nahm. Doch zum Wandern brauchte man keine Farben. In der Nacht sahen sie mehrere Male große Katzen, und als sie einmal von einer großen Katze mit buschigen Ohren verfolgt wurden, schrie Dorn sie laut an, damit sie wusste, dass er sie im Auge behielt. Allerdings schien die Anwesenheit des Alten die Katze und auch alle anderen Tiere viel mehr als die von Dorn abzuschrecken. Vielleicht lag es auch nur daran, dass sie zu zweit waren.
Dorn beobachtete Knack, und wenn er voranging, achtete er darauf, wie der Alte sich bewegte und Umschau hielt. Knack kam schnell voran und schien sich dabei doch nie zu überanstrengen. Seine Füße strauchelten nicht, und seine Stiefel schienen zu den besten ihrer Art zu gehören und waren an den Nähten mit einer Art Harz versiegelt. Beim Gehen summte er vor sich hin und gab leise Schnalzlaute von sich, sodass er ein wenig wie eine Heuschrecke oder ein Grashüpfer klang.
Wenn sie zur kältesten Nachtzeit haltmachten und Dorn ein kleines Feuer entzündete, setzte Knack sich dicht heran und breitete die Arme aus, um die Wärme aufzufangen, wobei er miauende und gackernde Laute von sich gab. Er hatte sich selbst viel zu erzählen. Dorn saß da, sah ins Feuer und lauschte ihm. Dann und wann weckte der Alte mit zwei kurzen Schnalzlauten Dorns Aufmerksamkeit, um dann auf etwas zu zeigen und das gleiche Geräusch zu wiederholen. Dorn sagte dann den Namen des jeweiligen Dings, worauf Knack den Mund öffnete, die Lippen verzog und den Kopf auf die Seite legte, als sei er im Begriff, das Wort zu wiederholen; aber letztlich tat er es doch nie. — Girr, sagte er stattdessen. Es entsprach fast genau der kleinen Begrüßung, mit der Eistaucher, die wieder an die Oberfläche kamen, ihre Gefährten auf sich aufmerksam machten. Dorn konnte zur Antwort nur den Kopf schütteln und entweder das gewünschte Wort wiederholen, seinerseits ein Girren ausstoßen oder weiter schweigend ins Feuer starren. Dorn sprach, der Alte sprach, aber eine gemeinsame Sprache hatten sie nicht. Eines Nachts spielte Dorn Flöte, und der Alte summte die Melodie mit und weiter, bis Dorn von Neuem zu spielen begann, aber versetzt, bis sie gemeinsam wieder am Anfang des Liedes ankamen. Das waren ihre besten Unterhaltungen.
Knack schlief immer ein, während das Feuer noch brannte. Dorn trocknete dann alles, was während des Tages nass geworden war, und starrte weiter ins Feuer, bis graue Schleier über den orangefarbenen Schein der verbliebenen Glut flackerten. Dann legte er sich in seine Pelze gewickelt hin und sah bis zum Morgen den Sternen auf ihrem Weg zu. Wenn er schläfrig wurde, spielte er ein kleines Nachtlied auf seiner Flöte, und wenn Knack davon aufwachte, dann bedeutete Dorn ihm, Wache zu halten, worauf Knack zweimal schnalzte, und dann schlief Dorn fast schon zwischen dem ersten und dem zweiten Schnalzen ein und erwachte erst, wenn die Sonne durch den östlichen Horizont stieß.
Einmal weckte ihn Knack, indem er ihn sehr leicht mit dem stumpfen Ende seines Speers anstieß, und als Dorn sich aufsetzte, bedeutete er ihm, sich nicht zu bewegen, ließ sich dann nach vorne fallen und ahmte die Haltung einer jagenden Katze nach. Dorn nahm seinen eigenen Speer und seine Speerschleuder, machte sich wurfbereit und erhob sich, wobei er die ganze Zeit lauschte. Weder hörte er das Tier noch sah er es, und nach einer Weile wischte sich Knack mit der blassen Hand durchs blasse Gesicht und bedachte Dorn mit einem Blick, der vielleicht Erleichterung zum Ausdruck bringen sollte, obwohl seine vorspringende, immer gerunzelte Stirn nicht besonders gut dafür geeignet war. Sie setzten sich wieder hin, packten ihre Sachen, tranken aus ihren Wasserschläuchen und zogen weiter.
