Das Lager der Wölfe in seiner kleinen Balme, der Blick auf die Gewundene Au, den Gewundenen Berg, den Steinbison und den Fluss in seiner Schlucht. Die Mittsommersonne, die ihr Abendlicht schräg durch die westliche Schlucht wirft und auf den Rauch des Feuers trifft. Daheim daheim daheim daheim daheim.
Heide begleitete sie und trug all ihre Sachen, und als sie das letzte Stück des Pfads am Fluss hinabstolperten und im Lager eintrafen, war es bereits nach Sonnenuntergang, und das Feuer schien auf jedes Gesicht, Masken ihrer selbst, Masken des Glücks über die unverhoffte Heimkehr der Reisenden: Falke und Moos schrien Eistaucher ins Gesicht und umarmten ihn stürmisch, und auch die anderen streckten die Hände aus, um sie zu berühren, um sich zu vergewissern, dass sie echt waren, so groß war die Überraschung. Selbst Salbei gab ihm einen Kuss. Das erinnerte Eistaucher an die Nacht, in der er von seiner Wanderschaft zurückgekehrt war, doch diesmal war er an einen Ort jenseits des Himmels geschickt worden, einen Traumort, der wirklicher war als die Wirklichkeit. Oder vielleicht war auch das jetzt die wirkliche Wirklichkeit, so unbestreitbar wie ein Schmerz, wie die Hitze, die ihm ins Gesicht stieg.
Sie blieben eine Weile wach, redeten und schlürften Entensuppe, bis die Erschöpfung die Reisenden schließlich niederstreckte und man sie zu Bett trug. Die ganze Nacht sah Eistaucher in seinem Traum nichts als die vom Feuer angestrahlten Gesichter, lachend, maskenhaft. Sein Rudel.
Nach dem Aufwachen taumelte er wie ein Holzmann ans östliche Ende des Lagers. Der Steinbison überspannte noch immer den Fluss, das Morgenlicht erfüllte die Schlucht, das Lager briet in der Sonne, und die Luft war von sommerlichen Gerüchen, vom Glucksen des Flusses und vom Gezwitscher der Vögel erfüllt. Jeder Baum war ein Bienenstock. Der Himmel war blau, und es schien unvorstellbar, dass sie vor nur wenigen Tagen in Wind und Schnee gebibbert hatten. So war das manchmal im sechsten Monat. Und daheim blieb daheim, ob man nun da war oder nicht. Eistaucher blickte sich weiter um, setzte sich und berührte den Boden, kostete die Erde. Es war schwer zu glauben. Das Gefühl war wie eine Knospe im Frühling, er konnte sie ansehen und wusste, dass sie einmal zu etwas Großem erblühen würde.
Zurück im Leben des Rudels, ruhten Eistaucher, Elga und Dorn sich aus, aßen und ruhten sich wieder aus. Das Kind blieb dicht bei Elga und ließ sie nicht aus den Augen. Abends saß es zwischen Elga und Eistaucher oder bei einem von ihnen auf dem Schoß und hielt sich dabei mit je einer Faust in den Kleidern der beiden fest. Wenn Heide das sah, schüttelte sie den Kopf und sagte: — Du kannst wirklich von Glück sagen, Junge. Ich dachte, du wärst ein Waisenkind.
Am Feuer wollten alle wieder Dorns Geschichten hören, und so erzählte er sie mit krächzender Stimme und starrte dabei ins Feuer oder zu den Sternen empor. Wenn er mit seiner Geschichte fertig war, dann bat ihn oft jemand, nun davon zu erzählen, wie er Eistaucher und Elga gerettet hatte. Doch darauf schüttelte er immer den Kopf.
— Davon kann ich noch nicht erzählen. Die Geschichte ist noch nicht so weit.
Die Leute wussten natürlich, dass der Alte bei der Rettung gestorben war, also ließen sie Dorn in Frieden. Er würde es ihnen schon erzählen, wenn es an der Zeit war. Abgesehen davon erzählte er nur zu gerne all die alten Geschichten, angefangen mit der, wie Vielfraß den Sommer aus dem Winter gezogen hatte, und die beim Erzählen jetzt an das erinnerte, was er selbst gerade geschafft hatte — Eistaucher und Elga aus dem eisigen Norden zu ziehen und zu ihrer sonnenbeschienenen Balme zurückzubringen; er war sichtlich zufrieden mit sich bei seinem Vortrag.
Tatsächlich schien er mit jeder Geschichte mehr Freude am Erzählen zu haben. Morgens saß er dann neben Eistaucher und befahl ihm, die Geschichten alleine zu erzählen, während er dazu nickte und ihm Gedächtnisstützen verriet, mit denen er sie sich merken konnte. Der Unterricht war anders als früher, als Dorns Worte ihm zu einem geprügelten Ohr hereingekommen und zum anderen wieder hinausgegangen waren. Jetzt beobachtete Eistaucher Dorns Gesicht, während der alte Schamane sprach, und stellte fest, dass er dadurch mehr von seinen Worten im Gedächtnis behielt und die Geschichten fast genauso wiederholen konnte, manchmal, indem er sich ein Bild des erzählenden Dorn vor Augen rief, sein Zwinkern, sein Stirnrunzeln und sein schiefes kleines Lächeln und vor allem seinen Tonfall. Man musste sich die Geschichten wie Lieder mit Melodien merken, das war der Trick. Darüber hinaus schnitzte Eistaucher die Reihenfolge von Dorns Geschichten in Stöcke, um sie später als Hilfestellung zu verwenden.
Was auch half, waren die Regeln des Erinnerns, die ihm inzwischen geläufiger waren: die Regel der Drei, die Oben-nach-unten- und die Unten-nach-oben-Regel, die Helfer und ihre Pflichten und derlei mehr. Es fiel ihm noch immer schwer, und selbst wenn er sich eine Geschichte eingeprägt hatte, stellte er einen halben Monat später oft fest, dass sie wieder aus seinem Kopf verschwunden war. Und weil ihm inzwischen daran gelegen war, Dorn eine Freude zu bereiten, frustrierten ihn solche Verluste mehr denn je. Das Herz wurde ihm ein wenig schwer, als er begriff, dass er nun, da er zurück und gerettet war, diese Geschichten würde lernen müssen, selbst wenn er nie besonders gut darin sein würde, sie zu erzählen. Bis jetzt hatte er nie daran geglaubt, eines Tages tun zu müssen, was man als Mann tun musste.
Doch vor allem war er froh. Er beobachtete Elga, die wie ein Nerz aß und zusehends wieder Fleisch auf die Knochen bekam, und konnte kaum glauben, dass sie bei ihnen war. Es kam ihm wie ein Traum vor, und manchmal hatte er Angst, dass er eines Morgens, wenn das Sonnenlicht den Nebel in der Schlucht gelb färbte, in einer Welt erwachen würde, in der die Dinge anders gekommen waren. Es verblüffte ihn immer wieder, dass sie Elga tatsächlich zurückbekommen hatten; das würde er nie ganz hinter sich lassen, er würde immer ein wenig verblüfft sein. Auf keinen Fall sollte ihr je wieder etwas zustoßen.
Heide war sichtlich erfreut über ihre Rückkehr. — Es war langweilig, ohne den plappernden alten Unaussprechlichen mit seinen Karbunkeleien. Die meisten Männer in diesem Rudel sind Trottel, und die Frauen tragen gerade etwas aus, deshalb gab es niemanden mehr, mit dem man reden konnte. Außerdem braucht ein Rudel wohl seinen Schamanen, selbst wenn er eine kleine Schlange ist.
Sie musterte Eistaucher eingehend. — Ich bin froh, dich zu sehen, Eistaucher. Aber lass dir eines gesagt sein: Du musst dich um diesen schlimmen Knöchel kümmern, sonst wirst du dein Leben lang humpeln. Noch bist du ein junger Mann, kaum mehr als ein Kind. Sicher willst du nicht zwanzig Jahre lang lahm sein. Man braucht beide Beine, um in der Welt zurechtzukommen!
— Das weiß ich, sagte Eistaucher besorgt. — Das kannst du mir glauben.
— Warum läufst du dann immer noch damit herum?
Eistaucher war überrascht. — Weil ich helfen muss! Ich kann doch nicht nur rumsitzen und mich wie ein Kleinkind füttern lassen. Ich kann vielleicht nicht jagen gehen, aber wenigstens kann ich noch Feuerholz sammeln.
Er hatte noch nicht zu Ende gesprochen, da schüttelte sie den Kopf. — Wir sind bestens zurechtgekommen, bevor du wieder da warst. Wir brauchen dich nicht. Hör mir zu! Wenn du dich nicht einen Mondlauf lang hinsetzt und dein Bein ausruhst, wirst du nie wieder jagen können. Und wir brauchen dich als Jäger. Im Lager kommen wir auch eine Weile ohne dich aus. Alle werden es verstehen. Selbst Steinbock wird es verstehen. Und wenn nicht, sorge ich dafür, dass er es versteht. Bei den letzten Worten klang sie so bedrohlich, dass Eistaucher ein Schauer über den Rücken lief.
Der Blick, mit dem sie ihn festnagelte, war keinen Deut sanfter. — Also, tust du, was ich sage, oder nicht?
— Ich werde es versuchen.
Von da an saß Eistaucher selbst am Tag, während alle anderen unterwegs waren, im Lager herum. Er kümmerte sich mit um Glückskind und die anderen Kinder, schlug Klingen von Blöcken ab, gerbte Felle und schnitt und nähte neue Jacken und Beinlinge für Elga. Gut genug nähen konnte er dafür zwar, aber einige Frauen fertigten Kleider an, die so viel besser waren als seine, dass er schließlich aufgab und stattdessen anfing, aus Stöcken kleine Figuren zu schnitzen und Erdblut zu Pulver zu zermahlen sowie die Geschichten aufzusagen, die er lernte. Was er auch tat, Heide wollte ihn nicht aufstehen lassen. Jeden Abend und oftmals auch tagsüber erhitzte sie Wasser, indem sie Steine vom Feuer in einen Eimer legte, goss das heiße Wasser dann in Blasen und legte sie über Schlimmbeins Knöchel. Sie probierte auch einige ihrer Salben an ihm aus, schüttelte aber zweifelnd den Kopf, wenn sie sein Bein nach einer solchen Behandlung untersuchte. Offenbar hielt sie die Wasserblasen für das beste Heilmittel, und auch Eistaucher fand, dass sie sich gut anfühlten. Anschließend hielt sie immer seinen Fuß in den Händen und drückte behutsam auf die Haut über dem geschwollenen Knöchel, um festzustellen, wo es wehtat, und rieb sie, um die Heilung zu beschleunigen.
— Das solltest du auch machen, sagte sie zu ihm. — Du spürst es besser. Wenn ein Band oder eine Sehne reißt, dann heilt die Verletzung manchmal einfach nicht. Aber manchmal heilt sie auch doch. Die Leute genesen sehr viel öfter von solchen Rissen und Brüchen, als man meinen sollte. Du musst also das Beste hoffen und dir sagen, dass es schon klappen wird. Du kannst dich wieder davon erholen. Zumindest solltest du dich früher oder später wieder schmerzfrei bewegen können.
— Das wäre gut.
Tatsächlich tat es nicht mehr so weh wie auf ihrem Marsch. Aber manchmal, wenn er Schlimmbein versehentlich bewegte oder ein wenig aus dem Gleichgewicht geriet, schoss nach wie vor der kleine, reibende Schmerz durch sein Bein. Heide sah es ihm an, und sie sah auch, dass er nicht mehr lange würde herumsitzen können. Fast einen Monat lang tat er das nun schon, und bald würden sie sich auf die Reise nach Norden vorbereiten. Er musste aufstehen und einen Versuch wagen. Also erklärte sie eines Morgens, dass sie ihm einen Heilschuh anfertigen würde.
— Was meinst du damit?
— Das zeige ich dir.
Sie setzte sich mit ihm zusammen in die Sonne, einen Vorrat von Stöcken, Geweihen, Stoßzahnstücken, Lederbändern und Zedernrindenkordel bei der Hand, und sie verbrachten den ganzen Morgen damit, ein Holzgestell anzufertigen, das ein bisschen an einen Stiefel erinnerte, mit Lederbändern, mit denen Heide es an seinem Fuß, seinem Knöchel und seinem Unterschenkel befestigen konnte. Mit diesem Gestell, das bis zu seinem Knie hochging, konnte er gehen, indem er das ganze Gerät vorschwang und bei jedem Schritt mit der Unterseite aufsetzte. Dadurch humpelte er ziemlich, aber wie er auch auftrat und was er auch tat, der linke Fuß und Knöchel wurden genau in Position gehalten. Heide erklärte, dass der Bruch dadurch Zeit zum Heilen bekommen würde. Und es stimmte, dass er, wenn er das Gestell trug, nie das Knacken spürte, nicht einmal beim Gehen.
Also konnte er nun beim Feuerholzsammeln helfen und andere gemächliche Aufgaben im Lager übernehmen. Nachdem er den Holzstiefel bis in den siebten Monat hinein verwendet und nachts weiter Blasen mit heißem Wasser auf den Knöchel gelegt hatte, spürte er kaum noch Schmerzen, und auch die Schwellung war sichtbar zurückgegangen. Er war langsam, und seine Bewegungen waren, wie Falke es ausdrückte, hässlich anzuschauen, aber schließlich kam der Tag, an dem er den Stiefel nicht mehr brauchte, barfuß gehen konnte und dabei keine Schmerzen im Knöchel hatte. Er spürte eine gewisse Steifheit und Schwäche im Vergleich zu Gutbein, aber keinen Schmerz. Das verblüffte Eistaucher; er hatte nicht damit gerechnet, hatte nicht gewagt, darauf zu hoffen. Heide hatte ihn geheilt!
Sie schüttelte den Kopf, als er das zu ihr sagte: — Nein, nein. Dein Körper hat sich selbst geheilt. Aber ich weiß, was du damit sagen willst. Wenn man verletzt ist, fällt es einem sehr schwer, daran zu glauben, dass der Körper sich selbst heilen kann. Meistens scheint es genau andersherum zu sein. Wir zerfallen in unsere Einzelteile und sterben, so ist der Lauf der Welt. Aber manchmal heilt etwas. Ich habe das zu oft beobachtet, um noch daran zu zweifeln, das eine oder andere Mal sogar bei mir selbst. Nein, Heilung gibt es wirklich. Aber warum kommt sie das eine Mal zu uns und das andere Mal nicht?
Mit düsterer Miene schüttelte sie den Kopf. — Das weiß niemand. Eigentlich wissen wir überhaupt nichts. Nichts außer dem, was uns Rabe auf den Kopf scheißt, wir wissen nur, was uns aus dem Arsch der Welt überliefert ist. Aber was die Welt da oben im Schilde führt, warum wir genau diese Scheiße bekommen und keine andere, kann niemand sagen.
Sie saßen in der Sonne an die Felswand gelehnt, umgeben vom Geruch von Thymian und grauem Stein und dem Fluss, der sich in der wärmer werdenden Luft dahinschlängelte. Eistaucher ließ langsam und vorsichtig den Fuß kreisen. Er konnte einfach nicht mit dem Grinsen aufhören.
— Heute Morgen ist das ziemlich gute Scheiße, bemerkte er, schnupperte und blickte sich um.
Sie warf ihm einen finsteren Blick zu, offensichtlich war ihr nicht nach Frohsinn zumute. Schließlich wechselte sie das Thema. Es gab eine Reihe von Waldpflanzen, die er für sie holen sollte. Er konnte es langsam angehen lassen, und sie schlug vor, dass er den Holzstiefel mitnehmen sollte, falls er das Gefühl bekommen sollte, ihn doch zu brauchen. — Du willst dich doch sicher nicht wieder verletzen, gerade jetzt, wo du dich wieder erholst.
Größtenteils handelte es sich um Frauenarbeit, aber Jungen, alte Männer oder Schamanen übernahmen sie auch, besonders in diesem Monat. Viele der Mädchen arbeiteten für Heide und lernten dabei, was Heide über Pflanzen und Heilung und Geburtshilfe wusste, ohne dass sie viel Aufhebens darum machen musste. Eistaucher wünschte sich, dass Dorn es mit seinem Schamanenkram genauso gehalten hätte. Aber Frauen gingen die Dinge anders an. Viele von ihnen zogen tagsüber los, um Fallen zu stellen. Dann verschwanden sie entlang des Flussufers, um Unterwasserschlingen auszulegen, mit denen sie Bisamratten ertränkten. Manche von ihnen warfen Speere auf die vielen kleinen Tiere in der Schlucht und töteten ein paar Schwestern, um sich während ihrer Monatsblutungen die Zeit zu vertreiben, wenn so einige von ihnen übellaunig waren. Ja, auf ihre Art waren alle Frauen Jägerinnen, ob sie nun auf die Jagd zogen oder nicht. Einige der unheimlichsten Frauen gehörten zu denen, die im Lager blieben. Sie bildeten verschworene Gemeinschaften innerhalb des Rudels und starrten einen an. Fällten Urteile über einen. Sie schlitzten einem die Kehle auf, wenn sie anders nicht bekamen, was sie wollten. Selbst Elga, trotz all ihrer Wärme und der Liebe, mit der sie ihn in sich aufnahm und mit der sie ihn durch den Schnee nach Hause gezogen hatte — selbst Elga hatte manchmal einen Blick, der eher an einen Höhlenbären als an einen Elch denken ließ. Man kam ihr besser nicht in die Quere, und das galt jetzt mehr denn je. Was auch in Ordnung war, weil Eistaucher immer das wollte, was sie wollte. Außerdem richtete sie ihren Höhlenbären-Blick vor allem auf Donner und Blauhäher und auf Salbei.
Da hielt man sich am besten raus. Also überquerte er den Steinbison und durchstreifte die dichten Wälder an den Nordhängen jenseits der Urdecha, auf der Suche nach Nieswurz und Nachtschatten und Minze und Pilzen und Trüffeln, die er unter Farnen oder hinter den kleinen Quellen fand, die aus den ausgehöhlten schattigen Bruchkanten am Rand der Schlucht gurgelten, oft genau dort, wo die Felswände in die sanfter zum Talgrund hin abfallenden bewaldeten Hänge übergingen. An Stellen, die immer im Schatten lagen, gediehen Pflanzen, die es sonst nirgendwo gab. Felsen im ewigen Schatten waren mit Moosen und Flechten bewachsen, und zu ihren Füßen wuchsen Farne und wucherten ganze Netze von Büschen. Kleine Blumen und der trockene Duft von Thymian, der von sonnigeren Flecken herangetragen wurde, verliehen dem Geruch nach kühlem Grün eine würzige Note. Rotkehlchen pickten neben ihm auf dem Waldboden. Sie waren als ruhige und kluge Vögel bekannt, die sich oft in der Nähe von Menschen aufhielten, solange sie nicht belästigt wurden. Eistaucher fühlte sich durch ihre Anwesenheit gesegnet. Gegenüber, auf der Sonnenseite der Schlucht, bewegten sich die Kiefernäste im Wind.
Eistaucher verspürte keine Schmerzen beim Gehen. Immer wieder vergewisserte er sich dieses Wunders und stellte immer wieder fest, dass es Wirklichkeit war, um im nächsten Moment bei einem vielversprechenden Farnbeet auf die Knie zu sinken und darunter nach Nachtschatten zu suchen. Gelegentlich stand er auf und blickte auf den Fluss hinunter, der sich durch seine Schlucht wand, und auf ihr Lager auf der anderen Seite. Ein Glück, dass sich die besten Überhänge in dieser Schlucht an den Nordwänden der Schlucht befanden und damit in Richtung der sonnigen Südseite wiesen. Der Fluss wollte, dass die Menschen sich an seinem Bett wohlfühlten, und hatte die Dinge entsprechend eingerichtet. Hier auf der Schattenseite wäre ein Überhang verschwendet gewesen, und tatsächlich gab es auch weniger solcher verschwendeten Überhänge, unter denen es meist besonders feucht war. Andererseits gediehen dort gewisse Schattengewächse besonders gut.
Er erhob sich, hielt sich die Blätter und die frischen Knospen eines Minzzweigs unter die Nase und spürte, wie ihr Duft ihm zu Kopfe stieg. Unten im Lager sah er Elga und Glückskind am Feuer sitzen. Elga stanzte gerade mit einer Knochenahle Löcher in Leder, während Glückskind mit etwas spielte, das wie die kleinen Holzeulen aussah, die Eistaucher ihm geschnitzt hatte.
Kaum zu glauben, dass er nicht träumte. Doch hier stand er, hoch aufgerichtet und ohne Schmerzen, in der Kühle eines ganz gewöhnlichen Morgens. Eigentlich waren inzwischen die Dinge, die er in der Ferne erlebt hatte, zu Träumen geworden, obwohl sie ihm immer noch bedrohlich erschienen. Zu ihrer Zeit waren sie wirklich gewesen und hatten ihn mit Entsetzen und Hoffnungslosigkeit erfüllt, doch nun war all das vorbei. Es ließ sich nichts mehr an ihnen ändern, und sie konnten ihm auch keine weiteren Schmerzen mehr bereiten. Er musste keine Angst mehr vor ihnen haben. Er war aus ihnen erwacht, in diesen Traum, der kein Traum war. Einmal mehr trat er von jener Welt, in der er sich zuvor aufgehalten hatte, in die nächste. Alle Welten treffen sich. Es war Zeit, dem nachzuspüren und sich zu freuen.
Dorn hingegen war nicht glücklich. Zuerst überraschte das Eistaucher. Doch dann begann er zu verstehen: Dorn würde niemals glücklich sein. Es war nicht seine Art. Viele alte Leute waren so. Aber nein, Windhauch war denkbar glücklich gewesen, bis kurz vor ihrem Tod. Es lag an Dorn. War er seit jeher so? Eistaucher konnte sich nicht erinnern.
Eines Nachts saßen sie ums Feuer und aßen Lachs und eine Körnermaische, die Donner auf einem heißen Stein gekocht hatte. Dorn stand und trank aus einer Kelle, und Eistaucher saß am Feuer, massierte sich den linken Fuß und betastete die neuen, harten kleinen Knötchen darin, fest und schmerzfrei. Er hob den Blick, weil Dorn zusammengezuckt war, und sah, dass der Schamane über Eistauchers Kopf hinweg etwas auf der anderen Seite des Feuers anstarrte. Sein Gesicht sah aus wie eine hölzerne Maske, über die der Feuerschein flackerte. Niemand sonst benahm sich seltsam, alle plauderten miteinander über dies und das: Nur Dorn war erstarrt. Mit einem Mal erkannte Eistaucher, dass Dorn Knacks Geist anstarrte. Das war es, was sein maskenhaftes Gesicht bedeutete.
Eistaucher zog sich der Magen zusammen, und die Haare auf seinen Armen stellten sich auf. Er wagte es nicht, sich umzudrehen, um den Geist selbst zu sehen, dafür war er viel zu verängstigt. Vielleicht stand Knack halb aufgefressen da, blutend, die roten Augen rachedürstend, mit spitzen Reißzähnen im Mund. Um nichts in der Welt würde er sich umdrehen.
Dorn blieb wie gebannt stehen. Einen Moment lang war alles in der Schwebe. Die Leute redeten im orangefarbenen Feuerschein. In Eistaucher regte sich wider Willen Neugier. Er wollte sehen, ohne hinzuschauen, wissen, ohne zu sehen. Er hielt den Atem an, spürte, wie sein Arschloch sich schmerzhaft zusammenkrampfte, wandte den Kopf und sah nach unten ins Feuer; und dann verdrehte er die Augen weit nach rechts und warf einen Blick über die Flammen in die Richtung, in die Dorn starrte.
Es war tatsächlich Knack. Er stand am Rande des Feuerscheins, in der Dunkelheit zwischen zwei Bäumen, flackernd tauchte er auf und verschwand. Ganz sicher war es Knack. Sein blasses Gesicht sah vor Kälte erstarrt aus, sein Haar, sein Bart und seine Stirn mit Frost bestäubt, aber seine Augen waren lebendig, und ihr Blick war auf Dorn gerichtet. Seine Miene wirkte tadelnd. Alle Stücke von ihm, die sie gegessen hatten, schienen unter seinem Bärenfellmantel noch immer da zu sein.
Dann wanderte sein erfrorener Blick von Dorn zu Eistaucher, und Eistaucher riss schnell den Kopf herum, zutiefst bestürzt. Sein Gesicht kribbelte. Dorn sah zu Eistaucher hinunter und dann wieder zu Knack. Das Gesicht des Schamanen verriet, dass der Alte sie immer noch ansah. Eistaucher kauerte sich mit gesenktem Kopf zusammen. Er war zu nichts in der Lage, als furchtsam zu Dorn aufzublicken.
Dorn nahm sehr langsam seine Flöte vom Gürtel und spielte eine Melodie, die Eistaucher an das Lied über Wolfstäuscher erinnerte. Dann wandelte die Melodie sich, und er erkannte sie als Knacks dreifaches Pfeifen, das Dorn irgendwie in eine Totenklage verwandelte. Eins zwei drei, eins zwei drei. Während Dorn spielte, starrte er die ganze Zeit über das Feuer hinweg Knack an. Schließlich hörte er auf zu spielen, nickte, küsste die Flöte und verstaute sie. Dann wandte er sich ab und ging zu Bett.
Danach trieb Knack sich oft im Lager herum. Bei Nacht am Feuer bemerkte Eistaucher oft, dass Dorn den Geist am Rande des Feuerscheins sah, wie eine Hyäne in der Nähe eines toten Tiers. Wenn das geschah, spielte Dorn auf seiner Flöte, aber Eistaucher hatte den Eindruck, dass das nicht genügte. Vielleicht würde der Geist zufrieden sein und verschwinden, wenn sie Knacks Knochen richtig bestatteten. Darauf setzte Eistaucher seine Hoffnungen.
Dorn trug in diesen Tagen beständig ein angestrengtes Stirnrunzeln zur Schau. Mehr denn je sah er aus wie eine schwarze Schlange. Manchmal konnte Eistaucher ihn mit einem beschnitzten Stück Wurzelholz oder Geweih ablenken oder mit einem in Schiefer gekratzten Bild, oder einem auf ein Stück Holz gemalte Tier. Oft erzählte er auch eine von Dorns Lieblingsgeschichten, darunter die über den Mann, der eine Schwanenfrau geheiratet und dadurch sein Leben ruiniert hatte und am Ende in eine Möwe verwandelt worden war. Wenn Eistaucher zum Ende dieser Geschichte kam, lächelte Dorn immer ein düsteres kleines Lächeln.
— Gut gesprochen, Junge. Immerhin ist das deine Geschichte. Und du wirst langsam besser darin, sie zu erzählen. Sehr viel besser als damals beim großen Fest. Jetzt trägst du das Ende mit echtem Gefühl vor. Du weißt, wie sich das anfühlt, was? Aber vergiss nicht den Teil mit dem alten Mann, der ihm hilft.
Der Vollmond des Sommermonats nahte. Nach und nach war der Entschluss gereift, dieses Jahr nicht zum Acht-Acht zu reisen. Viele verschiedene Gründe wurden dafür genannt, aber der wichtigste war wohl, dass Schiefer eine direkte Konfrontation mit den Nordleuten vermeiden wollte. Er schlug vor, dass sie bis zum Lachsfluss gehen, die Lachse fischen und den darauffolgenden halben Monat damit verbringen sollten, in den Schluchten westlich der Eiskappen zu jagen. Anstelle der Rentiere in der Steppe würden sie Pferde, Moschusochsen, Schafe, Bären und all die anderen Tiere des Westens erlegen. Frühling und Sommer waren so stürmisch gewesen, dass vielleicht ohnehin keine Rentiere kommen würden. Es war bekannt, dass sie in Sturmjahren manchmal ausblieben.
Natürlich hielten einige aus dem Rudel diese Veränderung für einen Fehler, und niemand verpasste gerne das Acht-Acht, vielleicht mit Ausnahme von Eistaucher. Wieder einmal war das eine Sache, bei der Schiefer nicht gut dastand. Zunehmend gelang es ihm nicht mehr, dem Rudel ein Gefühl der Einigkeit zu vermitteln. Immer wieder schimpfte Steinbock wegen dieser oder jener Sache mit Falke und Moos, und Falke hatte keine Hemmungen zurückzuschimpfen, wobei er immer verstohlen zu Schiefer blickte. Die Jugend hat ihren eigenen Kopf. Dorn, der abgesehen von Heide der Älteste im Rudel und obendrein Schamane war, hätte die Streitigkeiten schlichten sollen. Doch Dorn war zerstreut und fahrig, und anstatt sich dazu zu äußern, wie sie den Sommer verbringen sollten, verbrachte er seine Tage mit immer längerem Flötenspiel.
Also blieben sie in diesem Sommer daheim. Einige von ihnen zogen nach Westen zum Lachsfluss, während andere zur Jagd nach den Pferdeherden aufbrachen, die durch die große Schlucht kamen, und sie in Kolbispalten hineintrieben, aus denen sie nicht entkommen konnten. Die im Lager Zurückgebliebenen stellten Fallen auf. Sie mussten nicht nur für sich genug Vorräte für den Winter anlegen, sondern auch, um dem Rabenrudel zurückzugeben, was sie während des Hungerfrühlings von ihm erhalten hatten, und noch ein wenig mehr als Dankeschön. Da sie dieses Jahr keine Rentiere erbeuten konnten, war das eine echte Herausforderung, die sie jedoch, wie sich im Laufe des Herbstes herausstellte, bewältigen konnten; nur den Anteil für die Raben bekamen sie nicht zusammen.
— Das muss vielleicht noch ein Jahr warten, gestand Schiefer. — Oder wir sehen, wie es im Frühling wird, und entscheiden dann.
— Wir werden auch den Nordleuten Wiedergutmachung leisten müssen, warnte ihn Dorn, — wenn wir nächstes Jahr zum Acht-Acht gehen. Selbst wenn es ihre Schuld war. Das Urteil wird von den Jahreszählern getroffen, und es könnte gegen uns ausfallen. Wir müssen also darauf vorbereitet sein. Aber Nahrung taugt nicht für eine solche Wiedergutmachung, wir brauchen etwas anderes.
Eistaucher hatte eine Idee. — Wir haben ihnen bei unserer Flucht Schneeschuhe gestohlen und die restlichen zerstört. Die könnten wir ihnen zurückgeben, aber bessere.
— Bessere?
— Ich kann Schneeschuhe machen, die besser sind als ihre, und die können wir ihnen dann geben.
Dorn nickte nachdenklich. — So etwas gefällt den Jahreszählern. Wir sagen ihnen, dass wir den Nordleuten dafür verzeihen, dass sie Elga geraubt haben, weshalb sie uns das verzeihen müssen, was wir ihnen angetan haben, als wir euch beide da rausgeholt haben. Wir geben die Schneeschuhe zurück, die wir ihnen weggenommen haben, und es werden sogar bessere sein. Und dann wird die Sache entweder erledigt sein, oder wir bekämpfen sie auf den Tod. Und die Jahreszähler mögen es nicht, wenn auf dem Acht-Acht gekämpft wird.
Schiefer sagte: — Klingt gut. Niemand will, dass die Nordleute sich einbilden, sie könnten die Jahreszähler herumschubsen. Vielleicht funktioniert es. Jedenfalls müssen wir zurück.
Von da an hielt Eistaucher bei der herbstlichen Nahrungssuche nach Holz Ausschau, das sich zu Schneeschuhen verarbeiten ließ. Sie hatten vier Paar gestohlen, also wollte er auch so viele machen. Die Erinnerung daran, wie viele mehr er zerbrochen hatte, verdrängte er. Die von ihm angefertigten Schneeschuhe würden besser sein als die der Jende. Er hatte schon früher manchmal darüber nachgedacht, während er durch den Schnee am großen Salzmeer gestapft war und den Schlitten der Jende hinter sich hergezogen hatte. Sie mussten ihre Schneeschuhe aus den knorrigen kleinen Kiefern machen, die in den nahen Schluchten wuchsen, und aus den dann und wann angeschwemmten Treibholzstücken. Kleine Bäume bedeuteten kurze Stöcke, weshalb die Schneeschuhe der Jende aus zusammengebundenen Einzelteilen bestanden. Doch hier unter der südlichen Sonne waren die Bäume viel größer und vielfältiger und lieferten alle möglichen verwendbaren Holzsorten.
Inzwischen hatte Eistaucher auch ein Bild vor Augen, das er auf einen flachen Stein malte. Er war sich ziemlich sicher, dass es bei einem Schneeschuh am wichtigsten war, ihn gut am Fuß zu befestigen und dabei den Rahmen trotzdem noch locker genug zu lassen, dass er sich unter dem Fußballen abrollen konnte. Die beiden Eigenschaften widersprachen sich eigentlich, und die Jende hatten das Problem gelöst, indem sie ihre hohen Stiefel auf Kreuze aus Mammutstoßzahn geschnallt hatten, die direkt hinter dem Loch für die Stiefelspitze auf dem Schuh auflagen, sodass die Spitze sich durch das Loch in den Schnee senken konnte, wenn man bergauf ging, während der Schneeschuh flach blieb, wenn man auf ebenem Gelände ausschritt. Auf flachem Schnee funktionierte diese Kreuzschnalle bestens und auch, wenn man einen Hang gerade hinauf- oder hinabstieg; aber wenn man schräg am Hang entlangging, drehte sich ein solcher Schneeschuh und rutschte weg, weshalb man angestrengt darauf achten musste, Fuß und Schneeschuh so flach wie möglich aufzusetzen. Schräg am Hang konnte das einfach nicht funktionieren, weshalb man immer wegrutschte, wobei leicht ein Gurt riss oder das Fußkreuz sich von dem gebogenen Rahmen löste. Ein kaputter Schneeschuh konnte einem den ganzen Tag verderben, hieß es; und trotzdem gingen die Schneeschuhe ziemlich oft kaputt.
Eistaucher war zu dem Schluss gelangt, dass man den Schneeschuh am besten unter dem Fuß befestigte, indem man eine Holzsohle an ein stabiles Kreuz hinter dem Loch für die Stiefelspitze schnürte und sie in Bärenleder einnähte, sodass sie einen festen Bestandteil des Schneeschuhs bildete. Dann setzte man den eigenen Stiefel auf die Holzsohle und band das Bärenleder darüber fest. So wurde der Fuß auf der Holzsohle stabilisiert, wodurch man sehr viel leichter schräg am Hang gehen konnte. Mit einem stabilen Rahmen aus einem einzigen, gekrümmten Ast aus Eschenholz und einem daran festgebundenen weiten Maschengitter aus Leder oder Kiefernwurzel würde er ein sehr haltbares Ergebnis erzielen. Mit Heide und Salbei konnte er sich darüber beraten, welche Knoten man am besten benutzte. Sehr nützlich würden auch vorne an die Holzsohle gebundene Geweihspitzen sein, weil sie einem beim Aufstieg mehr Halt geben würden, während sie, wenn die Sohle flach auflag, wie beispielsweise bei einer Rutschpartie, praktisch gar nicht durch das Loch reichen würden.
Er hatte ihn so genau vor Augen, dass er ihn mühelos malen konnte: den besten Schneeschuh aller Zeiten. Die Nordleute hatten einfach nicht das nötige Eschenholz, um ihn anzufertigen, selbst wenn sie plötzlich auf dieselbe Idee wie Eistaucher kamen, was wohl kaum passieren würde, da sie bis jetzt auch nicht darauf gekommen waren. Sie lebten auf einer Küstenebene, während Eistaucher aus den Hügeln kam; vielleicht war das die Erklärung dafür, vielleicht aber auch nicht. Wenn es jedenfalls so weit war und die Nordleute Eistauchers Schneeschuhe ausprobierten, dann würden sie erkennen, dass sie besser waren, und sie von nun an genauso machen. Zumindest war es möglich. Den Versuch war es wert.
Den ganzen Herbst und Winter über, während Dorn mit Knacks Geist zu kämpfen hatte und die anderen sich ihren Winterspeck zulegten, indem sie möglichst viel aßen und schliefen, verbrachte Eistaucher seine Zeit damit, im Lager an den Schneeschuhen zu arbeiten. Einige aus dem Lager begannen, sich für sein Treiben zu interessieren, weil die Schneeschuhe, auf denen sie bei weichem Schnee loszogen, bisher nicht besonders aufwendig gemacht waren. Doch in jenem Winter gab es viele Unwetter, und alle waren sich einig, dass sie bessere Schneeschuhe gut gebrauchen konnten.
Obwohl sich auch Dorn für die Sache interessierte, hatte er seine Zweifel. — Du musst darauf achten, dass sie etwas Spiel haben. Wenn sie zu starr sind, dann brechen sie unter Belastung, und dann stehst du ganz ohne Schneeschuhe da. Besser, nach und nach ein bisschen zu geben als alles auf einmal.
Eistaucher nickte. Es stimmte, dass sein Entwurf nur funktionieren würde, wenn das Fußkreuz sehr stabil und gut am Rahmen befestigt war und wenn die Holzsohle ihrerseits gut am Kreuz befestigt war. Das waren die Teile, die den stärksten Belastungen ausgesetzt sein würden, beim ganz normalen Gehen und umso mehr bei Hangwanderungen, Durchtritten und Rutschpartien. Also legte er die Schneeschuhe über zwei Felsen und sprang ein wenig auf ihnen herum, um festzustellen, wie viel sie aushielten. Sie machten sich ziemlich gut. Einige bekam er kaum kaputt, wie sehr er sich auch anstrengte, was sehr befriedigend war.