Draußen in der offenen Steppe konnten sie mit ihren Schritten weit ausholen. Sie stießen sich mit ihren Speeren ab, sodass sie beinahe rannten und dabei sehr viel schneller vorankamen, als es dem Rudel der Wölfe jemals gelang. Es kam darauf an, immer auf den großen Felsplatten der Ebene zu bleiben, die teilweise direkt aneinanderstießen und nur gelegentlich durch flache, sumpfige Rinnen unterbrochen wurden. Morgens war es einfach, weil der Schnee so hart war, dass sie selbst über diese Rinnen einfach hinwegstiefeln konnten. Doch nach Mittag wurde er weicher, und sie brachen häufiger ein. Knack war so schwer, dass er an Stellen, an denen Dorn kaum bis zu den Knöcheln einsank, bis zur Hüfte im Sumpf verschwand. Unter manchen Schneefeldern gab es verborgene Schmelzwasserbecken, weshalb man ab nachmittags besser auf den Felsplatten blieb. Knack bezeichnete diese Felsbrocken anscheinend als Burren, denn wenn sie über sie hinwegeilten, summte er das Wort vor sich hin: — Burren, Burren, Burren, Burren.
So schnell sie konnten, liefen sie Richtung Norden, mit der Sonne im Rücken. Zusammen kamen sie gut voran. Am fünften Tag erreichten sie das Festgelände, das im Schnee zwar sehr seltsam aussah, aber auch unter der höckerigen weißen Decke unverkennbar blieb. Inzwischen hatten sie ihre Reisegewohnheiten; nur noch selten versuchten sie, miteinander zu sprechen, denn dazu gab es keinen Anlass.
Gelegentlich sah Dorn auf ein Stück Birkenrinde, auf dem er Pippalotts Vogelsichtbild abgezeichnet hatte. Das Gebiet, durch das sie sich jetzt bewegten, war für Dorn Neuland, weshalb die Rindenzeichnung ihr einziger Anhaltspunkt war.
Der Fluss, an dem sie Pippalott zufolge vom Festgelände aus nach Norden ziehen mussten, war noch zugefroren, sodass sie über seine verfärbte Schneedecke eilen konnten, wobei sie mit ihren Speeren prüfend auf das Eis vor ihren Füßen schlugen. So weit im Norden war es selbst zu Mittag noch kalt, und das Flusseis war dick und fest. Die wenigen offenen Stellen, an denen sie vorbeikamen, waren willkommene Trinkgelegenheiten, denn in diesem Land von Schnee und Eis war das Wasser selbst knapp. Und sie waren noch immer weit südlich von ihrem Ziel.
Die zunehmende Kälte ließ sich am besten ertragen, wenn man sich beim Wandern anstrengte, und so hielten sie es. Später kauerten sie sich an kleine Feuer, wenn sie Holz gefunden hatten, oder über Dorns Fettlampe, wenn nicht. Zweimal kamen sie an Seitenarmen vorbei, die fast so breit waren wie der Fluss selbst.
Als sie vom Festgelände aus drei Tage nach Norden gewandert waren, musste Dorn eine Entscheidung treffen. Von nun an konnte es sich praktisch bei jedem Richtung Norden verlaufenden Tal um das handeln, durch das sie ihren Weg fortsetzen sollten, soweit er es aus seiner Rindenskizze ersehen konnte. Da es kein Unterscheidungsmerkmal gab, entschied er sich für das erste große Tal, an dem sie vorbeikamen.
Dieses Tal ähnelte dem Land um die Eiskappen westlich der Urdecha. Allerdings gab es hier weniger Bäume, die noch dazu knorrig und verkrüppelt waren. Die Bäume wurden genutzt: Sie hatten kaum tote Äste, und viele waren auf Hüfthöhe gekappt und aus den Bruchstellen erneut gewachsen. In immer mehr Nächten mussten Dorn und Knack Fett und Dung verbrennen, weil sie nicht genug Holz für ein Feuer finden konnten.
Nachdem sie zwei Tage lang durch dieses karge Tal gezogen waren, überquerten sie einen Pass und fanden sich in einem weiteren Tal wieder, das sich ebenfalls Richtung Norden erstreckte, und noch zwei Tage später lief es in eine weite Ebene aus, die leicht in westlicher Richtung abfiel, genau, wie sie es laut Pippas Karte tun sollte. Die Ebene war von sumpfigen Rinnen und kopfhohen Wäldchen bedeckt, die größtenteils aus Lärchen, Sumpferlen und Zederngestrüpp bestanden. Es war schwieriges Gelände, und unweigerlich folgten sie häufig den Spuren, die zahlreiche Tiere auf der Suche nach dem einfachsten Weg hinterlassen hatten.
— Je schwerer der Weg, desto klarer die Spur, verkündete Dorn jedes Mal, wenn er auf eine dieser erstaunlich häufigen Tierspuren traf. Oft stießen sie erst darauf, nachdem sie sich eine Faust lang oder länger durchs Unterholz gekämpft hatten, und freuten sich immer wieder aufs Neue, selbst wenn es sich nur um Rehspuren handelte, die sich schnell wieder verloren. Jedes Mal wiederholte Dorn das alte Sprichwort, wie schon Pfeifhase vor ihm.
— Schwer Weg, Spur klar, sagte Knack einmal, als er voranging und auf eine Spur stieß.
— Ja, sehr gut, sagte Dorn. — Danke.
— Dange.
Am zweiten Nachmittag ihrer Steppenüberquerung erreichten sie einen Fluss, der zu dieser Jahreszeit ein glatter, weißer Steg war. Einen so breiten Fluss hatte Dorn noch nie gesehen, und er war dankbar, dass sie einfach hinübergehen konnten. Wenn es den Leuten in diesen Landen gelang, ein Floß zwischen so weit auseinanderliegenden Ufern hinüberzuziehen, war das eine gewaltige Leistung.
Nördlich des zugefrorenen Flusses setzten sie ihren Weg fort. Dorn sah oft auf seine Birkenrindenkarte, obwohl sie ihm nur wenig nutzte; der Abschnitt, der für diese Gegend stand, wies praktisch keine Landmarken auf, und er erinnerte sich nicht, dass Pippalott etwas darüber gesagt hätte, wie viele Tagesreisen man brauchte, um vom großen Fluss zu den Hügeln der Nordleute zu gelangen.
Sie fanden es heraus, indem sie weitergingen: drei Tage lang. Am Ende des dritten Tags erhoben sich niedrige Kuppen über den nördlichen Horizont der schneebedeckten Steppe. Am nächsten Tag waren bereits die ganzen Hügel zu sehen. Dann teilten sich die Hügelspitzen in zwei Ketten auf, deren kleinere dunkel und höckerig war, während die höhere gerade und weiß aussah. Über den Hügeln ragte im Norden das Eis auf, genau wie Pippalott es beschrieben hatte. Es war nicht mehr weit.
Nun wandte Dorn sich nach Nordosten und richtete in einem kleinen Erlengestrüpp ein Versteck für sie ein. Er entfachte ein Feuer und hielt es so klein wie möglich, und den wenigen Rauch fächerte er auseinander. Nach dem Essen ließ er das Feuer herunterbrennen, und die Nacht über lagen sie am auskühlenden Glutbett. Am Morgen, als der Schnee hart war, wanderten sie schnellen Schritts nach Norden, ins Hügelland.
Die kleinen Spalten zwischen den Hügeln waren voller Stiefel- und Fußabdrücke, hier und da waren sogar breite Pfade in den alten Schnee getreten. Die niedrigen Bäume in den Spalten waren oft abgehackt. Es bestand kein Zweifel daran, dass sie sich in der Nähe eines Lagers befanden.
Dorn sagte zu Knack: — Das sind die Leute, die Eistaucher und Elga geholt haben. Wir müssen näher rankommen, ohne gesehen zu werden. Ich möchte sie eine Weile beobachten, um herauszufinden, wie sie leben. Dann überfallen wir sie und holen Eistaucher und Elga zurück.
— Girr, sagte Knack.