Heide interessierte sich für diese Versuche, weil ihr alle Arten von Tests gefielen. Sie beobachtete Eistaucher genau und sprang sogar einige Male selbst. — Versuch, es mal so und mal so zu machen, sagte sie, — und sieh erst einmal, wie gut sie halten, bevor du mehr anfertigst. Verschiedene Schuhformen, verschiedene Befestigungen und Knoten. Ob man wohl die Stelle verstärken könnte, an der die Fußstange in den Rahmen eingepasst ist? Vielleicht, indem man Fassungen aus Stoßzahn oder Geweih anbringt?
Eistaucher probierte Verschiedenes aus. In jenem Winter am Feuer, während der langen Nächte und stürmischen Tage, hatte man viel Zeit, so viel, dass man schwerlich nur schlafen konnte. Elga nähte neuer Kleider für ihn und Glückskind, und alles in allem brauchte man ihn nach Einbruch der Dunkelheit kaum. Also arbeitete er an den Schuhen. Schließlich räumte auch Dorn ein, dass die größere Baumvielfalt in ihrer Gegend, vor allem aber das Eschenholz und die schiere Anzahl und Größe der Bäume es ermöglichen sollten, bessere Schneeschuhe als die der Nordleute anzufertigen, und auch Verbesserungen am Bauplan der Schneeschuhe konnten nicht schaden. Ihnen etwas Besseres zu geben war eine hervorragende Wiedergutmachung, weil sie die Nordleute dadurch nicht nur entschädigen, sondern zugleich ein wenig demütigen konnten. Zweifellos würden sie beim Acht-Acht auf die eine oder andere Art mit den Nordleuten aneinandergeraten, da konnte es nicht schaden, ihnen einen Dämpfer zu verpassen. Derlei dumpfen Barbaren musste man sich von seiner stärksten Seite zeigen, erklärte Dorn, vor allem, wenn man einige von ihnen bereits wegen ihres üblen Benehmens gebrandmarkt hatte. — Aber sie dürfen nicht so starr sein, dass sie splittern, sagte er mehr als einmal. — Es macht nichts, wenn man auf einer Hangwanderung hin und wieder etwas wegrutscht, aber wenn einem der Schneeschuh splittert, ist das schlimm.
— Ich weiß, antwortete Eistaucher und wollte einmal mehr erklären, wie biegsam Eschenholz sei und dass er die Fußstangen mit Mammutzahnfassungen befestigen würde, da fiel ihm auf, dass Dorn erneut mit weißen Augen übers Feuer starrte. Eistaucher fühlte ein Kribbeln, auf seinen Armen stellten sich die Haare auf, und in seinem Knöchel meldete sich Schlimmbein mit leisem Summen zu Wort. Langsam zog Dorn die Flöte aus dem Gürtel und hauchte die leise Melodie seiner Entschuldigung hinein. In letzter Zeit hatte er sie um einige vogelartige Töne erweitert, die an Knacks Girren erinnerten. Während er sein Lied spielte, hielt er den Blick die ganze Zeit auf die andere Seite des Feuers gerichtet, die Augen noch immer weit aufgerissen, und flehte Knacks Geist um Verständnis und Vergebung an.
Während dieser Heimsuchung saß auch Heide am Feuer, um in seinem Licht verschiedene getrocknete Kräuterzweige zu begutachten, die Blätter und Samen zu pflücken und sie säuberlich auf kleinen Tüchern zu ordnen, die aus der Unterwolle von Moschusochsen gefertigt waren. Sie arbeitete weiter, ohne sich in irgendeiner Weise anmerken zu lassen, ob sie etwas von dem wahrnahm, was Dorn widerfuhr.
Erst als sie und Eistaucher am nächsten Morgen an der plätschernden und glucksenden Furt durch den Oberbach allein waren, sagte sie zu ihm:
— Ist es Knack, den Dorn zu sehen meint?
Eistaucher wollte nicht darüber reden, aber unwillkürlich nickte er, fast genau so, wie Knack es getan hätte.
Sie musterte ihn, während er zu Boden sah. — Was ist mit Knack geschehen? Wie ist er gestorben?
Erneut wollte Eistaucher nichts sagen, aber die Worte kamen trotzdem aus seinem Mund wie ausgespuckte Kerne. — Eines Morgens, als wir erwachten, war er tot.
Er erzählte Heide davon, wie sie seinen gefrorenen Leichnam anschließend als Schlitten verwendet hatten, ein Schlitten, den sie auf dem Weg langsam aufgegessen hatten, weil sie sonst gestorben wären. Er erzählte ihr, wie Schlimmbein ihn erst gezwungen hatte, einen Tag lang auf Knacks Rücken zu reiten und später auf Knacks gefrorenem Leichnam zu sitzen und sich von Elga ziehen zu lassen, während Dorn den richtigen Weg gesucht hatte. Wie Knacks Geist sich in jener Zeit vielleicht in Schlimmbein eingenistet hatte, weil Knacks Beine zu den ersten Teilen gehörten, die sie von ihm gegessen hatten.
Heide hörte schweigend zu und nickte nur dann und wann, um Eistaucher anzuzeigen, dass sie ihm zuhörte und verstand. Gelegentlich schnaubte sie.
Als er fertig war, seufzte sie schwer.
— Ihr müsst Knacks Knochen einsammeln und ihn vernünftig begraben. Inzwischen dürften die Raben sie blank gepickt haben.
— Das wissen wir. Aber bis dahin …
Sie zuckte mit den Achseln. — Es wird ein langer Winter. Gut möglich, dass er die Sache nie hinter sich lässt, wie lange er auch lebt. Man weiß nie, wie Dorn mit etwas umgeht. Er ist sehr schwer einzuschätzen.
— Da hast du recht, bemerkte Eistaucher.
Als der zweite Wintermonat anbrach, hatte Eistaucher das beste Paar Schneeschuhe, das er hinbekam. Als er damit zufrieden war oder seine Unzufriedenheit zumindest so weit wie möglich überwunden hatte, fertigte er ein weiteres Paar in dieser Art an. Er lud Dorn zu einem gemeinsamen Spaziergang ein, und so schnallten sie sich eines Tages die Schneeschuhe an und wanderten stromabwärts, wie es sich mit neuen Schneeschuhen gehörte. Dorn scherte abwechselnd nach links und rechts aus wie eine Klippenschwalbe, ging am Hang entlang zum Fluss hinab, über den Vorsprung, hinter dem man auf die nächste Biegung stromaufwärts stieß, und ließ sich den steilen Hang auf der Westseite hinabschlittern. Als er die Einmündung des Oberbachs erreichte, hielt er direkt am Eisloch inne. Schwarzes Wasser glitt direkt vor seinen Schneeschuhen dahin. Er warf seine Kapuze zurück, und sein ohrloser, fast kahler Kopf erinnerte an eine Schlange, die von einem Felsen aufblickte. Dünnlippig lächelte er Eistaucher an. — Die sind gut. Wenn Schiefer beim Acht-Acht keinen Mist baut, dann dürfte alles in Ordnung kommen.
— Du kannst ihm doch helfen, schlug Eistaucher vor.
Dorn bedachte ihn mit einem durchdringenden Blick, widersprach jedoch nicht.
Nicht lange danach stand Eistaucher im Sonnenuntergang auf dem Hügelkamm zwischen dem Ober- und dem Untertal, und von dem Grat über dem Pfad sah er Knack herabkommen. Erschrocken machte er einen Satz nach hinten, doch dann schaute er genau hin und erkannte, dass es ein anderer Alter war, ein echter, kein Geist. Darauf erfasste ihn eine neue Angst, und während er den Pfad zum Lager hinabrannte, überlegte er, ob Knacks Geist schlimmer oder besser gewesen wäre. Wahrscheinlich besser. Noch immer fühlte er Knacks Rücken, auf dem der Alte ihn durch die Nacht getragen hatte, als er nicht mehr hatte laufen können; er sah noch immer Knacks Schneeschuhabdrücke vor sich, die hier und da von Dorns abwichen, um einen günstigeren Weg einzuschlagen. Vor Kummer zog sich etwas in ihm zusammen und entlockte ihm ein Klagen, das wie der nächtliche Ruf eines Eistauchers klang.
Tief im Winter, doch die Tage wurden länger; Unwetter; ums Feuer sitzen, Dinge anfertigen und Geschichten erzählen. Nachts, wenn alle schliefen, Elga lieben, leise inmitten der anderen, spüren, wie sie unter ihren Decken miteinander verschmolzen, zu einem leise spritzenden und klammernden Tier mit zwei Rücken, fast regungslos, was das Ganze seltsam eindringlich machte, eine Vereinigung, eine geheime Liebe, die wie ein roter Visel aus dem Schnee erblühte. Der Schnee, der vereiste Fluss. Schwarze Wasserlöcher, an die sie sich nicht heranwagen mussten. Ein Keil auf Elgas Stirn, weil sie sich an etwas störte, was Donner oder Blauhäher getan hatten, und schweigend und mit eisigem Blick darüber nachgedacht, was sie dagegen unternehmen würde. Stern, die sich um all die neuen Kleinen kümmerte, Glückskind, das plapperte, die ersten Worte sprach, Glückskind, das laufen lernte. Sie zum Lachen brachte. Falke mit Entchen. Trotz allen Geredes hatten die Frauen in den letzten Wochen mehrere Ehen innerhalb des Rudels arrangiert. Anscheinend, so teilte man ihnen nun mit, war daran nichts Ungewöhnliches.
Essen, was Schiefer aus seinen Gruben holte, auf seine Miene achten, um herauszufinden, wie es um die Vorräte stand.
Sich an den vorangegangenen Winter erinnern und feststellen, dass man noch mehr Glück gehabt hat als Glückskind.
Im Frühling, als der Schnee an den südlichen Hängen geschmolzen war und das schwarze Wasser auf den sonnigeren Teichen bloßlag, kehrten Dorn und Eistaucher zu dem Baum westlich des Nordtals zurück, an dem sie Knacks Leichnam für die Raben zurückgelassen hatten. Dorn sprach kein Wort über den Anlass ihrer Reise, und auch Eistaucher schwieg. Es gab keinen Grund, auf etwas derart Offensichtliches hinzuweisen: Knacks Geist führte sie bei jedem Schritt ihres Weges, strich zwischen den Bäumen umher und blickte sich gelegentlich zu ihnen um, wie um sich zu vergewissern, dass sie ihm noch folgten. Dorn war offensichtlich fest entschlossen, diese Begegnungen nicht zu beachten, und Eistaucher verspürte ein warmes Summen in Schlimmbein, das ihn nervös machte, als könnte der Schmerz zurückkehren, wenn er sich nicht benahm. Wäre Dorn nicht gewesen, dann hätte er wahrscheinlich den Schwanz eingekniffen und wäre wie ein Kaninchen zurück ins Lager gerannt, ohne ein einziges Mal den Blick vom Boden zu heben.
Dorn fand den Baum ohne Schwierigkeiten wieder. Unter ihm lag Knacks skelettierter Brustkorb, seine restlichen Knochen waren im Lauf des Frühlings von kleinen Aasfressern um ihn herum verteilt worden. Einige fehlten, aber sie hatten ohnehin nicht seinen ganzen Leichnam den Raben überlassen.
Schweigend sammelten Dorn und Eistaucher die Knochen ein. Fast alle waren sauber abgenagt. Dorn schichtete sie sorgfältig auf, wie Feuerholz, das man zum möglichst einfachen Tragen vorbereitete. Den Schädel trug Eistaucher auf Dorns Bitte hin im Brustkorb. Bevor er Schädel und Kieferknochen in den Brustkorb legte, berührte Eistaucher mit dem Schädel Schlimmbein und flüsterte bei sich: Danke, Knack. Wenn du mir helfen willst, bleib hier in mir drin, und wenn nicht, geh an deinen Platz im Himmel und lass Dorn in Ruhe.
Dorn trug die Knochen an den schmalen Teich, den am höchsten gelegenen in dieser Schlucht. Dort, wo das Ufer am tiefsten zum Wasser hinabreichte, nahm Dorn Knacks Schädel und Kieferknochen aus dem Brustkorb. Er sang das Lied, das den Geist befreite:
Wenn wir sterben
Fliegen wir zum Himmel
Und alles beginnt von Neuem.
Eistaucher betrachtete Knacks schwere Stirnknochen, den seltsam langen Schädel, seine großen, abgewetzten Beißer. Seine Zähne sahen noch ganz genauso aus wie zu Lebzeiten, wenn er sie ängstlich grinsend oder schüchtern lächelnd entblößt hatte. Als Eistaucher das sah, verspürte er einen weiteren Stich des Kummers, und Hitze stieg ihm in Augen und Kehle auf. Der Schädel war Knack und war es zugleich nicht. Ein Körper war bloß ein Kleid; der eigentliche Knack war seine Seele, was man daran erkannte, dass er mit ihnen hier draußen im Wald war. Zu ihrer Erleichterung zeigte er sich im Augenblick nicht, doch sie spürten, dass er nicht weit war.
Dorn schlug die Augen auf, die er beim Singen geschlossen hatte. Er blickte sich um, und offensichtlich war da nichts außer dem eisumkränzten Teich, den Bäumen, den Wänden des engen Tals, dem Himmel. In diesem Moment konnte Eistaucher sehen, wie eine Last von Dorns Schultern abfiel.
Eistaucher holte tief Atem und stieß die Luft wieder aus. Das Bienensummen, das in seinem Bein eingesetzt hatte, verriet ihm, dass Knacks Geist nun in ihm drin war und die taube Stelle in seinem Knöchel bewohnte. Einmal mehr entschied er, dass Schlimmbein von nun an Knack heißen würde. Schlimmbein gab es nicht mehr. Eistaucher würde Knack in sich herumtragen, und hoffentlich würde sich der Alte als Freund erweisen, auch wenn Eistaucher einen Teil von ihm hatte essen müssen. Das war ganz schön viel verlangt. Aber Knack hatte ihnen von Anfang an geholfen. Seit Heide ihn gesund gepflegt hatte, war er ihnen bereitwillig zu Diensten gewesen. Vielleicht würde er ja damit weitermachen. Eistaucher würde es später herausfinden.
Vorerst stand er allein mit Dorn im Wald. Behutsam versenkten sie die Knochen im schwarzen Wasser, sahen zu, wie sie einer nach dem anderen versanken, und sangen dabei zum Abschied:
Wir, die wir dich zu Lebzeiten liebten,
Die wir für dich gesorgt haben wie du für uns,
Wir betten dich nun zur Ruhe,
Auf dass du in Mutter Erde schläfst
Damit deine Seele in Frieden leben kann,
Frei von dieser Welt,
In den Träumen jenseits des Himmels.
Wir werden dich niemals vergessen.
Im siebten Monat desselben Jahres, als Elga erneut schwanger war, machten sie sich zu ihrem Sommerzug auf, vorbei an den Eiskappen und dann nach Norden in die Steppe. Die Wanderung unterschied sich so sehr von ihrem Gewaltmarsch nach Hause im Vorjahr, dass ihre Flucht Eistaucher dadurch im Rückblick noch traumartiger erschien. Oder vielleicht war dies jetzt der Traum; oft kam es Eistaucher so vor. Der Himmel war klar, die Luft warm; am Lachsfluss fingen sie mehr Lachse, als sie essen konnten. Nachdem sie eine gute Ladung Fische geräuchert hatten, setzten sie ihren Weg fort, wobei jeder nur eine oder zwei Fäuste am Stück eine Schleife ziehen musste. Kurze Wanderungen, lange Ruhepausen in jedem Tal, an jeder Furt, jedem Pass und Rastplatz, den sie kannten. Auf der Steppe folgten sie den Pfaden entlang der sich windenden Flüsse nach Norden bis zur Rentierschlucht, und obwohl es dort dieses Jahr nicht so viele Rentiere gab wie vor zwei Jahren, gelang es ihnen, eine Reihe der Tiere in ihre Rinne mit dem niedrigen Steilhang am Ende zu lenken, und der Überfluss an Fleisch, den ihnen das bescherte, hielt sie Tag und Nacht beschäftigt. Eines Nachts vor dem Einschlafen gingen Elga und Eistaucher zum Fluss hinab, um sich zu waschen, und hörten zwei Eistaucher stromabwärts. Eistaucher rief seinen Eistaucherruf, und die Eistaucher riefen zurück, und anschließend versuchte Elga es, worauf die Eistaucher erst zögerten und dann auch ihr antworteten. Sie hielten einander und lachten laut über ihr Glück. Es gibt keinen größeren Segen als den Ruf eines Eistauchers.
Dann brach der neue Mond des achten Monats an, und sie waren wieder zum Fest unterwegs. Langsam wurden alle etwas nervös, doch mit Sicherheit war niemand im Rudel so nervös wie Eistaucher, der sich nicht überwinden konnte, Elga auch nur für den kleinsten Augenblick von der Seite zu weichen. Sie hatte etwa die Hälfte ihrer Schwangerschaft hinter sich.
Und so erreichten sie das Festtal in einer ganz anderen Stimmung als in den vergangenen Sommern, dicht zusammengerottet, die Männer vorne und die Kinder zwischen den Frauen versteckt, die sich zum Kämpfen und Töten bereit gemacht hatten, die Haare zu Zöpfen geflochten und hochgebunden wie sonst nur für den Tanz der achten Nacht. Die Männer hielten ihre Speere in einer Weise vor sich, die beim Fest unüblich war. Schiefer und Steinbock und Dorn gingen vorne, flankiert von Falke und Moos und Achtlos und Speerwerfer, und noch während sie zu ihrem üblichen Lagerplatz zogen, riefen sie den Jahreszählern zu, dass sie eingetroffen waren und einen Richtspruch brauchten.
Und den brauchten sie tatsächlich, denn die Nordleute waren bereits da und hatten ihr Lager am Nordrand der Wiese aufgeschlagen, wie sie es immer taten, wenn sie das Acht-Acht überhaupt besuchten, und ihre Männer hatten die Wölfe gesehen und überquerten in eben diesem Moment mit Speeren in den Händen die Wiese. Die Jahreszähler begriffen, dass sie gebraucht wurden, und kamen so schnell wie möglich von überall her auf der Festwiese zusammen. All das Gerenne und Geschrei erregte natürlich auch die Aufmerksamkeit der sonstigen Festbesucher.
Die Nordleute brüllten: — Da sind sie! Diebe, Mörder! Wir wollen Gerechtigkeit! Und wenn wir die nicht bekommen, töten wir sie!
Aber an der Spitze der Wolfsmänner stand Schiefer, der gut darin war, unverrückbare Entschlossenheit zur Schau zu tragen, seinen Speer in beiden Händen vor der Brust. Die anderen Wolfsmänner standen genauso da, die Speere kampfbereit erhoben. Eistaucher pochte das Herz bis zur Kehle. Er stand direkt neben Elga.
Die größeren Männer unter den Jahreszählern drängten sich ins Zentrum der wachsenden Menge, und einer von ihnen rief die Anwesenden laut zur Ordnung. Laut den Regeln des Fests mussten alle gehorchen. Wenn jetzt jemand zu kämpfen anfing, würde er dafür heftig zusammengeschlagen und anschließend des Fests verwiesen werden, vielleicht für immer. Die meisten Jahreszähler stammten aus Rudeln, die besonders nah am Festgelände lebten, und sie duldeten keinen Verstoß gegen ihre Regeln; wenn sie merkten, dass man ihre Herrschaft infrage stellte, dann pumpten sie sich auf wie Kröten und rotteten sich wie Löwen bei ihrer Beute zusammen, den Blick starr, die Augen weit aufgerissen. So sahen sie auch jetzt aus, mit geschwelltem Kamm, bereit, vorzuspringen und zuzuschlagen. Ihr Anblick machte deutlich, dass die Nordleute und die Wölfe eindeutig nicht die gefährlichsten unter den Anwesenden waren, auch wenn sie die wütendsten sein mochten. Und selbst diese Wut war sicher teilweise gespielt; denn die Verbrechen, um die es ging, lagen bereits Monate zurück.
Der Sprecher der Jahreszähler hob beide Hände hoch in die Luft. Die Menge verstummte.
— Sprecht, sagte er gewichtig und machte den Nordleuten dabei mit Blicken deutlich, dass er meinte: Sprecht, und tut sonst nichts.
Ein Jende aus einem der anderen Häuser sprach für sie, ein Mann, für den Eistaucher einige Male in den Spalten gearbeitet hatte, und als er die Stimme des Mannes hörte, zog sich Eistauchers Magen zu einer kleinen Kugel zusammen.
Einige der Jahreszähler kannten die Sprache der Jende, und einer von ihnen gab die Aussage des Nordmanns kurz in der Südsprache wieder, die die meisten Anwesenden verstanden. Sie lautete wie erwartet: Eistauchers Rudel habe vor drei Sommern eine ihrer Frauen geraubt, und im darauffolgenden Sommer hätten sie sie zurückgeholt und Eistaucher daran gehindert, sie erneut zu rauben. Dann seien Eistauchers Leute in ihr Lager eingefallen und hätten mit seiner Hilfe ein Haus niedergebrannt und sie erneut entführt. Bei dem Angriff seien viele verletzt worden, eine Frau und ihr Kind seien an ihren Verbrühungen gestorben, und eines der größten Häuser sei zerstört worden.
— Die Frau, um die es geht, kam vor drei Sommern von alleine zu uns, erklärte Schiefer, sobald der Übersetzer seinen Bericht beendet hatte. — Sie gehörte überhaupt nicht zum Rudel der Nordleute. Sie spricht nicht einmal ihre Sprache. Sie kommt aus dem Osten und hat sich uns bei jenem Fest aus freien Stücken angeschlossen. Das könnt ihr alle bezeugen. Sie hat bei uns eingeheiratet, und wir haben sie aufgenommen. Dann haben die Nordleute sie entführt. Und dann haben wir sie zurückgeholt. Wir haben getan, was getan werden musste. Es ist ein Jammer, dass einige von ihnen verletzt wurden, aber nicht wir haben angefangen.
Auf diese Aussage folgte heftiges Geschrei bei den Jende, übertönt von Schiefers wütenden Erwiderungen. Auf immer lautere Beleidigungen folgte das Drohen mit Speeren, worauf die Jahreszähler sich noch mehr aufplusterten und ihre Stöcke schlagbereit über die Köpfe erhoben. Erneut hob ihr Sprecher die Hand, diesmal zur Faust geballt, und der Lärm verebbte und erstarb schließlich ganz.
Mit einem Mal stand Elga vorne zwischen Dorn und Schiefer, Glückskind auf dem Arm. Hastig trat Eistaucher hinter sie.
— Ich stamme aus dem Osten, verkündete sie laut.
Aus einem Rudel jenseits der Berge im Osten.
Die meisten von uns wurden bei einer Frühjahrsflut getötet,
Und die Übrigen zogen los, unsere Brüder zu suchen,
Die sich mit dem Pferderudel im Westen vermählt hatten.
Dort nahm man uns auf, und man ging hier zu diesem Fest.
Die Nordmänner dort hörten, was uns widerfahren war, und nahmen mich gefangen.
Nach einer Weile entkam ich ihnen,
Und ich kehrte hierher zurück und schloss mich dem Wolfsrudel an.
Die Frauen des Wolfsrudels nahmen mich auf,
Und ich heiratete diesen Mann namens Eistaucher und trug sein Kind.
Dann raubten mich die Eisleute im folgenden Sommer erneut.
Ich war ihre Gefangene, und sie behandelten mich schlecht.
Sie halten sich Wölfe, die für sie jagen,
Vielleicht sind sie deshalb darauf gekommen, mit Menschen genauso zu verfahren,
Denn ihre Gefangenen behandeln sie, als wären sie keine richtigen Leute,
Doch ich finde, wenn sich Leute Gefangene halten,
Sind sie SELBST keine richtigen Leute.
Ich werde nie zu ihnen zurückkehren. Wenn ihr mich dazu zwingt,
Bringe ich mich lieber um. Dass einige von ihnen verletzt wurden,
Bei meiner Rettung durch meinen Mann und mein Rudel,
Ist ein Jammer, doch sie sind selbst schuld.
Sie haben angefangen, und deshalb
VERDIENEN SIE NICHT DAS GERINGSTE.
Die letzten Worte sprach sie so stockend und voller Zorn, dass alle ein wenig zurückzuckten. Eistaucher und die restlichen Wölfe rissen vor Verblüffung Augen und Münder auf; sie hatten Elga nie auch nur halb so viele Worte sprechen hören und nie in einem derart erstickten, zornigen Tonfall. Doch jetzt war es so weit. Elga, die immer auswich; diesmal hielt sie direkt auf ihren Gegner zu. Sie blickte in die Menge, die die Augen nicht von ihr abwenden konnte. Der Tag gehörte ihr.
Die Nordleute hatten natürlich etwas auf ihre Worte zu erwidern. Sie stritten ihre Geschichte ab und betonten, dass nicht nur welche von ihnen verletzt worden waren, sondern dass ein Kind an Verbrühungen gestorben war und später auch noch eine Frau. Außerdem habe man eines ihrer Häuser in Brand gesteckt, sie bestohlen und so weiter. Selbst ohne die Hilfe des Übersetzers verstand man sie recht gut. Es schien, dass die beiden Sprachen mehr Worte gemein hatten, als ihnen bislang klar gewesen war.
Anstatt ihnen Zugeständnisse zu machen, stieß Schiefer weitere harsche Beleidigungen aus. Dann fiel Steinbock mit ein. Das brachte den Zorn mehrerer Nordleute in Wallung, worauf die aufgeplusterten Jahreszähler sich zu Schiefer und Steinbock umdrehten: Auch sie missbilligten, wie die beiden sich aufführten. Die jungen Wolfsmänner waren nicht in Schiefers und Steinbocks Geschrei eingefallen, sondern ließen ihren Anführern den Vortritt, was die Nordleute zu erneuten Schimpftiraden ermutigte, aber auch Schiefers Wut weiter anstachelte.
Schließlich schob Dorn sich vor Schiefer und Elga und hielt ein mit roten Kordeln zusammengebundenes Paar von Eistauchers neuen Schneeschuhen empor. Als es still wurde, sagte Dorn:
Ich habe unsere Leute von diesen Entführern zurückgeholt.
Ich brach bei ihnen ein wie ein Otter in den Biberbau
Und stiftete Unheil, um uns die Flucht zu ermöglichen.
Der Mann, den sie gefangen nahmen, ist mein Lehrling,
Ein werdender Schamane und ein recht guter Maler.
Seine Frau kam von anderswo zu uns,
Vielleicht sogar von diesen Nordleuten,
Das weiß ich nicht, und es spielt auch keine Rolle.
Sie gehört nun zu unserem Rudel, sie hat uns selbst gewählt,
Und unsere Frauen nahmen sie auf.
Was wir taten, war also von Anfang an richtig.
Doch hört, um des Acht-Acht-Fests willen
Sind wir bereit, für den Schaden, den wir bei ihrer Rettung verursachten,
Wiedergutmachung zu leisten.
Wir haben vier Paar Schneeschuhe mitgenommen,
Und jetzt sind wir bereit, sie zurückzugeben,
Um die Nordleute für ihre Verluste zu entschädigen.
Und diese neuen Schneeschuhe sind besser als ihre,
Es sind die besten Schneeschuhe aller Zeiten.
So gute Schneeschuhe könnten die Nordleute nicht einmal machen,
Wenn sie wüssten, wie,
Weil sie in ihrem Land, in dem man sich den Arsch abfriert,
Nicht die richtigen Bäume dafür haben.
Deshalb sollten sie froh sein und die Angelegenheit begraben,
Ein für alle Mal, ohne weitere Forderungen,
Ohne Kindergeheul, weil sie nicht ihren Willen bekommen,
Nein! Nein! Nein! (schrie er laut), wir machen alles wieder gut,
Wir sind ein Rudel, das weiß, wie man sich verträgt,
Und damit wäre das dann geschafft.
Der letzte Teil von Dorns Rede war in erster Linie an die Jahreszähler gerichtet, denen es gefiel, wenn man an sie appellierte. Es gefiel ihnen auch, dass Dorn ihnen die vier Paar Schneeschuhe überreichte, damit sie sie an die Nordleute weitergaben. Eistaucher und die anderen Wölfe reichten sie durch. Jedes einzelne Paar war an den Unterseiten mit roten Lederkordeln zusammengebunden. Eistaucher stellte fest, dass er den Atem anhielt wie beim entscheidenden Moment einer Jagd. Er zwang sich, Luft zu holen.
Den Jahreszählern und auch der Menge gefiel es, dass Dorn und sein Rudel daran gedacht hatten, eine Entschädigung mitzubringen. Die Nordleute waren natürlich nach wie vor höchst unzufrieden, aber gleichzeitig beäugten sie mit widerwilligem Interesse die neuen Schneeschuhe, die die Jahreszähler emporhielten. Kurz berieten ihre Männer sich; es sah danach aus, als versuchte der Anführer, die Hitzköpfe zum Einlenken zu bewegen. Und tatsächlich wandten sie sich anschließend mit leisen Worten an die Übersetzer, die nickten und sich ihrerseits kurz berieten. Der Sprecher der Jahreszähler beugte sich zu ihnen vor und nickte zufrieden, nachdem er ihnen eine Weile zugehört hatte. Er und seine Gehilfen nahmen die vier Paar Schneeschuhe, hoben sie hoch über ihre Köpfe und brachten sie so zu den Nordleuten und übergaben sie mit feierlicher Geste an vier von ihnen. Dann hielt der Sprecher der Jahreszähler beide Hände mit nach außen gekehrten Handflächen empor, drehte sich auf der Stelle und segnete die Menge.
— Dieser Zwist ist beigelegt, verkündete er laut. — Es soll keinen Streit mehr darum geben, lasst euch das gesagt sein! Wer von jetzt an in dieser Sache den Frieden stört, wird für immer verbannt.
— Und Elga gehört zu uns, fügte Heide, die inmitten der Wölfe stand, laut hinzu.
— Ja, sagte der Sprecher und warf den Nordleuten dabei einen bedeutungsvollen Blick zu. — Die Frau Elga gehört zum Wolfsrudel. Lasst euch das alle gesagt sein!
Für einen kurzen Moment jubelte und johlte die Menge, dann verlief sie sich. Mindestens zwanzigzwanzig Leute standen mitten auf der Wiese, und sie alle wollten nun tauschen und tanzen. Sie waren froh, dass ein solches Feuer sich allein mit Worten löschen ließ. Alle wussten, dass im Kampf zwischen zwei Rudeln Leute verletzt oder sogar getötet wurden, worauf der Streit sich oft über Jahre hinweg fortsetzte. Das war nicht ungewöhnlich. Doch diesmal war es anders gekommen. Der Zwist würde ihnen für eine ganze Weile Gesprächsstoff liefern, was ebenfalls erfreulich war, aber vor allem war es nun an der Zeit, ihn hinter sich zu lassen und zu tanzen.
Von da an verlief das Acht-Acht wie immer. Das Rudel der Wölfe blieb dichter beisammen als sonst, und Eistaucher wich nie von Elgas Seite, die ihrerseits das Lager nicht verließ, wodurch das Fest für beide etwas getrübt wurde. Alle gingen den Jende aus dem Weg, und die Nordleute hielten sich vom Wolfslager fern. Niemand brach einen Kampf vom Zaun. Selbst die jungen Männer, die kämpfen wollten, wollten es nicht hier tun. Letztendlich zogen die Jende am übernächsten Morgen ab, ohne sich zu entschuldigen oder eine Entschuldigung entgegengenommen zu haben.
Es war also alles in Ordnung. Doch Heide zog eine finstere Miene, als Eistaucher das im Lager unter vier Augen zu ihr sagte.
— Wir haben bloß Glück gehabt, dass dein Schamane da war, sagte sie. — Er mag ein übler Kerl sein, aber er ist nicht so dumm wie Schiefer.
— Wie?
— Es war Schiefers Aufgabe, Frieden zu schließen, und stattdessen hat er Öl ins Feuer gegossen. Dorn musste sich einmischen, um die Lage zu retten. Über den Versuch, es Donner und Blauhäher gleichzutun, ist er dumm geworden, und es ist gefährlich, einen Dummkopf als Anführer zu haben. Er war noch nie eine besonders gute Wahl, und Steinbock ist noch dümmer. Und weil Falke ihn nervös macht, ist es bei ihm jetzt sogar noch schlimmer.
— Falke?
Heide starrte Eistaucher an. — Über diesem Rudel liegt ein Fluch, brummte sie in ihre rechte Hand hinein, während sie sich abwandte. — All seine Männer sind Dummköpfe. Alle außer dem Unaussprechlichen, und der ist unaussprechlich.
— Ich weiß nicht, was du meinst, sagte Eistaucher.
— Ich weiß.
Elga lachte darüber, wie anhänglich Eistaucher während des Fests war, fast wie Glückskind, und dann schlang sie sich und den beiden ein gestricktes Pferdehaartuch um die Hälse, als Zeichen ihrer Verbundenheit. Ein Teil von Eistaucher war ganz benommen vor Erleichterung, während sich ein anderer nach wie vor zu einer kleinen Kugel nervöser Erwartung zusammenballte, und die Mischung dieser beiden Gefühle ließ ihn taumeln wie einen Betrunkenen, obwohl er nichts von der Maische getrunken hatte. Von den prachtvollen Kleidern all der vielen Leute, die an ihrem Lager vorbeikamen, gingen ihnen die Augen über, und alles verschwamm wie in der Hitze über einem Feuer oder im Randbereich eines Traums. Beim großen Freudenfeuer in der achten Nacht beobachtete er die bunten Funkenschauer, die aus den Beuteln der Feuermeister hervorplatzten, blickte zu den Tänzern und zu den Sternen am Himmel, und es kam ihm vor, als ob alles aus bunten Flammenschlieren bestünde, die leuchtend von einem Moment in den nächsten flackerten. Er umfasste das Halstuch, das von seinem zu Elgas Hals reichte, spürte, wie sie ihn mal in die eine und mal in die andere Richtung zog, wie ein Kind, und er machte sich klar, dass dieses Gefühl bedeutete, dass er nicht träumte, weil er es dafür viel zu deutlich an seinem Hals spürte, unbestreitbar wirklich.
Am Morgen des letzten Tages gingen er, Elga und Glückskind an das breite, sandige Ufer des Flusses, der durch die Wiese floss und an dem mehrere Männer in der Sonne an ihren Vogelsichtbildern arbeiteten. Wie immer beteiligten sich vor allem alte Männer, und je mehr sie in ihrem Leben gewandert waren, desto besser waren sie darin und desto mehr interessierten sie sich dafür. Es war ein Spiel für Reisende. Eine Menge alter Männer und einige wenige alte Frauen, insgesamt vielleicht zwei Dutzend, spazierten zwischen denen umher, die selbst Vogelsichtbilder anfertigten, und sahen ihnen zu.
Die Bildner kauerten am Rand ihrer Darstellungen, standen auf Zehenspitzen und streckten sich weit vor, um den Sand so zu glätten und zu formen, wie eine Gegend ihrer Meinung nach von weit oben ausgesehen hätte, auf die Abmessungen ihres Bildes geschrumpft. Manchmal bildeten sie weite Landstriche nach, die vom Festgelände und der Rentiersteppe bis hin zu den Bergen im Süden und dem großen Salzmeer im Westen reichten. Andere wählten sich kleinere Bereiche. Es gab deutlich voneinander unterscheidbare Stile, so wie auch Wandmalereien entweder Dreistriche oder voll ausgearbeitet sein konnten: Manche Ansichten bestanden einfach nur aus weichem Sand, der mit Hand und Stock geformt wurde, sodass sich in ihnen gewissermaßen die nackte Haut des Landes zeigte; bei anderen kamen Mooskissen für die Wiesen zum Einsatz, Zweige als Bäume, in den Sand gesteckte Kieselsteine, die an das Glitzern von Wasser aus großer Höhe erinnerten, und sogar einige kleine Figuren von Tieren, Leuten oder Häusern, mit denen sonst die Kinder spielten. Einer hatte sogar Schnee aufgeschichtet, um die Eiskappen des Hochlands darzustellen, und in der Vogelsicht einer alten Frau war sogar der große Eiswall des Nordens zu sehen, hier nur knöchelhoch.
Es war seltsam, diese winzigen Welten zu sehen, als wäre man ein Adler am höchsten Punkt seines Flugs, und einige der ausgeschmückteren Ansichten waren wunderhübsch. Doch ihre Schöpfer unterhielten sich vor allem darüber, wie präzise sie waren. Mit langen Stöcken deutete man auf besondere Merkmale; es wurde von Reisen berichtet und viel darüber gestritten, wie viel ein Tagesmarsch war, wenn man ihn auf die Wegstrecke übertrug. Es waren Streitfragen, die sich nie ganz klären ließen, genauso wenig wie das rechte Maß der Verkleinerung, durch die sie einen großen Teil der Welt auf einen Flecken Sand von drei Schritten Durchmesser reduziert hatten; doch voller Begeisterung debattierten sie endlos, dabei auf Sandhügel und Schluchten deutend. — Ich war in diesem Tal, das du als flach darstellst, und es ist viel tiefer, ich bin im zwölften Monat hindurchgegangen, und die Sonne ist nicht ein einziges Mal über die Südwand gestiegen, du musst es also tiefer machen. — Kann schon sein, warte, ich schaufele ein wenig heraus.