Die Hungermonate verstrichen ohne Hunger. Eistaucher schlug sich den Bauch voll mit den Resten, die die Jende ihm herunterwarfen. Er sah mit an, wie die Nordleute üppig speisten und dabei lautstark den Sommer herbeiriefen, dessen Rückkehr sie offensichtlich ersehnten, obwohl sie ihn nicht so nötig brauchten wie das Rudel der Wölfe, so seltsam das auch erscheinen mochte. Vielleicht lebten sie darum hier. Zehn Monate im Jahr fror man, und in den übrigen beiden versank man in Schlamm und Mücken; aber es gab immer genug zu essen, sogar mehr als genug. Das erklärte vielleicht auch alle ihre Essverbote, sehr viel mehr als beim Wolfsrudel: Sie hatten genug zu essen, um wählerisch zu sein. Ihre Frauen durften vieles nicht essen, wobei ihnen manches nur verboten war, wenn sie schwanger waren, und anderes immer: Otter, Löwe, Mammut, Moschusochse; kurz, so sagten die Frauen mit bedeutungsvollen Blicken, all das gute Fleisch. Junge Leute durften nicht die Tierteile essen, die an alte Menschen erinnerten, wie zum Beispiel die Hängebacken der Elche oder Nashornlippen. Murmeltierfleisch durfte niemand essen und niemand die Unaussprechlichen jagen. Trink nicht zu viel Wasser, davon wirst du langsam. Die Regeln nahmen kein Ende und waren für Eistaucher weitgehend unbegreiflich. Da er nur die unbeliebteste Nahrung zu sich nahm, hatte er wenig Sinn für die feinen Unterscheidungen, die sie auf den höheren Plattformen im Haus trafen, oben in der Wärme. Die Gefangenen mussten in der Kälte ausharren, damit sie dumm blieben, so wurde ihm in einer trostlosen Nacht klar, als Schlimmbein besonders heftig pochte.
Einmal kurz vor der Abenddämmerung wurde Eistaucher noch einmal nach draußen geschickt, um mehr gefrorenen Fisch von der Plattform zu holen. Inzwischen durfte er allein gehen — es gab auch keinen Grund, ihn zu bewachen. Er würde nirgendwohin gehen, davon waren die Jende mittlerweile überzeugt, und es verschaffte ihm ein wenig Vergnügen, sich diesen Eindruck als Handwerksstück vorzustellen, wie einen seiner beschnitzten Stöcke oder die Wandmalereien zu Hause, die ihm manchmal noch immer klar vor Augen traten. Manchmal stellte er sie sich ganz bewusst vor, um sich den prüfenden Blicken der Jende zu entziehen. Roter Bär, schwarzer Bison.
Wenn sie ihn also alleine nach draußen schickten, um etwas zu holen oder um die Abfälle einer Mahlzeit nach unten zum Müllhaufen zu bringen, verborgen unter einem Schneeberg, der im Sommer schmelzen und all den Müll in den Fluss und die große Salzsee hinausspülen würde, versuchte er weiterhin, jedes Mal etwas Nützliches aus dem Haus mitzunehmen und es in seinem Murmeltiernest auf der Geröllhalde am Hügel östlich des Lagers zu verstecken. Am Fuße jenes Hügels gab es zwanzigzwanzigzwanzig Felsbrocken, und die größten waren am weitesten gerollt. Auf diesem gewaltigen Splitterfeld würde niemand sein Versteck finden.
Wenn er zu seinem Felsbrocken rannte, um sein Diebesgut zu verstecken, und anschließend ins Lager zurückkehrte und auch noch die Aufgabe erledigte, mit der man ihn losgeschickt hatte, ging all das so schnell und brachte sein Herz so heftig zum Pochen, dass er sich in diesen Momenten, und nur in diesen, so wach wie früher fühlte. All das war so hektisch und seltsam, dass er das Gefühl hatte, sich in einen Traum zu stürzen, sobald er das Haus verließ.
Wenn er dann wieder im warmen großen Haus war, atmete er langsam und bedächtig, und jeder Atemzug war so bemessen, dass er nach außen Gelassenheit vermittelte. Und tatsächlich half das Atmen ihm dabei, wirklich gelassen zu werden. Er schlief im Stehen, nichts als ein weiterer frierender Gefangener.