Und so ging es weiter. Am Ende verkündeten alle, welche Vogelsicht ihnen am besten gefiel, und dann wurde der Tagessieger gekürt, der einen Eimer voll Maische und die Gelegenheit erhielt, eine oder zwei Fäuste lang anzugeben, bevor sich alle, sowohl Zuschauer als auch Bildner, um die Ränder der winzigen Landschaften versammelten und auf sie draufsprangen, sie zu aufgewühltem Sand zerstampften, der schlimmer aussah als der Schlamm an der Rentierfurt. Götter, die Welten zerstörten; es war der beste Tanz, den es gab, und sie lachten und schrien, sprangen umher und traten aus und fühlten sich großartig dabei.
Trotzdem entspannte Eistaucher sich erst richtig, als das Fest vorbei war und sie ihr getrocknetes Fleisch und ihre neu eingetauschten Sachen zurück nach Hause in ihre Balme am Gewundenen Tal gebracht hatten.
Im Herbst essen wir, bis die Vögel fort sind,
Und tanzen im Licht des Mondes.
Langsam hatte Eistaucher wieder das Gefühl, dass sein Leben Wirklichkeit war. Eigentlich war ihm das seit seiner Wanderschaft nicht mehr so vorgekommen; er hatte den Eindruck gehabt, irgendwann in dieser Zeit in eine andere Welt gelangt und nie zurückgekehrt zu sein. Sich in einen Traum verirrt zu haben und nie erwacht zu sein. So etwas konnte passieren; einige von Dorns Geschichten handelten von Leuten, denen das passiert war, und Eistaucher glaubte daran, weil er es selbst erlebt hatte, als Kind, nach dem Tod seiner Mutter. Und dann erneut auf seiner Wanderschaft.
Und jetzt wieder. Er war in einen weiteren Traum getreten, durch jenen Ort hindurch, an dem sich alle Welten begegneten, hinein in die nächste Welt. Hier entkrampfte sein Magen sich langsam, und er konnte lachen, ohne ein Stocken in der Kehle zu verspüren. Elga saß dort am Feuer, groß zwischen den anderen Frauen, fraß sich von der Herbstausbeute Fett an, wuchs um das neue Kind in ihrem Bauch, das sie bald zur Welt bringen würde. Sie redete nach wie vor nicht viel, und ihre Augen blickten hart wie Kiesel, immer wachsam; aber auch immer anwesend, während sie den anderen Frauen zuhörte und dabei geduldig nickte, Fragen stellte, mit denen sie sie am Reden hielt. Das Fragen ließ sie skeptisch erscheinen, doch Eistaucher fiel auf, dass sie den Blick auf Glückskind gerichtet hielt oder auf den Horizont, während sie mit den anderen Frauen sprach, um sie dann mit einem einfachen: — Aber warum? dazu zu bringen, fast eine Faust lang weiterzureden, während Elga längst wieder etwas anderes betrachtete, das nichts mit dem Gespräch zu tun hatte. Sie konnte mehrere Dinge auf einmal tun. Sie war härter als zuvor, unnachgiebiger, daran bestand kein Zweifel. Aber für Eistaucher empfand sie nach wie vor Wärme, das erkannte er an der Art, auf die sie ihn ansah, er fühlte es an ihren Händen und daran, wie sie ihn nachts küsste. Anscheinend war sie ihm für ihre Rettung dankbar, obwohl Eistaucher nicht der Meinung war, dass er ihre Dankbarkeit verdiente, da er selbst hatte gerettet werden müssen; und letztendlich war es Elga gewesen, die ihn nach Hause gezogen hatte.
Aber Elga war ganz eindeutig auch Dorn dankbar und brachte das auch oft zum Ausdruck, indem sie dem alten Zauberer etwas ans Feuer oder zum Fluss hinunter oder ans Bett brachte: Kellen mit Suppe, Nadeln, Vogelhäute, Wassereimer, Leckerbissen von einem Beutetier. Eistaucher tat das Gleiche, wenn er daran dachte, und er sah, wie sehr Dorn sich über Elgas Dankbarkeit freute, sehr viel mehr als über die von Eistaucher, die er offenbar als nur recht und billig empfand. Eistaucher nahm sich das nicht zu Herzen, und ohnehin erschien es ihm nur angemessen. Dorn war gekommen, um sie zu retten, und jetzt würde Eistaucher wohl der nächste Schamane des Rudels werden, also brauchte er Dorn als Lehrmeister. Das, was er jetzt empfand, war das genaue Gegenteil von dem, was er nach seiner Wanderschaft empfunden hatte, was ihm einmal mehr das Gefühl verursachte, in eine andere Welt gefallen zu sein. Und was Dorn und Elga betraf: Zweifellos war es schön für Dorn, wenn sie nett zu ihm war, angesichts der Behandlung, die ihm Heide angedeihen ließ, ihrer ständigen Sticheleien. Es war etwas ganz anderes, wenn eine Frau lieb und freundlich zu einem war, noch dazu eine junge, kräftige Frau mit einem dicken Kinderbauch.
Außerdem: Elga dachte nie daran, was Knack widerfahren war. Sie sah Knacks Geist nicht, und falls sie ihn doch sah, dann ließ sie sich nichts davon anmerken. Sie verschloss sogar die Augen davor, wie Knacks Geist Dorn beeinflusst hatte, oder auch Eistaucher. Sie sprach überhaupt nicht von der Vergangenheit. Das mochte Dorn an ihr.
Denn für Dorn war die Vergangenheit noch immer lebendig. Eistaucher sah es ihm an. Es gab eine Traumwelt, in die Dorn manchmal einfach hineinstolperte, selbst wenn er gerade hellwach war. Immerhin trieb Knacks Geist sich nicht mehr am Rande des Feuerscheins herum, seit sie seine Knochen im See beigesetzt hatten.
Doch dann brachte Falke eines Tages ein Geweihstück mit, das er auf dem kurzen Pass gefunden hatte, und reichte es in Dorns Beisein Eistaucher. Im selben Moment, in dem Eistaucher es sah, riss er es ihm weg und versuchte zu verhindern, dass es Dorn unter die Augen kam. Unglücklicherweise zog die schnelle Bewegung Dorns Aufmerksamkeit auf sich, und bevor Eistaucher das Stück in seiner Faust verbergen konnte, hatte auch Dorn es gesehen: Es ähnelte Knacks Leichnam, nachdem sie seine Beine gegessen hatten, mit den gekappten Schenkeln an einem Ende und dem langen Kopf am anderen. Die Ähnlichkeit war grob, aber sofort zu erkennen. Und auch Dorn erkannte sie. Ein harter Zug legte sich um seine Mundwinkel. Knacks Geist hatte ihm einen Gruß gesandt.
Eistaucher nahm das Geweihstück mit und ignorierte entschlossen die kleinen Kerben, durch die man Hals und Schritt herausarbeiten und eine Figur in Form von Knacks Leichnam daraus hätte machen können. Stattdessen bearbeitete er es mit seinem Stichel, bis es sich spalten ließ, und machte dann Nadeln für Elga, Heide und Salbei daraus. Das war erledigt.
Andererseits konnte man es auch so sehen, dass Knacks Geist sich von nun an immer unter ihnen befand, in die Nähte ihrer Kleidung eingenäht wurde und sie gelegentlich sogar in die Daumen stach. Eistaucher begriff, dass er das Geweihstück einfach im Wald hätte verlieren oder singend bei Knacks Knochen im Teich versenken sollen. Er hatte nach wie vor nicht genug Übung im Umgang mit Geistern, um zu erkennen, wie geschickt sie manchmal vorgingen.
Dorn, der viele Jahre mit Geistern verkehrt hatte, war sich dessen allerdings sehr wohl bewusst; und als Eistaucher mit dem Geweihstück davongeeilt war, hatte seine Miene verraten, dass man einem Geist, der einen heimsuchen wollte, nicht entrinnen konnte. Man konnte nur sein Bestes tun, um ihn zu beschwichtigen, doch letztlich tat der Geist, was er wollte.
Und so ging Dorn mit gesenktem Kopf und benahm sich friedfertiger denn je. Besondere Aufmerksamkeit ließ er den Kranken zukommen, die er zwar förmlich und distanziert, aber mit Hingabe und Sorgfalt pflegte. Als Feuerfürchter sich ständig übergeben musste, lauschte Dorn auf seine Atemgeräusche und beriet sich mit Heide, bevor er seine Heilungszeremonie durchführte; und Heide gegenüber war er bei dieser Unterredung nicht weniger aufmerksam als gegenüber Feuerfürchter. All seine Zeremonien vollführte er mit besonderer Sorgfalt. Er zählte die Monate mit fein säuberlich in seinen Jahresstock geschnitzten Kerben. Er machte seine alten Witze. Er ließ die Kinder morgens ihre Lieder und Rätsel aufsagen.
Sein Verhalten war völlig undornig, als wäre er mit Elga, die kurz vor dem Gebären stand, und mit Glückskind zwischen den Füßen trotz all seiner Grübelei zufrieden. Und doch, eines Nachts, als das Feuer heruntergebrannt war und er auf dem Weg zu seiner Schlafstatt war, unterdrückte er einen Schrei und wich zurück. Eistaucher sah das von seinem eigenen Bett aus und rief: — Was ist?, ehe er sich die Worte verbeißen konnte.
Dorn antwortete nicht. Er wich mit vorgestreckten Händen zurück und starrte auf seine leere Schlafstatt. Eistaucher versuchte, einen Seitenblick darauf zu werfen, weil er nicht wirklich sehen wollte, was sich darin befand. Für ihn sah Dorns Bett leer aus. Aber nicht für Dorn. Eistaucher bewegte Schlimmbein ein bisschen und spürte nichts darin. Knack war nicht in ihm drin.
Eistaucher wusste nicht, was er tun sollte. Weder hatte er Geschichten über eine solche Situation gehört noch war er sich darüber im Klaren, was Dorn von ihm erwartete. Wahrscheinlich wollte der Schamane, dass er sich aus der Sache raushielt. Vielleicht gab es etwas, das Dorn zu Knack sagen konnte, etwas, das er tun konnte …
Doch ihm schien nichts einzufallen. Seine Lippen zuckten wie ein Fisch auf dem Trockenen, formten lautlos Worte, genau wie Fische es taten. Eistaucher hatte ihn noch nie derart überrumpelt gesehen.
Schließlich riss Dorn sich zusammen, richtete sich auf und seufzte schwer. Er wedelte mit dem Handrücken, wie er es sonst tat, wenn ihm Kinder im Weg standen. — Was ist?, klagte er mit leiser Stimme. — Was soll ich denn machen? Sag es mir einfach, dann mache ich es.
Dann stand er eine ganze Weile bloß da. Schließlich ging er wieder ans Feuer. Eistaucher schlief ein, bevor Dorn zurückkam. Er hatte Knack weder gesehen noch auch nur die leiseste Regung verspürt.
In jenem Winter begannen die Leute davon zu reden, dass Dorn vom Glück verlassen sei. Die anderen wussten nichts von Knack und sahen ihn auch nicht, aber Dorns Verhalten fiel ihnen auf, und sie redeten. Natürlich nicht, wenn er in Hörweite war, obwohl er sie gelegentlich doch hörte. Dann drehte er nur den Kopf zur Seite, wobei er manchmal gedankenverloren nickte. Die Jäger redeten oft davon, dass das Glück einen verließ, denn das war der einzig mögliche Umgang damit; man musste sich dem Narsuk stellen, und wenn es einem selbst passierte, musste man seinen Freunden davon erzählen, damit sie einen für eine Weile führten und einem halfen, und dann geschah vielleicht etwas, wodurch das Glück zu einem zurückkehrte.
Doch für Schamanen lagen die Dinge anders. Sie drangen in Reiche vor, die weit jenseits von Glück und Pech lagen, in Träume, in den Himmel, in Tiere und in Mutter Erde. Sie drangen in Geister ein, und Geister drangen in sie ein. Dafür brauchten sie natürlich Glück, oder zumindest etwas Ähnliches; und wenn sie ihr Glück verloren, machte das nicht nur ihnen die Arbeit als Schamane schwer, auch das ganze Rudel konnte in Mitleidenschaft gezogen werden. Deshalb gefiel den Leuten ganz und gar nicht, was sie bei Dorn beobachteten, und wer darüber redete, dem sagte man, dass er den Mund halten solle.
In einer kalten Winternacht wurde jemand Neues ins Wolfsrudel geboren. Ein Mädchen der Lachssippe. Die Männer saßen ums Feuer und rauchten Dorns Pfeife. Dorn sang eine lange Fassung der Geschichte von der Schwanenfrau, lachte fröhlich über seine eigenen Witze, und wann immer er Eistaucher einen Klaps gab, fühlte es sich liebevoller denn je an.
Eistaucher verbrachte viel Zeit mit Elga, Glückskind und der neuen Kleinen, und er ging Dorn zur Hand. Wenn er nicht beschäftigt war, schnitzte er Figuren aus Geweihen und kleinen Stücken Mammutbein, die sie beim Fest bekommen hatten. Manche waren Spielzeuge für das neue Kind. Elga freute sich darüber, doch das neue Kind ermüdete sie auch, und sie war damit beschäftigt, was bei den Frauen vorging.
— Ist alles in Ordnung?, fragte Eistaucher, wenn er ihr Gesicht sah.
— Nein, antwortete sie dann. — Aber das ist eine Frauenangelegenheit, du kannst nichts daran machen. Donner und Blauhäher merken langsam, dass niemand sie mehr mag. Genau genommen waren sie noch nie beliebt, aber sie glauben, das sei etwas Neues und dass es meine Schuld sei. Was auch stimmt. Inzwischen ist es zu spät für sie, aber das wird ihnen jetzt erst klar, und sie sind wütend darüber und machen alles noch schlimmer, um es besser zu machen. Was nie funktioniert. Aber auf die eine oder andere Art müssen wir da durch. Mach du dir keine Gedanken. Ihr werdet euch vielleicht eines Tages an einer Lösung beteiligen müssen, du und deine Freunde. Aber im Moment reicht es, wenn du dich um Dorn kümmerst.
— Das mache ich.
Bevor er die kleinen geschnitzten Figuren dem Kind zum Spielen gab, brachte er sie zu Dorn und fragte ihn, was er von ihnen hielt. Auch bei seinen Felszeichnungen an der Obertalwand und seinen Holzkohlezeichnungen auf den Felsen im Fluss bat er Dorn, mitzukommen und sie sich anzusehen. Dorn ging dann mit ihm zum Fluss hinab, Eistaucher lief dort über das Eis und machte sich an die Arbeit. Linie für Linie, Tier für Tier.
Dorn saß derweil an einem kleinen Feuer, das er entfacht hatte, und begutachtete Eistauchers Arbeit. Wenn sie am Ende eines solchen Tags ins Lager zurückkehrten, holte er oft einen großen, glatten Schieferstein und eine Stange mit Bienenwachs vermischten Erdbluts hervor und gab beides Eistaucher, um ihm anschließend Tiere und Haltungen anzusagen, die er als Dreistriche malen sollte:
— Eine Hyäne, die dich über die Schulter anblickt.
— Die Hörner eines Steinbocks von hinten.
— Die Hörner eines Steinbocks direkt von vorne.
— Ein Elkbulle, erschöpft nach der Brunst.
— Ein junges Nashorn, das im Schlamm feststeckt.
— Eine Löwin auf der Jagd. O ja, das ist hübsch. Genau so sieht sie einen an, nur ein Punkt und ein Tränenkanal.
— Ein Hengst, der den Kopf in den Nacken wirft, um einen Rivalen einzuschüchtern, der sich seinen Frauen nähert. Ah, gut gemacht. Pferde beherrschst du inzwischen wirklich hervorragend.
Eistaucher wusste nicht, was er von diesen undornigen Bemerkungen halten sollte, also wischte er einfach den Schiefer sauber und wartete auf die nächste Ansage. — Pferde sind wunderschön, sagte er.
— Ja.
Eistaucher und Dorn blieben Zuschauer, als Falke und Moos sich mit Schiefer und Steinbock anlegten. In gewisser Weise kam es vielleicht auch deswegen dazu, weil Dorn das Glück verlassen hatte, denn wenn er nach wie vor ein gefürchteter Schamane gewesen wäre, dann hätten die Leute sich unter seinen Augen vielleicht besser benommen. Andererseits hatte es wohl ohnehin dazu kommen müssen, weil Schiefer in Nahrungsfragen ständig Entscheidungen traf, die außer Donner und Blauhäher und Gams keiner der Frauen gefielen, ob es nun um ihre Wintervorräte oder ums Abendessen ging. Außerdem waren es inzwischen Falke und seine Freunde, die das meiste Fleisch für den Winter heimbrachten. Und letztendlich lag es daran, dass die beiden sich seit jeher nicht leiden konnten, nicht, seit Schiefer auf Falke aufgepasst hatte, als der noch ein Kind gewesen war, erklärte Heide.
Also hackten sie beständig aufeinander herum, krach-krach-krach, dass die Funken flogen. Als Schiefer einmal am Feuer saß und den Duft seiner Maische einsog, kam Falke blutüberströmt, mit den Hinterläufen einer Saiga um den Hals und den Hufen auf der Brust, ins Lager. Die Masse über seinen Schultern ließ ihn wie einen Bison aussehen, und als er zwischen Schiefer und dem Feuer entlangging, machte er eine Kopfbewegung, die an die erinnerte, mit der ein Bisonmännchen ein Weibchen zur Unterwerfung aufforderte. Als Schiefer das sah, sprang er auf, wodurch er fast einen Huf ins Auge bekam. Er fegte den Huf beiseite, doch dadurch traf ihn der andere an der Wange, obwohl Falke noch währenddessen zurücktrat, sodass er so tun konnte, als wäre das Ganze ein Versehen gewesen. Er lachte. Schiefer kochte vor Wut, während Falke sich Rumpf und Beine vom Kopf hob und sie wie zum Schutz vor sich hielt. Schiefer verfluchte ihn mit rotem Kopf, und Falke wackelte mit den Saiga-Hufen in seine Richtung, wieder ein Bullenkommando an eine Bisonfrau. — Aus dem Weg, alter Mann. Ich wollte nur am Feuer vorbei zum Schneidstein gehen, ich habe keine Ahnung, warum du mich so angesprungen hast!
Als Erwiderung zog Schiefer bloß eine finstere Miene und stapfte zum Holzhaufen davon.
Immer wieder kam es zu solchen Vorfällen. Es nahm kein Ende. Die Albereien der beiden wurden bösartig. Ihr Rudel bestand nun aus zwei Dutzend neun, und drei der verheirateten Frauen waren schwanger. In vielerlei Hinsicht ging es ihnen gut. Im letzten Frühjahr hatten sie kaum gehungert, und langsam sah es danach aus, dass sie auch den kommenden Frühling gut überstehen würden. Fast machte es den Eindruck, als könne es Jahr für Jahr so weitergehen. Woher also die Anspannung? Ging es einfach nur darum, wer Anführer war, wer ihr Oberhaupt sein wollte? Der junge Mann, der es auf den Alten abgesehen hatte, und der Alte, der sich wehrte? Draußen bei den Herden war das oft zu beobachten. Aber brauchte das Rudel wirklich einen Anführer? Eine Menge Rudel schienen auch ohne gut zu funktionieren. Die Männer taten, was zu tun war, die Frauen entschieden in ihren ständigen Gesprächen ohne viel Aufhebens über Familien- und Sippenangelegenheiten, und alles lief gut. Es war sicher schön, in so einem Rudel zu leben. Falke würde es wohl eher nicht gefallen, aber Moos durchaus. Falke gab Anweisungen, Moos machte Vorschläge. Das war etwas, das Eistaucher auch ohne Heides Hilfe herausgefunden hatte, etwas, das er sein ganzes Leben lang an den beiden beobachtet hatte, seit ihrer Kindheit.
Unten, wo Ordech und Urdecha zusammentrafen, begegnete Eistaucher einmal zwei Nashörnern, die auf einer verschneiten Wiese miteinander kämpften. Er trat hinter einen Baum und hockte sich hin, um sie von dort zu beobachten. Die beiden gedrungenen, dicken Geschöpfe hatten dicke, lange Wolle, oben schwarz und an den Bäuchen schneeverkrustet. Es waren seltsam aussehende Tiere, wie Unaussprechliche der Wälder, aber mit stolz erhobenen, gefährlich anmutenden Hörnern, die wie zu Speeren gespitzte Ständer auf ihren Nasen saßen. Das waren ihre Waffen; sie bissen einander nur selten. Stattdessen stießen sie die Köpfe seitlich aneinander, sodass die Hörner laut klackend zusammenprallten. Hinterher wichen sie manchmal taumelnd zurück, die Haut an der Hornwurzel blutend. Ein flinker seitlicher Stoß konnte einem Tier die Kehle aufschlitzen oder ein Auge ausstechen, sodass ein solcher Kampf um die Vorherrschaft innerhalb eines Augenblicks zu einem Kampf auf Leben und Tod werden konnte, und fast alle Nashornbullen hatten Narben am Kopf.
Nun standen sich also diese beiden Tiere schnaubend und keuchend gegenüber. Sie waren schon eine Weile zugange, und beide bluteten, der Schnee unter ihnen war rot gesprenkelt. Sie starrten einander an, und ihre kleinen Augen traten zornig hervor. Beide lauerten sie auf eine Blöße; Eistaucher hätten sie nicht einmal wahrgenommen, wenn er mitten zwischen ihnen hindurchgetanzt wäre.
Sie knallten ihre Hörner auf die übliche Weise gegeneinander, dabei wie Tänzer einem gemeinsamen Rhythmus folgend. Einmal mehr wurde Eistaucher bewusst, dass es für einen Kampf einer Übereinkunft bedurfte. Das Klacken klang, als wenn man dicke, feste, rindenlose Äste aneinanderschlug, nur hohler.
Dann kippte das eine Nashorn den Kopf nach links, und als das andere ausholte, um seinem Schlag zu begegnen, tauchte das erste mit dem Horn unter ihm weg und rammte es gerade nach oben. Das andere Nashorn sah den Stoß kommen und wich ihm mit einem Satz nach hinten aus, worauf das erste sofort losstürmte, von rechts und links mit einem irrsinnigen Tempo auf den Gegner eindrosch, sein Horn immer wieder gegen dessen Schädel knallen ließ. Brüllend warf der sich herum, machte erstaunlich gewandt kehrt und rannte so schnell er konnte davon. Der Sieger hätte ihm folgen und ihm das Horn in den Leib stoßen können, wenn er gewollt hätte, doch stattdessen verharrte er mit fest aufgepflanzten Beinen im blutigen Schnee, rümpfte verächtlich die Schnauze und öffnete dann den Mund, um ein kurzes, tiefes Brüllen auszustoßen.
Eistaucher ging mit Falke und Moos und Achtlos und Speerwerfer auf eine Winterjagd. Auch Dorn begleitete sie; seit er wieder zu Kräften gekommen war, konnte er mit den Jüngeren mithalten, wenn sie nicht gerade in höchstem Tempo rannten.
Sie stiegen in der Oberklamm auf die weite Heidelandschaft des Nordens hoch. Ah, welch ein Vergnügen es war, zusammen mit seinen Freunden zu wandern, bergauf und bergab, so schnell es eben ging, auf einem Morgenrundgang. Sein linkes Bein war steif und ein wenig taub im Innern, mahnte ihn zur Vorsicht und erinnerte ihn immer daran, sein Gewicht im Zweifelsfall lieber Gutbein anzuvertrauen; doch es schmerzte nicht. Wie wunderbar eine solche Jagd in der Morgendämmerung war!
Sie wollten auf der Hochebene westwärts und an ihrem Rand entlang bis zur Stirnseite der Nordschlucht wandern, dann die Felswand hinabsteigen, um zur Wiese unterhalb der Spalte zwischen den Eiszitzen zu gelangen, wo offenbar eine Bisonherde überwinterte. Wenn sie es zur Hünenstatt schafften, bevor die Bisons vorbeikamen, dann konnten sie sie vielleicht aus ihrem üblichen Versteck heraus mit Speeren erwischen. Sie waren seit dem Herbst des Vorjahres nicht mehr dort gewesen.
Es war ein frischer Spätwintermorgen, und die Luft im Tal war dunstig. Flammenbringer sank dem westlichen Horizont entgegen und verblasste, während der Himmel erst eine graue und dann eine blassblaue Färbung annahm. Die Kaninchenfrau im Mond rührte in der roten Farbe, um sie bald in die Dämmerung zu gießen. Die Wiese an der Stirnseite der Nordschlucht war verlassen, abgesehen von einer Handvoll Schneehasen, die in ihrem weißen Kleid fast unsichtbar waren und sich nervös und mit bebenden Nasenlöchern umblickten. Es war sehr schwer, sie mit einem Speerwurf zu töten, was die Männer nicht davon abhielt, es von oben zu versuchen. Sie warfen alle gleichzeitig, sodass ein Regen langer, sich biegender Speere auf die Wiese niederging, und durch Zufall wurde tatsächlich einer der rennenden Hasen im Gras aufgespießt. Als sie unten ankamen, war er bereits tot, und wie sich herausstellte, war es Eistauchers Speer, der getroffen hatte. — Danke!, rief Eistaucher dem Hasen zu und küsste ihn kurz auf die Stirn. Dann steckte er ihn ein und hängte sich den Beutel am Gürtel über den Rücken, sodass der Hase ihn für den Rest des Tages begleitete, was ihm Schnelligkeit verleihen würde. Gleichzeitig verstärkte es auch ihre Witterung, aber sie waren ohnehin für jedes Tier mit einer Nase leicht auszumachen, weshalb es nicht darauf ankam. Falls sie über Nacht unterwegs sein sollten, würden sie den Hasen am Abend braten.
Sie wanderten den gewundenen Pfad hinab, den sie im oberen Bereich der Nordschlucht angelegt hatten. Durch eine Spalte zwischen Felsbrocken, die ihnen bis über die Köpfe reichten, hinunter zur Hünenstatt, wo sie hinter ihrem Sichtschutz abwarten würden, was der Wind ihnen zutrug.
Die Hünenstatt war ein Gewirr von großen, harten Felsbrocken, zwischen denen kaum kleinere Steine lagen. Von der blanken Felswand darüber bröckelten immer wieder Teile ab, und die Neigung am Hang sorgte dafür, dass sie sich nach Größe sortierten, wobei die größten immer am weitesten rollten. Manche hausgroßen Felsen waren so weit gekullert, dass sie sich schließlich in die Wiese gegraben hatten, die sich halbmondförmig entlang des Flusses erstreckte.
Oben in einem dieser Felsen gab es einen flachen Einschnitt, der aussah, als hätten ihn die Riesen extra gemacht, damit Menschen sich darin verstecken konnten. Sie zogen sich an mehreren Vorsprüngen hoch, über die man auf die Hangseite des Felsens klettern konnte. Der Einschnitt bot genug Platz, damit sie bequem nebeneinander stehen konnten, und von ihrem Aussichtspunkt konnten sie bis zum anderen Ende der gekrümmten Wiese sehen. Die Talwände waren steil und leicht mit Kieferngestrüpp bewaldet. Der Wind wehte wie meistens am Morgen flussabwärts, wenn also Tiere das Tal hinabkamen, würden sie weder die Männer noch den toten Hasen riechen. Für einen Wintertag war es warm, allerdings frostig in den Schatten. Man hörte glucksende Geräusche des Bachs, der unter dem Eis langsam dahinrann, vor allem das leise Plätschern, wo das Wasser am Rand der Wiese zutage trat.
Falke übernahm als Erster den Posten des Spähers, und schon bald stieß er ein Zischen aus, worauf die Männer absolut still wurden und neben ihn glitten, um selbst etwas zu sehen.
Da waren die Bisons, eine kleine Herde, die Köpfe haarig, das Fell struppig vom Winter. Neun Bison-Frauen folgten dem Leitbullen. Weil die Frauen keine derart gewaltigen Köpfe hatten, wirkten ihre Körper ausgewogener. Es waren wunderschöne Geschöpfe, das dichte, bräunliche Fell nur wenig dunkler als das eines Löwen, ihre haarigen Köpfe dunkelbraun, beinahe schwarz. Gemächlich wiederkäuend zogen sie dahin, während das Sonnenlicht in ihre Leiber hineinströmte, sodass sie leuchteten in ihrer Schwere, über den Schnee schwebten wie Besucher aus einer Welt, in der alles dichter war. Traumgeschöpfe, die die wache Welt durchwanderten.
Auf dreien von ihnen hatten sich Vögel niedergelassen, die geduldig im Fell der Tiere herumpickten, auf der Suche nach den Fliegenlarven, die dort gediehen. Bei diesen Larven handelte es sich um eine Köstlichkeit, wie die Männer sehr wohl wussten. Eistaucher lief beim Anblick der Tiere ohnehin schon das Wasser im Mund zusammen.
Doch anscheinend hatten sie die Anwesenheit der Männer bemerkt. Ihre Schwänze waren erhoben, und mehrere von ihnen schissen oder pinkelten in dicken, gelben Bögen, die in der Morgensonne dampften. Die majestätischen Tiere sahen und hörten nicht besonders gut, aber sie hatten gute Nasen. Und wenn die Menschen sich ihnen auf Sichtweite näherten, schienen die Bisons das oft einfach zu wissen. Das machte die Jagd schwierig.
Auch diesmal war es so. Sie hielten sich von den Felsen aus gesehen an der gegenüberliegenden Seite der Wiese. Doch selbst dort waren sie noch in Speerwurfweite. Mit ihren Speerschleudern konnten sie die Bisons gerade so erreichen, was allerdings bedeutete, dass ein Treffer reines Glück sein würde.
Dorn flüsterte: — Sollen wir es versuchen?
Falke nickte. So leise wie möglich steckten sie die Speere mit den Kerben auf ihre Schleudern. Sie mussten sich leise umgruppieren, um einander nicht im Weg zu stehen.
— Achtet darauf, dass ihr niemanden mit euren Schleudern trefft, flüsterte Dorn wie immer, worauf sich alle vergewisserten, dass sie genug Platz zum Ausholen hatten, und einander zunickten: Sie waren wurfbereit. Wie Katzen vor dem Sprung verlagerten sie ihr Gewicht und erspürten mit den Füßen, wie genau sie werfen mussten. Dann flüsterte Falke: — Zielt alle auf den Bullen ganz vorne. Achtung — fertig — Wurf! Und alle gleichzeitig warfen sie stumm ihre Speere.
Die meisten Bisons rannten davon, als die Speere durch die Luft auf sie zusausten, aber zwei der Wurfgeschosse bohrten sich in den großen Bullen, und die Männer riefen — Ja!, oder — Ha!, oder — Danke!, als sie das sahen.
— Ach, schon wieder habe ich meinen Wurf verrissen, klagte Achtlos, — ich bin mit dem Handgelenk angestoßen.
Doch Dorn hielt sich mit der rechten Hand den Steiß. — Das hat wehgetan, sagte er mit verwirrter Miene. — Anscheinend habe ich zu fest geworfen und mir einen Muskel gezerrt.
— Tut uns leid für dich, sagten die anderen.
Viele der Bisons befanden sich inzwischen dort, wo der Bach unter dem Eis hervor von der Wiese floss, stampften voll Unbehagen auf und ab und blickten sich zu dem getroffenen Bullen um. Der hatte den Kopf gesenkt und ging zögerlich weiter, wie um herauszufinden, wozu er noch in der Lage war. Blut rann ihm aus dem Mund, und einige der Männer riefen — Ja, weil das bedeutete, dass einer der Speere oder beide sich ihm zwischen den Rippen hindurch in die Lunge gebohrt haben mussten und es mit ihm zu Ende ging. Die Männer klopften einander auf die Schultern, während sie gespannt das weitere Geschehen verfolgten.
Sie hatten noch immer ihre Kurzspeere, und es war nicht weiter schwer, von ihrem Felsbrocken hinunterzukraxeln und das tödlich verwundete Tier mit einem Ansturm und mehreren Stichen in Rippen und Eingeweide zur Strecke zu bringen. Einer dieser Stiche traf ins Herz, worauf das große Tier ächzend in die Knie brach, zur Seite kippte und starb.
Den restlichen Tag über hatten sie damit zu tun, dem Tier die Haut abzuziehen, es zu zerlegen, die Hinterläufe zu entbeinen und alles zum Tragen vorzubereiten. Dorn brachte ein Feuer in Gang, und sie aßen das übliche Beutemahl aus Leber und Nieren. Als sie müde wurden, wechselten sie sich bei ihren Aufgaben ab, hielten jedoch immer wachsam nach Löwen oder Hyänen Ausschau. Eine kleine Rabenwolke kreiste über ihnen, sie würden also nicht lange allein bleiben. Es war wichtig, den Bison so schnell wie möglich in seine Einzelteile zu zerlegen, doch trotz der Arbeit waren sie gut gelaunt. Nur Dorn blieb schweigsam.
— Geht es dir gut?, fragte Eistaucher ihn.
— Ich weiß nicht. Ich habe mir wohl etwas gezerrt.
Dorn hielt nach Knack Ausschau, konnte ihn jedoch nirgends ausmachen. Eistaucher spielte mit dem Gedanken, ein Bildnis von Knack aus einem Geweihstück zu schnitzen und es behutsam im Wasser des Teichs zu versenken, in dem sie ihn beigesetzt hatten. Aber andererseits stieß er dabei vielleicht einen von Knacks Knochen an und rüttelte den Alten auf. Und der Gedanke, wie Knacks Schädel mit den vertrauten Zähnen aus dem Wasser zu ihm emporblicken würde, war nicht gerade einladend. Aber wenn er Knack irgendwie fernhalten wollte … es musste doch etwas geben, das er tun konnte. Wenn dies, dann das: Es war ein kleiner Strudel von Wenns, in dem er allzu leicht zu kreiseln begann und aus dem ihn letztlich immer wieder das schreckliche Bild von Knacks Schädel, der aus dem Wasser zu ihm emporblickte, hinausschleuderte. Geh fort von hier, an einen anderen Ort!
Es war also besser, wenn er sich ein wenig von Dorn fernhielt.
Sie überstanden den Winter und mussten auch im Frühjahr nicht allzu sehr hungern. Doch irgendwann im Laufe jenes Winters fiel Eistaucher auf, dass Dorn keine Dinge mehr warf und dass er es vermied, den rechten Arm über die Schulter zu heben. Außerdem magerte er im Hungermonat stärker ab als der Rest von ihnen. Nun war er wirklich ein alter schwarzer Schlangenkopf, dem Löwenzähne von den wenigen Haarsträhnen baumelten, die ihm hinter den Ohren und im Nacken verblieben waren. Er schien durch einen Schleier hindurchzublicken. Elga, die neue Kleine und Glückskind am Feuer beobachtete er mit einem höchst seltsamen Gesichtsausdruck.
Eines Nachmittags kam kurz vor Sonnenuntergang Pippalott zusammen mit Quarz, dem Schamanen des Löwenrudels im Osten, bei ihnen vorbei. Mit lautem Hallo und Geschenken zogen sie ins Lager ein, und während Quarz sang, hatten sich um Pippa bereits wie immer die Frauen versammelt, doch Pippa ging zwischen ihnen hindurch direkt auf Eistaucher zu, umarmte ihn, hielt ihn bei den Schultern, sah ihn an und sagte: — Ich bin wirklich froh, dich hier zu sehen, und es tut mir leid wegen der Nacht, in der man dich gefangen genommen hat, ich habe gehört, wie die Nordleute dich gepackt haben, und mich in ein Versteck gerollt, ehe sie mich sehen konnten, und anschließend konnte ich nichts mehr machen, außer dir eine Weile zu folgen und dann Dorn zu erzählen, was passiert war, was ich auch gemacht habe, wie du es ja sicher von ihm erfahren hast.
— Ja, sagte Eistaucher. — Es ist schon gut. Ich habe mir gedacht, dass es so war.
Pippa nickte. — Hauptsache, das Ganze ist gut ausgegangen.
— Wir haben es zurückgeschafft, erwiderte Eistaucher, wobei er sich etwas unbehaglich fühlte, als hätten seine Worte etwas Unwahres.
In jener Nacht am Feuer erzählte Pippa ihnen von seinen Reisen, und Quarz erzählte die Geschichte vom Bisonmann in der Höhle, eine von Dorns Lieblingsgeschichten. Anschließend zogen er und Dorn sich mit einem Eimer Maische an den Rand des Feuerscheins zurück und sprachen bis spät nachts miteinander. Eistaucher gesellte sich ihnen für eine Weile hinzu, und während er dabei war, besprachen Dorn und Quarz, an wem die Reihe sei, in der Höhle zu malen. Die Löwen sollten im Frühjahr malen, die Wölfe im Herbst. Das bedeutete, dass die Wölfe sich mit den Höhlenbären würden herumschlagen müssen, die ihren Winterschlaf antreten wollten.
— Ich sorge dafür, dass sie dir ein freies Stück Wand hinterlassen, mit dem du arbeiten kannst, versprach Quarz.