Einmal schickte man ihn los, damit er den Nachteimer draußen auf dem Scheißefeld leerte, eine weitere schneebedeckte Fläche, die mit der Schneeschmelze davonfließen würde, und auf dem Weg sah er Elga, die mit einem leeren Eimer in der Hand von eben dort kam.
Sie blieben stehen und blickten sich um. Niemand sonst war in der Nähe. Eistaucher ging auf sie zu und streckte ihr die freie Hand entgegen.
— Sie dürfen nicht sehen, dass ich dich kenne, erinnerte ihn Elga mit schneidender Stimme. — Dann töten sie dich.
— Ich weiß. Ich warte immer noch auf den richtigen Moment. Halt dich bereit.
— Wir brauchen Schneeschuhe, sagte sie.
Eistaucher spürte, wie seine Brust sich mit einem tiefen Atemzug weitete. — Du willst also weg?
— Ja!, antwortete sie nachdrücklich. Als er sah, dass es ihr ernst war, schnürte sich ihm die Kehle zu.
— Schluss jetzt, sagte sie. — Bald werden sie mich suchen kommen. Ich darf nur zusammen mit anderen rausgehen.
Eistaucher nickte. — Halt dich bereit. Und mit einer leichten Berührung am Arm ging er an ihr vorbei, hinunter zum Scheißefeld.
Später Frühling: Noch immer war die Welt von Schnee bedeckt, doch langsam begann er zu tauen und wurde harsch und höckerig. An einigen Südhängen entstanden hüfttiefe Mulden. Morgens, wenn der Schnee überfroren war, kam es einem vor, als ginge man über Felsklingen. Es war gefährlich. Später am Tag konnte man auf das spitze Ende eines Höckers treten und ihn genau so platt drücken, dass es sich gut darauf laufen ließ. Und noch später wurde der Schnee so weich und matschig, dass er unter den Füßen zerfiel und man in die tiefer gelegenen Mulden schlitterte, in denen man beim Einbrechen manchmal bis zu den Hüften versank. Schlimmbein erwischte es dabei mehrmals ziemlich übel. Es war erstaunlich, dass der Schnee sich innerhalb von einer oder zwei Fäusten von weißem Fels in wässrigen Brei verwandeln konnte. Nach Einbruch der Dunkelheit wurde er dann ziemlich schnell wieder hart. Der Schnee veränderte sich nicht so schnell wie die Luft, aber immer noch schnell.
Die Vorräte an gefrorenem Fisch und Fett in Robbenhautbeuteln gingen den Jende einfach nicht aus. Sie hatten so viel Fett, dass sie es zum Feuermachen verwenden konnten. Und die Tage wurden länger. Schon bald würde das Eis brechen, und die Erde würde wieder unter dem Schnee hervorkommen. Schon bald würde der Sommer kommen.
Eines Nachts blies der Wind stark aus Richtung Westen, und am Morgen war es bereits so stürmisch, dass man das Tosen selbst im großen Haus hörte. Vor dem Eingangstunnel wurde selbst der alte Frühlingsschnee nach Osten über den Boden gepeitscht. Sie mussten den Eingang verschließen, damit der Wind nicht ins Haus hinauffegte und es wie eine geplatzte Seetangblase auseinanderriss. Eistaucher ging zusammen mit den Männern, die sich darum kümmerten, hinaus, und während sie eine Tür aus Stecken und Häuten zusammenbanden, um den Gang abzudecken, wurden sie immer wieder von starken Böen zu Boden geworfen und schlitterten dabei manchmal, vom Wind getrieben, wie Robben übers Eis. Alle lachten, erschreckt darüber, derart am eigenen Leib die Kraft des Windes zu spüren.