— Das ist gut, sagte Dorn.
Eistaucher fiel ein, dass Dorn wahrscheinlich mit der linken Hand würde malen müssen, es sei denn, er machte sich einen Hocker zum Daraufstellen.
— Was wirst du malen?, fragte Quarz Dorn.
— Ich dachte an Pferde, sagte Dorn. — Wie steht es mit euch?
— Bei uns sind Steinböcke und Mammuts im Gespräch. Quarz blickte zu Eistaucher und fragte höflich: — Und was ist mir dir? Falls Dorn dich etwas malen lässt?
— Ich habe zwei Nashornbullen beim Kämpfen gesehen, sagte Eistaucher. — An denen würde ich mich gerne versuchen.
Dann, als Dorn eines Abends zu seinem Schlafwinkel ging, erstarrte er einmal mehr.
— Nicht du schon wieder, brummte er, gefolgt von Worten, die Eistaucher nicht verstand. Nachdem er eine Weile so dagestanden hatte, hob Dorn hilflos die Hände und kroch in sein kleines Nest. Schwer setzte er sich auf sein Bett. — Lass mich in Ruhe, sagte er mit so leiser Stimme, dass Eistaucher ihn gerade so hören konnte. — Was hätte ich denn sonst tun sollen, so sag es mir doch. Du hast doch gesehen, was dabei herausgekommen ist. Mehr habe ich nicht für dich. Schau sie dir an und lass mich in Ruhe.
Aber offenbar überzeugte das Knack nicht. Dorn sah ihn nun oft, normalerweise abends, wenn er zu Bett ging.
Und etwas verursachte ihm weiterhin Schmerzen zwischen den Rippen. Manchmal zuckte er sogar zusammen, wenn er nur redete, oder er hielt im Gehen plötzlich inne und stieß ein Zischen aus. Einmal, als er sich im Wald allein wähnte, sah Eistaucher, wie er sich hinsetzte.
Dorn ging damit sogar zu Heide. Eistaucher half ihr gerade, und als Dorn ihn dort sah, runzelte er die Stirn, ehe er sich setzte und Heide darum bat, einen Blick auf ihn zu werfen. Heide wies ihn an, seinen Umhang abzulegen, und tastete seinen ganzen Rumpf mit den Fingern ab. Dann legte sie ihm ein Ohr an Rücken und Brust und Mund, roch an seinem Atem und seiner Haut und ertastete seinen Puls. Sie befahl ihm, die Arme kreisen zu lassen, und achtete darauf, wann er das Gesicht verzog. Sie sah, was Eistaucher auch gesehen hatte, dass er seinen rechten Arm nicht mehr über den Kopf bekam.
Als sie fertig war, schob sie sich an ihr Kräuterbord und stöberte zwischen den kleinen Beuteln herum, die darauf aufgereiht waren. — Ich weiß nicht, sagte sie, ohne Dorn anzusehen.
Außer Eistaucher war niemand bei den beiden, und mit einem kurzen Blick in seine Richtung sagte Dorn: — Komm schon, sag’s mir. Sag mir, was du nicht weißt.
Sie schnaubte. — Ich weiß überhaupt nichts. Genau, wie du es mir immer erzählst.
— Tja, dann stimmt es ja wohl, oder?
— Ja. Hier, nimm das. Sie reichte ihm einen Beutel. — Das wird die Schmerzen lindern. Und rauch deine Pfeife.
— Und wenn es meine Lunge ist?
— Ein bisschen Rauch wird nicht schaden.
Dorn schluckte und starrte sie dann finster an. Ihre Andeutungen gefielen ihm nicht; das hatte er nicht von ihr hören wollen. Seine Lippen verzogen sich zu einem hässlichen kleinen Knurren, doch ungerührt hielt sie seinem Blick stand. Offensichtlich würden die beiden, wo Dorn krank war, auch nicht besser miteinander auskommen.
Von da an beachtete Dorn weder Heide noch irgendjemand sonst. Er verbrachte seine Tage wie sonst auch und zog oft los, um Feuerholz oder Schamanenkräuter und -pilze zu sammeln. Jeden Morgen rauchte er als Erstes seine Pfeife. Am Feuer beobachtete er Elga und Glückskind und die Kleine. Daraus, wie er die Dinge fixierte, anstatt den Blick schweifen zu lassen, schloss Eistaucher, dass er den ganzen Tag über von Knack verfolgt wurde. Nachdem das eine Weile so gegangen war, ließ etwas an der Art, wie Dorn es vermied, nach rechts zu schauen, erkennen, dass Knacks Geist dort neben ihm saß, aber es zeigte auch, dass das Dorn nicht mehr so viel ausmachte wie früher. Er vermied es nicht deshalb, in Knacks Richtung zu blicken, weil er Angst hatte, sondern aus einer Art von Höflichkeit heraus.
Er fing an, ihre neue Kleine Fink zu nennen, weil sie aufmerksam war und schnelle und ruckartige Bewegungen machte. Oft saß er herum und sah ihr und Glückskind zu, während Elga und Eistaucher anderweitig etwas erledigten. Und als kein Schnee mehr lag, ging er mit besserer Laune auf Nahrungssuche. — Die Dinge geschehen, sagte er einmal zu Eistaucher, als sie gerade am Fluss standen, der im Licht der untergehenden Sonne dahinplätscherte. — Man kann nicht das Geringste dagegen tun.
Dann, als er eines Morgens Holz aufs Feuer legte, krümmte er sich plötzlich mit einem unterdrückten Schrei zusammen und hielt sich die rechte Seite. Ohne Eistauchers Hilfe annehmen zu wollen, kroch er stöhnend zu Heides Nest. Eistaucher blieb nichts weiter übrig, als erschreckt und verängstigt neben ihm her zu gehen.
Als Dorn Heide erreichte, blickte er zu ihr empor. — Es tut weh, fauchte er.
— Leg dich hin, sagte Heide. Sie half ihm auf ihr Bett. — Mach es dir bequem.
— Ich kann es mir nicht bequem machen!
— Mach es dir so bequem wie möglich.
Sie kramte in ihren Beuteln herum. Schließlich gab sie ihm eine Wurzel zum Kauen und rieb ihm etwas Mistelbeerenpaste aufs Zahnfleisch. Dann schickte sie Eistaucher los, um Dorns Pfeife und Schamanenkräuter zu holen. Als Eistaucher damit zurückkehrte, wühlte sie in Dorns Sachen herum, als wären es ihre, und wies ihn an, einige seiner getrockneten Pilze zu kauen.
— Wenn du jemals ein richtiger Schamane werden willst, dann ist jetzt der richtige Zeitpunkt, sagte sie.
Dorn antwortete nicht. Er rauchte seine Pfeife, nachdem Heide sie ihm gestopft und mit einem Span vom Feuer angesteckt hatte. — Warum kam das so plötzlich?, fragte er, nachdem er eine große Rauchwolke ausgeatmet hatte.
— Es hat eine Rippe gebrochen.
In jener Nacht blieb er in ihrem Bett. Sie brachten ihm Körnerkekse und Stückchen gegarten Fleisches, doch er schüttelte den Kopf und öffnete den Mund nicht einmal zum Sprechen, bis sie das Essen wieder weggebracht hatten. Nach diesen Versuchen, ihn zu füttern, trank er etwas Wasser aus einer Kelle und betrachtete Heide.
— Warum sollte ich?, fragte er sie.
Heide antwortete nicht. Sie ließ sich seine Felle an ihr Bett bringen und legte sie über einen Holzscheit, damit Dorn sich aufsetzen konnte. Sie wusste, dass das eine weniger schmerzvolle Haltung für ihn war, noch ehe er es ihr sagte. Sie stellte einen Wassereimer mit einer Kelle darin neben ihn und saß an seiner Seite, während er sich hin und her warf.
— Ich könnte versuchen, es abzulassen, sagte sie zu ihm, nachdem sie seine rechte Seite untersucht hatte.
— Tatsächlich? Plötzlich glomm Hoffnung in Dorns rot geränderten Augen auf.
— Ein Versuch kann nie schaden. Aber das Anstechen tut vielleicht weh.
— Mehr als jetzt kann es nicht wehtun.
Darüber schnaubte sie nur abfällig, doch am nächsten Morgen brachte sie ihn gemeinsam mit Eistaucher ans Flussufer hinunter. Sie befahl ihm, sich mit der linken Schulter auf die Lederseite eines Bärenpelzes zu legen, direkt am Ufer, wo er Hände und Füße ins kalte, schwarze Wasser halten konnte.
— Kühl dich so viel wie möglich, sagte sie.
Er hängte Füße und Hände in den Fluss. Heide wusch die Haut über der Ausbuchtung unter seinem Brustkorb und stach dann mit einer einzigen, flinken Bewegung eine Ahle hinein. Er zischte und bebte in dem verzweifelten Versuch stillzuhalten. Sie zog die Ahle heraus, wischte das Blut mit einem Stück Leder ab und steckte ein langes Rohr aus Holunderholz, das ihrem Blasrohr ähnelte, aber länger und schmaler war, in die Wunde. Dorn sog den Atem zwischen den Zähnen durch. Heide wies ihn an, sich auf den Bauch zu drehen, sodass das Rohr von der Wunde aus leicht nach unten zeigte. Er verlagerte das Gewicht und wälzte sich auf Brust und Bauch, wobei er Füße und Hände aus dem Wasser zog. Aus dem Rohr floss nun Blut. Heide sagte zu ihm: — Steck den Kopf ins Wasser und lass ihn unten, solange du die Luft anhalten kannst.
Er holte Atem, hielt die Luft an und tauchte den Kopf ins Wasser. Heide beugte sich über ihn und sog fest am Ende des Rohrs. Sie spuckte einen Mundvoll von Dorns Blut aus, saugte erneut und spie diesmal weißlichen Eiter aus, wenn auch nicht besonders viel. Dorn riss den Kopf aus dem Fluss, atmete mehrmals schnell ein und tauchte wieder ab. Heide saugte erneut an dem Rohr, ihre Wangen wurden dicht an ihren zahnlosen Kiefer gepresst. Dann spuckte sie noch ein wenig Eiter aus, doch viel mehr kam nicht nach. Mit ein paar Klopfern schob sie das Rohr etwas weiter hinein, worauf um Dorns Kopf herum Blasen aus dem Fluss aufstiegen. Er bäumte sich winselnd auf.
— Einmal noch!, sagte Heide barsch. — Jetzt funktioniert es.
Er tauchte den Kopf erneut unter, und sie saugte noch mehrmals kräftig, bekam jedoch kaum etwas heraus.
Schließlich hob er keuchend den Kopf aus dem Wasser, und sie zog das Rohr aus seiner Seite und drückte getrocknetes Moos auf den Einstich. Dorn kroch ans Ufer hoch, setzte sich hin und trocknete sich den Kopf mit einem sauberen Stück Leder ab. Heide wusch sich den Mund mehrmals mit Flusswasser aus.
— Und, hat es etwas gebracht?, fragte Dorn.
— Nicht viel, sagte sie und blickte dabei stromabwärts. — Es ist nicht wie Eiter. Es ist fester.
— Könntest du es rausschneiden?
Sie blickte ihn mit aufgerissenen Augen an. — Es ist in deinem Brustkorb.
Dorn sah ihr lange in die Augen. — Scheiße, sagte er. Schwer atmend sah er auf den Fluss hinaus. Heide legte ihm die Hand auf das Knie, und er erwiderte ihren Blick. Eine ganze Weile sahen sie einander an.
— In Ordnung, sagte Dorn.
Von da an blieb er in Heides Bett.
Die meisten aus dem Rudel blieben dem Lager nun länger fern als sonst. Eistaucher verbrachte seine Zeit mit Elga und den Kindern unten am Fluss. Nachmittags, wenn Heide beim Kräutersammeln unterwegs war, besuchte er manchmal Dorn. Doch Dorn wollte nicht reden.
Eines Tages gingen Falke und Moos auf die Jagd, und Eistaucher beschloss, sie zu begleiten.
Es war ein kühler Morgen, und seine beiden Freunde verfielen in ihren gewohnten Laufschritt, sobald sie das Lager verlassen hatten. Eistaucher stellte fest, dass er ohne Schwierigkeiten mithalten konnte; inzwischen konnte er auf dem linken Bein wieder rennen wie seit seiner Wanderschaft nicht mehr, indem er sich über den Fuß hinweg abstieß, als trüge er noch immer seinen Holzstiefel, in einer Art Humpelsprung. In vielerlei Hinsicht fühlte er sich stärker und schneller denn je, und das steife Bein war für ihn wie ein fester Wanderstock, den er mit Kraft aufsetzte. Er krachte durchs Unterholz, tanzte über Steine und Geröll hinweg und empfand dabei ein ihm völlig neues Gefühl der Geschwindigkeit. Als ihm das bewusst wurde, übernahm er die Führung und ließ dem Gefühl freien Lauf.
Als er die beiden überholte, erkannte er, dass er für sie ihr dritter Freund war, der Wanderstock zu den zwei Beinen. Aber sie kannten ihn gut, und er kannte sie. Und als sie ihn vorbeirennen sahen, grinsten sie, überrascht, aber erfreut darüber, dass sie nur unter Schnaufen mit ihm mithalten konnten. Bereitwillig folgten sie ihm über den Kurzen Pass und hinunter zur Wiese in der Oberen Klamm. Auf dem letzten Hang ermahnten sie einander zur Stille und rannten lautlos weiter, achteten dabei peinlich auf jeden Tritt. Die Münder hielten sie weit geöffnet, um auch beim Atmen keine Geräusche zu machen. Nachdem sie eine Weile still dahingelaufen waren, schienen ihre Leiber in Flammen zu stehen.
Und während sie so rannten, trafen sie auf eine kleine Herde Gämsen, die am Bach in der Wiese tranken, und bei dem Anblick warfen sie sofort ihre Speere, die sie bereits auf die Speerschleudern gesteckt hatten. Federnd flogen die Wurfgeschosse durch die Luft und trafen alle drei dieselbe Gams. Als sie bei ihr ankamen, war das Tier bereits tot. Sie johlten und dankten ihr und machten sich daran, sie zu zerlegen, und Eistaucher schnitt mit seiner Klinge so ordentlich wie Heide und so sicher wie Dorn. Sie erledigten ihre Arbeit mit sauberer, flinker Sorgfalt.
Auf dem Heimweg wurden sie müde, sie kämpften sich weiter, und der zweite Atem kam zu ihnen. Auf dem Buckel schleppten sie das Fleisch über den Kurzen Pass und durchs Obertal bis zurück zum Lager, gebeugt unter der Last, aber in stolzem Triumph. Auf dem Heimweg redeten sie nur wenig miteinander; den ganzen Tag über sprachen sie kaum.
Als sie sich dem Lager näherten, sagte Eistaucher: — Erinnert ihr euch noch daran, wie wir früher zusammen gejagt haben? Wie ich der Schnellste war, der beste Jäger von uns dreien?
— Anscheinend bist du das immer noch, bemerkte Moos. — Diese Jagd war wirklich nicht schlecht.
— Nein, sagte Eistaucher. — Das war nur heute. Ihr seid jetzt die Jäger. Aber hört mal. Elga hat mir davon erzählt, wie die Dinge bei den Frauen laufen und zwischen Donner und Blauhäher und Schiefer und Steinbock. Sie sagt, dass es schlimmer wird. Das Ganze gefällt ihr gar nicht, und sie glaubt auch nicht, dass es wieder besser wird. Deshalb überlege ich, ob wir nicht nach Westen gehen und unser eigenes Rudel gründen sollten. Vielleicht habt ihr ja auch schon darüber nachgedacht.
Falke und Moos wechselten einen Blick. — Red weiter, sagte Falke.
— Wir sind inzwischen zu viele. So viele, dass Schiefer und Steinbock das Rudel während des Frühjahrs nicht ernähren können. Und außerdem mögen sie euch nicht.
— Dich mögen sie auch nicht, bemerkte Moos.
— Das stimmt, aber ich begleite euch ja auch. Und ich bringe Heide dazu mitzukommen. Und sonst nur unsere Familien.
— Dann bleibt kaum noch etwas von diesem Rudel übrig.
— Da bin ich mir nicht so sicher, erwiderte Eistaucher. — Schiefer und Steinbock werden mit einem kleineren Rudel, nur mit ihren Verwandten und denen, die ihnen am nächsten stehen, gut zurechtkommen. So haben sie weniger Mäuler zu stopfen, und alle kommen miteinander aus. Das Einzige, was mir Sorgen macht, ist, was sie davon halten werden, wenn wir Heide mitnehmen.
Falke und Moos starrten ihn an. Falke sagte: — Eistaucher, du bist der Einzige im ganzen Rudel, der nicht die Hosen voll hat vor Heide.
Moos und Falke lachten, als sie Eistauchers überraschte Miene sahen. Die beiden waren sich sicher, dass niemand Einwände erheben würde, wenn sie Heide mitnahmen, obwohl alle wussten, wie nützlich sie war. Aber anscheinend war sie zugleich zu gehässig, zu sonderlich. Eistaucher war erfreut, das zu hören, denn er wollte seine Heide nicht missen.
Moos wies darauf hin, dass so eine Teilung von Rudeln immer wieder vorkam, dass es sich nicht um ein schlimmes Zerwürfnis handeln musste. Sie konnten sich einfach in einer weiteren Balme ein Stück flussaufwärts einrichten, damit es in ihrem Hauptlager nicht mehr so voll war. Wenn Schiefer und Steinbock jemals ein paar kräftige Arme brauchten, dann konnten die Jüngeren vorbeikommen und ihnen helfen.
Falke hörte nickend zu. Einmal mehr erkannte Eistaucher, dass Moos Vorschläge machte und Falke Anweisungen gab.
— Aber was machen wir, wenn sie Eistaucher wollen?, fragte Falke.
Eistaucher würde der Schamane beider Rudel sein, so wie Quarz der Schamane der drei Löwenrudel war. Viele der Schamanen beim großen Fest hielten es so. Während Moos das sagte, sah er zu Eistaucher, um sich zu vergewissern, ob er recht hatte.
Eistaucher nickte. — So möchte ich es machen, sagte er. — Weil ich nämlich weiter in der Höhle malen will.
Sie erreichten das Lager, und Moos sagte: — Lasst uns später weiter darüber reden. Es gibt keinen Grund zur Eile. Allerdings sollten wir es wohl tun, bevor wir beginnen, unsere Wintervorräte anzulegen.
— Später, sagte Falke.
Dorn lag lang hingestreckt auf Heides Pelzen, gegen das große, am Hang verkeilte Stück Holz gelehnt. Die meiste Zeit über schlief er.