Später, als der Sturm ein wenig nachgelassen hatte, gingen dieselben Männer noch einmal hinaus, um nachzusehen, ob im Lager noch alles in Ordnung war, und auch, um solch außerordentlichen Wind draußen zu erleben. Nachdem sie sich vergewissert hatten, dass alles im Lager fest an seinem Platz war, lehnten sie sich in den Wind und gingen ans Ufer der großen Salzsee. Das Meereis war spurlos verschwunden; sie sahen zu, wie wilde, gebrochene Wellen herandonnerten und brodelnd an den verschneiten Strand brandeten, wo sie schaumige Ausläufer bildeten, die landeinwärts rollten, bis sie sich an Felsen oder Büschen verfingen und verweht wurden. All das war erstaunlich laut; sie konnten einander selbst dann kaum hören, wenn sie sich ins Gesicht schrien. Einige Böen waren so stark, dass sie sich mit dem Rücken zum Wind hinsetzen mussten, und selbst dann wurden sie von den heftigsten noch über den Sand geschoben. Sie konnten einfach nicht aufhören zu lachen.
Inmitten all dessen zeigte einer auf etwas in den Wellen, und einige der anderen standen auf und stemmten sich gegen den Wind, um es zu sehen, die Arme wie Vögel im Gleitflug ausgestreckt oder die Jacken an ihren Köpfen festhaltend. Draußen in den aufgewühlten Wellen trieb einer der riesigen Baumstämme, die sie als Hauspfähle und Küstenmarkierungen verwendeten. Einige der älteren Pfähle waren heute umgestürzt, aber die meisten trotzten dem Wind, wie sie schon so vielen Stürmen getrotzt hatten, und blieben ohne zu wanken an ihrem Platz.
Doch jetzt trieb ein neuer Stamm seitwärts auf den schaumgekrönten Brechern heran und krachte ans Ufer, wo er mit jeder großen Welle weiter auf den Strand gestoßen und gespült wurde, bis er dort wie das tote Stück Holz lag, das er war, die Leiche eines Baums, der größer war als alle, die Eistaucher je zuvor gesehen hatte. Er fragte sich, was für ein Land sich wohl auf der anderen Seite des großen Salzmeers befand, dass dort solche Bäume wuchsen.
Später, als der Sturm abgeklungen war, zogen alle Männer der Jende und viele ihrer Frauen los, ergriffen die Seile, die sie um diesen neuen Treibgutstamm geschlungen hatten, und mit vereinten Kräften zogen sie ihn auf eine Reihe quer dazu ausgelegter, geglätteter Äste. Auf diesen ließ der Stamm sich leichter schleppen, und wenn am hinteren Ende ein Ast unter ihm hervorkam, hoben sie ihn auf und brachten ihn nach vorne. Dadurch mussten sie sehr viel weniger ziehen, um den Baum zu bewegen. Sie schleppten ihn zu den Reihen aufgestellter Stämme am oberen Ende des Strands, wo sie ein Loch gruben, das gesplitterte Ende hineinsteckten und mit Seilen am Wurzelende zogen, um den Stamm zu kippen, bis er schließlich aufrecht inmitten der anderen Stämme am Strand stand, wo er dem Westwind trotzen sollte, bis auch er umfiel oder ins Lager geschleppt wurde, weil man ihn dort anderweitig brauchte.
Eines Nachts, als die Jende Fisch in ihren mit Steinen aus dem Feuer erhitzten Eimern kochten und die obersten Geschosse ganz besonders heiß waren, stürzten zwei Gestalten in Fellen aus der Kältefalle hervor, trieben ihre Speere in die Leute und warfen Fett ins Feuer, sodass es brennend umherspritzte. Im Geschrei, Rauch und in der Verwirrung nahm einer der Eindringlinge den Eimer mit kochendem Wasser und schleuderte den Inhalt in die Gesichter und dann ins lodernde Fettfeuer, das sich überall ausbreitete. Dann eilten die Eindringlinge wieder nach unten, und wie Otter in einem Biberhaus spießten sie mit ihren Speeren jeden auf, an dem sie vorbeikamen. Einer packte Eistaucher am Arm, und erst da sah er, dass es Dorn war. Neben ihm schrie der Alte, den Heide gesund gepflegt hatte, mit gebleckten Zähnen wie ein Luchs; das unmenschliche Heulen übertönte die Schreie der Jende und machte die Attacke noch überwältigender.
Eistaucher griff sich seine Stiefel, während Dorn ihn die Kältefalle hinabstieß. Sie rannten durch den Eingangstunnel, und Dorn warf ein brennendes Stück Holz hinter sich auf einen offenen Fettbeutel, dessen Inhalt er verschüttet hatte. Schon loderten Flammen im ganzen Durchgang.