Einmal halfen Eistaucher und Elga ihm dabei, zum Scheißen an den Hang zu gehen, doch es bereitete ihm Schmerzen, und als sie ihn ins Lager zurückbrachten, sagte er: — Das war das letzte Mal in meinem Leben, dass ich geschissen habe. Ich werde es vermissen.
Von da an redete er fast gar nicht mehr. Wenn er sein Schweigen doch einmal brach, dann brummelte er Worte vor sich hin, die niemand verstand. Mithilfe eines Holunderzweigs, aus dem er einen Trinkhalm gemacht hatte, ließ Eistaucher ihn Wasser aus einem Holzbecher saugen. Manchmal presste Dorn die rissigen Lippen dabei so fest auf den Trinkhalm, dass Eistaucher ihn nicht mehr aus seinem Mund bekam. Weil Heide nicht wollte, dass Dorn zu viel auf einmal trank, musste Eistaucher darauf achten, die richtige Menge Wasser in den Becher zu tun, denn wenn Dorn einmal angefangen hatte, trank er den Becher unweigerlich leer. Eistaucher hielt seinen Durst für ein gutes Zeichen. Wenn Dorn schlief, dann betrachtete Eistaucher manchmal sein eingefallenes Gesicht. Was immer den alten Schamanen plagte, zehrte an den Fettpolstern hinter seinen Augen und ließ sie tief in den Schädel sinken. Seine Nase sah immer mehr wie ein Adlerschnabel aus, und wenn er schlief, dann krümmten sich seine Zehen und Finger. Er trocknete aus. Das Ding in ihm drin fraß ihn von innen heraus auf, und auch er selbst zehrte auf dem letzten Stück seines Weges an seiner Substanz. — Moment mal, ich sehe etwas, flüsterte er Eistaucher einmal zu. — Der Fluss reißt die Dinge um mich herum fort.
— Eine Insel, sagte Eistaucher hastig.
— Ja. Dorn lächelte ein kleines Schlangenlächeln. Er betrachtete eine Weile Eistauchers Gesicht und sagte dann: — Als du auf deiner Wanderschaft warst, hat dich da etwas gejagt? Du wolltest es mir nie erzählen. Allerdings wollte ich dir schon lange etwas sagen: Ich glaube, Quarz setzt manchmal seinen Löwenkopf auf und zieht nachts los, um den Lehrlingen anderer Schamanen einen Schrecken einzujagen. Er ist ebenfalls bei Pfeifhase in die Lehre gegangen, dem Ältesten, und das hat ihn gemein werden lassen. Wenn dich also etwas gejagt hat, dann war das vielleicht er.
— Ah, sagte Eistaucher.
Später schüttelte Dorn Heides Bemühungen, ihm zu helfen, ab. — Ich habe mich selbst oft genug als Heiler betätigt, sagte er. — Ich weiß, wenn etwas nicht funktioniert. Du kannst mich nicht zum Narren halten.
Einmal sah er Heides Gesicht über sich und klagte: — Ich will nicht, dass es jetzt geschieht. Ich bin erst zweimal zwanzig Jahre alt.
— Was soll das heißen, erst?, erwiderte Heide.
— Ha! Dorns Lachen klang schmerzvoll. — Du hast leicht reden. Wie alt bist du, vier Zwanzige? Fünf?
Sie schüttelte den Kopf. — Viele Zwanzige. Aber die sind alle verflogen.
— Ha, sagte Dorn erneut und verfiel dann wieder in Schweigen.
Er schlief weiterhin sehr viel. Heide verabreichte ihm beruhigende Tees. Tage vergingen, ohne dass Dorn etwas aß. Eistaucher war zunehmend verblüfft darüber, wie lange das so ging. Es war wie bei einem Bären im Winterschlaf. Dorn zeigte ein Durchhaltevermögen, das Eistaucher kaum mit ansehen konnte.
Ich bin der dritte Atem
Ich komme zu dir
Wenn dir sonst nichts geblieben ist
Wenn du nicht mehr weiterkannst
Aber trotzdem weitermachst
Jener äußerste Moment
Ruft den dritten Atem herbei.
Jedes Mal, wenn Dorn erwachte und sich umsah, wurde Eistaucher von einer inneren Ruhe erfasst. Der Blick des Alten machte ihn hellwach und zugleich entrückt, rückte ihn an den richtigen Platz in der Welt. Ich half ihm dabei.
Dorn bat ihn manchmal darum, die eine oder andere Geschichte vorzutragen, die er ihm beizubringen versucht hatte. Eistaucher tat sein Bestes, ohne sich dabei allzu große Gedanken um Einzelheiten zu machen. Ohne diese Sorge fiel ihm das Erzählen sehr viel leichter als früher. Es ging nur noch darum, auf den Punkt zu kommen, das zu erzählen, worauf es ankam, so von den Geschehnissen zu berichten, wie er sie aus Dorns Geschichten in Erinnerung hatte. Er erzählte die Geschichte des Bisonmanns, der sich eine Frau aus der Lachssippe genommen hatte; Dorns Tier war der Bison, während seiner Zeremonien trug er Pfeifhases alten, zerfledderten Bisonschädel, und als Eistaucher die Geschichte nun erzählte, fragte er sich, wie viel sie mit Pfeifhase zu tun hatte und mit Heide und mit Dorn.
— Nein, nein, fiel Dorn ihm ins Wort. — Vergiss nicht die Stelle, wie die Frau mit einem Bison davonrennt, bevor der Mann sich selbst in einen verwandelt. Wenn die Leute das nicht wissen, verstehen sie nicht, warum er das tut.
Später unterbrach ihn Dorn noch ein- oder zweimal, um die Geschichte selbst heiser und kurzatmig weiterzuerzählen.
Manchmal schien Dorn einzuschlafen, kaum dass Eistaucher zu der gewünschten Geschichte angesetzt hatte, doch wenn Eistaucher zu reden aufhörte, runzelte er die Stirn.
Als Eistaucher einmal mitten im Erzählen abbrach, umklammerte Dorn fest seine Hand.
— Ich habe nur dich, um all das weiterzugeben. Verstehst du? Du warst das Material, mit dem ich auskommen musste.
— Ich weiß.
— Deshalb darfst du es nicht vergessen.
Eines Morgens erwachte Dorn nach einer schlimmen Nacht, in der er nicht ein einziges Mal eine bequeme Schlafposition gefunden hatte. Sein Blick ging über das Lager, über die Hügel und blieb dann bei Eistaucher hängen.
— Ich werde schwächer. Ich spüre es.
An jenem Tag schlief er besser. Er trank alles Wasser, das Eistaucher ihm gab. Nachmittags sah er Eistaucher an und sagte:
— Du darfst die Geschichte des zehnjährigen Winters nicht vergessen. Und die Geschichte von Korban, der quer über das große Salzmeer geweht wurde und anschließend über das Eis im Norden nach Hause wanderte. Und auch nicht Pippas Geschichte von dem Mann, der nach Osten ging, um das Ende der Welt zu finden. Das sind meine Lieblingsgeschichten gewesen. Und du musst dir die Geschichte merken, wie der Sommer aus der anderen Welt in diese Welt geholt wurde. Und die von der Schwanenbraut, die erzählst du nämlich wirklich gut. Und die vom Bisonmann.
Er musterte Eistauchers Gesicht.
— Es ist schade, dass ich nicht erfahre, wie es weitergeht, sagte er. — Ich wünschte, ich könnte noch ein paar Jährchen bleiben.
— Ja, sagte Eistaucher.
— Vergiss es nicht. Kümmere dich um die Kinder. Auf sie kommt es an. Du musst sie alles lehren, was ich dich gelehrt habe, und alles, was du dir selbst beigebracht hast. Nur wenn wir all das weitergeben, werden die Dinge einen guten Gang nehmen. Es gibt keine Geheimnisse, keine Rätsel. Das denken wir uns nur aus. In Wirklichkeit haben wir alles direkt vor der Nase. Man braucht genug Vorräte, um Winter und Frühling zu überstehen. Darauf läuft letztlich alles hinaus. Man muss so leben, dass man jeden Herbst genug Nahrung sammelt, um es über den Winter zu schaffen. Und du, du musst dein Leben leben, Junge. Du kannst Heide helfen. Das musst du sogar. Die alte Hexe braucht deine Hilfe. Sie ist auch nicht mehr ganz frisch. Auch wenn ihr das nicht passt, sie braucht Hilfe. Du musst es ihr ansehen, auch wenn sie dich nicht darum bittet.
— Ich versuche es.
— Gut. Und jetzt hör zu. Das Schlimme wächst nicht nur auf einem Pfad, sondern überall. Gib dir also nicht die Schuld, wenn etwas Schlimmes passiert. Lass das Gestern nicht zu viel Raum im Heute einnehmen. Darin bist du nämlich seit jeher gut. Erzähl einfach weiter die Geschichten am Feuer. Das ist es, was erhalten bleiben muss.
Danach fand Dorn keine Ruhe mehr. Er wand sich auf seinem Lager, schwitzte und keuchte. Heide zwang ihn, mehr Tee zu trinken und einen Brei unter seiner Zunge zu zerdrücken. Danach war er kaum noch bei Bewusstsein, doch sein Leib krampfte und zuckte noch immer auf der Suche nach einer besseren Lage.
Zwei Tage später kam er wieder zu Bewusstsein und lag ruhig da.
— Ich bin schon wieder schwächer, sagte er. — Ich spüre es.
— Willst du etwas Wasser?
— Jetzt nicht.
Der Morgen verstrich wolkenlos und mit kaum Wind. Vogelgezwitscher erfüllte den Wald, das Keckern eines schimpfenden Eichhörnchens.
— Ich wollte alles, sagte Dorn. — Ich wollte alles.
— Ich weiß, dass du das wolltest.
— Ich mache mir Sorgen darum, was aus euch anderen wird. Was geschieht, wenn Heide stirbt? Niemand von euch ist alt genug, um alles Nötige zu wissen. Ihr werdet umherstolpern, als wärt ihr zurück in der Traumzeit. Unser Wissen ist zerbrechlich. Jedes Mal, wenn wir etwas vergessen, verschwindet es. Und dann muss es jemand von Neuem herausfinden. Ich weiß nicht, wie ihr das schaffen sollt. Ich meine, ich wollte alles wissen. Bis vor ein paar Jahren habe ich mich an jedes einzelne Wort erinnert, das mir je zu Ohren gekommen ist, an jeden einzelnen Augenblick meines Lebens. Ich habe mit allen Leuten in diesem Teil der Welt gesprochen und mir alles gemerkt, was sie gesagt haben. Was soll aus alldem werden?
Eine ganze Weile starrte er Eistaucher nur an.
Schließlich sagte er: — Es wird verloren gehen, das wird passieren.
— Wir tun unser Bestes, sagte Eistaucher. — Niemand kann wie du sein.
Sie saßen da. Dorns Atem ging flach und schnell, er schwitzte und krümmte sich wieder. Heide tauchte auf, und Eistaucher war froh, sie zu sehen.
Viel Zeit verstrich, zwei oder drei Tage; Eistaucher war sich nicht mehr sicher. Es war alles ein sich ständig wiederholender Augenblick. Dorns Atem ging immer flacher, er keuchte und schnappte nach Luft. Heide befeuchtete ihm die Lippen mit einem Tuch und zog es wieder weg, ehe er hineinbeißen konnte. Einmal schien ihn das aufzustören, sodass er zu strampeln und sich in ihrem Griff zu winden begann. Dabei krächzte er Worte, die sie nicht verstanden. Die Zunge in seinem Mund war geschwollen und trocken, seine Kehle ausgedörrt. Er verdrehte den Kopf und schrie undeutlich: — Ach, Heide, ich weiß nicht, ob ich das schaffe!
— Was hat er gesagt?, fragte Heide Eistaucher.
— Ich weiß es nicht, log er.
Er ging zur gegenüberliegenden Seite der Schlafstatt, um Dorns Gesicht nicht sehen zu müssen. Eistaucher hielt Dorns rechte Hand, und Heide nahm seine linke und hielt sie ebenfalls. So zwischen ihnen lag sein Leib bequemer. Dann und wann tröpfelte ihm Heide mit dem nassen Tuch Wasser in den Mund, immer nur ein oder zwei Tropfen auf einmal. Er war bereits weit fort von ihnen.
Nur noch ein einziges Mal erlangte er das Bewusstsein zurück. Heide war gerade fort, um etwas zu erledigen. Dorn öffnete die Augen einen Spaltbreit, doch sie starrten ins Leere. Als er Eistauchers Hand umklammerte, sagte dieser: — Ich bin hier. Heide kommt gleich wieder. Sie ist auch bei dir.
Dorn nickte. Er schloss die Augen. — Moment mal, flüsterte er. — Ich sehe etwas. Dann drückte er Eistauchers Hand und schlief wieder ein.
Heide kehrte an ihren Platz neben der Schlafstatt zurück. So saßen sie da und hielten Dorns Hände. Eine ganze Weile taten sie das, während Dorn atmete. Immer langsamer ging sein Atem, rau in der Kehle. Seine Lider waren geschlossen, die Augen tief in den Schädel gesunken. Sein Mund war ein lippenloses Loch, Kiefer und Wangen mit weißen Barthaaren übersät, die Nase ein schmaler Haken. Die alte schwarze Schlange sah nun mehr denn je wie ein Reptil aus. Er schlief, doch gleichzeitig tat er mehr, als bloß zu schlafen. Während sie Dorn bei den Händen hielten, gewann Eistaucher den Eindruck, dass der Geist des alten Schamanen ganz in der Nähe sei, aber nicht im Innern des Körpers, den sie berührten. Vielleicht sah er auf sie herab, während sein Leib seine letzten Atemzüge tat.
— Geh noch etwas Wasser holen, sagte Heide zu Eistaucher.
— Aber …
— Geh.
Eistaucher nahm einen Eimer und rannte zum Fluss hinab. Erst beeilte er sich, um schnell zurück zu sein, doch dann war er froh wegzukommen.
Im seichten Wasser füllte er den Eimer und starrte dabei in die gelbe Luft eines ganz gewöhnlichen Sonnenuntergangs hinaus, und er dachte: Eines Tages werde ich nicht mehr hier sein, um das zu sehen. Das war die Wahrheit, er spürte es.
Er wollte nicht wieder hochgehen. Also verharrte er im Sonnenuntergang am Fluss. Doch dann meinte er, etwas zu hören, und so drehte er sich um und eilte zurück zu Heides Nest.
Als er näher kam, hörte er von der Mitte des Lagers her Dorns rauen Atem, der wie das rasselnde Geräusch klang, das Raben manchmal von sich geben. Dann wurde es still, und Eistaucher rannte zu Heides Platz. Sie saß noch immer neben Dorn und hielt seine Hand. Kurz blickte sie zu Eistaucher auf, mit leisem Tadel im Blick, weil er so lange fort gewesen war, doch Eistaucher ging wieder an seinen Platz ihr gegenüber und ergriff Dorns rechte Hand, worauf der alte Schamane erneut mit rasselnder Kehle nach Luft schnappte. Seit seinem letzten Atemzug waren mehrere Augenblicke verstrichen, und Eistaucher erschrak, als Dorn bei dem Versuch zu atmen seine Hand packte. Irgendwie lebte er immer noch, obwohl er völlig in sich zusammengesunken war und aussah, als wäre er längst nicht mehr als eine Leiche. Doch dann holte er mit einer weiteren erschütternden Anstrengung erneut Atem. Ein Todesröcheln; dann noch eines; und dazwischen lag er reglos da, während Heide und Eistaucher zu seinen Seiten saßen, ihn bei den Händen hielten und zusahen. Nur einmal wechselten sie einen Blick, als Eistaucher sagte: — Ich frage mich, was er dort drin denkt.
Heide schüttelte den Kopf. — Er ist nicht dort drin.
— Aber er atmet noch.
— Ja, sein Körper versucht es weiter.
Sie hatte recht. Immer wieder wurde er reglos und lag scheinbar tot da; dann zuckte er wieder, sog mit krampfartiger Anstrengung Luft ein, nahm einen krächzenden, röchelnden, rasselnden Atemzug. Der Teil von ihm, der noch lebte, unternahm gewaltige Anstrengungen. Dann wurde es wieder still.
— Kannst du ihm nicht etwas geben?, fragte Eistaucher. — Ihm irgendwie darüber hinweghelfen?
Sie schüttelte den Kopf. — Lass ihn auf seine Art gehen.
Eistaucher spürte ihre Worte wie einen Stich, ehe seine Benommenheit wieder einsetzte. So saßen sie da und warteten. Wenn Dorn atmete, umklammerten sie seine Hände. Beide beugten sich angestrengt lauschend über ihn.
Als es so weiterging, Dorns rasselnde Atemzüge mit jedem Mal kürzer und schwächer wurden, beruhigte sich Eistaucher. Dorn hatte es nun fast überstanden. Sein Leiden war vorbei. Diese letzten Atemzüge schienen nun weniger schiere Sturheit, die Weigerung zu sterben, sondern eher eine Art Abschiedsgruß. Zumindest empfand Eistaucher das so. Als erlaubte Dorn sich einen kleinen Witz. Sich tot stellen; dann wieder etwas Luft einsaugen, versuchen, zu röcheln. Ha, reingelegt. Und dann wieder die lange Leere, in der nichts geschah.
— Es kommt mir vor, als mache er sich über uns lustig, beschwerte sich Eistaucher.
— Ich weiß.
So ging es weiter. Wieder und wieder.
Nach einem dieser kleinen Versuche, Atem zu holen, sagte Heide zu Dorn: — Es ist in Ordnung. Wir sind hier.
Dann warteten sie. Ein weiterer kleiner, reibender Laut war zu hören. Und dann lag Dorn still. Sie warteten und warteten auf seinen nächsten Atemzug. Es schien keinen Grund zur Ungeduld mehr zu geben; sie konnten warten. Warum hätten sie die Sache für ausgestanden erklären sollen, nur um einmal mehr widerlegt zu werden? Sie hatten es nicht eilig damit, recht zu haben. Sie konnten hier mit ihm in diesem Zwischenreich sitzen, am Pass zwischen ihrem Tal und seinem.
Später konnte Eistaucher nicht sagen, wie lange sie so gewartet hatten. Dorns Augen waren halb geöffnet, milchig und blind. Inzwischen war klar, dass es sich bei ihm um den toten Leib eines toten Tiers handelte. Wie immer war der Tod unverkennbar. So viel war verschwunden.
Schließlich regte Heide sich. Sie streckte die Hand aus, um Dorn die Lider zu schließen, legte dann das Ohr an seine Brust und lauschte. Eine ganze Weile lag sie so mit dem Kopf auf seiner Brust da.
Schließlich setzte sie sich auf und sah Eistaucher an. — Er ist fort.
Sie hielten noch eine Weile seine Hände. Jetzt hatten sie es nicht mehr eilig.