— Ich besorge uns allen Schneeschuhe, sagte Eistaucher.
— Gut, sagte Dorn. — Nimm Knack mit, ich gehe inzwischen Elga holen.
— Sie ist im Frauenhaus.
— Ich weiß! Hol alles, was du hast, und folge Knack, er weiß, wo wir uns treffen. Ich sorge dafür, dass die Männer hier eine Weile damit beschäftigt sein werden, Feuer zu löschen.
— Sie haben Wölfe! Sie werden ihre Wölfe auf uns hetzen.
— Ich weiß! Tatsächlich heulten die gefangenen Wölfe bereits. — Scheiß auf die Wölfe, die halten uns nicht auf.
Er rannte in Richtung Frauenhaus, und Eistaucher führte den Alten zu dem Geröllfeld, fand sein Loch, kroch hinein und reichte Knack so schnell es ging seine Beutel. Die Öffnung kam ihm kleiner denn je vor, während er hastig in der Dunkelheit umhertastete, und er hatte das Gefühl, zu langsam zu sein, gemessen daran, wie oft er sich die Geschehnisse schon in Gedanken als Geschichte erzählt hatte. Nach dem ersten Schreck kam es ihm vor, als ob ihm all das bereits bekannt sei, wie in manchen Träumen, in denen er sich selbst von oben oder hinten bei seinem Tun beobachtete.
Sie rannten zurück ins Lager der Jende, und Eistaucher sah sich selbst zum Unterstand neben dem großen Haus gehen, wo die Sachen für draußen aufbewahrt wurden, sich vier Paar Schneeschuhe heraussuchen und sie Knack geben, ehe er eine Steinklinge ergriff und damit auf die Vorderkrümmung der übrigen Schneeschuhe eindrosch, sodass sie sauber der Länge nach splitterten. Was er da tat, erschreckte ihn, weil er nie darüber nachgedacht hatte. Aber es war ein guter Plan, also zertrümmerte er die gebogenen Kiefernrahmen, als handelte es sich um die Schädel der Jende. Als er damit fertig war, gab der Alte mehrere kurze Schnalzlaute von sich und führte Eistaucher flussabwärts in ein kleines Erlendickicht. Dort wartete Dorn mit Elga. Sie trug einen Pelzumhang, doch abgesehen davon hatte sie nur die Beinlinge an, die die Jende in ihren Häusern trugen. So standen sie zu viert da und sahen einander mit weit aufgerissenen Augen an. Es war eine kalte Nacht, und schon bald würde der halbe Mond untergehen.
— Sie braucht etwas zum Anziehen!, sagte Eistaucher.
— Dorn sagte: — Wir machen ihr etwas aus dem Umhang. Vorerst muss sie damit auskommen.
— Ich komme schon zurecht, sagte Elga und nahm einen der Beutel, die Eistaucher versteckt hatte. Sie trug weiche Stiefel. — Beeilen wir uns, die werden sich bald den Weg aus den Häusern freischneiden.
Sie stopften zwei Rucksäcke mit Eistauchers Diebesgut voll, und Eistaucher zog seine eigenen Stiefel an und steckte die Arme durch die Gurte eines der Rucksäcke. Dorn band die gestohlenen Schneeschuhe an die Rucksäcke von Eistaucher und dem Alten, und dann machten sie sich auf den Weg durch die Nacht, Richtung Süden.
So schnell es ging, ohne dabei in Laufschritt zu verfallen, wanderten sie über den gefrorenen Schnee. Als der Mond unterging, mussten sie etwas langsamer werden, doch auch im Sternenlicht leuchtete der höckerige Schnee noch so hell, dass man gut sehen konnte und sie fast mit voller Kraft laufen konnten. Die ganze Nacht über liefen sie schweigend dahin, nur manchmal quiekte Dorn: — Skai!, und dann rannten sie in einer Art gestrecktem Wolfsgalopp los, bis einer von ihnen langsamer wurde, worauf sie wieder im schnellen Wanderschritt weitergingen. An einem langen, flachen Hang war der Schnee so oft geschmolzen und wieder gefroren, dass die Höcker darauf sich abgeflacht hatten und der harte Schnee glatt wie Eis war. Dort hielten sie inne, um die Schneeschuhe anzuziehen. Eistaucher zeigte Dorn und Knack, wie sie die Stiefel festbinden mussten. Elga band ihre selbst, und Eistaucher sah, dass damit ihre weichen Stiefel ein wenig geschützt würden.
Dorn schlug ein Tempo an, bei dem die anderen nur unter Mühen mithalten konnten. Als die Dämmerung nahte, wurde es kälter, doch mit Ausnahme seiner Nase und der Ohren war Eistaucher am ganzen Körper warm, selbst in den Zehen und Fingern. Das funktionierte nur, wenn man weit ausholte und dann und wann, wenn der Boden eben oder abschüssig war, in einen leichten Laufschritt verfiel. Dorn trieb sie durch sein Beispiel an und auch durch die gelegentlichen Blicke, die er ihnen über die Schulter zuwarf. Sein Gesicht erschien Eistaucher wie ein Fetzen aus einem Traum, eine Vision vom Ottermann, der unerbittlich und entschlossen weiterzog, nachdem er die Biber in ihrem Bau getötet und eine ihrer Frauen geraubt hatte. Der Anblick ließ Eistauchers Lebensgeister erwachen, und er eilte den anderen hinterher, ohne sich der Anstrengung bewusst zu sein. Es war wie in einem Traum, und doch war er in seinem ganzen Leben nie wacher gewesen.
Als im Osten der Morgen graute und er wieder ein wenig zu sich kam, stellte er allerdings fest, dass Schlimmbein seit vielen Monden keine so harte Wanderung mehr gemacht hatte und sich nun lautstark zu Wort meldete. Er brauchte einen Stock, und als sie das erste Mal an einem Eisloch in einem zugefrorenen Bach vorbeikamen, der schnell durch eine Biege in einer schmalen Schlucht floss, holte er eine Handklinge aus seinem Sack, hackte einen Erlenzweig ab, der etwas zu kurz war, aber ansonsten stabil aussah, und dämpfte mit ihm jedes Auftreten auf Schlimmbein. Derart dreibeinig zu laufen war nicht so einfach wie normales Gehen, aber es war die Mühe wert.
Als der ganze Himmel sich langsam grau aufhellte, verdoppelte Dorn seine Anstrengungen. — Sie dürfen uns heute den ganzen Tag nicht sehen. Ich weiß nicht, wie viel Vorsprung wir haben, aber sie werden schnell sein.
Das konnten Eistaucher und Elga nur nickend bestätigen. Knack warf sich mit weit ausholenden, schweren Schritten voran. Obwohl er bei jedem Schritt schwer schnaufte, konnte er anscheinend sehr lange so weitermachen. Eistaucher erkannte, dass er nicht viel über die Fähigkeiten der Alten wusste. Natürlich erinnerte er sich nach wie vor nur zu gut an die Begegnung mit ihnen auf seiner Wanderschaft, und allein der Gedanke daran trieb ihn weiter vorwärts. Er war den Alten entkommen, aber ihm war nicht klar, was das über sie aussagte. Ihm wurde klar, dass er von allen Tieren der Welt am wenigsten über das wusste, das dort neben ihnen einhereilte. Aber vielleicht lag das auch nur daran, dass die Alten sich am sorgfältigsten versteckten: Sie wollten nicht, dass man etwas über sie wusste.
Doch die Jende kannte Eistaucher. Auf Schnee liefen sie sehr schnell, wenn es ihnen darauf ankam. Natürlich waren in allen Rudeln die Jäger schnell und ausdauernd; das gehörte dazu, ein Jäger zu sein. Doch die Jende, die jeden Sommer loszogen und mit ihren nördlichen Nachbarn im Zwist lagen, waren schnell, und sie waren den Schnee gewohnt. Im Schnee fühlten sie sich zu Hause, und so waren sie überall zu Hause, wo Schnee lag, und kamen schneller darauf voran als Leute von anderswo. Das befürchtete Eistaucher zumindest.
Und sie hatten Wölfe, die sie auf ihre Beute hetzen konnten.